Читать книгу Engelchen... - Irene Dorfner - Страница 11
6.
ОглавлениеWie viel Zeit war vergangen? Maja war erstaunt, dass ihre Gedanken immer klarer wurden, und dass sie ihren Körper mehr und mehr unter Kontrolle bekam. Sie achtete darauf, dass die Frau, die sich um sie kümmerte, ihre Veränderung nicht bemerkte. Sie hatte aus dem letzten Vorfall gelernt und musste sich davor hüten, sich irgendwie auffällig zu benehmen. Sie wusste, dass sie dann wieder ruhiggestellt wurde, und das durfte sie nicht riskieren. Sie musste jetzt taktisch klug vorgehen und durfte nicht unüberlegt handeln. Die Pflege ließ sie über sich ergehen. Auch, dass sie gefüttert wurde, nahm sie hin. Sie achtete darauf, sich so zu benehmen, als sei sie nicht ganz bei sich, obwohl sie klarer und klarer wurde. Sie benahm sich wie eine hilflose Patientin, und diese Schwester nahm ihr das ab. Die Stunden vergingen und ihr ging es langsam immer besser.
Schwester Silke wunderte sich zwar darüber, dass sich die Patientin trotz der Herabsetzung der Medikamente sehr ruhig verhielt, schob das dann aber auf ihre Erkrankung. Frau Ettl war nach den wenigen Tagen ihres Aufenthalts zu einer ihrer Lieblingspatienten geworden. Schwester Silke hatte mitbekommen, dass morgen Dr. Aicher erwartet wurde, der ein Gutachten über die Patientin Ettl erstellen wollte. Warum diese Eile? Normalerweise würde die Patientin lange behandelt, bevor ein Gutachten erstellt wurde. Sie besah sich die Akte genauer. Bis jetzt wurden bei der Patientin nur wenige Untersuchungen vorgenommen, wobei nichts herauskam. Das war ungewöhnlich. Bis Samstag wurden zu den Medikamenten, die sie der Patientin gab, von Dr. Salzberger persönlich weitere Medikamente verabreicht. Was war nur mit der Frau? Warum wurde sie mit so vielen, starken Medikamenten ruhiggestellt? Bisher hatte sie nicht den Eindruck, dass das nötig war. Aber sie war nur Krankenschwester und keine Ärztin. Seit Sonntag wurden die Medikamente auf ein Minimum reduziert, aber trotzdem änderte sich der Zustand der Patientin nicht. Sie schlief und war apathisch wie die Tage zuvor. Schwester Silke hoffte auf das Gutachten von Dr. Aicher. Sobald er die Patientin untersucht hatte, ging es mit ihr sicher schnell wieder bergauf. Sie sah sich die schlafende Patientin lange an. Dann wurde sie zu einem Notfall gerufen.
Maja war wach und tat nur so, als würde sie schlafen. Wann ging die Frau endlich? Nicht mehr lange, und sie würde sich verraten. Sie fühlte sich immer besser. Letzte Nacht ging sie einige Schritte im Zimmer auf und ab, was sehr anstrengend war. Aber sie biss die Zähne zusammen und zwang sich dazu, denn der Kreislauf hatte durch das ständige Liegen sehr gelitten. Sie musste wieder zu Kräften kommen, bevor sie an eine Flucht denken konnte. Sie wollte nach Hause zu ihren Kindern.
Schwester Silke war weg. Endlich! Maja setzte sich auf und streckte ihre Glieder. War das ihre Akte, die auf ihrem Nachttisch lag? Mit zitternden Händen nahm sie die Mappe an sich. Ja, das war ihre Akte, in der sie nur als Patientin bezeichnet wurde. Sie hatte keine medizinischen Vorkenntnisse und verstand nicht viel von dem, was drinstand. Die Medikamentenliste erschreckte sie. Sie zählte die vielen Positionen und hörte bei der Hälfe auf. Das brachte nichts, das kostete nur unnötig viel Zeit. Sie nahm das Blatt aus den Unterlagen und steckte es in ihre Socke. Hektisch blätterte sie in den Unterlagen und suchte nach dem Namen ihres Mannes, der aber nirgends auftauchte. Hatte sie von ihm keinen Besuch bekommen? Wusste er, wo sie war? War er für ihre Einweisung verantwortlich? Endlich fand sie eine Seite, mit der sie etwas anfangen konnte: Sie wurde am 3. August hier eingeliefert. Welcher Tag war heute? Sie hatte das Gefühl, schon eine Ewigkeit hier zu sein. Wie viele Tage, Wochen oder gar Monate war sie bereits hier? Sie blätterte bis zum letzten Eintrag, den Schwester Silke offensichtlich heute vorgenommen hatte: Heute war der 9. August!
Schwester Silke bemerkte nach dem Notfall sehr schnell, dass sie die Patientenakte Ettl in deren Zimmer vergessen hatte. Das war strengstens verboten und der Chef konnte sehr ungehalten sein, wenn er davon erfuhr. Rasch ging sie zu Frau Ettl, die ruhig in ihrem Bett lag. Gott sei Dank! Die Akte lag genau dort, wo sie sie liegengelassen hatte. Instinktiv fasste Schwester Silke an die Stirn der Patientin und wunderte sich. Sie war viel zu warm. Dann maß sie ihren Blutdruck. Der war viel zu hoch.
Maja wurde nervös. Was, wenn Schwester Silke wieder mit Medikamenten reagierte, wenn ihr ihr Zustand nicht gefiel? Sie musste umgehend reagieren und öffnete die Augen.
„Besuch…? Mein Mann…? Kinder…?“, stammelte Maja und sah Schwester Silke dabei flehend an.
„Sie dürfen noch keinen Besuch empfangen,“ sagte Schwester Silke und nahm ihr Handy. „Dr. Salzberger? Die Patientin Ettl ist aufgewacht und verlangt nach Besuch. Ihre Stirn ist heiß, der Blutdruck ist bei 150:100. Soll ich ihr etwas zur Beruhigung geben?“
Bitte nicht! Maja schloss die Augen und zwang sich, ganz ruhig zu bleiben, vielleicht gab sich die Frau damit zufrieden.
Dr. Salzberger saß im Restaurant des Golfclubs. Hier, zwischen all den Bekannten konnte er nicht frei sprechen. Er musste jedes einzelne gesprochene Wort sorgsam auswählen.
„Wie ist ihr Allgemeinzustand?“
„Sie ist ruhig. Es sieht so aus, als wäre sie wieder eingeschlafen.“
„Dann brauchen Sie ihr nichts geben,“ sagte Dr. Salzberger und war beruhigt. Scheinbar wirkten die bisherigen Medikamente noch nach. Zwar hatte er so eine Reaktion bisher noch nie erlebt, schob das aber auf die Tatsache, dass die Patientin keine Medikamente gewohnt war.
Dr. Salzberger nahm das Gespräch mit seinem Gegenüber wieder auf. Diese Schwester Silke war zwar fleißig und zuverlässig, nahm ihren Job aber manchmal viel zu genau. Er konnte es nicht riskieren, der Patientin am Tag vor dem Gutachten nochmals Medikamente zu geben. Die Dosen der ersten Tage waren schon viel zu hoch gewesen und er konnte keinen Kreislaufzusammenbruch riskieren. Er musste auch damit rechnen, dass Dr. Aicher eine Blutprobe von der Patientin verlangte, was ihm Kopfschmerzen bereitete. Das musste er unbedingt verhindern. Den Medikamenten-Cocktail, den er bei besonders schwierigen Patienten gerne einsetzte, hatte er selbst kreiert. Er hatte bisher sehr gute Erfolge damit erzielt. Niemand hatte ihn bislang dahingehend kontrolliert, was ein großes Glück war, denn die Zusammenstellung war grenzwertig. Warum wohl saß er immer wieder mit Leuten zusammen, die für solche Überwachungen zuständig waren? Entsprechende Medikamentenrechnungen ließ er verschwinden, einige Präparate wurden ihm von den Pharmareferenten kostenlos überlassen. Seine Unterlagen waren sauber. Niemand käme auf die Idee, ihn kontrollieren zu wollen oder ihm zu misstrauen. Und wenn, dann konnte man ihm nichts nachweisen.
Bis morgen früh durften der Patientin keine Medikamente verabreicht werden. Erst dann bekam Frau Ettl kurz vor Dr. Aichers Eintreffen ein starkes Beruhigungsmittel. Er brauchte ihm die hohe Dosierung ja nicht auf die Nase binden. Dr. Salzberger war sich sicher, dass die Patientin genauso reagieren würde, wie er sich das wünschte. Er war schon immer ein glühender Fan der Pharmaindustrie gewesen und nutzte jedes Präparat, das neu entwickelt wurde. Für ihn war es erstaunlich, welche Neuerungen immer wieder für den Markt entwickelt wurden.
Er war euphorisch und bestellte sich ein weiteres Glas Champagner, das er sich eigentlich nicht leisten konnte.
Schwester Silke ging. Sie ging tatsächlich! Maja konnte ihr Glück kaum fassen. Sie musste hier weg, und zwar so schnell wie möglich. Länger wollte und konnte sie nicht mehr warten. War sie für eine Flucht fit genug? Das musste sie riskieren.
Sie wartete bis nach der Essensausgabe. Dann machten die Pflegekräfte ganz sicher auch eine Mittagspause. Schwester Elke fütterte ihr geduldig die gewürzarme Kost, die optisch nicht zu identifizieren war. Geduldig ließ sie die Prozedur über sich ergehen. Dann ging Schwester Elke und Maja tat so, als würde sie schlafen.
Als die Tür geschlossen wurde, stand sie auf und öffnete den Schrank, in dem aber leider keine Kleidungsstücke verstaut waren. Was hatte sie angehabt, als sie eingeliefert wurde? Sie konnte sich nicht daran erinnern. Es blieb ihr keine andere Wahl, sie musste mit dem Nachthemd und auf Socken flüchten.
Maja war sehr wacklig auf den Beinen, als sie vorsichtig und umsichtig durch die sterilen, fast leeren Gänge des Krankenhauses schlich. Nur ab und zu begegnete sie Patienten, die aber keine Notiz von ihr nahmen. Zielgerichtet ging sie weiter, wobei sie sich an den Hinweisschildern orientierte. Der Ausgang war nicht mehr weit, sie konnte ihn bereits sehen. Am liebsten wäre sie sofort losgelaufen, aber das wäre viel zu auffällig gewesen. Am Empfang neben der Eingangstür saß eine ältere Frau. Mist! Maja musste warten und einen günstigen Moment abwarten. Dann klingelte das Telefon am Empfang. Die Frau stand auf und verschwand im angrenzenden Zimmer. Das war die Gelegenheit! Maja lief los so schnell sie konnte. Dass sie gerade noch einer Pflegerin entkam, wusste sie nicht. Unerkannt lief sie über den Parkplatz, wobei sie mehrmals stolperte und drohte, hinzufallen. Ihre Beine wurden schwerer und schwerer, ihre Schritte wurden kleiner. Aber sie riss sich zusammen, sie dachte nur an ihre Kinder. Mehrmals musste sie stehenbleiben und durchatmen. Am liebsten hätte sie sich hingelegt und würde sich ausruhen, aber das durfte sie nicht. Sie musste weg hier, und zwar so schnell und so weit wie möglich.
Maja hatte großes Glück und wurde mitgenommen. Natürlich wunderte man sich über ihr Aussehen. Maja erfand eine Geschichte, dass sie vor einem gewalttätigen Mann davongelaufen wäre, was ihr alle abnahmen und wofür sie sich schämte. Sandro war ihr gegenüber niemals grob geworden. In der Hinsicht war er harmlos. Aber wie sonst hätte sie ihr Aussehen erklären sollen? Sie wollte nur nach Hause und ihre Kinder in die Arme schließen. Und dafür war ihr jede Ausrede recht.
Schwester Silke starrte fassungslos auf das leere Bett. Frau Ettl war weg! Hektisch suchte sie im Bad und krempelte dann das ganze Haus um. Von der Patientin war nicht die geringste Spur zu finden. Es war nach 16.00 Uhr. Wie lange war sie weg? Egal. Sie musste das dem Chef beichten und fürchtete seine Reaktion.
Als Dr. Salzberger hörte, dass Frau Ettl verschwunden war, war er außer sich. Er schimpfte und fluchte, dazu schrie er Schwester Silke fortwährend an und machte ihr Vorwürfe. Er gab Schwester Silke nicht den Hauch einer Chance, sich zu rechtfertigen. Schon vor Monaten wurde dringend benötigtes Personal aus Kostengründen entlassen. Sie und ihre Kolleginnen mussten sehr viele Überstunden machen, wofür alle aufgrund der drohenden Arbeitslosigkeit gerne bereit waren. Aber sie konnten nicht rund um die Uhr überall sein.
Dr. Salzberger wusste um die Situation, aber er war trotzdem wütend. Das hätte nicht passieren dürfen. Die Patientin hätte nicht einfach verschwinden dürfen.
„Die Patientin Ettl ist abgehauen,“ musste Dr. Salzberger am Telefon zugeben.
„Sie ist weg? Wie konnte das geschehen?“
„Wir sind personell unterbesetzt…“ versuchte sich Dr. Salzberger zu rechtfertigen.
„Das ist mir doch völlig egal! Ich habe mich auf Sie verlassen.“
„Ich kann mich nur dafür entschuldigen. Frau Ettl hat kein Geld und keine Papiere bei sich. Außerdem ist sie im Nachthemd ohne Schuhe unterwegs. Ich gehe davon aus, dass sie nicht weit kommt. Die Polizei ist bereits informiert.“
„Unterschätzen Sie die Frau nicht. Ich bin mir sicher, dass sie es schafft, nach Hause zu kommen. Ich kümmere mich darum. Wenn ich sie finde, melde ich mich bei Ihnen. Halten Sie sich bereit. Sollte sie tatsächlich nach Hause gelangen, müssen wir schnell handeln.“
Maja musste warten, bis es dunkel wurde. In Mühldorf kannte sie jeder und sie zog es vor, in diesem Aufzug nicht durch ihre Heimatstadt zu spazieren. Nach 22.00 Uhr konnte sie nicht mehr warten, die Sehnsucht nach ihren Kindern wurde übermächtig. Sie ging los und gelangte endlich auf das Grundstück ihres Hauses. Sie ging durch den Garten, den sie liebevoll angelegt hatte und stets selbst pflegte. Alles hier war ihr vertraut. Obwohl ihre Glieder schmerzten und sie großen Hunger und vor allem Durst hatte, war ihre Euphorie groß. Die Nacht war warm. Wie lange war es schon warm? Die Tage gingen an ihr vorbei, ohne dass sie Notiz davon genommen hatte.
Das Fenster des Esszimmers stand offen und sie erkannte ihren Mann. Er war hier! Gleich konnte er ihr erklären, was passiert war und warum sie in dieser schrecklichen Klinik war. Nur noch wenige Augenblicke und sie konnte endlich ihre Kinder in die Arme nehmen.
Sie trat näher ans offene Fenster. Mit wem sprach ihr Mann? Telefonierte er? Nein, er hatte Besuch. Sie vernahm eine Stimme, die ihr sehr vertraut war: Ihre Schwiegermutter war hier! Elfriede kam nie zu Besuch. Was wollte sie von ihrem Sohn? Die beiden sahen sich jeden Tag im Büro. Was gab es so Wichtiges zu besprechen, was nicht im Büro geklärt werden könnte? Hier stimmte etwas nicht. Maja bekam Angst und trat näher ans Fenster.
„Maja ist verrückt geworden, sieh das endlich ein!“, sagte Elfriede Ettl viel zu laut.
„Sie ist nicht verrückt. Vielleicht ist sie überarbeitet oder gestresst. Morgen werde ich sie besuchen. Wenn es nötig ist, nehme ich die Polizei mit.“
„Sei doch vernünftig Sandro. Maja ist krank und braucht Hilfe, das hat Dr. Salzberger bestätigt. Gib ihr noch ein paar Tage. Gib ihr die Chance, in Ruhe gesund zu werden.“
„Trotzdem möchte ich meine Frau sehen.“
„Das wirst du, sobald sie sich erholt hat,“ sprach Elfriede Ettl jetzt sanfter und strich ihrem Sohn dabei über den Kopf. Seit wann war ihre Schwiegermutter so fürsorglich? Maja hatte bei der herzlosen, kalten Frau nie punkten können. In ihren Augen war Maja die falsche Partie, sie hatte sich für ihren Sohn eine bessere gewünscht. Von Anfang an waren die beiden aneinandergeraten. Immer mischte sie sich in Dinge ein, die sie nichts angingen. Dann hatte sie ihr nach einem heftigen Streit die Wahrheit gesagt. Für einen Moment hatte Elfriede die Fassung verloren und hatte geweint. Nur ganz kurz. Und dann war sie gegangen. Sie und ihre Schwiegermutter gingen sich seitdem aus dem Weg. Wenn sie ihre Enkel sehen wollte, was nicht sehr oft vorkam, fuhr Sandro mit den beiden allein zu ihr. Zu Familienfesten wurde Elfriede zwar eingeladen, hatte aber immer eine passende Ausrede parat. Und jetzt war sie hier. In ihrem Haus. Was wollte sie hier?
„Wer ist dieser Dr. Salzberger? Woher kennst du ihn?“
„Dein Vater nahm vor seinem Tod dessen Hilfe in Anspruch. Du wirst dich daran erinnern, dass es deinem Vater psychisch nicht gutging und er in eine Klinik musste?“
„Ja, ich erinnere mich.“
„Dr. Salzberger hat deinem Vater helfen können. Obwohl ich den Mann nicht mag, scheint er sehr gut zu sein. Bei Majas Zustand war ein Facharzt die bessere Wahl als ein normaler Arzt, deshalb rief ich Dr. Salzberger an. Außerdem ist es auch für die Firma besser, wenn Maja nicht in Mühldorf oder in unmittelbarer Nähe behandelt wird. Einen Skandal oder Gerede können wir uns nicht leisten. Die Wogen nach dem Tod deines Vaters haben sich geglättet. Der Unfall hat der Firma nicht so sehr geschadet, wie wir befürchtet haben. Die Firma hat sich gerade erst erholt. Weiteres Gerede wäre Gift für uns.“ Elfriede Ettl sprach mit Engelszungen auf ihren Sohn ein. Sie musste ihn davon abhalten, eine Dummheit zu begehen. Maja war am Chiemsee sehr gut aufgehoben. Elfriede hatte die Kinder zu sich genommen und sorgte dafür, dass es ihnen gut ging, Sandro war dazu nicht in der Lage. Es machten bereits Gerüchte die Runde, die aber nicht so schlimm waren. Sollte Sandro jetzt überreagieren, goss er damit Öl ins Feuer. Und wenn Maja hier auftauchte, war die Katastrophe komplett. Sie musste ihren Sohn beruhigen. Es war jetzt wichtig, dass er sich zurückhielt. Sandro war schon immer ein Sorgenkind gewesen. Seine labile, unterwürfige Art war nicht gut fürs Geschäft. Ja, sie hatte sich für ihn eine passendere Partie gewünscht. Aber Maja hatte ganz im Gegensatz zu ihrem Sohn eine starke Persönlichkeit. Sie wusste genau, was sie wollte und widersetzte sich ihr, wo sie nur konnte. So wie sie war ihre Schwiegertochter ein Alpha-Tier, das konnte auf Dauer nicht gutgehen. Sie stritten über jede Kleinigkeit, was ihr sogar Vergnügen bereitete. Es gab nicht viele Menschen in ihrem Umfeld, die ihr die Stirn boten. Vor drei Jahren hatte sie dann die schreckliche Wahrheit erfahren und Maja tat ihr unendlich leid. Schockiert hatte sie sich zurückgezogen. Hätte sie sich anders verhalten sollen? Hätte sie auf Maja zugehen und mit ihr sprechen sollen? Das schaffte sie nicht. Sie war ja selbst völlig am Ende und musste sich darum kümmern, das Problem aus der Welt zu schaffen, und das hatte sie getan. In den letzten drei Jahren war alles gut. Die Firma lief hervorragend und man sprach nicht mehr über den Unfall. Warum gab es jetzt schon wieder Schwierigkeiten? Es war ihre Pflicht, alles dafür zu tun, um Sandro zurückzuhalten.
„Maja ist krank und braucht professionelle Hilfe,“ sprach Elfriede Ettl weiter auf ihren Sohn ein. „Ich flehe dich an meine Junge: Lass sie in Ruhe gesund werden.“
„Gut, ich gebe ihr noch ein paar Tage,“ sagte Sandro schließlich und schenkte sich ein Glas Wein ein.
„Es gibt ein Problem,“ sagte Elfriede. Jetzt musste sie ihm die Wahrheit sagen. Wie wird ihr Sohn reagieren? Am liebsten wäre sie davongelaufen, aber sie musste stark bleiben. Irgendjemand musste stark bleiben, ihr Sohn war dazu nicht in der Lage. Sie holte tief Luft und stützte sich an der Tischplatte ab. „Ich bekam einen Anruf aus der Klinik. Maja ist verschwunden. Die Polizei ist bereits informiert und sucht nach ihr. Es könnte sein, dass sie hierherkommt. Sollte sie hier auftauchen, müssen wir sofort Dr. Salzberger anrufen. Er kümmert sich darum, dass sie wieder in die Klinik gebracht wird.“
„Maja ist abgehauen?“
„Ja, bitte beruhige dich. Niemand kann sich erklären, wie sie das geschafft hat. Zuhause ist sie nicht gut aufgehoben. Hier bekommt sie nicht die Pflege, die sie braucht. Dr. Salzberger befürchtet sogar, dass sie eine Gefahr für die Kinder darstellt. Es war richtig gewesen, dass ich die Kinder zu mir genommen habe. Bei mir kommen sie zur Ruhe und sind sicher.“
Sandro Ettl schloss plötzlich das Fenster und Maja erschrak. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie wäre erwischt worden. Ihre Kinder waren nicht hier! Warum? Warum kümmerte sich Sandro nicht um sie? Ihre Schwiegermutter war für die Einweisung in die Klinik verantwortlich, das hätte sie sich denken können. Diese Schlange! Sandro hatte nichts damit zu tun. Gott sei Dank! Sie musste jetzt dringend mit ihm sprechen und mit ihm gemeinsam die Kinder zurückholen. Mit Sandro an ihrer Seite konnte sie rasch aufklären, dass sie nicht krank war und dass ein Klinikaufenthalt nicht nötig war. Wann verschwand Elfriede endlich? Sie musste endlich gehen, damit sie mit Sandro sprechen konnte. Sie musste ihm begreiflich machen, dass sie nicht krank war. Auch ihre Kinder gehörten nicht zur Schwiegermutter, sondern hierher. Sandro würde ihr glauben und sie nicht wieder wegschicken.
Endlich ging ihre Schwiegermutter und fuhr mit ihrem dicken Wagen davon. Jetzt war die Luft rein und sie konnte sich endlich zeigen.
Doch dann geschah etwas, was sie nicht erwartet hatte. Das Kindermädchen Elena tauchte nur mit einem T-Shirt bekleidet auf. Sie umarmte Sandro und küsste ihn. Wehr dich! Lass das nicht zu! Noch hoffte Maja, dass Sandro das nicht wollte und sie von sich stieß. Aber das Gegenteil geschah: Sandro war zugänglich für die Zärtlichkeiten Elenas und küsste sie immer leidenschaftlicher. Das war zu viel für Maja. Ihre Ehe war schon lange nicht mehr glücklich. Aber sie hatten ihre Kinder, die sie für immer verband. Warum gerade Elena? Maja war völlig durcheinander. Diesen Verrat hätte sie Sandro nicht zugetraut. Würde er ihr überhaupt beistehen? Wollte er nicht sogar, dass sie von der Bildfläche verschwand? Die Gedanken schwirrten durch ihren Kopf, bis sie sicher war, dass sie Sandro nicht trauen konnte. Sie war auf sich allein gestellt und musste irgendwie versuchen, ihr Leben ohne seine Hilfe wiederzubekommen. Sie irrte durch den Garten. Sie lief ohne Ziel, wobei sie nur das Bild ihres Mannes und Elena vor sich hatte. Irgendwann brach sie zusammen.
Mitten in der Nacht wachte sie auf. Wo war sie? Was war geschehen? Sandro und Elena! Das Bild war wieder präsent und sie musste sich übergeben. Sie lief los und irgendwann registrierte sie, dass sie außerhalb Mühldorfs war. Sollte sie aufgeben und wieder zurück in die Klinik, wo sie vermutlich hingehörte? War sie wirklich krank? Nein, sie war kerngesund! Man wollte ihr schaden, sie aus dem Weg räumen und ihr die Kinder wegnehmen. Das durfte sie nicht zulassen, sie musste um ihre Kinder kämpfen. Allein war sie dazu nicht in der Lage, sie brauchte Hilfe.
Plötzlich wusste sie, bei wem sie Hilfe fand: Bei Hans Hiebler. Er war bei der Polizei und die beiden kannten sich schon sehr lange. Wenn Hans ihr nicht glaubte und ihr nicht helfen wollte, wusste sie keinen anderen Ausweg. Er musste ihr einfach helfen.
Maja fand den Hof von Hans Hiebler auf Anhieb. Sie war lange nicht mehr hier gewesen. Von hier aus konnte man den Bauernhof ihrer Eltern, ihr Geburtshaus erkennen. Was war inzwischen daraus geworden? Als ihre Eltern starben, hatte sie den Hof mitsamt allen Äckern und Wiesen verkauft. Sie konnte nicht mehr in dem Haus leben, in dem ihre Eltern starben. Aber wegen ihrer Eltern und ihrem Zuhause war sie nicht hier.
Gierig trank sie aus dem Brunnen vor dem Haus und setzte sich auf die Bank neben der Eingangstür. Sie wartete darauf, bis die Sonne aufging. Plötzlich ging die Tür auf und Hans trat mit der Waffe in der Hand heraus.
„Maja?“, sagte Hans ungläubig. „Bist du das? Was zum Teufel machst du mitten in der Nacht hier? Ich dachte schon, ein Einbrecher treibt sich hier herum.“
„Griaß di Hans,“ sagte Maja unter Tränen. „Ich brauche deine Hilfe. Ich weiß nicht, wo ich hin soll und an wen ich mich sonst wenden soll.“
Hans‘ Kehle schnürte sich zu, als er das Häufchen Elend sah, das sich auf seine Bank gekauert hatte. Maja war eine Schönheit gewesen und er hatte sich lange um sie bemüht. Aber sie wollte ihn nicht, sie wollte nur Sandro. Wie sah sie überhaupt aus?
„Komm rein, ich mache uns Kaffee.“
Hans nahm eine Decke von der Couch und legte sie Maja um.
„Zieh deine Socken aus,“ sagte Hans und reichte ihr ein dickes Paar seiner eigenen Socken. Ein Papier fiel auf den Boden und Hans legte es auf den Tisch, ohne sich dafür zu interessieren. Maja fühlte sich wohl hier. Hans behandelte sie nicht wie eine Verrückte. Er kümmerte sich wie selbstverständlich um sie und respektierte sogar ihr Eigentum: Der Zettel aus ihrer Krankenakte, den sie gestohlen hatte.
Der Duft frischen Kaffees breitete sich in der Küche des alten Bauernhauses aus. Hans legte Brot, Käse und Wurst auf den Tisch. In der Schublade fand er noch eine Tafel Schokolade. Maja langte zu und aß gierig.
„Nimm es mir nicht übel,“ sagte Hans, der Maja beobachtete, „aber du siehst beschissen aus. Was ist passiert?“
„Das weiß ich selbst nicht. Aus den Klinikunterlagen weiß ich, dass ich am 3. August in eine Klinik am Chiemsee eingeliefert wurde. Von da an war alles dunkel. Heute bin ich abgehauen. Oder war das gestern? Wie spät ist es?“
Hans verstand kein Wort.
„Kurz nach zwei.“
„Dann war es gestern. Ich wollte nach Hause. Meine Schwiegermutter hat meine Kinder und Sandro hat ein Verhältnis mit Elena,“ sprudelte es aus Maja unter Tränen heraus.
„Langsam Mädl, ich verstehe kein Wort. Du bist aus einer Klinik am Chiemsee abgehauen? Weshalb warst du dort?“
„Das weiß ich nicht. Ich wurde mit Medikamenten vollgepumpt und kann mich an nichts erinnern. Gestern habe ich es geschafft, aus der Klinik zu fliehen. Mit viel Glück habe ich es bis nach Mühldorf geschafft. Im Garten meines Hauses konnte ich ein Gespräch zwischen Sandro und seiner Mutter verfolgen. Die beiden sind davon überzeugt, dass ich verrückt bin. Meine Kinder sind bei meiner Schwiegermutter, wo sie nicht hingehören. Sie war es auch, die mich in die Klinik einweisen ließ, das habe ich deutlich gehört. Du weißt, dass mein Marco besondere Unterstützung braucht?“
„Ich habe davon gehört. Wie kommst du darauf, dass dein Mann dich mit einer Elena bescheißt? Wer ist das überhaupt?“
„Elena ist unser Kindermädchen. Ich habe die beiden gesehen. Sie haben sich umarmt und sie haben sich geküsst. Bitte glaub mir Hans, ich bin nicht verrückt. Da geschieht etwas, was ich nicht verstehe und was ich nicht verhindern kann. Ich will nicht zurück in die Klinik, ich bin nicht krank. Bitte hilf mir!“
Hans spürte, dass Maja völlig am Ende war. Das, was sie von sich gab, war doch total irre. Aber er kannte Maja schon viele Jahre und sie neigte nicht dazu, hysterisch zu werden.
„Lies bitte,“ sagte Maja und schob Hans den immer noch zusammengefalteten Zettel zu, der durch ihre Flucht stark in Mitleidenschaft gezogen war.
Hans entfaltete das Papier.
„Das habe ich aus meiner Krankenakte gestohlen. Das sind die Medikamente, die mir verabreicht wurden. Hier oben steht der Name der Klinik und da steht mein Name,“ erklärte Maja und suchte nach einer Regung in Hans‘ Gesicht, aus der sie lesen konnte, ob er ihr glaubte.
Es folgte Schweigen. Hans versuchte, die Informationen zu ordnen und überflog dabei immer wieder diese Liste, die er nicht beurteilen konnte. Ja, darauf waren viele Medikamente aufgelistet. Allerdings hatte er keine Ahnung, um was es sich dabei handelte.
„Du bleibst hier und ruhst dich aus. Wenn du möchtest, kannst du gerne baden oder duschen. Nimm dir aus meinem Kleiderschrank, was du brauchst, irgendetwas wird dir schon passen. Ich werde inzwischen Erkundigungen einholen.“
„Du willst mir helfen?“
„Wir Mühldorfer müssen doch zusammenhalten. Du kannst dich auf mich verlassen, mein Wort drauf.“
Maja war überglücklich. Wenn Hans sein Wort gab, dann stand er auch dazu. Sie duschte ausgiebig und fühlte sich sicher.
Hans hatte ein mulmiges Gefühl, nachdem er aufgelegt hatte. Nach Maja lief eine Fahndung. Sie wurde als gefährlich für ihre Umwelt und als äußerst gewaltbereit eingestuft. Was sollte der Blödsinn? Maja war weder gefährlich noch gewalttätig. Was lief hier ab?
„Leo? Ich brauche deine Hilfe. Komm bitte zu mir.“
Der 51-jährige Leo Schwartz war irritiert. Ein Anruf von Hans mitten in der Nacht? Er zog sich an und machte sich auf den Weg.
Maja schlief tief und fest in Hans‘ Bett, während der seinen Freund und Kollegen Leo informierte.
„Du lässt diese Irre hier schlafen? Bist du verrückt geworden?“
„Maja ist völlig harmlos. Sie ist eine dieser Alternativen, wie sie im Buche stehen. Sie isst nur gesundes Zeug, ist in mehreren Kinder- und Tierschutz-Organisationen tätig und kämpft für Menschenrechte. Es gibt kaum eine Demonstration, an der sie nicht teilnimmt. Glaub mir Leo, Maja ist der harmloseste Mensch, den ich kenne.“
„Wie lange hattest du keinen engeren Kontakt mehr zu ihr?“
„Acht Jahre. Trotzdem sind wir uns immer wieder über den Weg gelaufen. Glaub mir bitte, Maja ist nicht verrückt.“
„Gut. Wer hätte ein Interesse daran, sie für verrückt erklären zu lassen?“
„Keine Ahnung.“
„Erzähl mir von ihr.“
„Sie wuchs auf dem nächsten Bauernhof auf. Ihre Eltern bekamen sie sehr spät. Niemand hatte mehr mit Nachwuchs gerechnet. Die Freude war groß, als Maja geboren wurde. Als ihre Eltern vor neun Jahren kurz hintereinander starben, hat sie alles verkauft.“
„Beruf?“
„Sie hat in Altötting in einer Steuerkanzlei gelernt und gearbeitet, bis sie geheiratet hat. Sie hat Sandro Ettl geheiratet. Dir sagt der Name etwas?“
„Das Möbelhaus?“
„Richtig. Die Familie Ettl besitzt in vierter Generation ein riesiges Möbelhaus bei Ampfing. Sandro Ettl leitet das Unternehmen zusammen mit seiner Mutter Elfriede und der Schwester Susanne, nachdem das Familienoberhaupt bei einem Bergunfall ums Leben kam. Meines Wissens nach gab es nie irgendwelche Skandale oder dergleichen. Eine unauffällige, vermögende Familie.“
„Was ist mit dieser Elena? Wo kommt sie her?“
„Das habe ich noch nicht herausbekommen. Ich würde gerne Maja dazu befragen, scheue mich aber davor, sie aufzuwecken. Ich habe ihre Arme gesehen. Sie hat in letzter Zeit jede Menge Spritzen bekommen. Das ist die Medikamentenliste ihrer Patientenakte, Maja hat sie mitgehen lassen.“
„Das ist eine ordentliche Liste, die mir leider nicht viel sagt. Wie lange war sie in der Klinik? Eine Woche? Ich bin zwar kein Experte, aber sogar ich finde die Menge der Medikamente für eine Woche reichlich übertrieben. Wir sollten mehr über die Hintergründe herausfinden.“ Leo schenkte Kaffee nach. „Wenn das alles stimmt, was deine Freundin Maja erzählt hat, ist sie hier nicht sicher, das ist dir doch klar? Wenn man sich solche Mühe macht, sie wegzuschaffen, wird man anfangen, ihre Kontakte abzuklappern. Irgendwann kommt man auf dich.“
„Das ist mir bewusst. Wir brauchen einen sicheren Ort und jemanden, der sich um Maja kümmert.“
„Ich wüsste nicht nur den Ort, sondern hätte auch eine sehr gute Idee, wer sich um Maja kümmern könnte,“ grinste Leo.
„Du denkst doch nicht etwa an Tante Gerda? Vergiss es! Jeder in Mühldorf und Umgebung kennt meine Tante, ich möchte sie nicht mit in die Sache reinziehen.“ Hans liebte seine Tante Gerda sehr. Sie war die einzig lebende Verwandte, die er noch hatte; abgesehen von einigen entfernten Verwandten, auf die er gerne verzichten konnte. Tante Gerda besaß einen Bauernhof vor Altötting, den sie mit Liebe und viel Arbeit umgebaut hatte. Die obere Wohnung hatte Leo gemietet und er fühlte sich sehr wohl bei der liebenswerten, alten Dame. Er und sie hatten sich angefreundet und verbrachten viel Zeit miteinander.
„Nein, nicht Tante Gerda. Ich habe eine viel bessere Idee.“