Читать книгу Leichenschau - Irene Dorfner - Страница 8
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ОглавлениеRudolf Krohmer saß bereits ungeduldig im Besprechungszimmer und wartete auf seine Kriminalbeamten. Der 52-Jährige liebte seine Arbeit, war korrekt und sehr warmherzig. Er hatte für alle immer ein offenes Ohr und wusste stets Rat, weshalb ihn die Kollegen besonders mochten. Er drückte gerne das eine oder andere Auge zu, was nicht immer bei allen gut ankam. Krohmer machte das nur, wenn es vertretbar war, denn dadurch waren ihm Personen Gefallen schuldig, die er zur gegebenen Zeit auch einforderte. Vor allem durch den Fall Mollenkopf, bei dem auch einige angesehene Personen aus der Mühldorfer Gesellschaft nicht sehr gut aussahen, ließ er einiges auf bayrische Art unter den Tisch fallen und hatte einige Pluspunkte gesammelt.
„Käffchen?“, säuselte ihn seine Sekretärin Hilde Gutbrod an. Beim Anblick der 60-jährigen, sehr schlanken und sehr geschwätzigen und neugierigen Frau brannten Krohmers Augen. Sie trug heute ein neongelbes, viel zu kurzes Kleid und schwarze, hochhackige Stiefel aus schwarzem Lackleder. Frau Gutbrod verleugnete ihr Alter und kleidete sich wie ein Teenager. Auch die Frisur war alles andere als altersgerecht: schwarz gefärbt, hochtoupiert und seit zwei Tagen mit pinkfarbenen Strähnen durchzogen.
„Ja bitte,“ antwortete Krohmer knapp und bemerkte dabei die bunten, langen Fingernägel, die Frau Gutbrod demonstrativ zur Schau stellte. Als Frau Gutbrod einschenkte, sah er sie genauer an. Was hatte sie mit ihrem Gesicht gemacht? Vollkommen glattgebügelt und kaum eine Mimik, dazu waren die Lippen überdimensional angeschwollen, als hätten sie mehrere Bienen gleichzeitig gestochen. Krohmer konnte den Blick nicht von ihr abwenden, was seine Sekretärin erfreut zur Kenntnis nahm und als Kompliment auffasste. Er hatte es also bemerkt, dass sie sich kosmetisch hatte behandeln lassen.
Zum Glück kamen Viktoria Untermaier, Leo Schwartz, Hans Hiebler und Werner Grössert nun nacheinander in das Besprechungszimmer, wodurch Krohmer endlich den Blick von seiner Sekretärin abwenden konnte. Er hatte bei ihrem Anblick tatsächlich eine Gänsehaut bekommen.
„Käffchen?“, rief Frau Gutbrod laut durch den Raum. Jetzt starrten sie alle an, was ihre Absicht gewesen war. Wofür hätte sie sich verschönen lassen, wenn es nicht alle bewundern konnten?
„Alle Achtung, Frau Gutbrod!“, sagte Hans mit einem Lächeln und pfiff dabei durch die Zähne. „Sie sehen heute ja wieder besonders hübsch aus. Haben Sie eine neue Frisur?“
Natürlich hatte auch er, wie die anderen auch, bemerkt, dass sie sich hatte aufspritzen lassen.
Statt einer Antwort kicherte sie nur, schenkte reihum Kaffee ein und setzte sich einfach dazu, was sie in letzter Zeit öfters machte, obwohl sie niemand dazu aufgefordert hatte. Aber hier erfuhr sie alles aus erster Hand und musste sich nicht mühsam durch die Protokolle und Berichte lesen. Rudolf Krohmer ließ sie gewähren, denn sie war zwar neugierig und mischte sich überall ein, war darüber hinaus aber auch sehr fleißig und hatte einen scharfen Verstand, der gepaart mit ihrer Phantasie manchmal allerdings mit ihr durchging.
„Was haben wir?“, begann Krohmer.
„Gestern Abend wurde am Busparkplatz Altötting die Leiche einer Frau gefunden. Hier sind die Fotos,“ sagte Viktoria und schob die Bilder über den Tisch. „Wir wissen noch nicht, um wen es sich handelt. Sie hatte keinerlei Papiere oder Privates bei sich.“
Krohmer besah sich die Fotos. Frau Gutbrod war aufgestanden und sah ihrem Chef über die Schulter. Krohmer stutzte.
„Weiß man ungefähr, wie alt die Frau ist?“ Rudolf Krohmer war kreidebleich geworden, was niemandem aufgefallen war.
„Der Notarzt schätzt sie auf ca. Anfang/Mitte dreißig.“
„Und er meint, dass die Kleidung, die sie trug, nagelneu war. Die Schuhe waren übrigens ebenfalls nagelneu und etwas zu groß.“
„Das heißt, das ist nicht ihre Kleidung?“
„Offensichtlich nicht. Der Notarzt schätzt, dass die Frau seit mindestens zwei Tagen tot ist. Nachdem man die Leiche lebensecht geschminkt hatte, wurde sie am Busparkplatz abgesetzt. Das ist die Aussage von Dr. Leichnahm, die von der Pathologie bestätigt werden muss.“
„Sie ist bereits seit zwei Tagen tot? Seit Montag?“ Nun begann Krohmer zu zittern und wurde kreidebleich.
„Was ist mit Ihnen, Chef? Geht es Ihnen nicht gut?“ Hilde Gutbrod machte sich Sorgen. Auch die anderen starrten Krohmer nun an, den sie noch nie so gesehen hatten.
„Gehen Sie an Ihre Arbeit Frau Gutbrod, die Akte Bender mit den entsprechenden Anweisungen liegt auf Ihrem Tisch,“ sagte Krohmer leise, aber bestimmt. Frau Gutbrod wollte protestieren, fügte sich dennoch, denn der Blick ihres Chefs ließ sie für einen Moment erschaudern. „Und wagen Sie es ja nicht, an der Tür zu lauschen, verstanden?“, fügte Krohmer hinzu.
Frau Gutbrod wurde knallrot, denn es war tatsächlich so, dass ihr Chef sie schon mit dem Ohr an der Tür erwischt hatte. Was war heute los mit ihm? Warum schickte er sie weg? Kannte er die tote Frau etwa? Während sie zu ihrem Büro ging, machte sie sich die wildesten Gedanken über das, was sie eben erlebt hatte. Und als sie an ihrem Schreibtisch saß, war sie sich sicher, dass sie die Lösung gefunden hatte: Die Tote war die heimliche Geliebte ihres Chefs! Es konnte nicht anders sein, denn warum sonst hatte er so heftig reagiert. Ihr wurde speiübel. Schon seit Längerem war sie davon überzeugt, dass es in der Ehe der Krohmers kriselte! Sie stand auf, warf einen prüfenden Blick auf den Gang, schloss die Tür und rief ihre Nichte Karin an, um sie über die Neuigkeit zu unterrichten.
Als Frau Gutbrod das Besprechungszimmer verlassen hatte, beschloss Krohmer, offen und ehrlich mit seinen Kollegen zu sprechen.
„Das, was ich Ihnen jetzt sage, bleibt unter uns. Haben wir uns verstanden?“
Die Kollegen nickten und ahnten nichts Gutes. Krohmer hatte große Mühe zu sprechen. Ständig knetete er seine Hände und starrte darauf, er musste sich sehr zu dieser Aussage überwinden.
„Wir, also meine Frau und ich, haben ein Patenkind, ihr Name ist Silke Deser. Sie ist neunundzwanzig Jahre alt und wir haben sie nach dem Tod ihrer Eltern bei uns aufgenommen. Damals war sie sechzehn Jahre alt. Während eines Schulausfluges wurde sie in Berlin von Mitgliedern einer Sekte angesprochen. Von welcher, kann ich Ihnen nicht sagen, obwohl ich sehr viel recherchiert habe. Aber dass es sich dabei um die Mitglieder einer Sekte gehandelt hat, haben Schulfreudinnen einstimmig ausgesagt. Silke stand offenbar seitdem in Kontakt mit dieser Sekte und ist dann, nachdem sie volljährig geworden war, nach Berlin abgehauen und lebte fortan dort. Natürlich haben wir versucht, sie davon abzuhalten und sie wieder zurückzuholen, aber sie hat jeglichen Kontakt zu uns abgebrochen und sich nie wieder bei uns gemeldet. Am letzten Sonntag bekamen wir überraschend einen Anruf von ihr. Sie bat uns unter Tränen um Verzeihung, was natürlich vollkommen überflüssig war. Selbstverständlich waren wir nicht böse auf sie. Wir freuten uns, dass sie gesund war und sich meldete. Wir haben uns sofort mit ihr verabredet, sie wollte uns am Montag besuchen. Sie hatte uns etwas Wichtiges mitzuteilen, was sie uns aber nicht am Telefon, sondern persönlich sagen wollte. Um was es dabei ging, kann ich Ihnen daher nicht sagen. Sie erinnern sich, dass ich Montag frei hatte. Meine Frau und ich haben den ganzen Tag gewartet, aber Silke ist nicht aufgetaucht. Natürlich haben wir uns Sorgen gemacht und waren enttäuscht, aber wir wollten sie nicht drängen und waren uns sicher, dass sie sich wieder melden würde.“
„Und Sie meinen, die Tote könnte Ihr Patenkind sein?“
„Ich bin mir nicht sicher, ich habe sie schließlich über zehn Jahre nicht mehr gesehen. Eine Ähnlichkeit ist vorhanden.“
„Nehmen Sie es mir nicht übel, Chef. Warum haben Sie keine Vermisstenmeldung rausgegeben, wenn sich Ihre Nichte seit Montag nicht mehr gemeldet hat? Heute ist bereits Donnerstag.“ Leo konnte diese Nachlässigkeit nicht nachvollziehen. Er an seiner Stelle hätte längst alles in seiner Macht stehende in die Wege geleitet, um das Mädchen zu finden.
„Mit welcher Begründung denn? Sie wissen doch genau, wie die Richtlinien und Vorgaben für eine Vermisstenanzeige sind. Silke war früher ein sprunghafter Mensch und hasste es, wenn man ihr nachspionierte. Wir wollten es uns nicht mit ihr verscherzen und haben uns darauf geeinigt, einfach nur abzuwarten. Ich hätte doch niemals damit gerechnet, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte. Wir sind davon ausgegangen, dass ihr etwas dazwischenkam oder sie es sich anders überlegt hatte. Junge Menschen darf man nicht drängen, irgendwann kommen sie dann von selbst wieder zurück.“
In welchem Psychoblatt hatte er das denn gelesen? Viktoria und Leo waren peinlich berührt von dieser Aussage und hätten ihrem Chef am liebsten heftig widersprochen. Hans war derselben Meinung wie der Chef, Werner hielt sich zurück.
„Handelt es sich bei der Toten um eine Blutsverwandte?“, fragte Werner und wandte sich damit wieder den Fakten zu. Jetzt im Nachhinein konnte man eh nichts mehr an der Situation ändern.
„Ja, sie ist die Tochter meiner Schwester. Wir können also jederzeit einen DNA-Abgleich machen.“
„Dann reden wir hier nicht lange rum, sondern werden das umgehend veranlassen, dann wissen wir Bescheid.“ Viktoria nahm das Handy und telefonierte mit der Gerichtsmedizin München.
„Wann können wir mit einem Bericht rechnen?“, fragte sie die hörbar gestresste Frau am Telefon.
„Das wird noch dauern. Wir haben momentan sehr viel Arbeit, am Wochenende haben wir acht Todesfälle reinbekommen. Außerdem haben wir krankheitsbedingten Personalmangel. Heute wird das leider nichts mehr. Ich hoffe, dass wir es bis morgen Mittag schaffen, aber versprechen kann ich nichts.“
Viktoria war sauer. Sie konnte nachvollziehen, dass Krohmer Höllenqualen ausstehen musste. Die Nachricht kam deshalb besonders bei ihm nicht sehr gut an.
„Bis Morgen? Kann man das nicht irgendwie beschleunigen?“, rief er aufgebracht.
„Wenn wir Druck machen und herauskommt, dass es sich bei der Toten um eine Verwandte handelt, könnten Sie mächtig Ärger bekommen,“ beschwichtigte Leo seinen Chef. „Allerdings hätte ich eine Idee.“
„Und die wäre? Ich bin für alles offen.“
„Wenn wir den Notarzt von Altötting bitten, uns diesbezüglich zu helfen? Natürlich müssten Sie Ihre Beziehungen spielen lassen und den Schriftkram erledigen.“
Krohmer war begeistert.
„Das kriege ich hin. Sprechen Sie mit dem Mann und überzeugen Sie ihn.“
„Geht in Ordnung.“
„Wo ist der Bericht der Spurensicherung?“ Krohmer setzte seine Hoffnung auch in diese Richtung.
„Das kann ebenfalls dauern. Fuchs ist im Urlaub.“ Obwohl vor allem Viktoria den Leiter der Spurensicherung nicht besonders gut leiden konnte und bei jeder Gelegenheit mit ihm in Streit geriet, vermisste sie ihn jetzt besonders. Fuchs war nicht nur sehr gut in seinem Job und äußerst pingelig, sondern arbeitete bei einem Fall wie ein Besessener rund um die Uhr. Dabei waren ihm die Arbeitszeit, das Wetter und auch die äußeren Umstände völlig egal. Krohmer ärgerte sich insgeheim. Er selbst hatte Fuchs dazu gedrängt, endlich Urlaub zu nehmen, da der schon seit über einem Jahr keinen freien Tag mehr hatte und Krohmer deshalb mit München Probleme bekam.
„Machen Sie Druck, Frau Untermaier. Ich schlage vor, wir sehen uns nach dem Mittagessen wieder hier, vielleicht wissen wir dann schon mehr. Das hier bleibt unter uns, verstanden? Kein Wort zu irgendjemand, besonders nicht zu Frau Gutbrod. Ich möchte, dass der Fall bei uns bleibt. Wenn herauskommt, dass die Tote meine Verwandte ist, dann kümmern sich Kollegen darum. Und die sind vielleicht nicht so gründlich wie wir.“
„Das will ich jetzt nicht gehört haben Chef,“ sagte Viktoria. „Die Kollegen machen auch gute Arbeit. Aber ich kann Sie verstehen. Außerdem würde ich den Fall nur sehr ungerne abgeben wollen.“
Leo hatte herausbekommen, wo er Dr. Richard Leichnahm finden konnte: im Kreiskrankenhaus Altötting. Dort angekommen, fragte er sich durch, bis er ihn schließlich fand.
„Herr Schwartz? Was sucht die Kripo hier? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“ Leo war überrascht, dass er sich an seinen Namen erinnerte.
„Das können Sie durchaus. Haben Sie einen Moment für mich?“
„Setzen wir uns in die Cafeteria. Ich habe Feierabend und wollte eben nach Hause. Auf mich wartet niemand.“
Nachdem sie vor dampfendem Kaffee in der frisch renovierten Cafeteria saßen, legte Leo sofort los.
„Wir bräuchten bezüglich der gestern aufgefundenen Leiche Ihre Hilfe. Wären Sie eventuell bereit, eine pathologische Untersuchung vorzunehmen? Den Schriftkram übernehmen wir.“
„Personalmangel?“
Leo nickte.
„Ich würde sehr gerne wieder in der Pathologie arbeiten, denn das ist mein Steckenpferd. Ich würde spontan zusagen, aber das wird nicht funktionieren. Ich bin in Deutschland als Pathologe nicht zugelassen und darf offiziell diesbezüglich nicht tätig werden.“
Leo war enttäuscht, damit hatte er nicht gerechnet.
„Wenn Sie allerdings einen Pathologen haben, der offiziell eingetragen ist, dann kann ich wiederum offiziell assistieren. Damit wäre das Problem umgangen. Ich bezweifle allerdings, dass Sie jemanden finden, der seinen Kopf für mich hinhält. Denn wenn ich Mist baue, ist derjenige dran, nicht ich.“
Leo musste schmunzeln. Er wüsste tatsächlich jemanden, der dafür in Frage kam: Seine Freundin und frühere Kollegin Christine Künstle, Pathologin in Ulm. Die 62-Jährige ist immer für so etwas zu haben und fackelt nicht lange.
„Ich habe eine Idee. Warten Sie bitte hier, ich muss kurz telefonieren und komme sofort zurück.“
Vor dem Krankenhaus nahm Leo sein Handy, setzte sich auf eine Bank und wartete auf die vertraute Stimme seiner Freundin Christine.
„Wer stört mich?“, meldete sie sich unfreundlich. Leo musste lachen. Er wusste, dass sie es hasste, wenn sie bei der Arbeit gestört wurde.
„Nicht ganz so unfreundlich, junge Frau.“
„Leo?“, rief sie erfreut, als sie seine Stimme erkannte. „Wie schön, dass du dich meldest. Was kann ich für dich tun?“
Er schilderte ihr in knappen Sätzen, um was es ging.
„Würdest du dich bereiterklären, dich als Pathologin einzutragen, damit der österreichische Kollege tätig werden kann?“
Sie fragte bezüglich des österreichischen Pathologen nicht lange nach, denn sie vertraute Leo voll und ganz. Wenn er von diesem Mann überzeugt war, war sie es auch.
„Selbstverständlich bin ich dazu bereit, du kennst mich doch. Du kannst mich in München anmelden. Welchen Tag haben wir heute?“
„Donnerstag. Warum?“
„Was? Schon wieder Donnerstag? Wie schnell die Zeit vergeht. Das Wochenende steht vor der Tür und ich habe noch nichts vor, das kommt mir sehr gelegen. Ich brauche hier noch ungefähr eine Stunde, dann packe ich und bin unterwegs.“
„Du hast mich falsch verstanden, Christine. Ich habe einen Pathologen, du musst nicht persönlich erscheinen. Ich brauche nur deinen Namen und natürlich dein Einverständnis, dass Dr. Leichnahm als dein Assistent in dem vorliegenden Fall arbeiten kann.“
„Denkst du, ich bin blöd? Das habe ich verstanden. Dein Dr. Leichnahm kann meinetwegen in meinem Namen arbeiten. Gegen ein bisschen Hilfe und Unterstützung durch einen fachlichen Rat oder einen Blick in die Unterlagen wirst du doch nichts einzuwenden haben, oder? Es sei denn, du willst mich nicht sehen?“
Sie schien beinahe beleidigt.
„Natürlich will ich dich sehen, keine Frage, aber…“
„Dann verschwende nicht länger meine Zeit. Ich muss meine Arbeit hier noch beenden und die erfordert meine uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Wir sehen uns später.“
Bevor Leo noch etwas erwidern konnte, hatte sie aufgelegt. Leo war sich sicher, dass sie auf einen weiteren Anruf nicht mehr reagieren würde. Außerdem war er sich sicher, dass es bei einem Blick in die Unterlagen und einem fachlichen Rat von ihrer Seite nicht bleiben würde. Wenn sie erst mal hier war, würde sie sich nicht nur in den ganzen Fall reinknien, sondern ihn gleich an sich reißen. Perfekter könnte es nicht laufen.
„Und? Haben Sie etwas erreichen können?“, fragte Dr. Leichnahm, als Leo wieder zu ihm in die Cafeteria kam.
„Ich habe eine Pathologin gefunden, die
einverstanden ist. Frau Dr. Christine Künstle wird sich für Sie eintragen.“
„Sie scherzen! Frau Dr. Christine Künstle aus Ulm?“ Leo nickte. „Das glaube ich ja nicht! Ich habe viele ihrer Vorträge genossen und habe natürlich in den verschiedenen Fachliteraturen von ihr und über sie gelesen. Das ist ja der Wahnsinn! Schade, dass ich sie nicht persönlich kennenlerne.“
„Das werden Sie. Sie kommt nach Mühldorf und ich fürchte, ich kann sie nicht davon abhalten, Sie in Ihrer Arbeit wie auch immer zu unterstützen.“
„Heute muss mein Glückstag sein! Nicht nur, dass ich das Vergnügen habe, Frau Dr. Künstle persönlich zu treffen, sondern ich habe auch noch das Glück, mit ihr zu arbeiten. Und zu allem Überfluss habe ich erst wieder am nächsten Dienstag Dienst. Das heißt, ich habe jede Menge Zeit. Ich fahre jetzt nach Hause, ziehe mich um, und fahre auf direktem Weg in die Gerichtsmedizin. Hier ist meine Handynummer, halten Sie mich bezüglich Frau Dr. Künstle auf dem Laufenden.“
Dr. Leichnahm grinste von einem Ohr zum anderen und hatte vor Freude knallrote Bäckchen bekommen.
„Was gibt es Neues?“, legte Rudolf Krohmer sofort los, als sie sich um 14.00 Uhr im
Besprechungszimmer trafen. Er hatte darauf verzichtet, seiner Sekretärin Hilde Gutbrod Bescheid zu geben, und alle hatten sich aus dem Automaten vor der Tür Kaffee geholt.
„Ich habe mit den Busfahrern sprechen können,“ begann Werner. „Es ist tatsächlich so, dass sie die Frau gesehen und sie offenbar mehrfach angesprochen haben. Alle nur von ihrem Fahrersitz aus. Somit waren sie mehrere Meter von der Toten entfernt.“
„Keiner hat sich gewundert, dass die Frau den ganzen Tag dort unverändert saß?“
„Nein, offenbar nicht. Vier der Busfahrer kamen mir sehr desinteressiert, beinahe kühl vor. Auch nachdem ich sie davon unterrichtet hatte, dass es sich bei der Frau um eine Tote handelte. Zumindest zeigten sich die anderen bestürzt.“ Dass er die Busfahrer allesamt zusammengestaucht und mit einer Bestrafung wegen unterlassener Hilfeleistung gedroht hatte, behielt Werner lieber für sich.
„Wenigstens etwas. Haben Sie mit diesem Österreicher bezüglich der Pathologie sprechen können, Herr Schwartz?“ Besonders diese Angelegenheit brannte ihm unter den Nägeln.
„Selbstverständlich. Dr. Leichnahm war sofort bereit, einzuspringen. Allerdings gab es ein Problem. Er ist in Deutschland offiziell nicht als Pathologe zugelassen und darf daher nicht aktiv werden.“ Krohmer war enttäuscht, rieb sich die Augen und stöhnte enttäuscht auf.
„Ich habe eine zugelassene Pathologin gefunden, die für diesen Fall als Verantwortliche unterzeichnet und deshalb ist Dr. Leichnahm bereits unterwegs in die Pathologie, um als deren Mitarbeiter zu arbeiten. Ich hoffe, die erforderlichen Unterlagen liegen in München bereit?“
Krohmer war sehr erleichtert über diese Nachricht. Er dachte nicht einmal daran, nachzufragen, um welche Pathologin es sich dabei handelte. Es war ihm nur wichtig, dass endlich mit der Arbeit begonnen werden konnte.
„Selbstverständlich ist alles vorbereitet. Es hat mich zwar einiges an Überzeugungsarbeit gekostet, aber schlussendlich war mir der zuständige Staatsanwalt noch einen Gefallen schuldig und hat zähneknirschend zugestimmt.“
„Ich habe nochmals mit den Anwohnern gesprochen,“ sagte Hans, der heute schon eine wahre Tortur hinter sich hatte. Er hatte mit geschätzten tausend Menschen gesprochen und war wie ein Kaninchen zwischen den Befragungen und den eintreffenden Bussen hin- und hergesprungen. „Dazu konnte ich auch mit einigen Fahrgästen der betreffenden Buslinien sprechen. Allerdings nur mit einigen von denen, die regelmäßig und immer zur gleichen Zeit damit fahren. Leider sind mir viele Fahrgäste durch die Lappen gegangen, die Menge war einfach zu groß und die Busfahrer drängten darauf, ihre Fahrpläne einzuhalten. Ich bin auch nur bis zur 13.01 Uhr-Fahrt gekommen. Wir sollten uns alle Fahrten nochmals genauer vornehmen, aber alleine ist das ein Ding der Unmöglichkeit. Wir sollten die Befragungen mit vielen Kollegen durchführen. Darüber hinaus wären Plakate sinnvoll, die wir an den Haltestellen anbringen sollten.“
„Das habe ich notiert. War irgendetwas Brauchbares dabei?“
„Im Großen und Ganzen überschnitten sich die Aussagen dahingehend, dass die Frau zwar gesehen wurde, sich aber niemand darum gekümmert hatte.“
„Sind die Menschen tatsächlich schon so abgestumpft?“ Krohmer wollte einfach nicht daran glauben. „Was haben Sie, Frau Untermaier?“
„Ich habe mich inzwischen über Sekten und Glaubensgemeinschaften informiert, vorrangig im Berliner Raum. Mit einem Mitarbeiter der Sekten- und Psychogruppe Berlin habe ich ein ausführliches Telefongespräch geführt. Es gibt offenbar in Berlin eine unüberschaubare Menge an den verschiedensten Gruppierungen, die religiös, lebenshelfend und therapeutisch geprägt sind. Oft sind die Grundlagen nur eine eigene Weltanschauung. Der Mitarbeiter hat mir versprochen, nach dem Namen Silke Deser zu suchen, ob sie schon einmal in Erscheinung getreten oder irgendwie sonst in diesem Zusammenhang aufgefallen ist.“
Die Kollegen waren über die Ausführungen sehr überrascht. Es war keinem bislang bewusst, wie viele solcher Gruppierungen es gibt. Außer natürlich Rudolf Krohmer, der sich lange Zeit nach dem Verschwinden seiner Nichte damit beschäftigt hatte.
„Bleiben Sie an diesem Thema unbedingt dran. Sprechen Sie mit allen möglichen Einrichtungen, die irgendwie weiterhelfen könnten. Und Sie beide,“ sprach er Hiebler und Grössert an, „kümmern sich bitte gemeinsam um die Befragungen der Bus-Passagiere. Nehmen Sie sich die Verstärkung mit, die Sie brauchen. Es wird sich doch in Gottes Namen ein einziger finden lassen, der etwas gesehen hat! In welcher Welt leben wir eigentlich!“
Rudolf Krohmer rannte nach draußen. Er hatte seine Frau für 15.00 Uhr herbestellt, die noch nichts von all dem hier mitbekommen hatte. Jetzt befand er es an der Zeit, sie einzuweihen und miteinzubeziehen, schließlich war auch sie persönlich betroffen. Er wollte sie an seiner Seite wissen, wenn die Nachricht aus der Pathologie München eintraf. Er selbst war fest davon überzeugt, dass es sich bei der Toten um seine Nichte Silke handelte, die Ähnlichkeit mit seiner verstorbenen Schwester war einfach zu groß.
Frau Gutbrod, die an der Tür gelauscht hatte, konnte gerade noch einen Schritt zur Seite gehen und somit hinter die Tür huschen, bekam aber trotzdem noch die Tür gegen die Nase, die sie sich nun vor Schmerzen mit beiden Händen hielt. Sie musste einen Aufschrei krampfhaft unterdrücken, denn die anderen kamen nun nacheinander ebenfalls aus dem Besprechungszimmer. Inständig hoffte sie darauf, dass sie niemand entdecken würde, was sehr peinlich für sie wäre. Warum ging Frau Untermaier nicht weiter? Auf wen wartete sie denn? Sie trennte nur die Tür und Frau Gutbrod fühlte Panik in sich aufsteigen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Frau Untermaier jeden Moment die Tür schließen und sie dann entdecken würde, war zum Greifen nah. - Aha, auf den Kollegen Schwartz hatte sie also gewartet. Der Schmerz wurde leichter, was auch an der Ablenkung lag.
„Wie hast du das mit der Pathologin angestellt?“, fragte Viktoria.
„Das war eine Kleinigkeit. Ich habe Christine angerufen und sie war sofort einverstanden. Allerdings konnte ich sie nicht davon abhalten, sich an dem Fall zu beteiligen. Ich gehe davon aus, dass sie Dr. Leichnahm unterstützend zur Seite steht. Hoffentlich vergrault sie ihn nicht.“
Viktoria musste laut lachen, damit hatte sie nicht gerechnet.
„Christine kommt? Ach wie schön, ich freue mich. Auch Krohmer wird sich sehr über ihren Besuch freuen. Bleibt es bei heute Abend?“
Leo nickte nur und gab ihr einen flüchtigen Kuss. Natürlich erst, nachdem er sich umgesehen hatte und sicher war, dass sie niemand dabei beobachtete. Die beiden gingen zum Glück, ohne die Tür hinter sich zu schließen. Jetzt konnte Hilde Gutbrod endlich aus ihrem Versteck und zur Toilette gehen, denn sie blutete leicht aus der Nase und musste die Spuren so schnell wie möglich beseitigen. Diese schreckliche Christine Künstle kommt also hierher? Warum nur? Wollte sie jetzt den Platz der verstorbenen Geliebten einnehmen? Und was hatten die Untermaier und Leo Schwartz miteinander, hatte sie da etwas nicht mitbekommen? Sie hatte jede Menge Arbeit vor sich, natürlich musste sie auch dieser Spur nachgehen. Sie wurde unvorsichtig, gab der Tür einen Stoß – und stand direkt vor Hans Hiebler!
„Wen haben wir denn da? Frau Gutbrod! Wir haben doch nicht etwa verbotenerweise gelauscht? Wenn ich mir Ihre Nase so ansehe, sind sichtbare Beweise zurückgeblieben, sogar auf der Tür. Ich denke, ich sollte die Spurensicherung holen und einen Bericht schreiben.“ Er hob den Finger. „Das wird Herrn Krohmer aber überhaupt nicht gefallen.“
„Unterstehen Sie sich Herr Hiebler! Was fällt Ihnen überhaupt ein? Das war ein Unfall. Ich bin eben zufällig vorbeigekommen und bekam die Tür auf die Nase,“ rief sie aufgeregt und rieb mit der Hand über die Tür.
„Wollen Sie Spuren beseitigen? Sie wissen doch, dass Blut trotz dieser oberflächlichen Reinigung noch lange, ach was sage ich, noch ewig
nachweisbar ist.“
Hans genoss diese Situation mit allen Fasern seines Körpers. Bereits mehrfach war er mit Frau Gutbrod zusammengestoßen oder hatte ihretwegen Ärger bekommen.
„Lassen Sie mich doch in Ruhe,“ rief Frau Gutbrod und ging schnurstracks zur Toilette, wo sie zum Glück alleine war. Sie betrachtete sich im Spiegel, wischte das wenige Blut weg und kühlte die Stelle mit einem getränkten Papiertuch. Nur noch ein wenig Puder und man würde überhaupt nichts mehr sehen.
Auf dem Weg in ihr Büro dachte sie nochmals über das nach, was passiert war. Herr Hiebler hatte sie jetzt in der Hand. Es würde einen Riesenärger geben, wenn ihr Chef davon erfahren würde, dass sie wieder gelauscht hatte. Und das alles, wo sie doch nur Bruchstücke und absolut nichts Interessantes gehört hatte. Das, was sie verstanden hatte, war sehr verworren. Es ging um eine Tote, deren Name sie nicht verstanden hatte. Und es ging um Busfahrer, deren Passagiere und um Sekten in Berlin. Was sollte daran so interessant und geheim sein? Warum machen die Kollegen so ein Geheimnis um diesen Fall? Es war ihr jetzt egal, wenn Herr Hiebler sie beim Chef anschwärzte. Sie konnte sich immer noch damit rausreden, dass das ein Unfall war und sie rein zufällig vorbeikam. Sie musste jetzt unbedingt herausbekommen, was es mit der Toten und vor allem mit den Kollegen Untermaier und Schwartz auf sich hatte. Und bei all dem durfte sie auch das Privatleben ihres Chefs nicht aus den Augen verlieren. Sie musste unweigerlich laut aufstöhnen, es kam eine Menge Arbeit auf sie zu.
An ihrem Schreibtisch kühlte sie die Stelle an ihrer Nase nochmal mit einem Löffel, was aber nun nicht mehr nötig war, man sah tatsächlich nichts mehr. Mit einer Portion Puder und einer Lage Lippenstift sah sie wieder aus wie neu. Diese Kosmetikerin hatte wahre Wunder bewirkt. Keiner hatte gesehen, dass sie etwas an sich hatte machen lassen, sie sah um Jahre jünger aus. Erst jetzt bemerkte sie, dass die Tür zum Büro des Chefs geschlossen war und er mit jemandem sprach. Ein Blick aufs Telefon verriet ihr, dass er nicht telefonierte. Mit wem sprach er? Lange überlegte sie, was sie machen sollte, beschloss aber, ihn vorerst in Ruhe zu lassen, denn offenbar musste er momentan sehr viel durchmachen.
Christine Künstle lenkte ihren grasgrünen Kleinwagen Richtung München. Sie kam flott voran. Wann war sie das letzte Mal in der Pathologie München gewesen? Das war noch keine drei Wochen her. Sie kannte den österreichischen Kollegen Dr. Leichnahm nicht persönlich. Oder doch? Irgendwie hatte sie das Gefühl, den Namen schon einmal gehört zu haben, noch bevor sie Erkundigungen über ihn eingezogen hatte.
Sie sah auf die Uhr und fluchte leise. Sie hatte mit der Leiche auf ihrem Tisch länger gebraucht, als ursprünglich geplant. Hoffentlich war der Kollege Leichnahm noch nicht fertig mit den Untersuchungen. Sie gab Gas. Wenn sie schon ihren Namen und damit ihren guten Ruf hergab, dann wollte sie auch persönlich anwesend sein, dem Österreicher über die Schulter sehen und, falls erforderlich, eigene Untersuchungen vornehmen.
Hatte sie Leo richtig verstanden? War die Tote die Nichte von Rudolf Krohmer? Sie kannte und mochte sowohl ihn als auch dessen Frau. Der Tod war für die beiden sicher nicht leicht. Christine war sehr gespannt, was sie erwartete und drückte das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Endlich war sie an ihrem Ziel angekommen.
Entschlossen parkte sie ihren Wagen vor dem pathologischen Institut verbotswidrig in erster Reihe, nahm ihre schwere Tasche aus dem Kofferraum und ging in das Gebäude. Sie fragte sich durch, wobei sie mehrfach ihren Ausweis vorzeigen musste und im Computer überprüft wurde. Das war ja schlimmer als in Fort Knox! Waren die Kontrollen schon immer so streng gewesen oder gab es einen Vorfall, der diese nötig machte? Es war ihr gleichgültig. Sie hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Schließlich war sie vor dem richtigen Raum angekommen, sah durch die Scheibe einen kleinen, dicken Mann mit Glatze vor einem Seziertisch, ging ins Nebenzimmer und zog ihren Kittel an. Wenige Minuten später stand sie direkt hinter dem Mann, sah lange zu und musste zugeben, dass seine Handgriffe routiniert waren und sie nichts auszusetzen hatte. Allerdings missfiel ihr, dass der Mann Stöpsel in den Ohren hatte und offenbar bei der Arbeit Musik hörte. Ein Umstand, den sie in ihrer Pathologie niemals dulden würde. Sie hatte genug gesehen, war zufrieden und tippte dem Kollegen auf die Schulter. Erschrocken drehte er sich um.
„Nun mal nicht so schreckhaft, junger Mann. Dr. Künstle mein Name. Unterrichten Sie mich in knappen Worten.“
„Frau Dr. Künstle, wie schön! Ich habe sehr darauf gehofft, dass ich Sie kennenlernen darf und nun stehen Sie tatsächlich wahrhaft vor mir. Ich habe schon viel von ihnen gehört und gelesen. Ich habe viele Ihrer Vorträge besucht. Man könnte sagen, dass ich ein großer Fan von Ihnen bin.“
Die Worte taten ihr gut, aber sie ließ sich nichts anmerken. Sie sah sich den Mann genauer an und erinnerte sich an ihn. In ihren Vorträgen saß er meist in der ersten Reihe und stellte auch ab und zu eine durchaus interessante Frage.
„Ihnen hätte der Fehler in Wien nicht passieren dürfen.“
„Sie haben sich über mich informiert?“ Dr. Richard Leichnahm wurde aschfahl. „Das war ein Fehler, den ich mir niemals verzeihen werde und der es mir unmöglich gemacht hat, meinen Beruf weiter auszuüben. Deshalb habe ich gekündigt, habe mehrere Fortbildungen gemacht und mich beruflich umorientiert. Mein Name bekam einen großen Makel, womit ich zum Gespött der Kollegen geworden bin.“
„Seien Sie mal nicht so streng mit sich selbst. Es gibt wahrhaft schlimmere Dinge, die Kollegen passiert sind und die sind immer noch in ihrem Job tätig und leisten gute Arbeit. Ich an Ihrer Stelle hätte dazu öffentlich Stellung genommen und irgendwann hätte niemand mehr darüber gesprochen.“
Die beiden Ärzte standen sich direkt gegenüber. In Größe und Figur unterschieden sie sich kaum. Beide waren klein und rundlich, die Knöpfe von den Kitteln spannten fast identisch.
„Ich danke Ihnen für Ihre Worte, werte Frau Kollegin,“ flüsterte Dr. Leichnahm und hatte Tränen in den Augen. Die Arbeit als Notarzt in Altötting war nicht schlecht, auch die Kollegen waren freundlich. Trotzdem vermisste er seinen aufgegebenen Beruf seit der ersten Stunde, auch der Umzug von Wien nach Altötting änderte nichts daran.
„Schon gut,“ winkte Christine ab, die nur sehr schwer mit Gefühlsduselei umgehen konnte, sie liebte hingegen klare Worte. „Wie weit sind Sie mit der jungen Frau? Vorrangig interessiert mich der DNA-Abgleich mit Rudolf Krohmer.“ Sie nahm das Klemmbrett mit den Unterlagen und warf einen Blick darauf. Dr. Leichnahm war ihr sofort sympathisch. Schon allein diese charmante, sehr höfliche Art, mit der er sprach, war sehr angenehm. Die weiche Stimme und den österreichischen Akzent hörte sie sehr gerne, das war wie Musik in ihren Ohren.
Dr. Leichnahm hingegen war überrascht darüber, dass Dr. Künstle so gut informiert war.
„Der DNA-Abgleich war eindeutig. Die Tote und die Daten von Herrn Krohmer, die ich zur Verfügung gestellt bekommen habe, beweisen das Verwandtschaftsverhältnis der beiden.“
Christine stöhnte auf. Es handelte sich also tatsächlich bei der Toten um die verschollene Nichte Krohmers. Sie hatte sich fast gewünscht, dass es sich um eine Fremde handelte, was auch nicht ganz fair war. Denn auch diese hätte wiederum Verwandte und Menschen, die um sie trauern.
„Was haben Sie noch?“
„Die Frau ist ca. 30-35 Jahre alt, 1,76 m groß, das ursprünglich dunkelbraune Haar war blond gefärbt, blaue Augen. Hier am Knie ist eine 12 cm lange Narbe. Wenn Sie so freundlich wären und einen Blick auf die Lunge und Leber werfen wollen, Frau Kollegin?“
Christine sah sofort, worauf Dr. Leichnahm hinauswollte.
„Wie sehen Speiseröhre und Darm aus?“
„Rot und gereizt.“
„Magen? Haben Sie Tests durchgeführt?“
„Ganz so weit bin ich noch nicht. Ich sehe, dass Sie meine Vermutung teilen. Wenn Sie möchten, können wir die weitere Arbeit gemeinsam durchführen? Ich würde mich sehr freuen.“
Christine nickte, aber Sie ahnte nichts Gutes. Früher, ganz zu Beginn ihrer beruflichen Laufbahn, hatte sie einmal mit einem ähnlichen Fall zu tun gehabt. Wenn die Tests des Mageninhalts positiv ausfallen, dann war klar, woran die junge Frau starb.
„Als Besonderheit möchte ich anmerken, dass unsere Patientin sehr stark geschminkt aufgefunden wurde, was ihr Äußeres sehr beeinflusst hat. Sehen Sie sich die Fotos an.“
Christine, die über diesen Umstand von Leo nicht informiert worden war, war überrascht. Sie ging mit Dr. Leichnahm zu dessen Laptop und sie sahen sich ein Foto nach dem anderen an.
„Um Gottes Willen! So etwas habe ich ja noch nie gesehen! Sie wurde so geschminkt, dass die Totenflecken nicht zu sehen waren. Sie sah sehr lebendig aus. Das war sicher sehr viel Arbeit, die Leiche so herzurichten. Merkwürdig, wer macht sich denn solche Mühe?“, murmelte Christine, die auch heute noch an Travestiekünstlern deren Fähigkeit des Schminkens sehr bewunderte. Aber das hier war doch noch eine andere Hausnummer. Das war eine künstlerische Arbeit.
Christine und Dr. Leichnahm machten sich an die Arbeit. Endlich hatten sie den Beweis: Die junge Frau war an einer Vergiftung durch Paraquat verstorben, wie Christine bereits vermutet hatte.
„Wird dieses Pflanzengift überhaupt noch ohne deutliche Färbung, Beifügung von Brechmitteln und mit einem üblen Geruch hergestellt? Das war lange vor Ihrer Zeit, als man dieses Gift überall in Deutschland fast an jeder Ecke kaufen konnte. Gab es das Mittel in Österreich überhaupt?“
„Das entzieht sich meiner Kenntnis. Ich persönlich hatte noch nie damit zu tun, habe aber einiges darüber gelesen.“
„Früher konnte man die rötlich-braune Flüssigkeit dieses Pflanzengifts, die völlig geruchlos war, leicht mit Cola oder Rotwein verwechseln, aber heute doch nicht mehr. Oder etwa doch?“
Dr. Leichnahm recherchierte an seinem Laptop, während Christine Kaffee organisierte und nach zwanzig Minuten wieder zurück war.
„Ich habe einige Unternehmen im Ausland gefunden, die Paraquat immer noch nach der alten Methode produzieren. Übers Internet an das Produkt ranzukommen, dürfte ein Kinderspiel sein.“
„Ja, das ist der Fluch des Internets. So viel Positives man daraus auch ziehen kann, es ist auch ein Paradies für Spinner und Psychopathen, die ohne große Mühe an die gefährlichsten Dinge rankommen.“
„Da muss ich Ihnen zustimmen. Man sollte so etwas wie einen Benutzerfingerabdruck einführen, damit jede Bestellung lückenlos zurückzuverfolgen ist.“
„Komplette Überwachung und Kontrolle? Nein, davon halte ich nichts. Das hatten wir bereits in den 30er und 40er-Jahren, initiiert von einem Ihrer Landsmänner. Nein mein Freund, das brauchen wir nicht mehr. Ich appelliere dafür, dass an der Intelligenz, an der sozialen Basis und vor allem an der Toleranz und Menschlichkeit gearbeitet wird. Und das beginnend im Elternhaus und fortgeführt über Kindergärten und Schuleinrichtungen. Aber dieses Gespräch geht jetzt zu weit, das können wir ein andermal in einem privaten Rahmen weiter diskutieren.“
„Gerne,“ sagte Dr. Leichnahm begeistert, der von der Art von Frau Dr. Künstle sehr begeistert war. Privat war sie ja noch viel interessanter, nahm auch hier kein Blatt vor den Mund und äußerte klar ihre eigene, persönliche Meinung, ohne beleidigend zu sein oder überheblich zu wirken.
Christine trank ihren Kaffee aus, der erstaunlicherweise sehr gut schmeckte. „Sehr gute Arbeit, Herr Kollege, es war mir ein Vergnügen.“
Dr. Leichnahm wurde rot und grinste. Ein richtig netter Kerl, dieser Österreicher, Christine mochte ihn immer mehr.
„Dann werden wir wohl oder übel die schlechte Nachricht überbringen müssen. Ich fahre nach Mühldorf und werde die entsprechenden Unterlagen gleich mitnehmen. Wie sieht es aus, möchten Sie mich begleiten? Natürlich nur, wenn Sie Zeit und Lust haben.“
„Und ob ich das möchte! Ich habe nichts anderes vor, auf mich wartet niemand und ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen.“
Sie zogen sich um und gingen gemeinsam auf den Parkplatz. Christine gab strikte Anweisung an das Personal der Pathologie, auf die Leiche gut aufzupassen und unter keinen Umständen einen anderen Pathologen ranzulassen. Christine stand vor ihrem grasgrünen Kleinwagen, Dr. Leichnahm parkte mit seinem dicken Kombi nicht weit von ihr.
„Eines sage ich Ihnen gleich, Dr. Leichnahm: Wir werden nicht hintereinander herfahren, denn das hasse ich wie die Pest. Jeder fährt so, wie er möchte und wir treffen uns auf dem Parkplatz der Polizei Mühldorf.“
Dr. Leichnahm hätte es überhaupt nichts ausgemacht, hinter Dr. Künstle herzufahren. Heimlich tat er das auch, bemühte sich aber, dass sie ihn nicht bemerkte, denn er wollte sie auf keinen Fall verärgern. Während der ganzen Fahrt klangen die Worte von Frau Dr. Künstle in seinen Ohren. Er dachte ständig darüber nach, ob er damals wegen des Vorfalls nicht vorschnell und überzogen gehandelt hatte. Vielleicht war eine Rückkehr in seinen Beruf doch nicht für immer ausgeschlossen? Die Arbeit an der Leiche hatte ihm sehr viel Spaß gemacht und er fühlte sich wohl dabei. Er war erstaunt darüber, wie routiniert und sicher er vorgegangen war, obwohl seine letzte pathologische Arbeit einige Jahre her war. Er nahm sich vor, bei Gelegenheit mit Frau Dr. Künstle zu sprechen und sie um Rat zu bitten. So, wie er sie jetzt persönlich kennengelernt hatte, war sie ein Mensch, der offen und ehrlich seine Meinung sagte.
Christine hatte Dr. Leichnahm längst im Rückspiegel bemerkt. Sie musste schmunzeln und war zufrieden. Der Österreicher hatte sich von ihr nicht verunsichern lassen und das mochte sie.
Gegen halb fünf am Nachmittag betraten Christine und Dr. Leichnahm das Büro der Kriminalbeamten in Mühldorf. Viktoria und Leo waren hier, Hans und Werner waren noch im Außendienst und befragten Buspassagiere.
„Hallo ihr beiden! Was ist los mit euch? Keine Begrüßung und keine Umarmung?“
Viktoria und Leo waren sofort aufgesprungen, umarmten und küssten Christine, wobei Leo sie übermütig herumwirbelte. Ungeduldig hatte er immer wieder auf die Uhr gesehen und sich die größten Sorgen um sie gemacht, als sie immer noch nicht in Mühldorf eingetroffen war. Ihr Handy war ausgeschaltet. Leo war irgendwann davon überzeugt, dass Christine wohl direkt in die Pathologie nach München gefahren war. Ein kurzer Anruf dort bestätigte seine Vermutung.
Dr. Leichnahm sah dem Geschehen überrascht zu. Er hielt Behörden bislang für kühl und distanziert, auch im Umgang untereinander.
„Hör auf, du dummer Kerl, mir wird ja ganz schwindelig.“ Christine lachte und freute sich riesig, die ihr wichtigen Menschen wiederzusehen. „Ihr kennt Dr. Leichnahm?“
„Sicher.“ Sie begrüßten ihn ebenfalls. „Seid ihr mit der Leiche durch?“
„Ja und wir haben den Bericht mitgebracht.“
„Todesursache?“
„Nun mal langsam. Wir verkünden das Ergebnis erst, wenn die anderen auch anwesend sind, sonst müssen wir alles doppelt und dreifach erzählen. Ich gehe mit meinem Kollegen in die Cafeteria und ihr trommelt mittlerweile alle zusammen. In Ordnung?“
„Alles klar. In einer Stunde im Besprechungs- zimmer?“
Leo hatte in Christines Auftreten bereits erkennen können, dass sie keine guten Nachrichten hatte. Er war sich sicher, dass es sich bei der Toten um Krohmers Nichte handelte. Hatte er nicht bereits damit gerechnet?
Pünktlich um halb sechs waren alle im Besprechungszimmer. Christine wurde herzlich begrüßt, vor allem Rudolf Krohmer. Der war völlig überrascht, dass es sich bei der fraglichen Pathologin um Christine Künstle handelte. Das hätte er sich ja eigentlich auch denken können! Dann erschien Krohmers Frau, die ebenfalls von Christine umarmt wurde. Krohmer hatte seine Frau mittlerweile informiert und sie warteten gemeinsam auf das Ergebnis der Obduktion. Sie ahnten beide nichts Gutes, denn Christines Blick sprach Bände.
„Doktor Leichnahm hat den Hauptpart der Untersuchung vorgenommen. Ohne ihn hätten wir das Ergebnis wahrscheinlich erst sehr viel später auf dem Tisch. Er hat sehr schnell kombiniert und gründlich gearbeitet.“ Christine sprach in den höchsten Tönen über die Arbeit des Kollegen. Dr. Leichnahm wurde rot. Reihum bemerkte er die Anerkennung in den Augen der Polizisten. Heute muss wirklich sein Glückstag sein! Normalerweise war es nicht Christines Art, so lange um den heißen Brei zu sprechen. Aber ihr grauste vor der schonungslosen Wahrheit, die sie dem Ehepaar Krohmer mitzuteilen hatte. Gerade, als sie auf den Punkt kommen wollte, ging die Tür auf. Frau Gutbrod brachte eine Kanne Kaffee. Als sie Christine Künstle sah, die direkt neben ihrem Chef saß, wurde sie wütend. Diese schreckliche Person war bereits hier und machte sich an ihn ran! Nach dem ersten Schreck registrierte sie erst jetzt, dass auch Frau Krohmer anwesend war. Warum war sie hier und seit wann? Hatte der Chef deshalb die Zwischentür geschlossen und darum gebeten, nicht gestört zu werden? Neben Frau Krohmer saß ein Mann, den sie nicht kannte. Wer war er und warum nahm er an der Besprechung teil? Frau Gutbrod war vollkommen durcheinander.
„Grüß Sie, Frau Gutbrod,“ rief Christine erfreut, die über die Störung nicht unglücklich war. Sie stand auf, ging auf sie zu und reichte ihr die Hand, die die völlig perplexe Frau Gutbrod entgegennahm. „Ich habe gehofft, Sie hier zu sehen. Wie geht es Ihnen und Ihrer reizenden Nichte Karin? Hat sie endlich einen Mann gefunden?“
„Leider noch nicht,“ stammelte Frau Gutbrod, wobei sie es geschehen ließ, dass ihr diese schreckliche Frau die Kaffeekanne aus der Hand nahm, auf dem Tisch abstellte und sie zur Tür schob.
„Eine Frau in Ihrer Position hat sicher viel zu tun. Ich übernehme es gerne, mich um den Kaffee zu kümmern. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, vielleicht laufen wir uns ja nochmal über den Weg, solange ich hier in Mühldorf bin. Viele liebe Grüße an Ihre Nichte Karin!“
Noch bevor Frau Gutbrod auch nur ein Wort sagen konnte, war die Tür zu! Hinter ihr! Was für eine Frechheit! Ohne es richtig zu begreifen, wurde sie tatsächlich von dieser Frau regelrecht rausgeschmissen. Das würde ein Nachspiel haben, das konnte sie sich nicht gefallen lassen. Wütend ging sie in ihr Büro und dachte nochmals über das nach, was hier vor sich ging. Diese Frau Künstle war hier und durfte an der Besprechung teilnehmen. Frau Krohmer war ebenfalls hier, ohne dass sie davon in Kenntnis gesetzt wurde oder irgendetwas mitbekommen hätte. Und dann noch dieser fremde Mann! Was zum Teufel war hier los? Bislang wurden immer alle Fälle offengelegt und sie konnte ungehindert Einblick nehmen. Diesmal aber nicht! Nicht einen Fetzen Papier diesen Fall betreffend bekam sie bisher in die Finger, obwohl sie sich darum bemühte. Und bei jeder Gelegenheit wurde sie regelrecht ausgesperrt! Und das auch noch von dieser Frau, die sie eben quasi rausgeschmissen hatte – das muss man sich mal vorstellen! Sie als Sekretärin des Chefs wurde von einer Frau, die nicht einmal zur Polizei Mühldorf gehörte, einfach vor die Tür gesetzt! Sie war seit vielen Jahren hier in Mühldorf und war doch allseits beliebt!
Je länger sie darüber nachdachte, desto wütender wurde sie. Man vertraute ihr nicht. Sie wurde abgewimmelt und auch noch weggeschickt, damit sie auch ja nichts mitbekam. Vor allem deshalb und auch nach dem eben Erlebten nahm sie sich vor, mit aller ihr zustehenden Mitteln herauszufinden, was hier vor sich ging!
Dass sie eine alte Ratschtante war und beinahe alles weitertrug, war ihr nicht bewusst. Die Schuld lag nicht bei ihr, sondern natürlich bei den anderen!
„Widmen wir uns wieder dem Fall zu. Ich muss leider bestätigen, dass es sich bei der Toten um eine Verwandte von Ihnen handelt, Herr Krohmer. Die Bluttests waren eindeutig.“
Sie wartete einen Moment, denn diese Information setzte dem Ehepaar Krohmer gewaltig zu, womit nicht nur sie gerechnet hatten. Beide stöhnten auf, Frau Krohmer weinte. Krohmer nahm die Hand seiner Frau und drückte sie fest, dabei sahen sie sich nur an. Der Schmerz war unerträglich, obwohl sie die Möglichkeit vorhin besprochen hatten. Die Gewissheit, dass die Nichte nicht mehr lebte, zog ihnen den Boden unter den Füßen weg. Alle waren berührt und litten mit dem Chef und seiner Frau mit, aber niemand wusste, was er sagen oder tun sollte.
Viktoria begann eine Unterhaltung mit den Kollegen, worauf diese sofort ansprangen. Das gab dem Ehepaar Krohmer Zeit, sich zu sammeln. Nachdem Krohmer sicher war, dass seine Frau sich gefasst hatte, gab Krohmer Christine ein Zeichen, fortzufahren.
„Zur Todesursache kann ich folgendes sagen: Die junge Frau ist durch die Einnahme großer Mengen eines Pflanzengiftes gestorben. Ob sie es freiwillig getrunken hat, oder es ihr eingeflößt wurde, kann ich nicht beurteilen. Sie starb vor drei Tagen, also am Montag, wir schätzen um die Mittagszeit. Genau kann man das nicht mehr festlegen, aber ich bin diesbezüglich mit Dr. Leichnahm einer Meinung.“
War Silke da bereits auf den Weg nach Mühldorf? Hatte sie es überhaupt vorgehabt? Wo war sie ihrem Mörder begegnet? Die Fragen schossen Frau Krohmer durch den Kopf. Sie musste sich sehr bemühen, sich zu konzentrieren und nicht zusammenzubrechen.
„Um welches Pflanzengift handelt es sich?“, fragte Werner.
„Um Paraquat.“
„Das habe ich noch nie gehört,“ rief Leo.
„Aber ich kenne Paraquat,“ sagte Hans, der auf einem Bauernhof vor den Toren Mühldorfs aufgewachsen ist und immer noch dort lebt. Allerdings wurden alle Äcker und Wiesen schon vor Jahren verpachtet, da er selbst keinerlei Interesse an der Landwirtschaft hat. Aber er war seit seiner Kindheit immer wieder mit den Arbeiten konfrontiert worden. Es war früher üblich, dass auch die Kinder immer mithalfen. „Das ist ein Pflanzengift, das bis zu den 70-er Jahren immer wieder für Schlagzeilen gesorgt hatte. Ein sehr aggressives Mittel, dass für kurze Zeit bei den mir bekannten Landwirten sehr beliebt war. Allerdings führte dieses Mittel vermehrt zu Vergiftungsfällen, denn es ist völlig geruchlos und sieht aus, als wäre es Cola oder Rotwein. Das Mittel wurde in großen Kanistern gekauft, die einen riesigen Ausguss hatten. Für eine bessere Handhabung wurde das Gift oft in Flaschen umgefüllt. Früher dachte man sich nichts dabei, heute ist man da nicht mehr so unbedarft. Umgefüllt in Flaschen konnte man das Pflanzengift leicht mit einem Getränk verwechseln. Einer unserer Nachbarn hat sich seinerzeit bös vergiftet, als er versehentlich einen Schluck getrunken hatte. Dem ging es damals echt übel. Es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre draufgegangen. Glücklicherweise war gerade der Hausarzt vor Ort, der eigentlich die Oma besuchen wollte. Er hat sofort gehandelt und der Nachbar konnte gerettet werden. Allerdings ging das nicht spurlos an ihm vorbei und wenige Jahre drauf ist er an Krebs gestorben. Ich bin immer noch fest davon überzeugt, dass das im Zusammenhang mit dem Paraquat steht.“
„Was nicht sehr abwegig ist, wenn ich etwas dazu bemerken darf,“ sagte Dr. Leichnahm. „Paraquat wird von der US-Gesundheitsbehörde als mutagen und krebserregend eingestuft, eine Fruchtschädigung ist bei Überdosierung sehr wahrscheinlich. Wenn diese Informationen von dieser Behörde angegeben wird, kann man davon ausgehen, dass das auch stimmt, denn die geben solche Warnungen nicht leichtfertig raus. Das Pflanzengift Paraquat ist auch für die Tierwelt sehr gefährlich. Nachdem Vergiftungsfälle zugenommen haben und Paraquat auch für den Suizid verwendet wurde, hat man damit begonnen, bei der Produktion eine blaue Färbung, einen stechenden Geruch und ein schnell wirkendes Brechmittel beizufügen, wodurch die Vergiftungsfälle schnell zurückgingen. Allerdings wurde die Produktion des Pflanzengiftes nicht weltweit dahingehend umgestellt, was heißt, dass Paraquat immer noch in der ursprünglichen Form zu bekommen ist, was hier unserem Fall zugrunde gelegt werden muss. Wir haben von den genannten Beifügungen keinerlei Rückstände gefunden.“
„Sie sind sehr gut vorbereitet Dr. Leichnahm, das gefällt mir sehr gut,“ sagte Christine anerkennend.
„Ich bin gerne umfassend informiert,“ erwiderte er darauf. Er hatte vorhin, während Dr. Künstle auf der Toilette war, nochmals im Internet nachgelesen und mit einem Studienkollegen telefoniert, der bei einem großen deutschen Pharmakonzern angestellt ist.
„Ich denke, dass von dem Giftzeugs bei einigen Bauern von der ursprünglichen Form noch einige Kanister vorhanden sind,“ sagte Hans. „Ich habe vielleicht sogar selbst noch Reste von diesem Pflanzengift irgendwo im Schuppen rumstehen.“ Er nahm sich vor, sich in nächster Zeit dringend darum zu kümmern. Die Entrümpelung der beiden alten Schuppen schob er schon seit Jahren vor sich her.
Es entbrannte eine heftige Diskussion über den Einsatz von Pflanzengift in der Landwirtschaft. Einige waren dafür, einige dagegen.
„Musste sie sehr leiden?“, fragte Frau Krohmer leise, die nicht fassen konnte, dass ihre Nichte durch ein Pflanzengift ums Leben kam.
„Nein, machen Sie sich keine Gedanken darüber, das Gift wirkt sehr schnell,“ sagte Christine mit einem Blick auf ihren Kollegen, wobei sie hoffte, dass er den Mund hielt. Denn sie und Dr. Leichnahm wussten genau, dass es ein qualvoller und langsamer Tod sein musste. Doktor Leichnahm verstand sofort. Die Hinterbliebenen mussten nicht so genau über den Tod und die damit verbundenen Umstände informiert werden. Das war für seine Begriffe vollkommen überflüssig und würde sowieso nichts mehr ändern.
„Was ist mit der Schminke?“, fragte Viktoria, denn sie hielt das für eine echt heiße Spur.
„Hier handelt es sich eindeutig um professionelle Theaterschminke der Marke Stars-Make-U. Dieses Make-up wurde von einem Fachmann aufgelegt, davon sind wir beide überzeugt. Alles war so perfekt abgedeckt und dabei lebensecht gemacht, das bringt ein Laie nicht hin. Seht euch die Fotos an und urteilt selber.“
Christine legte einen Stapel Fotos auf den Tisch, die nun reihum gereicht und genau betrachtet wurden. Vor allem die Nahaufnahmen fanden großes Interesse.
„Wie lange braucht man für solch ein Make-up?“
„Ich kenne mich damit nicht aus,“ sagte Christine, „aber einige Stunden bestimmt. Ich habe das kürzlich in einem Fernsehbericht gesehen. Irgendein Model hat sich für einen besonderen Anlass zu einer alten Frau herrichten lassen. Das hat tatsächlich einen ganzen Tag gedauert.“
„Wir wissen noch nicht, ob wir den Tod als Mord oder Selbstmord behandeln müssen,“ sagte Werner. Den anderen lag dieselbe Frage auf den Lippen, hatten aber nicht den Mut, sie zu stellen.
„Mord!“, sagte das Ehepaar Krohmer fast gleichzeitig. Für beide stand es außer Frage, dass sich Silke selbst umgebracht haben könnte.
„Gut, wir haben es mit einem Mord zu tun. Wir haben jede Menge Punkte, an denen wir ansetzen können. Wo und wie kommt man an dieses Pflanzengift? Außerdem suchen wir jemanden, der so perfekt schminken kann. Dann haben wir noch diese Schminke der Marke Stars-Make-U. Vor allem gilt es herauszufinden, wo sich Ihre Nichte bis zu ihrem Tod aufgehalten hat, und wo und wie sie gelebt hat.“
„Gibt es etwas Neues bezüglich der Befragungen der Buspassagiere?“, fragte Krohmer, der die Sache hier beenden musste. Seine Frau konnte nicht mehr, das sah er ihr an.
„Ich habe den Hinweis einer alten Dame wegen eines roten Kleinwagens, der sich offenbar in den frühen Morgenstunden auf dem Busparkplatz befunden hat. Die Dame war sehr in Eile, sie kommt morgen früh aufs Präsidium.“
Hans versprach sich nicht viel von der Aussage der Frau, aber sie mussten jeder noch so kleinen Spur nachgehen.
„Ich habe leider nichts,“ sagte Werner. „Niemand hat etwas gesehen oder gehört, obwohl ich mir bei einigen sicher bin, dass sie mehr wissen. Aber die Angst, dass sie wegen unterlassener Hilfeleistung Ärger bekommen könnten, hindert viele daran, eine Aussage zu machen.“
„Haken Sie da nochmal nach. Beruhigen Sie die Leute, sagen Sie, dass sie nichts zu befürchten haben. Obwohl ich sie liebend gerne alle anzeigen würde, das können Sie mir glauben.“ Krohmer konnte immer noch nicht verstehen, warum nicht ein einziger sich um seine Silke gekümmert hatte. Die Vorstellung, dass sie dort mindestens einen ganzen Tag lang tot am Busparkplatz gesessen hatte, war für ihn unerträglich.
„Irgendetwas Neues bezüglich der Sekten in Berlin?“, fragte Krohmer nun Viktoria.
„Noch nichts, aber ich bleibe dran.“
„Dann war es das für den Moment. Machen Sie sich an die Arbeit. Sie bleiben bitte noch, Dr. Leichnahm. Du auch, Christine.“
Als die Polizisten draußen waren, schloss Krohmer die Tür, ging auf Dr. Leichnahm zu und gab ihm die Hand.
„Ich möchte mich nochmals persönlich bei Ihnen bedanken. Sie haben uns ohne Zögern und ohne Umstände geholfen und uns mit ihrer Arbeit eine Menge Zeit gespart. Nochmals herzlichen Dank, Sie haben etwas gut bei mir. Das ist nicht nur eine Floskel, ich meine das so.“
„Es war mir ein Vergnügen. Es ist lange her, dass ich in diesem Bereich gearbeitet habe. Heute war seit Langem wieder ein sehr schöner Tag für mich, eigentlich müsste ich mich bei Ihnen bedanken.“
„So, wie ich Christine verstanden habe, arbeiten Sie nicht mehr in der Pathologie?“
„Nein, leider nicht. Nach einem dummen Fehler meinerseits sah ich mich dazu gezwungen, zu kündigen. Das ist mir nicht leichtgefallen, das können Sie mir glauben. Ich war mit Leib und Seele Pathologe und kann mir immer noch keinen schöneren Beruf vorstellen.“
„Das kann ich absolut nachvollziehen,“ stimmte Christine zu, obwohl das Ehepaar Krohmer sich keinen schlimmeren Beruf vorstellen konnte und das nicht verstand.
„Was ist damals passiert?“, wollte nun Krohmer wissen und bat Christine und Dr. Leichnahm, nochmals Platz zu nehmen. Er machte sich Sorgen um seine Frau, die sich nur schwer auf den Beinen halten konnte. Er schenkte Kaffee nach, während Christine Frau Krohmer einige Beruhigungstropfen auf einen Löffel träufelte, die diese dankbar annahm.
„Geht es, Luise?“, fragte Krohmer seine Frau. „Soll ich dich nach Hause bringen?“
„Passt schon,“ antwortete sie und trank einen Schluck Kaffee, wobei sie sich konzentrieren musste, nicht zu sehr zu zittern. „Wenn ich nicht störe, möchte ich gerne hierbleiben. Ich kann jetzt nicht alleine sein.“ Krohmer drückte ihre Hand und war zufrieden. Er wollte sie jetzt nur sehr ungern alleine lassen.
„Bitte, Herr Dr. Leichnahm, erzählen Sie. Wir sind hier in einer Runde, in der Ihnen nichts peinlich sein muss. Offenbar hält die bei uns allen geschätzte Christine große Stücke auf Sie, denn nur selten habe ich erlebt, dass sie so großzügig Lob ausspricht. Erzählen Sie frei heraus, vielleicht kann ich etwas für Sie tun.“
Dr. Leichnahm war diese Situation trotz der warmen Worte peinlich. Er sah Christine an, die ihn anlächelte, ihm zunickte und ihn dadurch ermunterte.
„Bei uns war damals viel los, ein schrecklicher Verkehrsunfall mit vielen Toten. Wir arbeiteten im Akkord rund um die Uhr bis zu unserer Belastungsgrenze. Von Seiten des Staatsanwaltes wurde angeordnet, dass alle Opfer so schnell wie möglich obduziert werden mussten. Ich möchte Sie nicht mit Einzelheiten langweilen. Um es kurz zu machen: Ich habe zwei Berichte vertauscht und dadurch auch die zugehörigen Leichen. Die Namen waren sehr ähnlich, dazu auch noch das Alter und die Verletzungen. Ich will mich nicht rausreden. Ein Bestatter hat den Fehler zwar noch rechtzeitig bemerkt, aber das hat mir auch nicht mehr geholfen. Diesen Fehler konnte ich mir nicht verzeihen und habe deshalb selbstverständlich sofort gekündigt. Für mich stand fest, dass ich in diesem Beruf unmöglich weiterarbeiten kann, so etwas darf nicht passieren.“
„Das ist alles?“, rief Luise Krohmer aus, die viel Schlimmeres erwartet hatte. „Wegen dieser Kleinigkeit werfen Sie gleich den ganzen Beruf hin? Fehler können doch passieren, auch in diesem Beruf. Sie standen unter enormen Druck.“
„Das ist zwar keine Kleinigkeit und es ist ja zum Glück nichts passiert,“ sagte nun Christine, „aber auch ich finde Ihre damalige Reaktion völlig übertrieben. Sie sind ein sehr fähiger Pathologe und gehören in diesen Beruf, denn hierin tummeln sich viel zu viele Stümper und Ignoranten.“ Sie dachte dabei in erster Linie an ihren Kollegen in Ulm, mit dem sie seit einigen Monaten zusammenarbeiten musste und dem ein Fehler nach dem anderen unterlief. Dazu ist er noch überaus unmotiviert, patzig und schlampig. Sie geriet regelmäßig mit ihm aneinander, was den Kollegen aber überhaupt nicht interessierte. Nächstes Jahr im Januar sollte sie in Pension gehen und dann würde dieser Dilettant ihre geliebte Pathologie übernehmen. Ihr Lebenswerk, das ihr sehr am Herzen lag! Die Vorstellung allein brachte sie nicht nur zur Weißglut, sondern bereitete ihr viele schlaflose Nächte.
„Sie finden wirklich, dass ich überreagiert habe?“
„Allerdings. Sie sind für den Beruf wie geschaffen und wir brauchen in unserer Branche solche Kaliber wie Sie es sind.“
Krohmer konnte sich ein Schmunzeln nach den Ausführungen von Dr. Leichnahm nicht verkneifen, denn er war während seiner Laufbahn schon mit viel schlimmeren Fehlern konfrontiert worden. Ihm war bekannt, dass in Bayern Pathologen händeringend gesucht werden und das, was Christine eben sagte, gab ihm zusätzlich zu denken. Sie sprach beileibe nicht leichtfertig Lob aus. Er erinnerte sich an ein Gespräch mit einem Kollegen während einer Tagung in München, worin sich dieser über den mangelnden Nachwuchs in dem Bereich der Pathologie ausließ und für die Zukunft schwarz sah. Jetzt saß er einem fähigen Mann gegenüber, der auch laut Christine in diesen Beruf gehörte. Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn er da nicht helfen konnte.
„Wären Sie bereit, in Deutschland zu arbeiten?“, fragte er ihn direkt.
„Selbstverständlich, aber ich bin hier nicht zugelassen.“
„Was braucht man dazu?“, wandte sich Krohmer an Christine.
„Keine Ahnung, aber das dürfte kein allzu großer Aufwand sein. Ich rufe einen Kollegen an, der mir noch einen Gefallen schuldig ist,“ sagte Christine, nahm ihr Handy aus der riesigen Handtasche und ging vor die Tür. Wenn sie telefonierte, konnte sie keine Mithörer brauchen.
Dr. Richard Leichnahm konnte kaum glauben, was eben vor sich ging. Frau Dr. Künstle sprach gerade mit einem Kollegen über ihn und dieser Herr Krohmer von der hiesigen Polizei wollte sich offenbar für ihn verwenden und seine Kontakte spielen lassen. Das war ihm noch niemals vorher passiert! Heute war tatsächlich sein Glückstag!
Krohmer und Dr. Leichnahm unterhielten sich über belanglose Dinge, während sie Christine vor der Tür nicht nur sprechen, sondern ab und an sogar laut lachen hörten. Endlich kam sie wieder herein.
„Das wäre geklärt.“ Sie setzte sich und machte Notizen auf einen Zettel, den sie Dr. Leichnahm überreichte. „Mein Kollege Dr. Trautschke wird Sie unter seine Fittiche nehmen und Sie auf dem Weg begleiten, damit Sie hier in Deutschland als Pathologe zugelassen werden. Rufen Sie ihn an.“
„Wenn Sie die erforderlichen Voraussetzungen haben, melden Sie sich bei mir. Bis dahin habe ich ganz bestimmt ein perfektes Jobangebot für Sie,“ sagte Krohmer, der bereits wusste, an wen er sich wenden würde.
„Wenn ich nicht eine andere Lösung für Dr. Leichnahm vorgesehen habe,“ warf Christine ein, die andere Pläne hatte und Dr. Leichnahm für Ihre Pathologie in Ulm gewinnen wollte. Aber das würde sie separat mit Krohmer besprechen und sich irgendwie mit ihm einigen. Dr. Leichnahm zu überzeugen wäre eine Kleinigkeit für sie, der Mann fraß ihr regelrecht aus der Hand.
„Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll,“ brachte Dr. Leichnahm gerade noch heraus. Waren das etwa Tränen in seinen Augen?
„Sie brauchen mir nicht zu danken. Ich habe Sie wärmstens empfohlen. Geben Sie Ihr Bestes und blamieren Sie mich ja nicht!“, drohte Christine mit dem Finger.
Die Recherchen der Polizisten gingen noch bis tief in die Nacht. Erst gegen dreiundzwanzig Uhr war endlich Feierabend. Leo fuhr direkt nach Hause. Er wohnte auf einem kleinen Anwesen bei Altötting in der neu ausgebauten Wohnung bei der Tante seines Kollegen Hans Hiebler, was ein absoluter Glücksfall war. Er fühlte sich inzwischen sehr wohl hier, nachdem er anfangs sehr unglücklich über seine Strafversetzung von Ulm war, die nach einem unschönen Vorfall unvermeidlich war. Vor allem die liebgewonnenen Freunde und Kollegen vermisste er sehr. Und auch die Schwäbische Alb, durch die er mit Vorliebe stundenlang alleine wanderte. Er sehnte sich auch heute noch in manchen stillen Stunden danach. Natürlich hätte er auch von hier aus leicht in die Berge fahren und dort wandern können, aber das war nicht dasselbe. Die Landschaft und Umgebung der Schwäbischen Alb waren für Leo einzigartig und unvergleichbar.
Es brannte noch Licht in der Wohnstube von Tante Gerda und lautes Lachen, das unverkennbar von Christine kam, drang bis vor die Tür. Er klopfte und trat ein, er fand die beiden alten Damen auf der Couch vor. Vor ihnen auf dem Tisch standen zwei leere Rotwein-Flaschen. Der Mischlingshund Felix, den er in einem jämmerlichen Zustand völlig abgemagert und misshandelt bei dem Fall vom Sinder-Hof in Tüßling befreit hatte und seitdem bei Tante Gerda lebte, kam ihm freudig entgegen. Oder sollte er eher sagen: Rollte auf ihn zu? Der Hund wurde dicker und dicker. Tante Gerda unternahm zwar täglich ausgiebige Spaziergänge mit ihm, verwöhnte ihn aber auch aufgrund seiner schlimmen Vergangenheit mit den tollsten Leckereien rund um die Uhr, was nun deutliche Spuren hinterließ. Bei Gelegenheit musste er dringend ein ernstes Wörtchen mit Tante Gerda reden, jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt.
„Leo! Wie schön! Setz dich zu uns. Wo hast du deine Viktoria gelassen?“, rief ihm Christine entgegen. „Och, sieh ihn dir an, Gerda. Er denkt immer noch, dass niemand davon weiß.“
„Wenn Viktoria hier übernachtet, dann stiehlt sie sich in den frühen Morgenstunden davon. Sie parkt sogar ihren Wagen die Straße runter. Ich finde das rührend, sie führen sich auf wie Teenager,“ sagte Tante Gerda lachend, die fürchterlich einen im Tee hatte. Ihre Augen waren klein und schmal, und ihre Backen leuchteten feuerrot. Sie war sehr glücklich, dass Christine wieder hier war und sie endlich wieder eine angenehme Gesprächspartnerin hatte.
„Ihr wisst es?“, sagte Leo erstaunt. Viktoria und er hatten sich immer bemüht, sich so diskret wie möglich zu verhalten.
„Natürlich wissen wir es, und zwar alle. Damit meine ich deine Ulmer und Mühldorfer Polizeikollegen. Es ist uns ein außerordentliches Vergnügen, uns über euch lustig zu machen,“ rief Tante Gerda lachend aus. Sie stand auf, holte eine weitere Flasche Wein und ein Glas für Leo.
„Das macht schon in Ulm die Runde?“ Leo war sprachlos. Wie konnte das sein?
„Vergiss nicht, dass du mit Ursula in Griechenland warst, sie hat uns nach anfänglichem Zögern alles haarklein berichtet. Weißt du eigentlich schon, dass Ursula kürzlich Besuch von ihrem hübschen Griechen Stavros bekommen hat? Ein reizender Mensch, so gebildet und kultiviert. Die beiden geben ein wirklich hübsches Paar ab.“
„Stavros Ustanidis? Du machst Witze! Die beiden sind wirklich ein Paar? Das glaube ich nicht!“
Stavros Ustanidis arbeitete bei der Polizei in Kos-Stadt und hatte ihn und Ursula bei diesem fürchterlichen Fall auf Kos sehr unterstützt. Leo bekam eine Gänsehaut, als er mit seinen Gedanken auf Kos und seiner Exfrau Kerstin war.
„Warum sollten Ursula und der Grieche kein Paar sein? Ursula ist zwar zugegebenermaßen etwas verrückt, aber sie ist ein sehr liebes Mädchen. Und Stavros passt perfekt zu ihr. Was mir allerdings nicht gefällt ist die Möglichkeit, dass Ursula zu Stavros nach Kos gehen könnte. Der Junge liebt seine griechische Heimat, er schildert sie bei jeder Gelegenheit in den schönsten Farben.“
„Kos ist wirklich eine wunderschöne Insel. Anfangs habe ich das nur am Rande wahrgenommen, aber dann in voller Pracht.“ Nun musste Leo schmunzeln, als er an die zweite Urlaubswoche dachte, die er mit Viktoria in diesem sündhaft teuren Hotel verbracht hatte. Sie unternahmen Ausflüge, redeten und lachten viel und kamen sich endlich nahe.
Tante Gerda und Christine mussten lachen, als sie das vielsagende Gesicht von Leo bemerkten.
„Einen Cent für deine Gedanken,“ rief Tante Gerda aus.
„Kos ist sicher schön, das glaube ich gerne,“ sagte Christine, während sie sich Wein nachschenkte, „aber wir haben auch eine schöne Heimat. Ich mag Ursula sehr und würde sie nur ungern gehen lassen. Ich muss bereits auf Leo verzichten, noch einen Verlust könnte ich nicht verkraften. Worauf ich aber liebend gerne verzichten könnte, wäre die Pfeife in meiner Pathologie, da wäre mir Dr. Leichnahm schon deutlich lieber.“
„Jetzt sag nicht, dass es einen Pathologen mit dem Namen Leichnam gibt,“ rief Tante Gerda erstaunt. Und nachdem Christine zustimmte, lachten Leo und sie gemeinsam, bis ihnen die Tränen kamen, was Christine nun überhaupt nicht verstand.
„Was gibt es denn da zu lachen? Ihr seid echt kindisch, schämt euch. Erstens schreibt man diesen Dr. Leichnahm mit einem h.“
„Was auch keinen großen Unterschied macht, die Aussprache ist dieselbe,“ sagte Tante Gerda und schenkte Wein nach, während sie nochmals einen Lachanfall bekam.
„Jetzt reiß dich doch zusammen. Ich erzähle euch eine persönliche Geschichte: Während meiner Ausbildungszeit trug ich meinen Mädchennamen Zeitler und hatte keine Probleme damit. Dann habe ich dummerweise geheiratet und den Namen Künstle bekommen, auf den ich anfangs mächtig stolz war. Es ging mir tierisch auf die Nerven, bei allen möglichen Anlässen erst immer zum Schluss dran zu kommen. Irgendjemand kam irgendwann auf die Idee, alle möglichen Abläufe alphabetisch zu ordnen. Somit kam ich mit Z wie Zeitler immer am Schluss. Mit dem Namen Künstle lag ich schön in der Mitte – und wurde zum Gespött der Kollegen. Unser damaliger Professor war ein Riesenarsch und nicht gerade der Begabteste, wenn es um Scherze ging, über die wir aber alle lachen mussten. Eines Tages also gab er zum Besten, dass der Befund eines Kollegen keine große Kunst wäre – oder sollte er sagen: kein großes Künstle? – wobei er mich ansah. Bezogen auf den schwäbischen Ausdruck von Kunst, also Künstle, und dann noch auf meine geringe Körpergröße war ich also fortan das kleine Künstle. Bei jeder noch so geringen Gelegenheit griffen meine Kollegen dieses geflügelte Wort auf und es war immer ein Riesengag: Was sagt die kleine Künstle über das große Künstle? Oder: wäre das nicht ein kleines Künstle, wenn das funktionieren würde? Und so weiter und so fort. Seitdem kann ich es nicht ertragen, wenn man sich über Namen lustig macht. Wenn man sich Mühe gibt, kann man sich über alles und jeden lustig machen. Das muss nicht sein und fühlt sich für den, der das aushalten muss, nicht gut an.“
Leo fühlte sich peinlich berührt, denn er hatte sich noch niemals Gedanken darüber gemacht. Tante Gerda konnte den Ausführungen von Christine nicht ganz folgen, dafür hatte sie zu viel getrunken. Sie verstand nur, dass die schwäbische Form von Kunst eben Künstle war, und für sie war das nicht lustig.
„Du hast ja Recht, ich entschuldige mich in aller Form.“ Leo nahm die Flasche Wein und schenkte nach.
„Ich finde deine Geschichte mit dem Namen nicht lustig und entschuldige mich deshalb nicht,“ sagte Tante Gerda. „Viel mehr interessiert mich, wen du damals geheiratet hast. Erzähl mir von dem Mann.“
„Ein anderes Mal unter vier Augen, das ist nichts für Leo. Kommen wir auf meine ursprüngliche Frage zurück: Wo ist deine Viktoria?“
„Sie ist zuhause. Viktoria möchte, dass die Sache geheim bleibt, bis wir uns als Paar näher kennengelernt und bewährt haben, was immer das auch heißen mag. Ich glaube, dass sie dummen Sprüchen und Bemerkungen aus dem Weg gehen möchte, was mir völlig egal wäre. Wenn es nach mir ginge, würden wir ganz offen mit unserer Beziehung umgehen. Ich bin gerne mit ihr zusammen und bin auch sehr stolz auf sie.“
„Dann sag ihr, dass sie sich nicht so blöd aufführen soll. Sie sollte gefälligst mit uns zusammensitzen, es wäre viel schöner mit ihr. Ich schlafe bei Gerda im Gästezimmer, das haben wir längst geklärt, und ihr könnt oben in deiner Wohnung völlig ungestört sein. Außerdem bin ich echt beleidigt, dass sich heute Abend niemand von euch herabgelassen hat, hier aufzukreuzen. Jeder weiß doch, dass ich hier bin.“
„Sei bitte nicht böse Christine. Bis vorhin haben wir an dem Fall gearbeitet. Morgen kommen alle, das verspreche ich dir.“
Sie saßen noch lange bis in die Nacht, unterhielten sich, lachten, scherzten und tauschten gemeinsame Erinnerungen aus.
Leo musste zugeben, dass der Abend mit Viktoria sehr viel schöner gewesen wäre. Er musste so schnell wie möglich mit ihr sprechen.