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2.

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Leo Schwartz stand als Erster vor der Leiche der jungen Frau. Er wohnte in Altötting und hatte den kürzesten Anfahrtsweg. Er sah sich die Leiche an und war erstaunt, denn augenscheinlich schien sie in Ordnung zu sein.

„Leo Schwartz mein Name, Kripo Mühldorf. Sie haben uns gerufen?“ Er sah den 38-jährigen, kleinen, fülligen Notarzt mit der Glatze fragend an.

„Dr. Leichnahm mein Name, Dr. Richard Leichnahm. Diese Kinder dort haben die Frau gefunden und die 110 gewählt. Leider konnte ich nur den Tod der Frau feststellen. Ich habe die Kriminalpolizei gerufen, weil mit der Toten etwas nicht stimmt.“

Leo versuchte, sein Schmunzeln zu unterdrücken und nicht auf den Namen des Notarztes zu reagieren, aber der hatte seine Reaktion offensichtlich bereits erwartet.

„Leichnahm mit einem h. Und ja, ich habe in meiner beruflichen Laufbahn schon die eine oder andere blöde Bemerkung bezüglich meines Namens gehört und auch jeden nur denkbaren Witz darüber ertragen müssen. Man muss auch die positive Seite sehen: Keiner vergisst meinen Namen. Außerdem,“ fügte er hinzu, „sind Sie auch nicht schwarz und heißen doch so.“

„Sie haben völlig recht. Es tut mir leid, entschuldigen Sie bitte. Was ist mit der Frau?“

„Die Frau ist ca. 30 – 35 Jahre alt. Keine äußeren Verletzungen. Nach meiner Einschätzung ist der Tod schon vor längerer Zeit eingetreten, die Leichenstarre ist bereits weit fortgeschritten.“

„Sind Sie sich sicher? Die Leiche sieht nicht danach aus.“

Leo war skeptisch. Er hatte bereits mehrere Leichen gesehen, bei denen die Leichenstarre eingesetzt hatte, und die sahen bei Weitem schlimmer aus.

„Ich zeige Ihnen etwas,“ sagte Dr. Leichnahm, nahm ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und fuhr der Toten damit über die Wange und dann über den Handrücken. Er hielt Leo das Tuch vors Gesicht.

„Alle sichtbaren Körperstellen wurden mit einer dicken Schicht Schminke überzogen. Die Leichenflecke wurden gänzlich unkenntlich gemacht. Sehen Sie sich das an. Es wurden sogar Adern fein säuberlich nachgezeichnet. Eine perfekte Arbeit, würde ich sagen.“

„Sie meinen, jemand hat sich die Mühe gemacht und die Leiche geschminkt, damit sie so aussieht, als würde sie noch leben?“

„Warum sie geschminkt wurde, entzieht sich meiner Kenntnis. Das herauszubekommen ist Ihr Job. Ich kann Ihnen nur sagen, dass nach meiner vorsichtigen Einschätzung nach der Tod mindestens vor zwei Tagen eingetreten ist und dass die Frau nicht hier verstarb.“

„Warum sind Sie sich so sicher, was den Ort betrifft?“

„Meine Schwester ist Kosmetikerin. Daher weiß ich, dass es nicht nur eine Ewigkeit dauert, sondern jede Menge Utensilien dafür benötigt werden, bis ein Gesicht auch nur annähernd so hergerichtet ist. Dazu kommen die Hände, das Gesicht und der Hals. Alles wurde mit lebensechten Adern und Schatten versehen. Sehen sie sich die Fingernägel an. Dass die bearbeitet wurden, sieht man nur bei genauer Betrachtung. Und diese Lippen! Alles in allem eine phantastische Arbeit, so etwas habe ich bislang noch nicht gesehen.“ Dr. Leichnahm war fasziniert. Die Leiche war perfekt geschminkt worden. Er hatte beinahe Hochachtung vor der aufwändigen Arbeit. „Bezüglich der Todesursache kann ich absolut nichts sagen, das müssen Spezialisten abklären. Wie bereits gesagt, gibt es keine äußeren Verletzungen oder sonstige Hinweise, mit denen ich dienen könnte.“

Viktoria Untermaier, Leos Vorgesetzte und mittlerweile auch seine heimliche Lebensgefährtin, war nun ebenfalls eingetroffen und hörte erstaunt den Ausführungen des Dr. Leichnahm zu. Der Arzt hatte einen österreichischen Akzent, was Leo bislang nicht aufgefallen war. Für ihn als Schwaben, der vor zehn Monaten von Ulm nach Mühldorf versetzt wurde, klang bayrisch und österreichisch absolut gleich. Als er das einmal in einer geselligen Runde bemerkte, schlug ihm sofort heftiger Widerspruch entgegen. Die Bayern beharrten vehement darauf, dass ihr Dialekt absolut nichts mit dem der Österreicher zu tun hätte, und sie wollten sich mit den direkten Nachbarn der nahen Grenze auf keinen Fall vergleichen lassen. Was wahrscheinlich umgekehrt ähnlich war.

„Die Frau geht sofort in die Gerichtsmedizin,“ wies Viktoria Untermaier an, was Leo bereits veranlasst hatte. Viktoria war heute offensichtlich schlecht gelaunt, denn sie ging mit energischen Schritten auf die Gruppe der Kinder zu, zu denen sich bereits einige Elternteile und darüber hinaus viele Schaulustige versammelt hatten. Leo sah seiner Viktoria hinterher, die heute wieder besonders hübsch aussah. Erst seit wenigen Wochen war er mit der 47-jährigen, 1,65 Meter großen Viktoria liiert. Er war sehr glücklich darüber, denn sie war lange für eine neue Beziehung wegen ihrer gescheiterten Ehe und der unschönen Scheidung noch nicht bereit gewesen. Leo hatte sogar Verständnis für ihr Zögern, denn er hatte das Vergnügen, diesen Kotzbrocken von Exmann kennenzulernen.

Seit der gemeinsamen Urlaubswoche, die sie auf Kos in Griechenland verbracht hatten, waren erst wenige Wochen vergangen. War das eine schöne Zeit gewesen, die er nach einem schrecklichen Fall mit seiner Exfrau auch dringend gebraucht und zusammen mit Viktoria auch sehr genossen hatte. Sie hatten sich nach der Rückkehr darauf geeinigt, dass sie noch niemandem davon erzählen wollten, dass sie zusammen waren, vor allem nicht den Kollegen. Viktoria hatte ihn davon überzeugt, dass sie sich als Paar zuerst ausprobieren mussten, obwohl Leo am liebsten allen, die ihm über den Weg liefen, von seiner Viktoria erzählen wollte. Eigentlich hatten sie vorgehabt, es sich heute bei Leo zuhause vor dem Fernseher gemütlich zu machen. Wein und Knabberzeug standen bereit, Viktoria wollte Pizza mitbringen. War das der Grund für ihre üble Laune?

„Ihre Freundin?“, unterbrach Dr. Leichnahm Leos Gedanken.

„Wie bitte?“

„Na so, wie sie die Frau ansehen, liegt das auf der Hand, mir können Sie nichts vormachen. Haben Sie noch Fragen bezüglich der Toten oder kann ich mich verabschieden?“

„Hatte die Frau irgendwelche Papiere ohne Persönliches bei sich?“

„Nein, nichts dergleichen. Keine Handtasche. Die Hosen- und Jackentaschen sind vollkommen leer. Wenn Sie mich fragen, sind die Kleidungsstücke alle nagelneu. Und wenn ich noch anmerken darf, sind die Schuhe etwas zu groß. Aber ich möchte der Gerichtsmedizin nicht vorgreifen.“

„Eine Frage hätte ich noch: Ich hatte schon oft mit Notärzten und Ersthelfern zu tun. Sie waren doch nicht immer Notarzt, dafür achten sie zu sehr auf Kleinigkeiten.“

„Sie haben mich erwischt, Herr Schwartz. Ich war Pathologe bei der Medizinischen Universität Wien. Aus privaten Gründen bin ich seit einiger Zeit hier in Altötting als Notarzt tätig. Sind wir hier jetzt fertig? Die Pflicht ruft.“

Dr. Leichnahm wurde bereits mehrfach angefunkt. Leo sah dem Arzt nach. Es würde ihn sehr interessieren, warum er hier in Altötting gelandet ist. Viktorias Rufe rissen ihn aus seinen Gedanken. Sie brauchte bei den Befragungen der Kinder, Eltern und Passanten seine Unterstützung.

Inzwischen waren auch die Kollegen Werner Grössert und Hans Hiebler vor Ort, die sichtlich Mühe hatten, mit den aufgebrachten Eltern zu sprechen, da diese mit allen Mitteln versuchten, ihre Kinder zu schützen. Alle sprachen und riefen wild durcheinander und erschwerten dadurch die Arbeit der Polizei erheblich. Nach einer gefühlten Ewigkeit waren die Befragungen endlich beendet. Die Kriminalbeamten fuhren genervt ins Präsidium Mühldorf am Inn, der Feierabend war gestrichen. Natürlich war keiner begeistert davon. Es war nach einundzwanzig Uhr und jeder einzelne von ihnen hatte sich den Abend anders vorgestellt. Werner Grössert wurde während des Abendessens mit seiner Frau gerufen. Hans Hiebler hatte sich fertiggemacht, um auszugehen, warum er auch einen betörenden Herrenduft hinter sich herzog und dazu auch noch blendend aussah. Werner trug zur Überraschung aller nicht einen seiner teuren Anzüge, sondern nur Jeans und T-Shirt. Trotzdem sah er auch mit der Freizeitkleidung sehr aufgeräumt aus.

„Werner, du machst die Busfahrer ausfindig. Irgendjemand muss doch diese Frau bemerkt haben. Ich kann und will mir einfach nicht vorstellen, dass die Tote völlig unbemerkt über einen längeren Zeitraum dort auf der Bank gesessen hat.“

Der 38-jährige, 1,75 m große Werner nickte und machte sich umgehend an die Arbeit. Werner war direkt in Mühldorf geboren und aufgewachsen und stammte aus einer angesehenen Anwaltsfamilie, die über den Werdegang ihres Sprösslings bei der Polizei nicht begeistert war. Er hätte eigentlich als einziger Sohn später einmal die Anwaltskanzlei übernehmen sollen, so zumindest war die Planung. Stattdessen hatte er gegen ihren Willen die Ausbildung bei der Polizei begonnen und ließ sich trotz vieler Diskussionen, Drohungen und auch verlockende Angebote nicht davon abbringen. Während der wenigen Familientreffen wurde vermieden, über Werners Beruf zu sprechen. Trotzdem ließen die Eltern keine Gelegenheit aus, ihren Unmut mit kleinen, spitzen Bemerkungen darüber Ausdruck zu verleihen. Als wäre das nicht genug, waren sie mit der Wahl der Schwiegertochter ebenfalls nicht einverstanden. Werners Frau stammt nicht nur aus sehr einfachen Verhältnissen, sondern war mit einer Hautkrankheit geplagt, die sie immer wieder zu längeren Krankenhaus- und Kuraufenthalten zwang.

„Hans, du suchst die Vermisstenmeldungen durch.“

Hans Hiebler war mit seinen 53 Jahren der Älteste, hatte aber keine Ambitionen, großartig Karriere zu machen. Er war ein sehr guter Polizist, stammte gebürtig von einem Bauernhof vor den Toren Mühldorfs, war 1,80 m groß, sportlich und war das, was man einen Frauenhelden nannte. Er war nie verheiratet, konnte nicht allein sein und liebte alle Frauen, wobei er keinen besonderen Typ bevorzugte. Er konnte nur die zickigen, falschen und verlogenen Frauen nicht leiden.

„Hast du die Pizza schon besorgt?“, flüsterte Leo Viktoria zu, als sie an der Kaffeemaschine standen. Leo war 49 Jahre alt. In wenigen Wochen hatte er seinen 50. Geburtstag, vor dem er etwas Bammel hatte. Für ihn waren Menschen über 50 immer alt gewesen und dazu würde er nun auch bald gehören. Mit seiner Körpergröße von 1,90 Meter und der schlanken Figur fiel er schon auf, aber noch auffallender war sein Kleidungsstil, über den sich schon viele amüsiert hatten. Er trug immer Jeans, eine alte Lederjacke, Cowboystiefel und entweder ein einfarbiges Hemd oder ein T-Shirt mit dem Aufdruck einer Rockband, die außer ihm niemand zu kennen schien. Leo fand sich selbst absolut hip und chic. Nicht nur wegen seines Äußeren, sondern vor allem wegen seines schwäbischen Dialekts war er hier in Oberbayern ein Exot. Er hatte sich in Mühldorf gut eingelebt, inzwischen gehörte er dazu.

„Natürlich habe ich die Pizza besorgt, sie liegt im Auto und gammelt vor sich hin. Ich habe mich so sehr auf einen schönen Abend gefreut.“

Leo lächelte nur, strich ihr kaum merklich über den Arm und setzte sich an seinen Schreibtisch. Er ging die Aussagen der Kinder und deren Eltern durch, die fast alle wertlos waren. Danach machte er sich an die Aussagen der Passanten, von denen einige sehr interessant waren.

„Hört mal her,“ rief Leo in den Raum, „ich habe hier drei Aussagen vorliegen. Demnach müsste die Tote mindestens seit dem Vormittag dort gesessen haben. Könnt ihr euch das vorstellen?“

„Kaum zu glauben,“ sagte Viktoria und schüttelte den Kopf. „Ist unsere Gesellschaft schon so sehr abgestumpft, dass man sich nicht mehr füreinander interessiert? Man kann an einem stark frequentierten Ort eine Leiche setzen und keinen schert das?“

„Jetzt seid mal nicht so ungerecht,“ mischte sich Werner entgegen seiner sonstigen Art in die inzwischen eingetretene heftige Diskussion ein. „Wir haben alle die Leiche gesehen, sie wirkte absolut lebendig. Warum um alles in der Welt sollte ich eine Frau ansprechen, die an der Bushaltestelle sitzt, während ich auf den Bus warte?“

„Was ist mit den Busfahrern und den Anwohnern? Möchtest du die etwa auch in Schutz nehmen?“ Viktoria war sehr aufgebracht.

„Ich möchte niemand in Schutz nehmen. Natürlich hätten die Busfahrer genauer nachsehen können, genauso wie die Anwohner. Aber wie gesagt: Die Tote sah absolut lebendig aus und saß am Bussteig. Warum sollte sie dort nicht sitzen?“

Viktoria, Leo und Hans diskutierten mit Werner. Sie waren sich darüber einig, dass sie anders gehandelt hätten, und waren von den Passanten, Busfahrern und Anwohnern enttäuscht. Werner ließ sich nicht beirren. Er hatte Verständnis und sagte nichts mehr dazu. Er hatte seine Meinung deutlich gemacht und machte sich wieder an die Arbeit. Trotz großer Bemühungen seinerseits konnte er keinen zuständigen Sachbearbeiter bezüglich der Busfahrer ermitteln, es war einfach schon zu spät. Busse fuhren schon seit Stunden nicht mehr, nachts überhaupt nicht.

Hans Hiebler hingegen konnte drei vermisste Frauen ausfindig machen, die der Toten sehr ähnlich sahen. Aber ohne den ausführlichen Bericht der Pathologie München konnten sie sich nicht sicher sein, sie mussten bis morgen warten.

Es war mittlerweile fast elf Uhr und Viktoria entschied, dass es für heute genug war.

„Machen wir Schluss für heute. Morgen früh um 8.00 Uhr treffen wir uns in alter Frische im Besprechungszimmer. Der Chef hat von dem neuen Fall gehört. Er ist äußerst gespannt darauf, was wir zu berichten haben.“

Dass Rudolf Krohmer, der Leiter der Polizei Mühldorf, stärker in den Fall involviert sein würde, konnte bis dato noch niemand ahnen.

Leichenschau

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