Читать книгу Leichenschau - Irene Dorfner - Страница 6
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ОглавлениеSchon seit den frühen Morgenstunden des ungemütlichen Junitages saß die Frau bewegungslos auf der Bank am Busbahnhof Altötting. Menschenmengen, darunter viele Pendler, Schüler, Mütter mit kleinen Kindern und später auch viele alte Frauen und Männer, gingen achtlos an ihr vorüber. Vor allem früh morgens und in der Mittagszeit war viel los. Je später es wurde, desto geringer wurde die Anzahl der Passanten. Bereits zum dritten Mal hatte der unfreundliche Busfahrer der Linien 50/51 der Frau zugerufen: „Was ist jetzt? Einsteigen oder nicht?“, um dann genervt die Tür zu schließen und davonzufahren, denn eine Antwort bekam er nicht.
Am Nachmittag spielten Kinder Fußball auf dem nun fast verwaisten Busparkplatz, denn nach siebzehn Uhr war hier nicht mehr viel los. Busse fuhren nur noch selten. Und wenn, dann auf den unteren Spuren in direkter Bahnhofsnähe. Hier am letzten Bussteig war seit Stunden kein Betrieb mehr. Auch auf den Parkplätzen, wo vor Kurzem noch dichtes Gedränge herrschte und sich die Fahrer beinahe um die freien Plätze stritten, war nur noch gähnende Leere. Die Kinder hatten jetzt einen riesigen freien Platz zum Spielen und nutzten diesen auch aus. Der Fußball flog weit und die Kinder rannten und lachten, ohne auf irgendeine Gefahr Acht geben zu müssen, was alle nach einem anstrengenden Schultag sichtlich genossen. Das Wetter war ihnen völlig egal, auch der einsetzende Nieselregen hielt sie von ihrem Spiel nicht ab. Natürlich hatten die Kinder die Frau auf der Bank bemerkt, beachteten sie aber nicht weiter. Der kleine Thorsten war mit seinen neun Jahren ein begeisterter und sehr geschickter Fußballspieler und hatte bereits einen kräftigen Schuss drauf. Es kam, wie es kommen musste: Er holte mit dem rechten Fuß aus, traf den Ball seitlich und schoss der Frau direkt ins Gesicht.
„Entschuldigung,“ rief Thorsten und rannte schuldbewusst zu der Frau. „Es tut mir sehr, sehr leid. Das wollte ich echt nicht. Habe ich Ihnen wehgetan?“ Er konnte sich die Predigt der Frau und vor allem die seiner Mutter bereits vorstellen und spürte Panik in sich aufsteigen. Thorsten stand nun direkt vor der Frau, die wider Erwarten kein einziges Wort von sich gab, keine Miene verzog, ihn nicht einmal ansah.
„Hallo? Geht es Ihnen nicht gut?“
Der Blick der Frau ging ins Leere. Natürlich hatten Thorstens Freunde den verunglückten Schuss mitbekommen und waren hinzugeeilt, um ihm beizustehen.
„Was ist mit ihr?“, durchbrach Daniel die Stille, denn alle standen jetzt im Halbkreis um die Frau und starrten sie an.
„Keine Ahnung.“
„Schläft sie?“
„Mit offenen Augen?“
„Ich hab‘ gesehen, dass du sie direkt im Gesicht getroffen hast. Aber sie beschwert sich nicht. So, wie ich das sehe, hat sie nichts abbekommen. Kommt, lasst uns weiterspielen, es macht gerade so viel Spaß.“
„Nein, wir können sie doch nicht einfach so sitzen lassen. Vielleicht ist sie so schwer verletzt, dass sie sich nicht mehr bewegen kann.“ Thorsten hatte ein schlechtes Gewissen. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn die Frau sich im Nachhinein bei seiner Mutter hierüber beschwerte. Es kam leider oft vor, dass ihm ein Missgeschick mit dem Fußball passierte. Er hatte seiner Mutter versprechen müssen, nicht davonzulaufen, sondern sich um den angerichteten Schaden zu kümmern. Er startete noch einen Versuch: „Hallo?“, sprach er sie erneut an, während er sie an der Schulter anfasste und zuerst zaghaft, dann kräftig schüttelte.
„Ist die krank? Die gibt ja keinen Mucks von sich.“
„Oder sie ist blöd. Mein alter Onkel Erwin reagiert auch auf gar nichts, er liegt nur im Bett.“
Einer der Jungs trat der Frau nun mehrfach gegen das Schienbein, zuerst leicht, dann immer kräftiger. Schließlich schüttelte er die Frau, und zwar so lange, bis sie schließlich zur Seite kippte, von der Bank fiel und auf dem Boden lag.