Читать книгу Tödliche Vetternwirtschaft - Irene Dorfner - Страница 7

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„Ich wurde von einer Bekannten gebeten, einen Todesfall zu überprüfen,“ sagte Rudolf Krohmer, Leiter der Polizeiinspektion Mühldorf, als er mit seinen Kollegen der Mordkommission an diesem sonnigen Dienstagmorgen des 7. April im Besprechungszimmer saß. Das vergangene Osterwochenende war außergewöhnlich ruhig gewesen, obwohl man zu solchen Familienfesten immer mit dem Schlimmsten rechnen musste. Für den Großteil der Polizisten bestand zu diesen Feiertagen eine Urlaubssperre, von der die Beamten und deren Familien verständlicherweise nicht begeistert waren. Aber es war nun mal so: An Familienfeiertagen wurde die Polizei am häufigsten gerufen.

„Wir sollen einen Todesfall überprüfen? Wenn der nicht bei uns gelandet ist, gehe ich davon aus, dass es sich dabei um eine natürliche Todesursache handelt. Das ist nicht Ihr Ernst Chef,“ maulte Viktoria Untermaier, die nichts von diesen Klüngeleien hielt, mit denen sich Krohmer immer wieder abgab. Die 48-jährige, nur 1,65 m große Frau mit der sehr weiblichen Figur war die Leiterin der Mordkommission und hasste es, wenn sie sich mit solcher Arbeit herumschlagen musste.

„Ich weiß, wie sich das anhört. Bevor Sie vorschnell urteilen, hören Sie sich die Sache wenigstens an.“

„Von mir aus,“ sagte Leo Schwartz, der bisher nicht den Eindruck hatte, dass sich der Chef mit unsinnigen Geschichten auseinandersetzte, denn für ihn war Krohmer ein intelligenter und besonnener Mensch, der das Herz auf dem rechten Fleck hatte. Leo mochte Krohmer sehr. Er hatte ihm von Anfang an die Eingewöhnung in Mühldorf nach seiner Versetzung von Ulm hierher sehr einfach gemacht und ihn immer fair und gerecht behandelt. Und obwohl er dazu neigte, seine eigenen Wege zu gehen, um ans Ziel zu kommen, hatte ihm der Chef immer wieder den Rücken gestärkt und hatte ihm stets vertraut.

„Bei meiner Bekannten handelt es sich um eine Spielkameradin aus frühen Kindertagen, wir sind quasi Tür an Tür aufgewachsen. Ihr Name ist Susanne Bruckmayer, wir sind uns am Sonntag während der Ostermesse über den Weg gelaufen. Ich war sehr überrascht, sie nach so vielen Jahren wieder zu sehen und ich habe sie anfangs überhaupt nicht erkannt, schließlich haben wir uns seit fast 35 Jahren nicht mehr gesehen. Sie ist inzwischen aufgrund einer Erkrankung pensioniert, sie war viele Jahre in leitender Position beim Jugendamt in München beschäftigt. Ihre Eltern sind letztes Jahr kurz hintereinander verstorben, wodurch sie das Haus in Mühldorf geerbt hat und wieder hierher gezogen ist.“

„Das ist ja alles sehr rührselig und für manche auch bestimmt interessant. Aber um was geht es denn jetzt genau?“ Viktoria Untermaier war genervt von der Lebensgeschichte der Unbekannten, für die sie sich nicht interessierte.

„Susanne hatte einen Bekannten, der kürzlich urplötzlich verstorben ist. Aus heiterem Himmel.“

„Das soll vorkommen,“ brummte Viktoria.

„Auf dem Totenschein wurde Herzversagen als Todesursache angegeben, aber Susanne glaubt nicht daran. Sie kannte den Verstorbenen sehr gut, vor allem in den letzten Wochen hatte sie viel Zeit mit ihm verbracht. Sie hat mich inständig gebeten, der Sache nachzugehen.“

„Und auf welche Grundlagen stützt sich die Vermutung Ihrer Bekannten?“

„Nur eine Ahnung. Beweisen kann sie natürlich nichts. Aber Susanne ist keine Frau, die sich Hirngespinsten hingibt. Sie steht mit beiden Beinen auf dem Boden und ist sehr intelligent. Sie hat mich davon überzeugen können, die Sache zu überprüfen.“ Krohmer merkte selbst, dass seine Gründe sehr dünn waren. Trotzdem hatte er versprochen, sich der Sache anzunehmen, sonst hätte Susanne keine Ruhe gegeben. Außerdem hatte er die Sorgen in ihren Augen gesehen.

„Du meine Güte,“ stöhnte Viktoria, „da haben Sie sich aber ganz schön einlullen lassen. Wie lange haben Sie die Frau nicht mehr gesehen? 35 Jahre? Sie meinen wirklich, dass Sie die Frau noch so gut einschätzen können? Vergessen Sie’s Chef.“

„Ich habe ihr mein Wort gegeben und würde es sehr begrüßen, wenn sich zwei von Ihnen der Sache annehmen. Hören Sie sich bei der Familie, bei Freunden, Arbeitskollegen und Bekannten des Verstorbenen um. Machen Sie sich ein eigenes Bild und urteilen Sie selbst. Mehr verlange ich nicht.“

„Ich finde, das hört sich nicht verkehrt an. Ich würde das gerne übernehmen,“ sagte Hans Hiebler begeistert. Der 53-jährige, 1,80 m große sportliche und sehr attraktive Mann umgab heute wieder ein sehr betörender Herrenduft, der den anderen fast die Luft nahm. Da kein aktueller Mordfall anstand, lagen alte Mordfälle auf dem Schreibtisch, die die Mordkommission durchzuarbeiten hatte. Er hasste diese Arbeit, mit der sie sich in regelmäßigen Abständen herumplagen mussten. Er machte viel lieber ordentliche, alte Polizeiarbeit. Am liebsten draußen unter Menschen und nicht am Schreibtisch. Man sagt ja, Papier ist geduldig – Hans Hiebler war es in dieser Hinsicht nicht.

„Ich begleite dich,“ rief Leo schnell und kam damit dem neuen Kollegen Sebastian Kranzbichler, genannt Wastl, zuvor, der ebenfalls wie Leo und Hans diese Arbeit nicht mochte und eine Abwechslung witterte. Kranzbichler war enttäuscht; jetzt musste er mit dieser mies gelaunten Viktoria die alten Fälle allein überarbeiten, was bestimmt kein Vergnügen werden würde.

„Ich bedanke mich für Ihr Entgegenkommen, ich weiß das sehr zu schätzen,“ strahlte Krohmer über den Enthusiasmus der Kollegen. „Hier ist die Sterbeurkunde, die ich in weiser Voraussicht mitgebracht habe. Ich wusste ja, dass ich mich auf meine Leute verlassen kann.“ Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Es handelt sich bei dem Toten um einen gewissen Gerald Haferstock, der am Donnerstag den 19.03.2015 gegen 7.30 Uhr in Töging nahe des Wasserschlosses tot aufgefunden wurde. Der 55-jährige Mann war beim Joggen zusammengebrochen. Eine Obduktion wurde aufgrund der festgestellten Todesursache nicht angeordnet. Haferstock war nicht verheiratet und hatte keine Kinder. Seine betagte Mutter lebt in Altötting, hier ist die Adresse. Hören Sie sich um und verschaffen Sie sich einen persönlichen Eindruck. Sie können auch gerne mit Susanne Bruckmayer sprechen, ihre Adresse habe ich ebenfalls notiert.“

„Gerne Chef. Wir fahren sofort los und melden uns direkt bei Ihnen.“

„Viktoria ist heute sehr schlecht gelaunt. Hattet ihr Zoff?“

„Nein, ihr Gemütszustand hat nichts mit mir zu tun,“ sagte Leo Schwartz. Der 50-jährige Schwabe war seit einigen Monaten mit Viktoria liiert, sie wohnten inzwischen sogar schon zusammen. „Letzte Woche kam ein Einschreiben eines Notars aus Eggenfelden. Viktoria wurde über den Tod einer Tante ihres Exmannes informiert. Sie wurde von dieser Tante testamentarisch berücksichtigt und wurde gebeten, in drei Wochen bei diesem Notar zu erscheinen. Sie mochte die alte Dame sehr und hat sofort telefonisch zugesagt, bis ihr schließlich wenig später bewusst wurde, dass sie dort ihrem Exmann über den Weg laufen könnte. Jetzt ärgert sie sich über sich selber und hat seitdem schlechte Laune. Ich finde das alles amüsant und könnte mich totlachen.“

„Das findest du witzig?“

„Natürlich! Wie kann man nur so schnell und ohne nachzudenken reagieren? Gerade der immer besonnenen Viktoria passierte dieser Fauxpas. Sie hat mich gebeten, sie zu begleiten, aber darauf kann ich gerne verzichten. Ich möchte ihrem Exmann nicht über den Weg laufen. Du hast diesen unsympathischen Kotzbrocken doch selbst kennenlernen dürfen. Erinnerst du dich?“

„Sicher erinnere ich mich an Andreas Untermaier. Der harte Kerl von der Spezialeinheit, der beim Sinderhof-Fall in Tüßling die Hosen gestrichen voll hatte. Ich stand direkt neben ihm und Viktoria, als sie ihm mit einem gezielten Schlag die Nase gebrochen hatte.“

Die beiden mussten lautstark lachen, bis sie Tränen in den Augen hatten, denn der muskulöse und durchtrainierte Andreas Untermaier gab damals ein äußerst jämmerliches Bild ab.

„Wenn ihr der Termin bei diesem Notar so unangenehm ist, warum schlägt sie das Erbe nicht einfach aus?“

„Hab ich ihr auch schon vorgeschlagen, mehrfach sogar. Aber sie mochte diese Tante, was ich ihr nicht ganz glaube, denn sie konnte sich kaum an deren Namen erinnern. Ich bin davon überzeugt, dass sie neugierig ist, was ihr vermacht wurde. Du kennst doch Viktoria.“

„Das muss es sein,“ sagte Leo, als er den Wagen vor dem Grundstück in Altötting-Süd parkte. „Hier wohnt die Mutter des Verstorbenen.“

„Donnerwetter! Das nenne ich ein Anwesen!“ rief Hans beeindruckt. Er liebte diese alten Stadthäuser, die für ihn ein gewisses Flair ausstrahlten, das Neubauten einfach nicht hatten. Schon allein deshalb würde er nie aus dem alten Bauernhaus ausziehen, das er von seinen Eltern geerbt und inzwischen modernisiert hatte. Die Felder und Wiesen waren längst verkauft, aber das Bauernhaus selbst würde er niemals hergeben.

Sie klingelten an dem schmiedeeisernen Tor und hatten die Überwachungskamera längst bemerkt, die nun mit einem Summen direkt auf sie gerichtet war. Leo und Hans hielten ihre Ausweise ins Sichtfeld der Kamera, worauf der Öffner des Tors summte. Der Weg zum Haus war wunderschön angelegt. Zwischen den alten Wegplatten lugte nicht ein einziges Unkraut hervor, die Bepflanzung war akkurat geschnitten. Die Tür wurde geöffnet und eine Frau Mitte vierzig stand vor ihnen.

„Kommen Sie herein. Schuhe bitte sauber abtreten! Frau Haferstock duldet keinen Schmutz in ihrem Haus.“

Sie folgten der Frau mit dem energischen Gang in ein riesiges Wohnzimmer, das mit teuren, schweren Möbeln und dicken Teppichen ausgestattet war.

„Die beiden Herren sind von der Polizei. Soll ich Kaffee machen?“

„Nein danke Paula, die Herren werden nicht lange bleiben. Setzen Sie sich bitte. Was kann ich für Sie tun?“

Die alte Frau saß mit einer dicken Wolldecke im Rollstuhl und war weit über 80 Jahre alt. Die stahlblauen Augen waren hellwach und sie sah die Beamten argwöhnisch an.

„Wir sind wegen Gerald Haferstock hier.“

„Wegen meinem Sohn? Warum? Stimmt etwas nicht mit Geralds Tod? Ich wurde darüber unterrichtet, dass er an Herzversagen gestorben ist, was mich wegen seinem unsteten Lebenswandel nicht überrascht hat. Warum also sind Sie hier? Nun sagen Sie schon und spannen mich nicht länger auf die Folter.“ Elisabeth Haferstock war nicht nur resolut, sondern auch sehr ungeduldig.

„Es gibt einige Ungereimtheiten, denen wir nachgehen müssen,“ antwortete Leo rasch, dem die Situation sehr unangenehm war. Hans hingegen hatte sich zurückgelehnt und sagte kein Wort. Er überließ Leo die Befragung und beobachtete jede Regung der Frau. „Dem Totenschein haben wir entnommen, dass Ihr Sohn während dem Joggen am Inn-Ufer in Töging zusammengebrochen ist. Hatte er irgendwelche Vorerkrankungen?“

„Nicht, dass ich wüsste.“

„Wann haben Sie Ihren Sohn zuletzt gesehen?“

„Ich gehe davon aus, dass Sie sich bereits mit mehreren Personen unterhalten haben, die nicht sehr gut auf mich zu sprechen sind. Die Leute reden viel, wenn der Tag lang ist. Vor allem, wenn der Neid in ihnen aufsteigt, schließlich sind wir eine privilegierte, wohlhabende Familie, die es nur mit Disziplin, Fleiß und Verzicht so weit gebracht hat. Egal, was Ihnen die anderen erzählen, mein Sohn und ich hatten trotz aller Umstände ein gutes Verhältnis. Gerald kam regelmäßig vorbei und hat nach mir gesehen. Das letzte Mal war er zu meinem Geburtstag am 3. März hier.“ Die Züge um ihren Mund wurden noch strenger.

„Was hat Ihr Sohn beruflich gemacht?“

„Er war Architekt. Ich kann nicht beurteilen, ob er seine Arbeit gut gemacht hat, ich verstehe nichts von diesem Metier und ich habe mich auch nie dafür interessiert. Seit drei Generationen gab es nur Anwälte in unserer Familie und ich kann behaupten, dass die Kanzlei Haferstock viele Jahre eine feste Institution in Altötting war. Wir trotzten Kriegen und Wirtschaftskrisen und haben uns während der ganzen Zeit nie etwas zu Schulden kommen lassen. Natürlich sollte Gerald ebenfalls die juristische Laufbahn einschlagen und dann die gutgehende Kanzlei übernehmen, so war es zumindest immer geplant. Aber mein Sohn hat sich trotz guten Zuredens geweigert, Jura zu studieren und hatte sich lieber der Architektur zugewandt. Gerald war nicht davon abzubringen und schließlich haben wir uns damit abgefunden. Naja, die Architektur war immer noch besser als irgendwelche Geisteswissenschaften.“

„Sie haben vorhin den unsteten Lebenswandel Ihres Sohnes erwähnt. Was verstehen Sie darunter?“

„Abgesehen von seinem Beruf, der ihn auf dreckige Baustellen führte, meine ich auch die vielen Vergnügungen, denen er nachgegangen ist. Feiern und Reisen zu den entlegensten Winkeln der Erde war seine Passion. Mein Mann und ich sind nie viel gereist, wir haben immer nur gearbeitet und sind unseren Pflichten nachgegangen, irgendwelche Vergnügungen waren uns fremd. Darüber hinaus meine ich auch seine abartige Zuneigung zu Männern, die er offen ausgelebt hat. Widerlich! Er hat damit dem Ruf der Familie sehr geschadet und wollte auch der Familie und der Anwaltskanzlei zuliebe nicht auf diese Neigung verzichten. Wir haben ihn angefleht, diese Neigung im Verborgenen auszuleben, aber er wollte sich nicht verstecken und bestand darauf, so zu leben, wie er es für richtig hielt. Was will man da machen? Wir haben uns schließlich widerwillig auch damit abfinden müssen. Ich kann mich in der ganzen Familiengeschichte nicht an einen einzigen Mann erinnern, der auch unter dieser Veranlagung gelitten hat.“

Für die alte Frau Haferstock war Homosexualität eine abartige Krankheit. Leo wollte etwas darauf erwidern, aber Hans hielt ihn zurück. Für ihn war es sinnlos, mit dieser Frau darüber zu diskutieren.

„Hatte Ihr Sohn Feinde?“

„Aber nein, wo denken Sie hin. Alle mochten meinen Gerald, er war überall beliebt und hatte einen sehr großen Freundeskreis. Gerald hatte schon als Kind immer ein Lächeln auf den Lippen, kannte keinen Neid und war sehr hilfsbereit. Geschäftlich war er sehr erfolgreich, obwohl man ihm nachsagt, dass er ein sehr harter Verhandlungspartner war. Zumindest das hatte er von seinem Vater geerbt.“

„Hatte er einen festen Lebenspartner?“

„Um Gottes Willen, das weiß ich nun wirklich nicht. Als er mir und seinem Vater damals seine Neigung gebeichtet hat, hat er uns versprechen müssen, uns niemals einen seiner Partner vorzustellen oder gar mitzubringen. Das wäre uns doch sehr unangenehm gewesen. Es hat uns geschockt, dass unser Sohn mit seiner Neigung überall hausieren ging, alle wussten Bescheid! Das muss man sich mal vorstellen! Wir waren das Gespött der Altöttinger und natürlich unserer Klienten. Es hat Jahre gedauert, bis wir uns damit abgefunden haben und man nicht mehr darüber sprach. Ich bin mir sicher, dass man auch heute noch hinter vorgehaltener Hand über unseren Sohn und seine Veranlagung herzieht. Aber heute ist mir das gleichgültig. Mein Mann ist vor acht Jahren verstorben, worauf ich die Kanzlei schweren Herzens verkaufen musste. Aber was sollte ich tun? Ohne einen Nachfolger blieb mir nichts anderes übrig, als das Lebenswerk der Haferstocks an einen befreundeten Anwalt zu verkaufen. Zumindest der Name Haferstock wird zu Ehren meines Mannes weiterhin in der Kanzlei genannt, obwohl ein Haferstock nichts mehr damit zu tun hat. Aber der Nachfolger Dr. Seemann hat damals bei meinem Mann gelernt, der ihn unter seine Fittiche genommen hat. Es ging mir sehr ans Herz, als ich den Namen meines Mannes im neuen Firmenschild las.“ Erst jetzt durch diese Aussage konnte man eine gewisse menschliche Regung bei Frau Haferstock spüren, die immer noch unter diesem Verkauf litt. „Mir geht es gesundheitlich immer schlechter, schon seit Jahren halte ich mich fast nur noch hier im Haus auf. Es ist nicht schön, wenn man alt und einsam ist, das können Sie mir glauben.“

„Ihr Sohn wohnte nicht in Ihrem schönen, großen Haus? Platz wäre in diesem Riesenkasten mehr als genug,“ sagte Hans und erntete durch diese Bemerkung einen scharfen Blick von Frau Haferstock.

„Nein, ich wohne hier seit dem Tod meines Mannes allein. Gerald ist schon vor vielen Jahren ausgezogen, er hat sich in Töging ein Haus gekauft. Das war uns nicht unangenehm, denn in seinem eigenen Haus weit genug weg von Altötting konnte er machen, was er wollte, das hat uns nicht interessiert. Wir sind niemals dort gewesen, um mit seinem Lebenswandel nicht konfrontiert zu werden und auch, um ihn nicht zu stören. Er hatte sein Leben und wir hatten unseres. Sie können sich in Geralds Haus gerne umsehen, ich habe einen Hausschlüssel, den ich noch nie benutzt habe.“

Leo und Hans konnten sich kaum vorstellen, was das für den Sohn bedeutet haben muss. Er wurde wegen seiner Homosexualität aus der Familie quasi ausgestoßen.

„Was passiert mit dem Haus Ihres Sohnes?“

„Das wurde noch nicht entschieden. Mein Sohn hat ein Testament verfasst, das in Kürze verkündet wird. Ich denke, das ist reine Formsache und es wird wohl alles mir als nächste und fast einzige Verwandte zufallen.“

„Sie haben keine weiteren Kinder?“

„Nein, Gerald war unser einziges Kind. Die Erbfolge wird von meiner Seite aus jetzt neu geregelt werden müssen. In der gesetzlichen Erbfolge stehen die missratenen Kinder meiner Halbschwester nun an nächster Stelle und das muss ich unbedingt verhindern. Meine Halbschwester entstammt einem Seitensprung meines Vaters mit einem Kindermädchen und ist mir sehr peinlich. Dieser Skandal konnte damals nur mit großer Mühe unter den Teppich gekehrt werden und ich bin mir sicher, dass diese Schlampe eine große Summe aus meinem Vater gepresst hat. Aber genau weiß ich das nicht, mein Vater hat sich dazu nie geäußert. Zum Glück ist diese Geschichte niemals an die Öffentlichkeit gelangt. Nicht auszudenken, was dann passiert wäre! Womöglich hätte mein Vater die Kanzlei schließen müssen. Meine sogenannte Halbschwester, die sie nun mal auf dem Papier ist, lebt heute in ärmlichen Verhältnissen und hat es zu vier unehelichen Kindern gebracht. Man munkelt sogar, dass sie von verschiedenen Vätern sind. Naja, das war ja zu erwarten. Sie verstehen, dass ich das Vermögen lieber einer wohltätigen Einrichtung zukommen lasse, als es diesen Proleten in den Hals zu werfen.“ Frau Haferstock verzog angewidert das Gesicht. Leo konnte sich lebhaft vorstellen, dass diese versnobte Frau das Geld lieber verbrannt hätte, als es dieser Frau zu geben.

„Wo finden wir Ihre Halbschwester?“

„Ich weiß zwar nicht, was Sie von ihr wollen, aber bitte. Paula gibt Ihnen die Adresse dieser Sippe und natürlich auch die Anschrift und den Hausschlüssel meines Sohnes. Wenn Sie mir jetzt bitte verraten würden, welche Ungereimtheiten bezüglich des Todes meines Sohnes aufgetaucht sind? Ich verstehe nicht, weshalb sich die Mordkommission mit dem Tod befasst.“

„Das können wir Ihnen leider noch nicht sagen, wir sind erst am Anfang unserer Ermittlungen.“ Leo wusste immer noch nicht, was er sagen sollte. Es war ihm fast peinlich, dass sie nur einer vagen Vermutung nachgingen, die jeglicher Grundlage entbehrte.

Leo und Hans verabschiedeten sich hastig bei der alten Frau, bevor sie noch mehr unangenehme Fragen stellte. Beim Hinausgehen überreichte Paula den beiden einen Zettel mit den gewünschten Adressen zusammen mit dem Hausschlüssel von Gerald Haferstock. Eins war klar: Die Frau hatte gelauscht!

„Wie standen Sie zu Gerald Haferstock?“

Paula Ritter sah Leo erschrocken an. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass auch sie befragt wurde. Sie wurde nervös und fuhr sich durch die feuerroten Haare.

„Wir kannten uns nur flüchtig. Natürlich haben wir uns hier im Haus getroffen, dabei unterhielten wir uns hauptsächlich über seine Mutter. Obwohl Frau Haferstock zu ihrem Sohn immer sehr kalt und ablehnend war, machte er sich über ihren Gesundheitszustand große Sorgen. Er war mir gegenüber immer sehr höflich und zuvorkommend. Nicht wie seine versnobte Mutter, die gerne raushängen lässt, dass sie etwas Besseres ist. Nein, Gerald war da ganz anders. Zu Weihnachten und zu meinem Geburtstag hat er mir immer eine kleine Aufmerksamkeit zukommen lassen. Natürlich heimlich, seine Mutter hätte das nicht geduldet. Für sie gab es eine deutliche Grenze zwischen der ehrwürdigen Familie und den Angestellten. Gerald liebte es, hinter dem Rücken seiner Mutter zu agieren und wirkte dabei wie ein kleines Kind. Er war herzlich und lustig, ich vermisse ihn sehr.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie mochte Gerald Haferstock mehr als sie zugeben würde. „Warum sind Sie hier? Ist Gerald doch nicht eines natürlichen Todes gestorben? Ich habe ihn nie als kränklich empfunden, er strotzte geradezu vor Vitalität und hat sehr auf seinen Körper geachtet. Er mied Zucker und Fette aller Art. Und täglich lief er seine Runden an der frischen Luft, zusätzlich zu den Trainingsstunden in seinem eigenen Fitnessraum bei sich zuhause, den er sich extra hat einrichten lassen. Ein riesiger Raum mit den modernsten Geräten in allen Variationen.“

„Sie kennen das Haus des Toten? Waren Sie dort?“

„Gerald hat mich vor Jahren gebeten, mich um sein Haus zu kümmern, wenn er im Urlaub oder beruflich unterwegs war. Sie müssen wissen, dass ich in Winhöring wohne, da ist ein kurzer Abstecher nach Töging für mich kein Problem. Natürlich habe ich das gerne gemacht und er hat mich immer großzügig dafür bezahlt, was nicht nötig gewesen wäre. Aber Gerald bestand auf eine Bezahlung. Seine Mutter wusste nichts davon und ich bitte Sie, es ihr nicht zu sagen.“ Sie druckste herum und man spürte, dass ihr noch etwas auf der Seele lag. „Ich gestehe lieber gleich, dass ich mich seit Geralds Tod um das Haus kümmere, bevor Sie es selbst herausfinden. Ich lüfte die Räume, sehe nach der Post und gieße die Pflanzen. Ich kümmerte mich nach der Beerdigung darum, dass die Mülltonnen geleert wurden und stellte sie wieder an ihren Platz. Natürlich habe ich alles Verderbliche längst entsorgt.“ Verschämt wandte sie den Blick zur Seite. Jetzt, wo sie ihre eigenen Worte hörte, merkte sie erst, wie dämlich sie sich verhalten hatte. Warum hatte sie das getan? Niemand hatte sie darum gebeten und es lag auf der Hand, dass das irgendwann herauskommen würde, schließlich hatten sie die Nachbarn bestimmt beobachtet. Und jetzt wusste es auch die Polizei. Es war nur eine Frage der Zeit, wann Frau Haferstock davon erfuhr; das würde sie ihren Job kosten. Die alte Dame konnte sehr ungehalten reagieren, wenn hinter ihrem Rücken agiert wurde.

„Wo ist die Post?“

„Die habe ich auf Geralds Küchentisch gelegt. Ich habe nichts weggeworfen und niemals würde ich fremde Post öffnen. Ich wollte verhindern, dass der Briefkasten überquillt und dadurch Einbrecher angelockt werden, davon hört man immer wieder im Fernsehen. Bitte verraten Sie mich nicht. Frau Haferstock wird sehr böse, wenn sie davon erfährt. Könnte das bitte unter uns bleiben? Wäre das möglich? Ich bin auf diesen Job angewiesen!“

Diese Frau Haferstock musste ja ein richtiges Monster sein, denn sowohl Leo, als auch Hans konnten die Angst in den Augen der Frau sehen. Leo winkte beschwichtigend ab.

„Ich sehe eigentlich keinen Grund, Ihrer Chefin davon zu berichten. Ist Ihnen vor Herrn Haferstocks Tod oder danach irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen? Denken Sie in Ruhe darüber nach, jede Kleinigkeit könnte enorm wichtig sein.“

„Nein, vor Geralds Tod ist mir nichts aufgefallen, alles war wie immer.“ Plötzlich stockte sie und runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht, ob das wichtig ist, aber in Geralds Haus war tatsächlich etwas merkwürdig. Gerald war immer sehr sauber und ordentlich, man könnte ihn auch als pingelig bezeichnen. Nach seinem Tod habe ich Schmutz auf dem Küchenboden, der Arbeitsplatte und in der Spüle gefunden. Nicht viel, nur ein paar Krümel, aber trotzdem hätte Gerald das achtlos liegengelassen. Ich habe natürlich alles sauber gemacht.“

Die beiden fuhren nun zur Halbschwester von Frau Haferstock, einer gewissen Angelika Wagenführ, die in Töging wohnte. Danach wollten sie zum Haus des Verstorbenen, das sich im gleichen Ort befand.

„Das hier muss es sein,“ sagte Hans und blickte an der schmucklosen Hausfassade des 5-geschossigen Wohnblocks empor. Schon die Zufahrt zu der Wohnsiedlung war nicht sehr einladend. „Keine schöne Wohngegend. Wer hier wohnt, lebt nicht gerade auf der Sonnenseite des Lebens.“

Auch Leo war vom Haus und der Umgebung nicht angetan und erinnerte ihn an die heruntergekommene Wohngegend in Mühldorf, wo sie in ihrem vorletzten Fall zu tun hatten.

Sie suchten nach der richtigen Klingel, fanden sie rasch und mussten nur wenige Augenblicke warten, bis der Türöffner betätigt wurde. Zumindest der funktionierte noch. Das Treppenhaus war abgewohnt und schmuddelig. Die Wände waren teilweise verschmiert und vor dem dreckigen Fenster standen zwei vertrocknete Pflanzen inmitten einem Meer toter Fliegen. Dazu roch es im Treppenhaus nach verschiedenen Essensgerüchen, vermischt mit Zigarettenrauch.

„Mit einem Eimer Farbe könnte man einiges machen,“ bemerkte Hans mit einem Kopfschütteln. Er verstand nicht, wie man mit diesen verschmierten, bemalten Wänden und diesem Dreck tagaus, tagein leben konnte. Er hätte längst einen Tag investiert und hätte die Wände gestrichen und gründlich sauber gemacht.

Eine Frau Anfang 60 stand an der Wohnungstür und machte einen ordentlichen Eindruck. Die Kleidung war sauber, die Haare modern zurecht gemacht und die Fingernägel waren frisch manikürt.

„Sie wünschen?“ fragte sie mit einem freundlichen Lächeln.

„Kriminalpolizei Mühldorf. Mein Name ist Schwartz, das ist mein Kollege Hiebler. Wir hätten ein paar Fragen. Dürfen wir reinkommen?“

„Kriminalpolizei? Ist etwas passiert?“ fragte sie erschrocken.

„Aber nein, keine Sorge. Wir haben nur ein paar Fragen.“

„Gott sei Dank! Ich dachte schon, es wäre einem meiner Kinder oder Enkel etwas zugestoßen. Kommen Sie herein, hier haben die Wände Ohren. Ich bin mir sicher, dass es längst die Runde macht, dass die Polizei bei mir ist. Jetzt werden die wildesten Gerüchte gestreut.“

Sie führte die beiden in ein sauberes, helles Wohnzimmer, das zwar mit alten Möbeln bestückt, aber durchaus gemütlich war.

„Wir sind hier wegen dem Tod Ihres Verwandten Gerald Haferstock.“

„Verwandtschaft im eigentlichen Sinn ist das keine. Ich bin der Bastard der Familie Haferstock. Meine Mutter hatte ein außereheliches Verhältnis mit dem alten Karl Haferstock, das ist eine Ewigkeit her. Ich wurde von klein auf dazu erzogen, niemals Kontakt mit meinem leiblichen Vater oder dessen Familie aufzunehmen, woran ich mich auch immer stets gehalten habe. Ich habe mit der ehrwürdigen Familie Haferstock nichts zu tun und kann Ihnen zu Gerald nichts sagen. Natürlich wusste ich, wer er ist und ich habe nicht schlecht gestaunt, als ich mitbekommen habe, dass auch er hier in Töging wohnt. Die Welt ist wirklich sehr klein, glauben Sie mir. Wir sind uns hier im Ort ab und an über den Weg gelaufen. Ich weiß nicht, ob er überhaupt wusste, wer ich bin. Er hat mich immer freundlich gegrüßt und das war’s auch schon. Was ist mit seinem Tod? Starb er nicht durch Herzversagen? Zumindest erzählt man sich das.“

Leo und Hans wollten nicht auf die Fragen eingehen.

„Wie ist es mit Ihren Kindern? Hatten die Kontakt zu Gerald Haferstock?“

„Das kann ich mir nicht vorstellen. Natürlich wissen sie alle von der Beziehung zur Familie Haferstock. Wir haben unsere Kinder offen erzogen und immer alles besprochen.“

„Wir haben gehört, dass Ihre Kinder von verschiedenen Vätern seien?“

„Bestimmt hat das die alte Giftspritze Elisabeth behauptet. Das hätte ich mir ja denken können, dass sie überall gegen mich und meine Familie schießt, dabei setzt sie skrupellos die wildesten Gerüchte in die Welt. Das macht sie schon, seit ich denken kann. Ich muss Sie enttäuschen: Ich bin nicht so schlecht und asozial, wie mich meine liebe Halbschwester gerne sehen möchte. Wir sind eine durchschnittliche, bürgerliche Familie, man könnte uns fast als spießig bezeichnen. Keine Vorstrafen, keine Konflikte mit den Behörden, einfach nichts, was man uns ankreiden könnte. Meine Kinder haben ein- und denselben Vater und sind alle sehr gut geraten. Zwei meiner Kinder haben studiert, einer hat sich mit einem Malerbetrieb selbständig gemacht. Meine Jüngste, die Chantalle, ist Hausfrau und managt einen 5-Personen-Haushalt. Mein Mann war immer ehrlich und fleißig, er hat sich nie etwas zuschulden kommen lassen. Leider hat er vor drei Jahren sterben müssen, Lungenkrebs.“

„Das tut mir sehr leid Frau Wagenführ. Würden Sie bitte die Adressen Ihrer Kinder aufschreiben?“

„Gerne. Obwohl ich nicht verstehe, was das alles soll. Aber Sie machen auch nur Ihre Arbeit.“

Frau Wagenführ notierte mit Druckbuchstaben von allen vier Kindern Namen und Anschriften und übergab Hans den Zettel.

„Dann war es das fürs Erste. Vielen Dank für Ihre Hilfe.“

„Ach, das war doch nichts. Ich hätte gerne mehr geholfen, aber die Familie Haferstock ist für mich und meine Familie nicht existent.“

„Eine Frage habe ich noch: Warum wohnen Sie hier in dieser Wohnung, in diesem Haus? Verstehen Sie mich nicht falsch, aber eigentlich passen Sie hier in diese Wohngegend irgendwie nicht rein.“

„Ich verstehe, was Sie meinen. Es stimmt schon, dass diese Siedlung in den letzten Jahren einen sehr schlechten Ruf bekommen hat. Daran ist die jeweilige Hausverwaltung, die sehr häufig wechselt, nicht ganz unschuldig, schließlich wird in diesen Häusern kaum mehr etwas gemacht. Als mein Mann noch gesund war und unser Freund und Nachbar Lothar hier noch gewohnt hat, haben sich die beiden immer bemüht, alles sauber und ordentlich zu halten. Aber das ging die letzten Jahre nicht mehr, die Krankheit hat meinem großen, starken Mann den Boden unter den Füßen entzogen. Er konnte nicht mehr. Und Lothars Frau ist gestorben, worauf er zu seiner Tochter nach Hamburg gezogen ist. Seitdem verkommt alles zusehends. Wir haben hier einen stetigen Mieterwechsel, die meisten bleiben nur vorübergehend und es ist ihnen vollkommen egal, in welchem Zustand sie die Wohnung, den Keller und das Treppenhaus hinterlassen. Oft werfen sie ihren Müll einfach auf die Straße. Natürlich beschwere ich mich regelmäßig bei der Hausverwaltung, aber entweder wollen die nicht oder sie können nicht. Und was soll ich alleine da machen? Ich könnte natürlich meine Kinder bitten, mir zu helfen. Aber die haben ihr eigenes Leben und ich möchte sie nicht damit belasten. Außerdem ist das ein Fass ohne Boden. Manchmal habe ich auch die Nase voll und würde lieber heute als morgen wegziehen. Aber ich wohne schon seit fast 40 Jahren hier. Als ich mit meinem Mann damals hier eingezogen bin, waren diese Wohnungen topmodern und nagelneu. Meine Kinder sind hier aufgewachsen und wir haben hier sehr viel erlebt. Ich habe die schönste Zeit meines Lebens hier verbracht. Und es leben noch ein paar Freunde in der Nähe. Abgesehen davon, dass an dieser Wohnung und an dem Haus viele Erinnerungen hängen, kenne ich mich in der Gegend sehr gut aus. Ich habe kein Auto, noch nicht mal einen Führerschein, dafür war nie Geld übrig. Ich habe hier alles, was ich brauche und fühle mich im Grunde genommen wohl.“ Das klang nicht sehr überzeugend und man spürte, dass Frau Wagenführ sehr unter der Wohnsituation litt. „Es gehen Gerüchte um, dass diese Wohnblöcke abgerissen werden sollen und neue, moderne Mehrfamilienhäuser gebaut werden. Aber wie soll ich die Miete dafür aufbringen? Um den günstigen Preis wie hier bekomme ich bestimmt keine Wohnung. Meine Rente ist nicht hoch. Wir haben damals den Fehler gemacht und haben uns meine Rente auszahlen lassen, dafür haben wir uns das Wohnzimmer gekauft. Hoffentlich ist das alles nur ein Gerücht.“ Sie lächelte gequält und ärgerte sich darüber, mit welchem Gerede sie die Polizisten belästigte, die sich bestimmt nicht dafür interessierten und besseres zu tun hatten, als sich ihre Probleme anzuhören.

Das Haus von Gerald Haferstock war zwei Kilometer entfernt am anderen Ende Tögings im Ortsteil Waldfrieden. Durch die üppige Gartenbepflanzung war das Grundstück sehr gut eingewachsen und das Haus war vor neugierigen Blicken zum größten Teil geschützt. Sie gingen von Zimmer zu Zimmer und Paula hatte wirklich sehr gute Arbeit geleistet. Der Kühlschrank war ausgeschaltet und stand offen, ebenso der Gefrierschrank im Keller. Die Obstschale war leer, ebenso der Mülleimer in der Küche und der Papierkorb im Büro. Und die Post lag ordentlich auf dem Küchentisch.

„Nichts besonders,“ sagte Hans, während er sich die Absender der geschlossenen Post ansah. „Am liebsten würde ich hier die Spurensicherung durchjagen, dann wüssten wir mehr. Aber dafür liegen keine Gründe vor, die das rechtfertigen würden.“

„Ich schlage vor, wir sprechen noch mit den Nachbarn. Dann fahren wir in das Architekturbüro des Opfers. Und danach nehmen wir uns die Kinder von Frau Wagenführ vor.“

Die Befragung der Nachbarn zog sich unendlich in die Länge, denn niemand kannte Gerald Haferstock näher und alle waren sehr neugierig. Die Polizisten bekamen keine vernünftige Aussage über etwaige Besucher, Hobbies oder besondere Vorkommnisse beim Verstorbenen. Selbst Paula Ritter wollte niemand gesehen haben oder sich deshalb nicht festlegen; keiner wollte Ärger mit der Polizei.

„Immer dasselbe,“ schimpfte Leo. „Niemand weiß was, aber alle machen sich wichtig oder wollen keinen Ärger und schweigen lieber.“

Das Architekturbüro Haferstock befand sich im Industriegebiet Neuötting in einem fast gläsernen Gebäude, in dem noch weitere Firmen untergebracht waren: Eine Anwaltskanzlei, ein Kfz-Gutachter, ein Grafiker und eine Praxis für Ergotherapie.

Sie klingelten an der mit edlen Töpfen und Pflanzen dekorierten Tür und einen Augenblick später wurde diese von einer 56-jährigen Frau geöffnet, die übel gelaunt war.

„Sie wünschen? Ich sage Ihnen lieber gleich, dass wir aufgrund eines Trauerfalls in nächster Zeit keine neuen Aufträge annehmen können.“

„Zuerst einmal: Guten Morgen, so viel Zeit und Höflichkeit muss sein,“ sagte Hans mit einem freundlichen Lächeln. „Mein Name ist Hans Hiebler, Kripo Mühldorf, das ist mein Kollege Leo Schwartz. Wer bitte sind Sie?“

Die verknöcherte Frau in ihrem cremefarbenen, engen Kostüm sah Leo von oben bis unten missbilligend an. Er war wie immer mit einer Jeans, Cowboystiefeln, einem T-Shirt mit dem Aufdruck einer Rockband und einer Lederjacke gekleidet. Er war 1,90m groß, sehr schlank und seine Haare waren mittlerweile fast nur noch grau, was ihn anfangs störte und womit er sich inzwischen abgefunden hatte.

„Winter ist mein Name, wie die Jahreszeit. Hannelore Winter.“

„Dürfen wir reinkommen? Wir haben ein paar Fragen und können die auch gerne in diesem hellhörigen Treppenhaus klären.“

„Um Gottes willen! Kommen Sie endlich rein!“

Ein Mann kam die Treppe hoch und Frau Winter grüßte überaus freundlich. Hoffentlich hatte niemand im Haus mitbekommen, dass die Kripo bei ihnen war! In Neuötting und vor allem in diesem Gebäude sprachen sich schlechte Neuigkeiten sehr schnell herum. Und schlechtes Gerede konnte sie nicht auch noch gebrauchen, sie hatte schon genug Probleme am Hals.

„Was kann ich für Sie tun?“ bot sie den beiden Plätzen an ihrem ausladenden und völlig überladenen Schreibtisch an, der gleichzeitig der Empfang zu sein schien.

„Wir sind wegen Gerald Haferstock hier.“

„Der ist leider verstorben. Ganz plötzlich. Wie hätte man auch in seinem Alter damit rechnen können? Mit 55 Jahren stirbt man doch nicht einfach so! Vor allem nicht, wenn man so fit ist und so gesund gelebt hat. Als ich erfahren habe, dass er einfach so beim Joggen tot umgefallen ist, hätte mich fast der Schlag getroffen. Von jetzt auf nachher ist er einfach nicht mehr da. Er fehlt mir sehr. Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Seit Gerald tot ist, bleibt alles an mir hängen!“

Frau Winter war traurig und verzweifelt zugleich. Man sah schon an ihrem Schreibtisch und an dem völlig überladenen Sideboard dahinter, dass sie an ihre Grenzen stieß. Wenn sie das alles bearbeiten musste, hatte sie ganz schön zu tun.

„Was genau ist Ihre Funktion hier?“

„Ich bin Architektin. Genauer gesagt, habe ich früher Architektur studiert. Dummerweise habe ich dann, als ich meinen damaligen Mann kennengelernt habe, meinen Beruf ihm zuliebe und der Kinder wegen an den Nagel gehängt. Und dann hat mich vor rund sechs Jahren das Schicksal ereilt, dass mich mein Mann durch ein junges, blondes Modell ersetzt hat. Von heute auf morgen musste ich mein eigenes Geld verdienen, was nicht so leicht war. Klar hatte ich ein abgeschlossenes Studium, aber keine Praxis. Und ich war über 20 Jahre aus dem Beruf raus. Sie glauben nicht, wie viele Bewerbungen ich geschrieben habe und vor wie vielen Architekten ich zu Kreuze gekrochen bin. Ich habe überall um einen Job gebettelt. Gerald war der einzige, der mir eine Chance gegeben hat und dafür bin ich ihm ewig dankbar. Von Anfang an hat er mich wie einen vollwertigen Kollegen behandelt und mich nie spüren lassen, dass ich eigentlich keine Praxis habe und mich auch mit den Computerprogrammen ganz schön blöd angestellt habe. Er war sehr geduldig mit mir und ich habe sehr viel von ihm gelernt. Vor einem Jahr hat er mich sogar zu seiner Partnerin gemacht und mir die Hälfte der Firma überschrieben, können Sie sich das vorstellen? Mein Leben war in den letzten Jahren wie im Märchen und dann kam Geralds plötzlicher Tod. Das hat mich echt umgehauen. Ich weiß nicht, wie es hier jetzt weitergehen soll. Wer erbt Geralds Teil der Firma? Wird die Firma jetzt verkauft? Muss ich nochmal von vorn anfangen? Es ist zum Heulen!“

Man konnte spüren, dass Hannelore Winter ihren Kompagnon sehr mochte und auch vermisste.

„Hatte Herr Haferstock Feinde? Oder Neider? Was wissen Sie über sein Privatleben?“

„Feinde hatte er keinesfalls, das kann ich mir nicht vorstellen. Gerald war ein richtiger Sunny-Boy, der immer gute Laune hatte. Wo er auch hinkam, hat er die Menschen für sich eingenommen. Neider hatte er bestimmt, wer hat die nicht? Sogar mir schlug Neid von vermeintlich guten Freunden und sogar Familienmitgliedern entgegen, als ich Fuß gefasst hatte und immer erfolgreicher wurde. Geralds Leben war vor allem die Firma und die Arbeit, die er immer mit viel Herzblut und Hingabe gemacht hat, auch dafür habe ich ihn sehr bewundert. So einen leidenschaftlichen, äußerst kreativen, korrekten und integren Mann hatte ich bis dato nicht kennengelernt. Gerald reiste sehr gerne. Keine Pauschalreisen in irgendwelche Luxusschuppen, sondern eigens auf seine Wünsche und Vorstellungen zusammengestellte Individualreisen. Von diesen Reisen hat er nach seiner Rückkehr immer in den tollsten Farben geschwärmt. Natürlich wusste ich von Anfang an, dass Gerald homosexuell war, er hat diesbezüglich immer mit offenen Karten gespielt. Aber das ging mich nichts an und interessierte mich auch nicht. Männliche Begleiter habe ich nie an seiner Seite gesehen. Und private Besucher gab es hier in der Firma nicht, das mochte Gerald nicht; beruflich und privat hat er immer strikt getrennt, wie ich auch, darin waren wir uns einig. Ab und zu sind wir gemeinsam abends ausgegangen; meist, um einen guten Auftrag oder den Abschluss eines Projekts zu feiern. Wir waren Essen oder gingen ins Kino. Gerald hat mir vor sechs Jahren nicht nur beruflich, sondern auch privat unter die Arme gegriffen, bis ich langsam wieder Selbstvertrauen gewonnen hatte und wieder allein zurechtkam. Gerald hat mich damals aufgefangen und mir neuen Lebensmut gegeben, ich verdanke ihm sehr, sehr viel. Er war mein Freund, Mentor und Held. Ach, ich könnte stundenlang von diesem einzigartigen Mann schwärmen. Verstehen Sie mich nicht falsch, als Mann hatte ich nie Interesse an ihm, von Männern habe ich generell die Schnauze voll.“ Hannelore Winter griff in ihre Hosentasche und zog ein Taschentuch hervor, mit dem sie die Tränen abwischte und dann kräftig schnäuzte. „Sie vermuten, dass bei Geralds Tod jemand nachgeholfen hat?“

„Wie kommen Sie darauf?“

„Warum sollte sich sonst die Kripo für seinen Tod interessieren? Wissen Sie was? Ich könnte mir sogar vorstellen, dass da jemand nachgeholfen hat. Gerald war topfit und hatte keine Vorerkrankungen, das hätte er mir gesagt. Erst wenige Wochen vor seinem Tod hatte er sich komplett durchchecken lassen, mit allem Drum und Dran; Gerald war über das Ergebnis mehr als zufrieden.“ Das Telefon klingelte ununterbrochen und Frau Winter legte nun den Telefonhörer daneben. Sie stand auf, stellte Kaffeetassen auf den Tisch und schenkte ungefragt ein. So übel ihr erster Eindruck auch war, umso umgänglich entpuppte sie sich nun. „Als ich gehört habe, dass Gerald an Herzversagen gestorben ist, habe ich das nicht geglaubt. Nicht Gerald! Er hat immer auf seinen Körper geachtet, hat nicht einmal Kaffee getrunken. Und dann dieser viele Sport, den er neben seinem stressigen Berufsalltag nie hat ausfallen lassen. Was haben Sie bisher herausgefunden? Gibt es schon einen Verdächtigen?“ Die Fragen sprudelten nur so aus der Frau heraus.

„Laufende Ermittlungen, Sie verstehen?“ Hans zwinkerte der Frau zu.

„Sie stehen also noch am Anfang?“ Die Frau war nicht dumm und deutete die Mienen der Beamten richtig. „Gut, was brauchen Sie für Ihre Ermittlungen? Sie können jederzeit an Geralds Schreibtisch, sehen Sie sich dort in Ruhe um.“

„Die Unterlagen seiner letzten Projekte wären super. Ich beichte lieber gleich, dass Sie uns überhaupt nichts geben müssen, wir haben keinerlei rechtliche Handhabe, hier irgendetwas einzusehen oder gar mitzunehmen. Aber wenn Sie uns die Unterlagen freiwillig geben? Sagen wir, vom letzten halben Jahr?“

„Selbstverständlich bekommen Sie alles, was Sie brauchen. Ich stelle Ihnen die Unterlagen zusammen. Hilft Ihnen eine Telefonliste?“

„Das wäre genial! Dürfen wir auch an den Laptop?“

„Nicht nur das, nehmen Sie ihn einfach mit. Ich habe meinen eigenen. Von den für mich relevanten Vorgängen ziehe ich Kopien, das dauert nur einige Minuten. Solange können Sie sich Geralds Schreibtisch vornehmen.“

„Sie sind eine Wucht Lady, wissen Sie das?“ Hans war begeistert von der Frau, die einen scharfen Verstand besaß.

Das Büro von Georg Haferstock war nur eine Tür weiter und hatte einen schönen Blick auf das Industriegebiet Neuötting, das in den letzten Jahren immer stärker ausgebaut wurde. Früher war das alles Ackerland, was man sich heute kaum mehr vorstellen konnte. Sie durchsuchten den schlichten Schreibtisch; hier war alles sehr sauber und ordentlich. Die Ordner und Ordnerrücken in den Metallregalen hatten alle die gleiche Farbe und waren mit sauber geschriebenen Druckbuchstaben beschriftet.

„Lassen Sie sich nicht stören,“ sagte Frau Winter, als sie mit einem großen Karton in der Hand eintrat. Sie nahm zielsicher verschiedene Ordner aus dem Regal und stellte sie fein säuberlich in den Karton. Nach einigen Minuten war sie fertig und ging mit ihrem Karton wieder nach draußen. Leo drückte auf die Wahlwiederholung des Telefons und landete in einem China-Restaurant. Bei der nächsten Nummer landete er in einer Altöttinger Bank, was ihm jetzt nicht weiterhalf, denn er landete in der Telefonzentrale. Die dritte und vierte Nummer war dieselbe Nummer mit einer Mühldorfer Vorwahl. Leo drückte die Wahlwiederholung und es meldete sich ein Herr Huber mit tiefer, dunkler Stimme.

„Wer sind Sie und warum rufen Sie unter der Nummer von Herrn Haferstock an?“ fauchte ihn der Mann sofort an. „Mein Freund ist tot.“

„Leo Schwartz, Kripo Mühldorf. Wäre es möglich, dass wir uns mit Ihnen persönlich unterhalten könnten?“

„Kripo? Verstehe ich zwar nicht, das müssen Sie mir erklären. Kommen Sie bei mir vorbei, ich bin noch eine Stunde im Büro.“ Huber nannte ihm die Adresse in Mühldorf.

„Hier in dem Karton sind die Objekte des letzten halben Jahres, an denen Gerald gearbeitet hat. Wenn Sie darüber hinaus Fragen haben oder weitere Unterlagen benötigen, melden Sie sich. Hier ist die Telefonliste der letzten zwei Monate, Geralds Telefonate, die ein- und ausgehenden, habe ich grün markiert. Den Laptop haben Sie eingepackt?“

Statt einer Antwort grinste Hans und zeigte auf den Laptop unter seinem Arm.

„Dann bitte ich Sie, hier zu unterschrieben und den Empfang zu quittieren. Ich gehe davon aus, dass ich alles unversehrt und komplett wieder zurückbekomme?“

„Selbstverständlich. Ich habe eben mit einem Herrn Huber gesprochen. Wer ist er?“

„Christian Huber ist Geralds alter Schulfreund. Er besitzt in Mühldorf ein Hotel und hat kürzlich im österreichischen Braunau ein weiteres Hotel erworben, das Gerald umbauen sollte. Sie spielten ab und zu gemeinsam Golf und haben den letzten Urlaub zusammen verbracht. Mehr weiß ich nicht. Christian Huber hat nur das Nötigste mit mir gesprochen. Wenn er hier war, ging er immer direkt in Geralds Büro. Ein unsympathischer Typ, der mich nicht besonders mochte. Ich glaube, in seinen Vorstellungen haben Frauen in technischen Berufen nichts zu suchen, aber das ist nur meine persönliche Meinung. Fakt ist, dass wir beide uns nicht besonders grün waren und uns aus dem Weg gegangen sind, obwohl zwischen uns nie etwas vorgefallen ist.“

Sie bedankten sich bei Frau Winter und schleppten die Unterlagen bis zu ihrem Wagen, der zum Glück genau neben der Haustür parkte. Ihr nächster Weg führte sie nun zu Christian Huber nach Mühldorf.

„Wo bleibt ihr denn?“ sagte Viktoria Untermaier ungeduldig, als sie Leo anrief. „Wastl und ich müssen uns hier mit trockenen, langweiligen Unterlagen herumplagen, während ihr euch an der frischen Luft vergnügt. Was habt ihr bisher rausgefunden? Gibt es überhaupt etwas von Interesse für die Kripo?“

„Könnte sein. Zumindest haben wir jetzt schon zwei Personen angetroffen, die ebenfalls nicht an einen natürlichen Tod glauben. Zum einen die Haushälterin von Haferstocks Mutter, und zum anderen die Kollegin und Teilhaberin des Toten. Sie hat uns freundlicherweise die Unterlagen des letzten halben Jahres überlassen, an denen Haferstock gearbeitet hat. Wir haben auch eine Telefonliste der letzten zwei Monate und den Laptop des Verstorbenen überlassen bekommen, vielleicht finden wir etwas Relevantes. Wir fahren jetzt nach Mühldorf, um einen Freund des Verstorbenen aufzusuchen. Danach kommen wir ins Büro und nehmen uns die Unterlagen und den Laptop gemeinsam vor.“

„Ich höre an deiner Stimme, dass du auch an ein Verbrechen glaubst.“

„Allerdings.“

„Und wie denkt Hans darüber?“

„Keine Ahnung, frag ihn selbst.“

Sie parkten vor dem Hotel Alpenblick, das von außen einen sehr gediegenen, ländlichen Eindruck machte. Schon allein der Name des Hotels war blanker Hohn, denn von den Alpen war weit und breit nichts zu sehen. Sie gingen zur Rezeption und Leo zählte rasch 48 Zimmer anhand der Zimmernummern an der Wand; die Hälfte der Schlüssel war nicht an ihrem Platz. Die junge, nicht sehr augengefällige Frau grüßte freundlich und strahlte sie mit ihrer Zahnspange an.

„Ich begrüße Sie herzlich in unserem Hotel Alpenblick. Was kann ich für Sie tun?“ lispelte sie. Auf ihrem Namenschild, das schief an ihrem schlecht sitzenden Dirndl angebracht war, stand der Name Margit.

„Mein Name ist Schwartz, das ist mein Kollege Hiebler. Wir möchten Herrn Huber sprechen. Wir haben uns telefonisch angekündigt, er erwartet uns.“

„Ja, mein Vater hat mir schon gesagt, dass die Polizei vorbeikommt. Wenn Sie mir bitte folgen würden?“ Dieser durch die Zahnspange verursachte Sprachfehler war irgendwie gruselig. Zumindest wussten die beiden jetzt, warum diese junge Frau trotz ihres Aussehens und ihrer fürchterlichen Aussprache an der Rezeption eingesetzt wurde: Sie war die Tochter des Chefs. Die Begrüßung von Christian Huber war kühl und oberflächlich, er machte deutlich, dass er sehr beschäftigt war und keine große Lust hatte, sich länger als nötig mit den Polizisten zu unterhalten.

„Ich kenne Gerald schon aus Kindertagen. Wir sind zusammen zur Schule gegangen, waren damals aber nicht befreundet. Geralds Eltern wollten das nicht. Ich, besser gesagt mein Elternhaus, war ihnen zu gewöhnlich. Vor einigen Jahren stand ich auf dem Golfplatz plötzlich Gerald gegenüber und es war fast so, als hätte es die letzten Jahre nicht gegeben. Wir haben uns sofort blendend verstanden und seitdem trafen wir uns regelmäßig. Wir waren richtig gute Freunde geworden. Es ist sehr bedauerlich, dass er so früh sterben musste. Er hinterlässt eine große Lücke in meinem Leben.“

Das war zwar warmherzig gemeint, kam aber relativ kühl und sachlich rüber. Während er sprach, sah er fortwährend auf die Uhr, er schien sehr in Eile zu sein. Oder lag es nur daran, dass er nichts mit der Polizei zu tun haben wollte?

„Sie haben auch beruflich mit Herrn Haferstock verkehrt?“

„Selbstverständlich. Gerald war ein Ass auf seinem Gebiet. Jeder, der mit ihm zusammengearbeitet hat, singt nur Lobeshymnen auf ihn. Er war immer korrekt und zuverlässig, und darüber hinaus wahnsinnig kreativ. Aber wenn ihm etwas gegen den Strich ging, Termine von Handwerksfirmen nicht eingehalten wurden oder er angelogen wurde, dann konnte er auch ganz anders werden, dann verstand er keinen Spaß mehr. Aber im Großen und Ganzen war er eine Seele von Mensch. Ich habe vor einigen Monaten ein altes Hotel in Braunau gekauft und ihn mit der Modernisierung betraut, die Arbeiten hätten diese Woche beginnen sollen.“

„Kurz vor seinem Tod hat er zwei Mal mit Ihnen telefoniert. Wobei ging es in den Gesprächen?“

„Tatsächlich? Ich kann mich nicht daran erinnern. Wann soll das gewesen sein?“

„Am Abend vor seinem Tod. Genau gesagt am 18. März.“

„Er hat mich angerufen? Das kann nicht sein! Ich war zu der Zeit überhaupt nicht im Haus, geschweige denn in Mühldorf.“ Er blätterte in seinem Terminkalender. „Richtig. Ich war in Wien bei einem Kongress und Gerald wusste doch davon. Ich hab es ihm ganz sicher gesagt. Sie müssen sich irren, ich habe vor Geralds Tod nicht mit ihm gesprochen. Nach meiner Rückkehr aus Wien hat mich sein Tod vollkommen überrannt, die Beerdigung fand noch am selben Nachmittag statt und ich musste mich beeilen, sonst hätte ich die noch verpasst. Ich bin mir ganz sicher: In der Woche, als Gerald starb, war ich in Wien und habe nicht mit ihm telefoniert.“

„Denken Sie nochmals in Ruhe darüber nach und melden Sie sich bei uns, wenn Ihnen dazu etwas einfällt. Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben.“

„Hast du gemerkt, dass Huber diese Information vollkommen aus der Bahn geworfen hat? Er hat nicht mehr auf die Uhr gesehen. Er hat uns nicht einmal gefragt, warum wir wegen Haferstocks Tod mit ihm sprechen wollten. Das war nicht gespielt, Huber weiß nichts von den Telefongesprächen!“

„Genau das denke ich auch. Vor allem würde mich interessieren, warum Haferstock zwei Mal bei Huber anruft, wenn er doch weiß, dass der in Wien ist. Mit wem hat er gesprochen? Da stimmt etwas nicht. Wir sollten uns umgehend den Laptop, die Unterlagen und die Telefonliste vornehmen. Ich gehe stark davon aus, dass mit dem Tod von Gerald Haferstock tatsächlich etwas nicht stimmt.“

„Vorhin noch dachte ich, dass das verschissene Zeit ist, aber jetzt denke ich anders.“ Hans konnte spüren, dass hier etwas nicht ganz koscher war und seine Neugier war geweckt. Puzzleteile zusammenzusetzen, bis dann eine komplette Geschichte daraus wird, liebte er sehr. Und die ersten Puzzleteile lagen auf dem Tisch. Er war neugierig, was noch alles an die Oberfläche geschwemmt werden würde.

Tödliche Vetternwirtschaft

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