Читать книгу ENDSTATION - Irene Dorfner - Страница 6

1.

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Leo Schwartz parkte seinen Wagen vor dem Gebäude der Polizeiinspektion im bayerischen Mühldorf am Inn. Er hatte Kopfschmerzen, die aber heute nicht vom übermäßigen Rotweinkonsum verursacht wurden, von dem er in letzter Zeit viel zu viel trank. Heute war der Grund einfach nur Föhnwetter, auf das er empfindlich reagierte. Wie in den vergangenen Wochen auch, hatte er dazu abermals schlecht geschlafen. Der Umstand, dass seine Exfreundin und frühere Chefin Viktoria Untermaier die Vertretung der erkrankten Kollegin Tatjana Struck übernommen hatte, gefiel ihm überhaupt nicht. Viktoria hatte ihn wegen eines vermeintlich guten Jobs verlassen und er hatte sehr darunter gelitten. Gerade als er anfing, darüber hinwegzukommen und eine Frau kennenlernte, die ihm gut gefiel, tauchte sie plötzlich wieder auf. Was sollte der Scheiß? Was wollte sie damit bezwecken? Die andere Frau konnte er vergessen, die hatte kein Interesse mehr an ihm. Warum hatte er sie auch einfach stehen lassen, als Viktoria wie aus dem Nichts vor ihm stand? Bis er klar denken und reagieren konnte, war die andere Frau weg.

Leo ging Viktoria aus dem Weg, er hatte keine Lust auf irgendwelche Erklärungen. Er hatte auch kein Interesse daran, alles Geschehene einfach unter den Teppich zu kehren und einen auf gute Kollegen zu machen. Seit Viktoria zurück war, hatte er so oft wie möglich Urlaub genommen. Jeder Tag, an dem er ihr nicht begegnete, war ein guter Tag. Viktoria war inzwischen fast drei Monate hier. Wie lange denn noch? Konnte sie nicht einfach wieder gehen? Spürte sie nicht, dass er unter ihrer Anwesenheit litt und ihm die Arbeit keinen Spaß mehr machte? Er hatte sich sogar dabei ertappt, dass er ernsthaft darüber nachdachte, einfach krankzufeiern, nachdem ihm weiterer Urlaub verweigert wurde. Aber das hatte er schnell wieder verworfen, das entsprach nicht seinem Charakter.

Als er aus dem Wagen vor der Polizeiinspektion Mühldorf stieg, atmete er die frische Frühlingsluft tief ein. Endlich war der in seinen Augen viel zu kalte Winter vorbei. Normalerweise liebte er es, wenn die Vögel wieder sangen und es von Tag zu Tag heller und wärmer wurde. Dieses Jahr war ihm das gleichgültig. Vom Parkplatz aus sah er Viktoria. Sie war bereits hier und stand am Fenster des gemeinsamen Büros der Mordkommission. Ja, er hatte sie gesehen und ihm wurde schlecht. Wie lange musste er sie noch ertragen?

Hans Hieblers Wagen fuhr auf den Parkplatz und Leo wollte auf ihn warten. Der Freund und Kollege stieg aus. Danach fuhr ein Wagen im hohen Tempo auf den Parkplatz und hielt direkt neben Hans. Eine Frau stieg aus, ließ den Motor laufen und die Wagentür offenstehen. Sie lief auf Hans zu. Es war offensichtlich, dass der Kollege die Frau nicht kannte, sonst hätte er anders reagiert. Die Frau klammerte sich an ihn, sie schien verzweifelt. Was war da los?

Hans Hiebler hatte Leo gesehen. Er war genervt, denn auch heute hatte Leo wieder eine Fresse auf, die er überhaupt nicht leiden konnte. Seit Viktoria hier war, benahm sich Leo wie ein geknüppelter Hund. Er ging ihr nicht nur aus dem Weg, sondern zog sich völlig zurück. Längst hatte er aufgehört, Leo dazu zu überreden, mit ihm auszugehen oder einfach nur gemeinsam abzuhängen. Hans hatte sich gefreut, als Viktoria vor ihm stand und er begriffen hatte, dass sie die Vertretung war. Er war sogar einige Male mit ihr ausgegangen. Aber auch darauf hatte er keine Lust mehr, denn Viktoria sprach nur von Leo und das Thema war ausgereizt. Was sollte er auch dazu sagen? Er verstand sie, aber auch Leo, der sehr unter ihrem Weggang gelitten hatte. Seit sie hier war, verkroch sich Leo und trank viel zu viel. Wann hörte das endlich auf? Hans hatte sich vorgenommen, endlich mit Leo zu sprechen. Wie oft er das in den vergangenen Wochen schon vorgehabt hatte, konnte er nicht mehr zählen. Ständig kam etwas dazwischen oder Leo hatte keine Lust auf ein Gespräch. Aber heute musste er ihn sich vornehmen, die Gelegenheit war günstig. Ja, er hatte auch gesehen, dass Viktoria am Fenster stand. Sollte sie doch, es war ihm egal.

Dann hielt plötzlich der Wagen neben ihm und eine ihm völlig fremde Frau klammerte sich an ihn. Wer war sie? Und was wollte sie von ihm? Sie stammelte unzusammenhängende Worte, deren Sinn er nicht verstand.

„Bitte beruhigen Sie sich. Was kann ich für Sie tun?“ Die Frau war etwa fünfzig Jahre alt. Sie machte auf ihn einen verwirrten Eindruck. Der Wagen war neu und teuer. Der dezente Schmuck, den sie trug, war echt, dafür hatte Hans ein Auge.

„Sie müssen helfen“, stammelte sie, wobei sie viele Worte verschluckte. „Mein Mann…Eichendorffstraße... Bitte…“ – mehr verstand Hans nicht.

Leo stand jetzt neben Hans und der Frau. Er sah seinen Kollegen an, auch er verstand kein Wort. Da Hans nicht reagierte, klammerte sich die Frau an Leo und sah ihn flehend an. Leo war völlig überfordert und wusste nicht, was er tun sollte.

Dann ging alles ganz schnell. Während die Frau versuchte, sich zu konzentrieren und die Worte klarer auszusprechen, fiel ein Schuss. Die Frau sah Leo in die Augen. Sie schien, wie er, nicht zu begreifen, was eben geschah. Dann folgte ein weiterer Schuss und sie sank in Leos Armen zusammen. Sie hatte ihm nach dem ersten Schuss etwas in die Tasche seiner alten Lederjacke gesteckt, was er jedoch nicht bemerkt hatte. Leo war erschrocken und konnte nur untätig zusehen, wie die Frau in seinen Armen starb. Es dauerte nur wenige Sekunden, die Leo wie eine Ewigkeit vorkamen. Instinktiv fühlte Leo den Puls der Frau, sah Hans an und schüttelte den Kopf. Hans hatte sofort nach dem ersten Schuss Deckung genommen und registrierte erleichtert, dass Leo in Ordnung war. Da dieser ihn nur anstarrte und keine Anstalten machte, ebenfalls in Deckung zu gehen, zog Hans seinen Freund und Kollegen unsanft zur Seite.

„Die Schüsse kamen von dort“, rief Hans und zog seine Waffe. Leo tat es ihm gleich.

„Ich sehe nichts“, rief Leo.

Sekundenlang war es totenstill. Dann hörten sie einen Motor aufheulen und einen Wagen, der mit quietschenden Reifen davonfuhr.

Viktoria hatte alles mit angesehen. Sie kapierte nur langsam, was direkt vor ihren Augen geschah. Sie hatte die Schüsse gehört und sah das Blut auf dem Rücken der Frau, die in Leos Armen zusammensackte. Sie war erleichtert, dass Leo nicht getroffen war. Sie griff zu ihrer Waffe und rannte zum Ausgang. Allen Kollegen, denen sie begegnete, rief sie zu: „Schusswechsel auf dem Parkplatz!“

Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Es dauerte nicht lange, und der Parkplatz wimmelte von Polizisten. Viktoria löcherte Hans und Leo mit Fragen, aber die hatten keine Antwort darauf.

„Was hat die Frau gesagt? Ich habe gesehen, dass sie mit euch gesprochen hat“, drängelte sie weiter und weiter.

„Wir wissen nicht mehr. Wir vertrödeln hier nur unsere Zeit, verstehst du das nicht?“, blaffte Leo sie an. „Die Frau faselte etwas von ihrem Mann, wir müssen nach ihm sehen.“

Leo stieg zu Hans in den Wagen.

„Wo wollt ihr hin?“

„Eichendorffstraße.“

Viktoria sah den beiden hinterher. Was sollte das? Sie war vertretungsweise die Leiterin der Mordkommission und wurde hier vor allen wie ein dummes, kleines Kind behandelt. Durfte sie sich das gefallen lassen? Sie war wütend, vor allem auf Leo.

„Was ist hier los?“, wollte Rudolf Krohmer, der Chef der Polizeiinspektion Mühldorf wissen. Er war eben erst gekommen und fand dieses Chaos vor seiner Polizeistation vor. Viktoria unterrichtete ihn. Zumindest über das Wenige, das ihr bekannt war.

„Wer ist die Frau?“ Krohmer zeigte auf die Tote, deren Gesicht von ihm abgewandt war. Der Chef vermied es, wenn möglich, sich Opfer anzusehen. Vor allem so kurz nach dem Frühstück konnte er gerne darauf verzichten.

„Keine Ahnung. Sie hatte keine Papiere bei sich. Die Kollegen checken gerade das Kfz-Kennzeichen. Hiebler und Schwartz sind auf dem Weg zur Eichendorffstraße.“

„In Mühldorf gibt es keine Eichendorffstraße. Von welchem Ort sprechen wir? Was wollen die Kollegen dort?“

„Keine Ahnung. Was weiß ich denn schon? Mir sagt doch keiner was!“

Viktoria ließ den Chef stehen und ging wieder an die Arbeit. Krohmer sah ihr hinterher. Es war längst klar, dass es keine gute Idee gewesen war, die Kollegin Untermaier für die Vertretung der Kollegin Struck an Bord zu holen. Was immer auch zwischen ihr und dem Kollegen Schwartz ablief – er musste sich darum kümmern, dass endlich wieder Ruhe und Frieden einkehrte.

Viktoria war stinksauer. Am liebsten wäre sie weggefahren. Vor drei Wochen hatte sie einen Antrag auf Rückführung gestellt, der jedoch prompt abgelehnt wurde. Wie lange konnte sie die Situation noch ertragen? Als die Anfrage von Krohmer auf ihrem Tisch landete, hatte sie spontan zugesagt. Der Job in Berlin war nicht schlecht, aber sie fühlte sich einsam. Die dortigen Kollegen waren höflich und nett – mehr aber auch nicht. Man vermied privaten Kontakt, was sie mehr und mehr in die Einsamkeit drängte. Anfangs war sie noch euphorisch und war sich sicher, wenigstens zu ihren Nachbarn ein gutes Verhältnis aufbauen zu können. Aber man begegnete ihr mit Misstrauen und Ablehnung, was sie stark an ihre Anfänge seinerzeit in Mühldorf erinnerte. Im bayerischen Mühldorf am Inn wurde sie auch nicht mit offenen Armen empfangen, aber das hatte sich nach einigen Wochen gelegt und sie hatte Freunde gefunden, sehr gute Freunde. Die Situation in Berlin allerdings wurde nicht besser, auch wenn sie sich noch so sehr bemühte, Kontakte auch außerhalb des Jobs zu Kollegen und Nachbarn zu knüpfen. Es wurde ihr klar, dass alle nur ihre Ruhe haben wollten, und sie gab auf. In ihrer Freizeit saß sie allein zuhause und grübelte. Wenn sie ausging - und das kam immer seltener vor - dann ebenfalls nur allein. Sie hatte sich sogar schon überlegt, sich an eine Dating-Agentur zu wenden, verwarf den Gedanken aber schnell wieder. Wie verzweifelt war das denn? Als sie in Mühldorf eintraf, war sie euphorisch gewesen. Jetzt war sie nicht mehr allein. Hier hatte sie Freunde, die sie mochten und auf die sie sich früher immer hatte verlassen können. Hans Hiebler hatte sie mit offenen Armen empfangen, auch Werner Grössert strahlte, als er sie sah. Sogar Tante Gerda, Leos Vermieterin und Ersatzmutter, nahm sie in die Arme und hieß sie herzlich willkommen. Nur Leo war kalt und abweisend. Seitdem sie hier war, hatten sie kaum ein privates Wort gewechselt. So sehr sie sich auch bemühte, Leo ging ihr aus dem Weg. Er war während ihrer Zusammenarbeit nicht unhöflich, das konnte sie ihm nicht vorwerfen. Aber er konzentrierte sich auf das Wesentliche und sprach mit ihr nur über die Arbeit. Mehr nicht. Hatte sie ihn so sehr verletzt, als sie gegangen war? Würde er ihr jemals verzeihen? Sie wischte den Gedanken beiseite. Leo hatte die Chance gehabt, sie nach Berlin zu begleiten. Sie hätten dort gemeinsam ein neues Leben anfangen können, was für ihn aber nicht in Frage gekommen war. Es wäre für Leo kein Problem gewesen, in der Bundeshauptstadt einen Job zu finden. Aber er wollte nicht. Er zog es lieber vor, hier in der Provinz zu bleiben. Er hatte sich hier ein neues Leben aufgebaut und das wollte er nicht aufgeben. Sie musste zugeben, dass sie ihn irgendwie verstand. Auch deshalb hatte sie vorgeschlagen, die Beziehung trotz der großen Distanz weiterzuführen. Warum auch nicht? Vielen Paaren gelang das, warum also nicht auch ihnen? Aber Leo wollte das nicht, in dem Punkt blieb er stur. Er wollte seine Partnerin in seiner Nähe haben und hatte deshalb die Beziehung beendet. War es nicht auch an ihr, beleidigt und verletzt zu sein?

Leo waren Viktorias Befindlichkeiten gleichgültig. Er war von dem, was eben auf dem Parkplatz direkt vor seinen Augen geschehen war, noch völlig durcheinander. Er bemühte sich, gedanklich die Abläufe zu ordnen. Hans ging es ähnlich. Die beiden schwiegen während der Fahrt.

„Wo fährst du eigentlich hin?“

„In die Eichendorffstraße. Ich habe das Navi gespeist. Es gibt in Mühldorf keine Straße mit diesem Namen, das war mir klar, dafür aber in Töging.“

„Hat die Frau etwas von Töging gesagt?“

„Nein. Aber irgendwo müssen wir ansetzen. Bis wir die Identität der Toten haben, fahren wir nach Töging.“

Leos Handy klingelte, es war Viktoria. Warum rief sie ihn an und nicht Hans?

„Ja?“ Leo bemerkte selbst, dass sein Ton sehr unfreundlich klang. War das nicht verständlich? Schließlich war kürzlich eine Frau in seinen Armen getötet worden.

„Der Wagen der Toten läuft auf einen Uwe Esterbauer, Mühldorf, Klingenbergstraße 12. Die Tote ist dessen Frau Heiderose.“

„Wie kannst du dir da so sicher sein?“

„Weil ich ihr Bild vor mir auf dem Bildschirm habe. Denkst du, ich bin blöd? Wir sehen uns in der Klingenbergstraße.“

„Das ist nicht die Adresse, die die Frau Hans gegenüber erwähnt hat. Moment - sagtest du Esterbauer? Ist das nicht dieser Politiker der neuen Partei, dessen Gesicht man auf allen Wahlplakaten sieht?“

Viktoria ging nicht auf die Frage ein. Ihr sagte der Name nichts und sie wusste auch nicht, worauf Leo hinauswollte. Sie war politisch seit vielen Jahren festgelegt und interessierte sich deshalb nicht für Werbeplakate anderer Parteien.

„Fahrt bitte zu Esterbauer“, wiederholte sie nur.

Leo nahm das Handy vom Ohr, sprach mit Hans und erklärte ihm, worum es ging.

„Ich für meinen Teil würde lieber erst in die Eichendorffstraße fahren. Die Frau hat sicher nicht umsonst darum gebeten. Was meinst du?“

„Ich würde dir zustimmen. Allerdings ist Viktoria der Boss und sie bestimmt.“ Hans war gespannt, wie Leo reagieren würde. Der nahm das Handy wieder ans Ohr.

„Wir fahren erst in die Eichendorffstraße nach Töging. Wir sehen uns später.“ Leo beendete das Gespräch, er hatte genug gesagt.

Viktoria war sauer. Was fiel Leo ein? Sie hatte eine klare Anweisung gegeben, die ihn nicht zu interessieren schien. Sollte sie zum Chef gehen und sich beschweren? Noch nicht, das Maß war noch nicht voll.

„Das wird Viktoria nicht gefallen“, sagte Hans.

„Ich weiß“, war Leos knappe Antwort.

Hans schüttelte den Kopf. Was die beiden machten, war schlimmer als jeder Kindergarten. Warum konnten sie ihre Differenzen nicht einfach aus dem Weg räumen? Er musste dringend mit Leo sprechen. Aber nicht jetzt.

Die Eichendorffstraße in Töging war eine beschauliche Straße mit schönen, gepflegten Häusern. Es gab hier eine Zahnarztpraxis, einen kleinen Supermarkt und eine noch kleinere Bankfiliale. Vorn am Eck war sogar ein Imbiss, der um die Zeit bereits geöffnet hatte. Die wenigen Fahrzeuge in der Straße parkten ordentlich. Hans fuhr mehrmals die übersichtliche Straße auf und ab. Alles schien in völliger Ordnung zu sein.

„Was schlägst du vor? Sollen wir uns durchfragen?“ Hans hatte Bedenken, schließlich wartete Viktoria in Mühldorf. Aber die letzten Worte der Toten ließen ihm auch keine Ruhe.

„Wo wir schon mal hier sind, bietet sich das an. Zumindest kann es nicht schaden“, antwortete Leo und Hans war erleichtert. Was war mit dieser Eichendorffstraße? Waren sie hier in Töging überhaupt richtig?

Leo und Hans befragten die Anwohner, die zuhause waren, sowie alle Personen, die ihnen auf der Straße begegneten. Keiner hatte etwas Ungewöhnliches gesehen oder bemerkt.

„Bist du dir sicher, dass du Eichendorffstraße verstanden hast?“

„Ganz sicher.“ Hans nahm sein Handy und fluchte, nachdem er hektisch über den Bildschirm wischte. „Es gibt sehr viele Straßen mit diesem Namen. Zum Beispiel in Waldkraiburg, Neumarkt St. Veit, Altötting, Traunreut, und so weiter. Wie sollen wir da die richtige Straße finden?“

„Beruhige dich. Es ist nicht deine Schuld, dass die Frau nur den Straßennamen verraten hat. Lass uns nach Mühldorf fahren. Vielleicht finden wir den Gatten dort gesund und munter.“

Schon von Weitem sahen Leo und Hans, dass Viktoria stinksauer war. Sie wippte mit dem linken Fuß und sah immer wieder auf die Uhr, was kein gutes Zeichen war.

„Ich halt mich raus“, sagte Hans, als er den Wagen abstellte. „Du hast sie verärgert, nicht ich.“

„Was soll sie machen? Mir den Kopf abreißen?“

„Schau sie dir an! Das traue ich ihr zu!“

Leo bekam eine Strafpredigt, die sich gewaschen hatte. Viktoria überhäufte ihn mit Vorwürfen, wobei sie keine Rücksicht darauf nahm, dass alle zuhörten, die sich in ihrer Nähe aufhielten. Und das waren viele, denn mittlerweile wimmelte es hier vor Kollegen und Schaulustigen.

Leo blieb unbeeindruckt. Alles, was Viktoria sagte, prallte an ihm ab. Er hörte ihr nicht zu, sondern hatte immer nur das Bild vor Augen, als sie ihn damals verlassen hatte und sich mit ihrem Wagen entfernte. Viktoria merkte irgendwann, dass Leo kein Wort von dem registrierte, was sie ihm vorwarf. Er schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein. Viktoria wurde nervös und unterbrach ihren Redeschwall. Erst jetzt bemerkte sie an den Gesichtern der Kollegen und Schaulustigen, dass sie zu laut sprach und alle ihre Vorwürfe hörten, die nicht nur beruflichen Charakter hatten. Sie hatte sich hinreißen lassen und ärgerte sich jetzt darüber.

„Habt ihr nichts zu tun?“, blaffte sie einige Kollegen an, die sich daraufhin sofort wieder an die Arbeit machten.

„Die Eichendorffstraße in Töging war kalt. Was gibt es hier? Warum der Aufwand?“, fragte Leo, als wenn es den Einlauf eben nicht gegeben hätte.

„Im Haus hat ein Kampf stattgefunden. Und es gibt Blutspuren.“

„Du bist einfach in das Haus rein?“

„Die Tür stand offen. Ich wäre aber auch reingegangen, wenn sie zu gewesen wäre. Ein Mord an der Frau des Hauses rechtfertigt einen gewaltsamen Zugriff allemal.“ Viktoria ließ Leo stehen und machte sich wieder an die Arbeit. Sie war immer noch sehr aufgewühlt, außerdem schämte sie sich.

Leo ging ins Haus und sah sich im Wohnzimmer um, wo er den Leiter der Spurensicherung Friedrich Fuchs und drei seiner Mitarbeiter vorfand. Zum Glück war Fuchs hier schon fertig, sonst hätte der ihm den Zutritt sicher verwehrt. In diesem Zimmer musste ein heftiger Kampf stattgefunden haben, die Spuren waren eindeutig. Die Küche und das Esszimmer des Erdgeschosses machten einen ordentlichen Eindruck, aber das angrenzende Büro sah ebenfalls chaotisch aus. Das Büro und das Wohnzimmer waren durchwühlt worden. Warum nur diese beiden Zimmer? Viktoria hatte richtig entschieden. Wenn er das Chaos hier vorgefunden hätte, hätte er genauso gehandelt. Außerdem hätte auch er das volle Programm durchgezogen.

„Was haben Sie für mich, Herr Fuchs?“, sprach Leo den Leiter der Spurensicherung an.

„Das wird alles in meinem Bericht stehen“, murmelte dieser unfreundlich. Er mochte es nicht, wenn er gehetzt wurde. Aber noch mehr hasste er es, wenn man sich in seine Arbeit einmischte.

„Ich möchte jetzt keinen vollständigen Bericht von Ihnen hören“, sagte Leo und lächelte. In den drei Jahren, in denen er bei der Polizei Mühldorf war, hatte er es gelernt, mit Fuchs und seinen Marotten umzugehen.

„Dass hier ein Kampf stattgefunden haben muss und in diesem Zimmer, sowie im angrenzenden Büro, alles durchwühlt wurde, sehen Sie selbst“, sagte Fuchs. „Die anderen Räume sind alle sauber. Wir haben hier und hier Blut gefunden. Wenn Sie genau hinsehen würden, könnten Sie das selbst erkennen.“

„Blut von Uwe Esterbauer?“

„Woher soll ich das wissen? Bin ich Hellseher?“

„Genug Blut, um auf ein Verbrechen schließen zu können?“

Fuchs zögerte.

„Raus mit der Sprache, Kollege Fuchs. Mit wie vielen Tatorten haben Sie bisher zu tun gehabt? Sie sind kein Anfänger, sondern einer der Besten, das brauche ich Ihnen nicht sagen. Sie können sehr gut einschätzen, mit was wir es zu tun haben“, forderte Leo Fuchs auf.

Fuchs war nicht anfällig für Schmeicheleien, aber sehr wohl für die Wahrheit. Ja, er gehörte zu den Besten, das wusste er selbst. Und ja, er hatte schon sehr viele Tatorte untersucht, um eine vorsichtige Schätzung abgeben zu können, obwohl er das nicht besonders mochte. Er war ein Freund von Tatsachen und Beweisen, und nicht von Mutmaßungen.

„Für mich deutet die Menge an Blut auf ein Verbrechen hin. In welchem Ausmaß, wage ich nicht zu vermuten. Hier vor dem Sessel gibt es die größte Menge an Blut, dort und dort gibt es nur Spuren davon. Hier ist eine große Blutlache, ebenso hier. Das Blut wurde von den schweren, dunklen Teppichen aufgesogen. Ich kann noch nicht beurteilen, von welcher Menge Blut wir auf den Teppichen sprechen, aber ich bin davon überzeugt, dass das sehr viel weniger ist, als das Blut vor dem Sessel. Wenn Sie mir bitte folgen? Die Blutspuren sind hier, hier und hier, gehen durch die Eingangstür und enden auf dem Gehweg.“

„Ein Auto?“

„Das vermute ich, ja.“

„Führen die Blutspuren von innen nach außen, oder umgekehrt?“

„Eine sehr gute Frage, Herr Schwartz.“ Fuchs lief hektisch auf und ab. „Nein, für mich sieht es so aus, als gingen die Spuren von innen nach außen. Um alle Zweifel aus dem Weg zu räumen, werde ich mir das nochmals genauer ansehen.“

„Nehmen wir an, dass das Opfer hier im Wohnzimmer vor dem Sessel verletzt wurde. Der Menge des Blutes zufolge muss die Verletzung recht groß sein. Nehmen wir weiter an, dass der Mann das Haus aus eigener Kraft verlassen hat. Müsste es in diesem Fall nicht sehr viel mehr Blutspuren geben, als das Wenige, das ich mit bloßem Auge gesehen habe? Die Spuren hier und hier sind noch recht groß, aber hier hören sie fast gänzlich auf. Die wenigen Tropfen und Spritzer bis zur Straße sind kaum der Rede wert.“

„Das sehe ich auch so. Gehen wir von einer sehr stark blutenden Verletzung aus. Wenn das Opfer sich notdürftig versorgt hat, wären die Spuren plausibel.“ Dann machte Fuchs eine Pause und sah sich hektisch um. „Wenn das Opfer aber so stark verletzt war, dass er sich nicht selbst helfen konnte oder sogar bereits tot war, suchen wir nach einer Möglichkeit, wie das Opfer aus dem Haus gebracht wurde.“ Fuchs war ganz in seinem Element. „Wir machen uns sofort an die Arbeit. Sorgen Sie dafür, dass alle das Haus verlassen, damit wir in Ruhe arbeiten können. Suchen Sie nach Personen, die sich im Haus auskennen. Nur die könnten bestätigen, ob etwas fehlt, falls wir nichts finden sollten.“

„Dazu bräuchte ich Unterlagen.“

„Die hat Ihre Kollegin Untermaier doch schon längst. Reden Sie nicht miteinander?“

„Du willst wieder alles genau wissen, oder? Warum gibst du dich nicht damit zufrieden, dass Esterbauer Opfer einer Gewalttat geworden ist, die im Wohnzimmer stattgefunden hat, nachdem er seinen Peiniger ins Haus gelassen hat?“ Viktoria hatte sich Leos Argumente angehört und heftig mit ihm diskutiert.

„Das ist mein Job. An jedem Tatort stelle ich mir vor, dass ich anstelle des Opfers sei. Und in dem Fall würde ich wollen, dass alles akribisch untersucht wird. Was spricht dagegen?“

„Nichts.“

„Wenn Esterbauer verletzt das Haus verlassen konnte, muss er sich versorgt haben. In diesem Fall muss er Verbandsmaterial in greifbarer Nähe gehabt haben. Ich für meinen Teil habe Verbandsmaterial im Badezimmer, so wie die Esterbauers, das habe ich kontrolliert. Zum Badezimmer führen keine Blutspuren, das können wir also ausschließen. Allein kann sich Esterbauer nicht versorgt haben. Sollte er aber tot sein, muss die Leiche irgendwie aus dem Haus geschafft worden sein. Aber wie? Ein erwachsener Mann von der Größe und Statur Esterbauers ist nicht leicht. Ob tot oder lebendig: Esterbauer muss irgendwie das Haus verlassen haben.“ Leo sah sich um. „Wir sollten uns bei den wenigen Nachbarn umhören, vielleicht hat jemand etwas gesehen.“

„Das übernehme ich“, sagte Hans. „Die wenigen Häuser schaffe ich alleine.“ Leos Ausführungen bestätigten seine Vermutung. Auch er hatte die wenigen Blutspuren gesehen, die an der Straße enden. Für sein Empfinden kamen diese Spuren nicht von einem Toten. Er war überzeugt davon, dass Esterbauer das Haus lebend verlassen hatte. Auch die Kollegen waren dieser Annahme. Denn für alle galt: Solange keine Leiche gefunden wurde, war der Mann lediglich verletzt.

Viktoria übergab Leo kommentarlos den Karton mit den Aktenordnern. Auch weil sie wusste, dass er recht hatte. Leo nahm sich den Ordner mit den Überweisungen vor, der Kollege Werner Grössert half ihm dabei. Schnell fanden sie heraus, dass es außer einer fest angestellten Haushaltshilfe noch einen Gärtner gab, der sich regelmäßig um den riesigen Garten kümmerte, was man diesem auch ansah. Außerdem hat Esterbauer einen persönlichen Sekretär. Als Leo dessen Gehaltszahlung las, pfiff er anerkennend.

„Der verdient so viel wie wir beide zusammen.“

„Das ist bei unseren mickrigen Gehältern kein Kunststück.“, sagte der einundvierzigjährige Werner, der auch heute wieder mit einem modernen, sicher sündhaft teuren Anzug aussah wie aus dem Ei gepellt. Werner entstammte einer reichen Familie, was er aber niemals raushängen ließ. Leo sah wie immer aus: Lederjacke, Jeans, alte Cowboystiefel und ein T-Shirt mit dem Konterfei eines Revoluzzers aus längst vergangenen Tagen, den niemand zu erkennen schien. Sonst waren auf seinen oft viel zu bunten T-Shirts Rockbands oder Sänger aufgedruckt, die auch selten erkannt wurden. Banausen!

Werner bestellte die Haushaltshilfe Grete Hofer sowie den Gärtner Franz Lobmann ein. Der Sekretär Tobias Mohr hatte einen Termin in München und versprach, so schnell wie möglich nach Mühldorf zu kommen. Da die Telefonverbindung sehr schlecht war, konnte Werner nicht erklären, worum es ging. Mohr hatte allerdings auch nicht danach gefragt. Sehr merkwürdig.

„Hier hat niemand etwas gesehen oder gehört.“, sagte Hans, der mit den Befragungen der Nachbarn tatsächlich sehr schnell durch war.

„Schade, das wäre auch zu schön gewesen.“

Franz Lobmann war zuerst vor Ort. Der einunddreißigjährige, große, muskulöse und sehr gutaussehende, dunkelhaarige Mann musste warten, bis Fuchs endlich den vermeintlichen Tatort freigab.

„Was soll ich in dem Haus? Ich war nur wenige Male drin und könnte frei Schnauze nicht einmal beschreiben, wie es da aussieht.“ Lobmann war genervt. Esterbauer war nicht sein einziger Kunde, auch wenn er der größte war. Gerade jetzt im Frühjahr hatte er jede Menge zu tun und hatte für so einen Mist hier überhaupt keine Zeit.

„Wie war Esterbauer als Chef?“

„Ganz normal. Ich habe meine Arbeit gemacht und er hat mich bezahlt. Wie lange dauert das hier noch?“

„Der Tod Esterbauers scheint Sie nicht sehr zu berühren“, bemerkte Leo, der den Mann nicht mochte.

„Warum sollte es? Menschen sterben nun mal, das ist der Lauf des Lebens. Esterbauer ist nicht der erste Kunde, den ich verliere.“

„Sie verlieren einen gewichtigen Kunden. Soweit wir das aus den Unterlagen ersehen, waren Sie mindestens die Hälfte der Woche hier beschäftigt, wenn nicht sogar mehr.“

„Und wenn schon. Ich habe sehr viele Aufträge, die ich nicht alle erfüllen kann. Ich bin sehr gut in meinem Job, die Leute reißen sich um mich. Wenn Esterbauer wegfällt, freuen sich andere.“

Die Kriminalbeamten waren schockiert über die Kaltschnäuzigkeit des Gärtners, der neben seiner ruppigen Art auch eine Arroganz ausstrahlte, die so gar nicht zu einem Gärtner passte. Oder hatten sie alle ein falsches Bild von diesem Beruf?

Fuchs gab endlich sein Okay, dass das Haus betreten werden durfte. Als er Leo ansah, schüttelte er den Kopf. Die Spurensicherung hatte also nichts gefunden. Lobmann betrat das Wohnzimmer, danach das Büro. Das Chaos schien ihn nicht zu beeindrucken. Er ging kommentarlos weiter und sah sich im ganzen Haus um. Als er fertig war, sah er Leo an.

„Ich kann Ihnen nicht sagen, ob etwas fehlt. Das habe ich Ihnen doch gleich gesagt.“

„Danke, Sie können gehen. Halten Sie sich zu unserer Verfügung, falls weitere Fragen auftauchen.“

„Was für ein Kotzbrocken!“, sagte Hans, als die Kriminalbeamten dem Gärtner hinterher sahen, wie der mit seinem Lieferwagen davonfuhr. „Wo bleibt die Haushaltshilfe? Müsste die nicht schon längst hier sein?“

Fuchs und seine Mitarbeiter waren längst weg. Die Kriminalbeamten warteten ungeduldig vor dem Haus.

„Wir müssen doch nicht alle hier blöd rumstehen“, maulte Werner. „Ich fahre ins Büro und fange mit der Durchsicht der Unterlagen an. Ist das in Ordnung?“

„Ich begleite dich!“, rief Hans schnell. Das würde eine der wenigen Gelegenheiten sein, in denen Viktoria und Leo allein sein konnten. Vielleicht hatte er Glück und sie würden ihre Differenzen endlich aus dem Weg räumen. Außerdem ließ ihn diese Eichendorffstraße nicht in Ruhe. Er musste dringend eine Liste mit gleichnamigen Straßen erstellen. Hatte er überhaupt richtig verstanden? Schließlich war heute Morgen alles sehr schnell gegangen. Er nahm sich vor, auch über ähnlich klingende Straßen eine Liste zu erstellen.

Leo war sauer. Er war nicht schnell genug gewesen und musste nun allein mit Viktoria hier warten. Musste das sein?

Auch Viktoria war nicht scharf darauf und stöhnte genervt. Als sie allein waren, ging sie die Straße auf und ab. Die Schaulustigen hatten sich längst verzogen, es gab hier nichts mehr zu sehen. Sollte sie mit Leo sprechen? War das jetzt der richtige Zeitpunkt? Leo war die Situation genauso unangenehm wie ihr, das konnte sie an seinem Gesichtsausdruck erkennen. Er versuchte ununterbrochen, Frau Hofer zu erreichen, bekam aber immer nur die Mailbox. Er fluchte leise.

„Wir müssen miteinander reden.“, fasste sich Viktoria ein Herz. „So kann das nicht weitergehen. Wir sind doch erwachsen. Ich habe mich sehr darauf gefreut, dich wiederzusehen. Deine kalte, abweisende Art schockiert mich. Warum sprichst du nicht mit mir? Können wir das, was zwischen uns steht, nicht endlich aus der Welt schaffen? Du kannst mir doch nicht ewig aus dem Weg gehen. Komm schon, sprich endlich mit mir!“ Ihr Herz klopfte, als sie direkt vor Leo stand, der ihrem Blick auswich.

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Ich verhalte mich ganz normal.“ Während er sprach, merkte er selbst, was er für einen Blödsinn von sich gab. Natürlich war er nicht normal, sondern hatte eine Stinkwut auf seine frühere Lebensgefährtin. Seit sie zurück war, ging es ihm schlecht und natürlich gab er ihr die Schuld. Wem sonst?

Viktoria wollte etwas darauf erwidern, kam aber nicht dazu. Eine junge Radfahrerin hielt direkt neben ihnen.

„Sorry, dass ich so spät komme. Ich hatte einen Arzttermin und konnte nicht früher weg. Können wir?“ Grete Hofer war Anfang dreißig und voller Temperament. Sie stellte ihr Fahrrad ab und strahlte die Kriminalbeamten an. Leo musste schmunzeln, er mochte fröhliche Frauen. Vor allem aber kam die Frau genau zum richtigen Zeitpunkt, sonst hätte er sich noch mit Viktoria privat unterhalten müssen und das wollte er auf keinen Fall.

Grete Hofer wusste bereits, weshalb sie hier war, und sah sich im ganzen Haus um. Das Chaos erschreckte sie zunächst, aber sie gewöhnte sich schnell daran.

„Der Teppich im Gästezimmer fehlt. Er ist dunkelblau mit roten Akzenten. Sehr schwer, sehr wertvoll und potthässlich. Frau Esterbauer hatte ihn vor einem Jahr von einer alten Tante geerbt und brachte es nicht übers Herz, ihn zu verkaufen oder zu verschenken. Also landete er im Gästezimmer.“

„Sie sind sich sicher?“

„Klar. Ich arbeite hier seit zwei Jahren und kenne jedes einzelne Stück. Wenn ich sage, dass der Teppich fehlt, dann ist das so.“

„Was können Sie uns über das Ehepaar Esterbauer sagen? Wie war deren Ehe? Gab es Streit?“

„Es gab sicher Streit, wie überall. Ob die beiden eine glückliche Ehe führten, kann ich nicht beurteilen und das steht mir auch nicht zu. Ich habe meine Arbeit gemacht und wurde anständig und pünktlich bezahlt. Frau Esterbauer war zu mir persönlich immer freundlich, aber distanziert. Zwischen uns gab es nur sehr wenige private Worte. Wenn ich meine Arbeit machte, war sie entweder beim Einkaufen oder hatte sonstige Termine. War sie zuhause, saß sie meist mit einem Buch im Wintergarten. Herrn Esterbauer habe ich nur sehr selten gesehen. Wenn er zuhause war, hat er sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen und die Tür geschlossen. Herr Esterbauer und ich haben uns nie unterhalten, das hat sich nicht ergeben. Aber er grüßte immer freundlich, wenn wir uns doch zufällig begegneten.“

„Sie haben verstanden, dass Frau Esterbauer ermordet wurde und dass wir nach Herrn Esterbauer suchen?“

„Sicher. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Das ist alles sehr schrecklich, keine Frage. Aber ich kannte die beiden nicht näher, habe kaum ein persönliches Wort mit ihnen gewechselt. Ich habe meine Arbeit gemacht und die beiden gingen mir aus dem Weg. Außerdem hätte ich meinen Job nach der gewonnenen Wahl sowieso verloren.“

„Warum das denn?“

„Esterbauer wäre als Minister des Bundes beruflich einen riesigen Schritt nach vorn gekommen. Es war ein offenes Geheimnis, dass die Esterbauers nach der gewonnenen Wahl nach Berlin umgezogen wären. Bei einer verlorenen Wahl wären sie wieder nach München gezogen. Herrn Esterbauers Eltern sind nicht mehr die Jüngsten und er als Sohn wollte in deren Nähe sein, was ich verstehen kann. Ich habe mitbekommen, dass das Haus hier verkauft werden sollte.“

„Wenn die beiden hiergeblieben wären, hätten sie ihren sicheren Job behalten können.“

„Früher oder später wäre ich für einen Mann in Esterbauers Position nicht die Richtige in seinem Umfeld gewesen, das wurde mir schon lange durch die Blume mitgeteilt. Ja, ich bin nicht die Klügste und kann auch nicht behaupten, dass ich von Ehrgeiz zerfressen bin. Als alleinerziehende Mutter eines kleinen Jungen hätte ich mich als Vorzeigeobjekt bestens geeignet. Allerdings gibt es zwei dunkle Flecke in meiner Vergangenheit, die sich für einen Saubermann in der Politik nicht gut machen. Sie finden es sowieso heraus, deshalb beichte ich lieber gleich, dass ich zwei Vorstrafen kassiert habe.“ Grete Hofer blickte in fragende Gesichter. „Drogendelikte in jungen Jahren, auf die ich als Mutter heute nicht stolz bin. Aber was soll ich machen? Ich kann die Vergangenheit nicht mehr ändern.“ Sie lachte. Es war offensichtlich, dass sie sich längst damit abgefunden hatte und nicht mehr darüber nachdachte.

„Der Verlust Ihres Jobs hätte Ihnen also tatsächlich nicht viel ausgemacht?“, fragte Viktoria.

„Nein. Jobs in Haushalten gibt es wie Sand am Meer. Ich bin sauber, ordentlich und zuverlässig. Leute wie ich werden gesucht, glauben Sie mir. Außerdem hätte ich sowieso in naher Zukunft gekündigt, denn ich bin echt nicht scharf darauf, ständig von irgendwelchen Security-Leuten überprüft zu werden oder mein Gesicht in Klatschzeitungen zu finden. Nein, danke, darauf kann ich gerne verzichten. Meine wilden Jahre sind längst vorbei, heute mag ich es eher ruhig.“

„Ist Ihnen in letzter Zeit irgendetwas Außergewöhnliches aufgefallen? Gab es Streit, waren Fremde im Haus, verdächtige Post oder dergleichen?“

„Nein, nicht, dass ich wüsste. Aber das heißt nichts. Ich interessiere mich nicht für meine Arbeitgeber, ich habe mit meinem eigenen Leben genug zu tun. Ich will einfach nur arbeiten und meine Kohle pünktlich kassieren, mehr nicht.“ Grete Hofer sah auf die Uhr. „Sind wir fertig? In zwei Stunden kommt mein Sohn nach Hause, und der möchte gerne sein Mittagessen pünktlich auf dem Tisch haben.“

„Eine Frage habe ich noch.“, sagte Leo, der von der herzerfrischenden Art der Frau begeistert war. „Nach den Unterlagen werden Sie fünf Tage die Woche beschäftigt. Warum waren Sie heute nicht hier?“

„Frau Esterbauer hat mir freigegeben.“

„Warum?“

„Ich habe nicht nach dem Grund gefragt, sondern habe den freien Tag gerne genommen.“

„Kam das oft vor?“

„Nein, eigentlich nicht. War es das jetzt? Ich muss los, das Essen macht sich nicht von allein.“

Leo und Viktoria sahen der jungen Frau hinterher.

„Das mit dem freien Tag ist sehr interessant.“, sagte Leo.

„Stimmt. Hast du gesehen, dass sie ein relativ neues E-Bike fährt?“

„Selbstverständlich. Diese Fahrräder kosten ein Vermögen. Wir sollten uns näher mit Grete Hofer beschäftigen, auch wenn ich einen guten Eindruck von ihr habe. Sie geht mit dem Tod ihrer Arbeitgeberin für meine Begriffe zu teilnahmslos um. Und der Gärtner gefällt mir auch nicht. Den scheint das Schicksal seiner Kunden auch wenig zu interessieren. Lass uns ins Präsidium fahren, vielleicht ist der Herr Sekretär schon eingetroffen.“

„Ich befürchte, dass wir zuerst mit Krohmer sprechen müssen. Er hat sicher schon mitbekommen, um wen es sich bei der Toten handelt.“

ENDSTATION

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