Читать книгу ENDSTATION - Irene Dorfner - Страница 8
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ОглавлениеDie Parteispitze, bestehend aus drei Personen, traf sich hinter verschlossenen Türen. Niemand durfte sie stören. Das war zum einen der Mühldorfer Kilian Martlmüller, die Brigitte Dickmann ebenfalls wohnhaft in Mühldorf, und der Münchner Xaver Thiel. Martlmüller leitete drei Pflegeheime, Thiel war Seniorchef einer Anlagefirma und Brigitte Dickmann war Anwältin mit eigener Kanzlei in Trostberg, auch wenn sie in Mühldorf lebte. Die drei lenkten von Anfang an die Geschicke der noch sehr jungen bayerischen Partei, die erst vor sechs Jahren gegründet worden war und deren Parteibüros sich bereits über das ganze Bundesland Bayern ausbreiteten. München, Mühldorf und Regensburg hatten den größten Anteil der neugewonnenen Mitglieder verzeichnen können, was nicht zuletzt an der blendenden Organisation und den sehr aktiven Politikern lag. Das aggressive Parteiprogramm schlug nicht nur damals, sondern auch noch heute hohe Wellen und traf den Nerv der Zeit. Als Hauptanliegen schrieb man sich die Interessen Bayerns auf die Fahnen. Der Länderfinanzausgleich, von dem auch Bayern einen großen Anteil zu bestreiten hatte, wurde stets zuerst genannt. Man befand es als ungerecht, dass mühsam erwirtschaftete Einnahmen auf andere Bundesländer verteilt würden. Die Vorschläge, was man mit diesem Geld in Bayern machen könnte, füllten mehrere Broschüren. Weitere, wichtige Punkte des Parteiprogramms war der Schutz bayerischer, mittelständischer Betriebe und deren Unterstützung sowohl im Steuer-, als auch im Erbrecht, der Bildungspolitik, sowie dem bayerischen Brauchtum. Die Mitgliederzahl wuchs und wuchs. Und mit Esterbauer als brillantem Redner hätten sie auf Bundesebene eine Chance gehabt, nicht nur gehört, sondern auch respektiert zu werden. Noch immer verspottete man die südlichen Bundesländer und machte sich über die Dialekte lustig, obwohl der Süden Deutschlands wirtschaftlich und finanziell am besten von allen dastand.
Die drei Parteiführer waren bestürzt über den Tod von Esterbauers Frau, aber noch mehr über dessen eigenes Schicksal. Als Thiel informiert wurde, war er sofort von München losgefahren, um sich mit Martlmüller und Dickmann zu treffen, für die nach diesen schlechten Neuigkeiten nun ebenfalls die Belange der Partei im Vordergrund standen. Die bevorstehende Wahl war ohne einen Spitzenkandidaten in Gefahr und das durfte nicht sein, sonst wären die letzten Jahre voller harter Arbeit und Entbehrungen doch völlig umsonst gewesen.
Verstand Martlmüller richtig? Hatte Brigitte Dickmann gerade mehrfach betont, dass sie auch nicht wisse, wo Esterbauer war? Er beobachtete sie genau. Sie vermied jeglichen Blickkontakt. War das Taktik, damit Thiel nichts mitbekam?
„Keiner weiß, wo Uwe ist. Ich habe heute mit dem Chef der Mühldorfer Kripo gesprochen. Die tappen noch völlig im Dunkeln.“ Martlmüller startete einen letzten Versuch, von Brigitte Dickmann einen eindeutigen Hinweis zu bekommen. Endlich sah sie ihn an und schüttelte mit dem Kopf. Sie wusste es tatsächlich nicht! Konnte das wahr sein? Was war schiefgelaufen?
„Mich wundert das nicht. Diese Provinz-Polizisten sind mit einem solchen Fall doch völlig überfordert.“, sagte Xaver Thiel. „Wir sollten München einschalten.“
„Das liegt nicht in unserem Entscheidungsbereich. Ich vertraue auf die hiesige Polizei“, sagte Martlmüller, der keine Sekunde an die Fähigkeiten der Provinzler glaubte. Er kannte Krohmer aus Kindertagen und mochte ihn nicht. Mit ihm an der Spitze konnte die Mühldorfer Polizei nichts sein. In Martlmüllers Augen machten die sowieso nur Dienst nach Vorschrift und hinkten bei allem hinterher. Nein, die Ermittlungen waren bei den Mühldorfern genau richtig aufgehoben. Eine übereifrige Polizei, die überall ihre Nase reinsteckte, konnte er nicht brauchen.
„Wir brauchen Esterbauer, ohne ihn sind wir aufgeschmissen.“
Eine heftige Diskussion entbrannte, in der vor allem Thiel seinen Frust abließ. Bis zu den Wahlen war nicht mehr viel Zeit. Wie sollte es weitergehen? Sollten sie darauf warten, ob Esterbauer doch noch auftauchte und alles auf eine Karte setzen? Brigitte Dickmann betonte erneut, dass sie nicht an eine Rückkehr Esterbauers glaubte. Sie brauchten eine neue Strategie.
„Wir müssen schnell handeln. Wir brauchen einen neuen Kandidaten und eine noch aggressivere Werbung, sonst haben wir nicht den Hauch einer Chance. Allein mit unserem Parteiprogramm kommen wir nicht weit. In Bayern haben wir viele Anhänger gewinnen können, auf Bundesebene wird das ungleich schwieriger. Wir brauchen ein charismatisches Zugpferd, der für unsere Partei brennt. Wen schlagt ihr vor?“ Brigitte Dickmann drängelte. Sie hatte wegen dieser Besprechung Termine verschieben müssen. Den Termin heute Nachmittag um 16.00 Uhr in ihrer Kanzlei musste sie unbedingt einhalten.
„Wir haben nur einen einzigen Mann, der dafür geeignet ist und auch zur Verfügung steht: Dieter Marbach.“
Brigitte Dickmann und Xaver Thiel verdrehten die Augen.
„Ja, ich weiß. Marbach ist kein begnadeter Redner. Mir gehen seine dummen Witze und das ständige Räuspern auch auf die Nerven. Hierin könnten wir ihn sicher noch verbessern, wenn wir ihm Profis zur Seite stellen, die ihn dabei unterstützen. Wir haben keinen anderen Mann, wir müssen ihn nehmen.“ Kilian Martlmüller kannte Marbach schon seit vielen Jahren. Sie schätzten sich, mochten sich aber nicht besonders. Das war innerhalb einer Partei auch nicht wichtig. Hier galt es, gemeinsame Ziele zu verfolgen und nicht, Freundschaften zu schließen.
„Willst du das nicht doch übernehmen, Kilian? Du bist ein Mühldorfer und jeder kennt und mag dich.“, versuchte es Thiel erneut. Schon seit Jahren bekniete er Martlmüller, diesen Job zu übernehmen.
„Das kommt überhaupt nicht in Frage, das weißt du doch. Nein, ich bin der Falsche dafür. Dieter Marbach ist unser Mann.“
„Ist der nicht sauer, dass wir ihn übergangen haben?“
„Sicher ist er das. Wenn wir auf ihn zugehen, wird er zunächst ablehnen und den Beleidigten spielen. Wir alle kennen Marbach. Der Mann ist von Ehrgeiz zerfressen und wird letzten Endes annehmen.“, stöhnte Thiel, der keine Lust auf den Mann und seinen Marotten hatte. Aber außer Kilian Martlmüller, der sich vehement weigerte, stand neben Marbach kein adäquater Kandidat zur Verfügung, sie mussten wohl oder übel in den sauren Apfel beißen. Dass er oder die Dickmann den Job übernahmen, stand außer Frage. Sie waren politisch interessiert und waren Feuer und Flamme für ihre Ziele, aber keiner wollte an die Front, ebenso wenig wie Martlmüller. Für diesen Job musste man sehr viel mehr mitbringen, dafür war keiner von ihnen geeignet oder bereit.
„Lasst uns das Gespräch mit Marbach hinter uns bringen. Je eher wir mit der Umstrukturierung beginnen können, desto besser.“, entschied Thiel und rief Marbach an. Das Gespräch dauerte nicht sehr lange. Thiel hatte den Eindruck, als hätte Marbach auf den Anruf gewartet.
„Wusste ich’s doch“, schmunzelte Marbach, als er aufgelegt hatte. Er saß immer noch mit seiner Frau beim Mittagessen. Er wusste ja, dass die Krisensitzung der Chefs stattfand – und er musste nur warten. Mehrfach hatte seine Frau Klara ihn auf den Grund des Essens angesprochen, aber er hatte nicht darauf geantwortet. Warum sollte er sich den Spaß nehmen lassen, ihr die Neuigkeit zu präsentieren, wenn er darum gebeten wurde? Noch lag alles in der Schwebe, noch hatte ihn die Parteispitze nicht auf den Posten angesprochen.
Klara Marbach wurde immer ungehaltener. Sie waren längst mit dem Essen fertig und sie drängte darauf, endlich zu gehen. Sie hatte keine Lust mehr, in der bürgerlichen Gaststätte, die ihr Mann ausgesucht hatte, ihre Zeit zu vergeuden. Sie fühlte sich deplatziert zwischen den anderen Gästen, die nicht ihrem Niveau entsprachen. Klara spürte, dass ihr Mann irgendetwas vorhatte. Seine Laune war heute ausgesprochen gut, aber ihren Fragen wich er ständig aus. Was war los mit ihm? Als sie das Telefonat verfolgte, verstand sie endlich: Ihr Mann war wieder im Rennen! Er hatte es doch noch geschafft, als Spitzenkandidat auf Bundesebene antreten zu dürfen. Klar lag das hauptsächlich an dem Verschwinden Esterbauers, von dem ihr Mann vorhin als Erstes gesprochen hatte und das sie schockierte. Auch der Tod seiner Frau traf sie sehr, denn sie kannten sich, auch wenn sie sich nicht mochten. Warum die Frau getötet wurde, war Sache der Polizei und ging sie nichts an. Der Grund, warum ihr Mann jetzt wieder ganz vorne mitspielte, war ihr völlig gleichgültig. Nachdem ihr Mann im letzten Jahr dem neuen Spitzenkandidaten unterlegen war, war sie enttäuscht gewesen. Die vielen Entbehrungen und Mühen waren alle umsonst gewesen. Aber jetzt hatte sich der Wind gedreht und ihr Mann war jetzt am Ruder. Sie sah ihn mit anderen Augen an und lächelte. Wenn er die erforderliche Hürde schaffen würde, und davon war sie überzeugt, dann waren ihre Tage in Mühldorf gezählt, dann stand dem Umzug nach Berlin nichts mehr im Weg. Endlich raus aus dem Muff der Kleinstadt in die große, weite Welt. Sie musste einkaufen gehen, denn für die bevorstehenden Auftritte und Empfänge hatte sie nicht genug zum Anziehen. Wem sie wohl in Zukunft alles begegnen würde?
„Klara? Träumst du?“ Dieter Marbach hatte mehrfach versucht, mit seiner Frau zu sprechen, aber sie hörte ihm nicht zu. Er wurde wütend, denn die Neuigkeit, die er zu berichten hatte, war immens wichtig.
„Ja, mein Lieber, ich träume. Von Berlin und den vielen Auftritten, die ich mit dir gemeinsam haben werde“, strahlte sie.
Marbach musste lachen. Klara hatte bereits verstanden, worum es in dem Telefonat ging. Was hatte er nur für eine schlaue Frau an seiner Seite! Klaras Leben würde sich jetzt schlagartig ändern und das schien sie ebenfalls zu wissen. Er hatte sie schon lange nicht mehr so glücklich gesehen. Ja, sie war klug, hübsch und sehr gebildet. Außerdem sprach sie mehrere Sprachen. Ein Talent, das er nicht hatte. Mit ihr an seiner Seite hatte er einen fetten Pluspunkt, den Esterbauer mit seiner blassen, nichtssagenden Frau nicht gehabt hatte. Gedanklich wischte er seinen Kontrahenten beiseite, der war Geschichte. Marbach freute sich auf eine rosige Zukunft mit der klugen, hübschen Frau an seiner Seite.
Als Thiel zum vereinbarten Treffpunkt mit Marbach davonfuhr, stieg Martlmüller aus seinem Wagen und setzte sich zu Brigitte Dickmann in deren Wagen, der weitaus größer und protziger war, als seiner.
„Du sagst mir jetzt auf der Stelle, was los ist. Wo ist Esterbauer?“
„Habe ich nicht oft genug betont, dass ich es nicht weiß? Das Ganze ist komplett aus dem Ruder gelaufen. So sollte das alles nicht ablaufen. Esterbauer und seine Frau sollten nur verschwinden, ich habe niemals von Mord gesprochen.“ Brigitte Dickmann schlug mit der Hand aufs Lenkrad.
„Was ist passiert?“
„Das weiß ich nicht. Ich bekam heute Morgen lediglich einen Anruf, dass die Esterbauer erledigt wäre und Uwe verschwunden ist. Mehr erfahre ich heute Nachmittag um 16:00 Uhr.“
„Sind die Unterlagen wenigstens in Sicherheit?“
„Das weiß ich nicht, das erfahre ich auch heute Nachmittag. Ich habe Angst, Kilian. Wir hätten das nicht tun dürfen. Wir tragen Mitschuld am Tod der Frau.“
„Wir mussten handeln, Esterbauer ließ uns keine andere Wahl. Er wollte nicht nur uns beide vernichten, sondern auch der Partei schaden, und das konnten wir nicht zulassen. Heideroses Tod haben wir nicht zu verantworten. Er hätte nur das Geld annehmen und den Mund halten müssen, mehr nicht.“
„Verstehst du das denn nicht? Wir haben jemanden damit beauftragt, Esterbauer und seine Frau verschwinden zu lassen. Jetzt ist die Frau tot. Und ich habe keine Ahnung, was mit Uwe geschehen ist. Wir sind schuld an dem Ganzen, wir haben die Lawine losgetreten!“
„Das sehe ich anders. Wir wollten lediglich, dass die beiden bis nach der Wahl verschwinden, mehr nicht. Ich habe nie von Mord gesprochen. Du etwa?“
„Natürlich nicht! Niemals! Nach der Wahl wäre das Ausmaß des Skandals nicht mehr so wichtig gewesen, kaum jemand hätte sich dafür interessiert. Wir hätten bis dahin genug Zeit gehabt, Spuren zu vernichten und die Gelder in Kanäle verschwinden zu lassen, die so leicht keiner findet. Dafür habe ich einen Computerfreak engagiert, der aber dafür sicher noch mindestens eine Woche oder ein paar Tage länger braucht.“ Brigitte Dickmann machte eine Pause. „Vielleicht hätten wir Uwe doch noch dazu bringen können, von seinem Vorhaben abzulassen. Wenn wir wenigstens die Unterlagen hätten. Die Gefahr ist noch nicht vorüber, Kilian. Sollte Uwe doch noch auftauchen, ist alles vorbei.“
„Dann darf er nicht mehr auftauchen. Mach das heute Nachmittag deutlich, Geld spielt keine Rolle. Uwe muss weg. Wenn er erledigt ist, brauchen wir keine Angst mehr vor einer Enthüllung zu haben. Lass uns fahren, bevor Thiel Verdacht schöpft.“
Brigitte Dickmann zitterte. Was verlangte Kilian von ihr? Sie musste diese Anweisung heute Nachmittag weitergeben. Kilian hatte Recht. Ja, Uwe durfte nicht mehr auftauchen, sonst konnte sie ihre Kanzlei schließen und auch Kilian wäre ruiniert. Warum war Uwe so neugierig gewesen? Warum wollte er ihr, Kilian und auch der Partei schaden?
Xaver Thiel wartete ungeduldig vor dem Restaurant in Altötting, in dem sie sich in Ruhe mit Marbach unterhalten wollten. Wo blieben Brigitte und Kilian? Die beiden benahmen sich heute sehr merkwürdig. Er hatte die kurzen, vielsagenden Blickkontakte zwischen ihnen sehr wohl bemerkt. Was lief zwischen den beiden? Hatten sie etwas mit dem Verschwinden Esterbauers und dem Mord an dessen Frau zu tun? Er wischte die Gedanken beiseite und lächelte. Er hätte den Krimi gestern Abend nicht mehr ansehen sollen.
Die Unterredung mit Dieter Marbach hatte nicht lange gedauert. Anfangs wollte er sich zieren und den Beleidigten geben, aber das gelang ihm nicht wirklich. Zu sehr freute er sich über die neue Situation. Ohne lange zu überlegen sagte er spontan zu. Selbstverständlich übernahm er die Kandidatur.
„Steht Ihre Frau hinter Ihnen? Die nächsten Monate bis zur Wahl müssen ohne Probleme verlaufen.“
„Von meiner Seite aus wird es keine Probleme geben, Sie können sich darauf verlassen. Klara steht voll und ganz hinter mir.“
„Sehr gut. Es ist wichtig, dass sich Ihre Frau regelmäßig sehen lässt. Heiderose wollte das nicht und in Uwes Fall war das auch nicht nötig gewesen. Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, wenn ich sage, dass Uwe sehr viel mehr Charisma hatte und ein begnadeter Redner war. Sie haben hier einige Defizite, die wir hoffentlich mit Hilfe von Profis beseitigen können, Herr Marbach. Oder darf ich Dieter sagen?“
„Selbstverständlich!“ Marbach grinste breit, denn auch Martlmüller und die Dickmann boten ihm das Du an. Er war jetzt mit der Parteispitze auf Du und Du.
„Deine Frau wird dich also begleiten und dich auch unterstützen? Bis zur Wahl ist nicht mehr viel Zeit, deshalb müssen wir alle Register ziehen.“
„Klara freut sich auf die neue Aufgabe, die sie zu eurer vollsten Zufriedenheit erledigen wird.“
Dann musste alles sehr schnell gehen. Der Fotograf der Werbeagentur war bald darauf vor Ort und Marbach musste Fotos in unterschiedlichen Posen und mehreren Outfits von sich machen lassen. Als die am Ende des Tages fertig waren, war er glücklich, aber auch völlig erschöpft.