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Dienstag, 04. August

„Wir haben ein Herz zu viel,“ rief der Anrufer aufgeregt. Leo Schwartz war irritiert. Die Stimme mit einem starken Schweizer Dialekt kam ihm bekannt vor, auch die Nummer auf dem Display sagte ihm etwas. Aber er kam nicht drauf.

„Nun mal langsam, beruhigen Sie sich. Wer sind Sie?“

„Bruder Siegmund.“

Jetzt dämmerte es. Bruder Siegmund war ein Mitglied des Kapuziner-Ordens in Altötting, den er während eines Falles kennengelernt hatte. Der neugierige, kleine Mann mit Rauschebart war ihnen damals eine große Hilfe gewesen.

„Ich grüße Sie,“ rief Leo erfreut, aber Bruder Siegmund ging nicht darauf ein.

„Ich bitte Sie inständig Herr Schwartz, kommen Sie schnell! Das Herz gehört hier nicht her.“

„Von welchem Herz sprechen Sie verdammt nochmal?“

„Das Herz ist in der Gnadenkapelle. Ich habe die Türen der Kapelle zugesperrt, das Herz liegt hier auf dem Boden. Ich fasse es nicht an.“ Bruder Siegmund hatte aufgelegt.

„Ist was passiert?“, wollte Hans Hiebler wissen. Den 54-jährigen, sportlichen, attraktiven Mann umgab heute wieder ein heftiger Herrenduft, den Leo ausnahmsweise als sehr angenehm empfand. Zumindest viel angenehmer als dieser penetrante Schweißgeruch, der viele Menschen in den letzten Tagen umgab. Es war heiß, verdammt heiß. Dieser Sommer schien den Hitzesommer von 2003 noch zu toppen.

„Das war Bruder Siegmund. Er faselte etwas von einem Herz in der Gnadenkapelle, das dort nicht hingehört und auf dem Boden liegt. Er sagt, dort sei ein Herz zu viel. Ich befürchte, dass der alte Mann völlig übergeschnappt ist.“

Hans wurde blass und setzte sich.

„Bruder Siegmund sprach von den Herzen, die in der Gnadenkapelle bestattet wurden. Wenn da eins zu viel ist, ist das eine Katastrophe. Lass uns gehen.“

„Moment, nicht so schnell. Was faselst du da von Herzbestattungen? Davon habe ich noch nie gehört!“ Der 50-jährige Schwabe gehörte keiner Kirche an und hatte keinen Sinn dafür. Freiwillig würde er keine Kirche betreten, beruflich blieb ihm nichts anderes übrig.

„Herzbestattungen gibt es schon seit vielen Jahrhunderten. Die Altöttinger Gnadenkapelle ist berühmt dafür, dass vor allem die Wittelsbacher ihre Herzen in kunstvoll verzierten Gefäßen, die Urnen oder auch Herzschalen genannt werden, dort bestattet haben. Eine alte Tradition, die bis in die heutige Zeit andauert. Wenn ich mich nicht irre, fand die letzte Herzbestattung in den 80er- oder 90er-Jahren statt.“

„Du veräppelst mich doch!“

„Keineswegs. Diese Tradition ist nicht nur bei uns in Bayern bekannt. Österreich ist eines der bekanntesten Länder, in denen das ebenfalls schon seit ewigen Zeiten gehandhabt wird. Die Habsburger praktizieren diese separaten Herzbestattungen bis in die heutige Zeit, obwohl das von der Kirche an sich nicht gern gesehen wird. Früher glaubte man, dass die Seele des Menschen im Herzen ruht und auch deshalb wurden die Herzen von Königen, Fürsten und sonstigen wichtigen Personen an einem geweihten Ort bestattet.“ Hans ging zur Tür. „Es ist kein Wittelsbacher gestorben und meines Wissens nach gab es am letzten Wochenende keine Herzbestattung in der Gnadenkapelle, das hätte ich mitbekommen. Können wir jetzt endlich fahren?“

Bruder Siegmund wartete vor der Gnadenkapelle, vor der sich eine riesige Menschentraube gebildet hatte. Alle wollten ins Innere, aber Bruder Siegmund blieb unerbittlich. Die Wallfahrer und Touristen scheuten nicht davor zurück, den armen Kapuzinermönch zu beschimpfen, was Bruder Siegmund nicht störte. Er dachte nur an das menschliche Herz, das direkt vor dem Altar auf dem Boden lag. Diesen Anblick konnte er den Menschen nicht zumuten. Endlich erspähte er Leo und Hans. Heftig winkte er ihnen zu. Unmut machte sich in der Menschenmenge breit, denn diese vermutete, dass hier zwei Personen bevorzugt wurden. Hans zeigte seinen Ausweis.

„Die Gnadenkapelle bleibt wegen einer Polizeiaktion leider für die Öffentlichkeit geschlossen. In Altötting gibt es noch viele andere, sehr interessante Sehenswürdigkeiten. Sehen Sie sich dort inzwischen um. Ich bin sicher, dass die Gnadenkapelle in wenigen Stunden wieder freigegeben wird.“

Auf die vielen Fragen, die auf ihn hereinprasselten, ging er nicht ein. Er folgte Leo und Bruder Siegmund, der die Seitentür nach dem Eintreten sofort wieder verschloss. Bruder Siegmund eilte voraus und blieb vor dem Altar der Schwarzen Madonna stehen, wo er sich mehrfach bekreuzigte. Auf dem Boden lag eine silberfarbene Schatulle. Direkt daneben ein menschliches Herz. Leo wurde schlecht. Er hatte noch nicht gefrühstückt, da seine Lebensgefährtin und Kollegin Viktoria Untermaier die ganze Nacht über Zahnschmerzen geklagt hatte. Sofort nach dem Aufstehen fuhr sie zum Zahnarzt und ließ Leo allein zurück. Er saß am Frühstückstisch und hatte keine Lust darauf, allein zu frühstücken. Jetzt bekam er ein schlechtes Gewissen. Hätte er Viktoria begleiten sollen? Schwachsinn! Seine Viktoria war mit ihren 48 Jahren und ihrem großen Mundwerk in der Lage, das allein zu meistern. Er fuhr daher früh ins Büro und jetzt war ihm kotzübel. Lag es wirklich nur an diesem Herz oder war es diese weihrauchschwangere, düstere Umgebung? Leo wendete den Blick von dem Herz ab und sah sich um. Er war bereits mehrfach hier gewesen, aber diesmal erschien ihm das Innere der Gnadenkapelle besonders unangenehm und nahm ihm fast die Luft. Wie viele Menschen waren in den letzten Jahrhunderten hier gewesen um in ihrer Verzweiflung zu bitten oder in Freude zu danken?

„Ich war heute gegen 6.30 Uhr in der Gnadenkapelle, um die Kerzen anzuzünden und ein Gebet zu sprechen,“ riss ihn Bruder Siegmund aus seinen Gedanken. „Noch während meines Gebetes habe ich diese Schatulle zwischen den anderen Herzen bemerkt. Genau dort oben war sie. Ich habe sofort gesehen: Die gehörte nicht hier her. Ich kenne jede einzelne Herzschale, dieses billige, schäbige Behältnis gehört nicht dazu. Ich dachte an einen dummen Streich. Natürlich musste dieses Behältnis umgehend beseitigt werden, schließlich haben die Wallfahrer ein Anrecht auf einen ungestörten Aufenthalt an diesem heiligen Ort. Hier hat Schabernack nichts zu suchen, dafür habe ich kein Verständnis. Also habe ich eine Leiter geholt. Und nachdem ich das Behältnis in Händen hatte, überkam mich die Neugier. Schimpfen Sie bitte nicht mit mir. Sie wissen, dass die Neugier mich ständig plagt.“ Bruder Siegmund wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn, er schwitzte stark. „Ich habe mich bei dem Anblick des Inhalts so erschrocken, dass mir das Behältnis aus den Händen geglitten und direkt vor den Altar gefallen ist. Ich habe alles so gelassen und Sie sofort angerufen.“ Die Worte sprudelten aus Bruder Sigmund heraus. Obwohl er vollkommen geschockt war, hatte er absolut richtig gehandelt. Leo entschied, einen Arzt hinzuzuziehen, nachdem er die Spurensicherung informiert hatte.

„Das Herz sieht nicht frisch aus,“ sagte Hans, nachdem er sich den Fund näher ansah. „Nicht den Hauch von Blut zu sehen. Außerdem riecht es seltsam.“ Hans kniete auf dem Boden und roch daran. Leo wurde noch schlechter.

„Steh auf und überlass das der Spurensicherung,“ sagte Leo und setzte sich in eine Bank neben Bruder Siegmund. Er sprach so lange beruhigend auf ihn ein, bis der Notarzt endlich eintraf und sich um ihn kümmerte. Endlich war auch die Spurensicherung vor Ort, Leo und Hans konnten an die frische Luft gehen und versuchen, irgendwelche Zeugen zu finden.

Der 41-jährige Friedrich Fuchs, Leiter der Mühldorfer Spurensicherung, hatte heute besonders schlechte Laune. Er grüßte nicht, sondern ging mit seinen Leuten durch die riesige Menschenmenge direkt in die Gnadenkapelle und gab dort knappe Anweisungen. Leo beobachtete ihn und musste sich ein Lachen verkneifen, denn er verglich den Mann immer mit einem hektischen Wiesel. Schnell hatte Fuchs alles abgesperrt und seine Mitarbeiter gingen rasch und stumm an die Arbeit. Fuchs führte ein hartes Regiment in seiner Abteilung, trotzdem waren die Jobs bei ihm aufgrund seiner Arbeit und seines umfangreichen Wissens sehr gefragt. Eine Mitarbeit in seinem Team machte sich im Lebenslauf sehr gut.

Leos Magen ging es besser, nachdem er einen Kaffee getrunken hatte. Obwohl sie viele Passanten befragten, fand sich nicht ein Zeuge, der etwas gesehen, gehört oder bemerkt hatte. Die Menschentraube hinter den Absperrbändern wurde immer größer. Alle wollten wissen, was hier vor sich ging, und die ersten Gerüchte machten ihre Runde. Leo und Hans hatten sich zurückgezogen. Einer der Uniformierten überreichten ihnen Kaffee. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu warten. Vielleicht bekamen sie von Fuchs einen wertvollen Hinweis für die weiteren Ermittlungen vor Ort.

Für Leo als konfessionslosen Menschen waren diese Herzbestattungen nicht nachvollziehbar. Wer kam nur auf diese abstrusen Ideen? Leo war nun seit über zwei Jahren bei der Kripo Mühldorf, nachdem er von Ulm hierher strafversetzt wurde. Er fühlte sich zwar wohl hier, trotzdem kam er mit der hiesigen Mentalität nicht immer zurecht. Die Schwaben waren ihm vertrauter und aus seiner Sicht auch einfacher zu handhaben. Er vermisste seine alte Heimat und nahm sich fest vor, in den nächsten Wochen einen Abstecher nach Ulm zu seinen alten Freunden und Kollegen zu unternehmen, denn dort hatte er sich lange nicht mehr sehen lassen. Hans Hiebler beobachtete seinen schwäbischen Kollegen, wie er in Gedanken in seinen Kaffeebecher starrte. Er hatte sich inzwischen an den kauzigen Typen gewöhnt und schätzte ihn sehr. Auch heute trug Leo wieder eins dieser fürchterlich bunten T-Shirts mit grellbuntem Aufdruck. Hans hatte gehofft, dass Leo nach seinem 50. Geburtstag in der Beziehung endlich normal werden würde, aber der 1,90 m große Schwabe dachte nicht daran, sich irgendwie zu ändern. Leo zog seine Lederjacke aus, die er jeden Tag trug. Besaß er überhaupt eine andere Jacke? Und diese schrecklichen Cowboystiefel! Leo drehte sich mit dem Rücken zu ihm und jetzt sah Hans, dass auf dem Rücken eine riesige, knallrote Zunge prangte. Und das hier in dieser Umgebung! Nicht nur Hans bemerkte die Abbildung, auch die zahlreichen Schaulustigen, Polizisten und die Besatzung des Notarztwagens starrten auf Leos Rücken.

„Auf deinem Rücken ist eine riesige Zunge abgebildet.“

„Das weiß ich. Geil, was?“

„Meinst du wirklich, dass das hier her passt? Die Leute tuscheln schon.“

„Das ist mir doch egal. Mir gefällt auch vieles nicht.“ Leo war beleidigt, denn er war stolz auf seine ausgefallenen T-Shirts. Gerade das Heutige hatte er von seiner alten Freundin und früheren Ulmer Kollegin Christine Künstle geschenkt bekommen. Das T-Shirt war sehr selten und sie hatte es auf ihrer letzten Urlaubsreise in den USA für viel Geld gekauft. Was fiel Hans eigentlich ein? Am liebsten hätte er mit seinem Kollegen darüber diskutiert, aber sie wurden von Fuchs unterbrochen.

„Wir sind fertig. Die Gnadenkapelle ist wieder freigegeben,“ sagte Fuchs.

„Irgendetwas, das Sie uns jetzt schon sagen können?“

„Nein.“

„Wann können wir mit Ihrem Bericht rechnen?“

„Sobald ich fertig bin.“ Fuchs hasste diese Fragerei, er konnte schließlich auch nicht zaubern. Die Auswertungen der Spuren konnten seine Mitarbeiter übernehmen, während er mit dem Herz so schnell wie möglich nach München in die Pathologie fuhr. Von den Spuren in der Gnadenkapelle versprach er sich nicht viel, denn es waren täglich Tausende in der Kapelle und alle Spuren zuzuordnen war unmöglich. Er legte den Fokus nicht nur auf das Herz selbst, sondern auf die silberfarbene Schatulle. Er hatte sofort gesehen, dass es sich dabei nicht um eine Antiquität handelte. Aber vielleicht konnten sie darauf verwertbare Spuren finden? Die Schatulle wollte er selbst übernehmen und hatte für eine genauere Untersuchung alles bei sich. Das konnte er in München machen, während er auf die Untersuchungsergebnisse des Herzens wartete. Er hatte keine Lust darauf, all das den Kripobeamten mitzuteilen. Wo war eigentlich diese nervige Viktoria Untermaier, die ihn und seine Arbeit immer kritisierte?

Als der kleine Bruder Siegmund endlich die beiden Türen der Gnadenkapelle aufsperrte, drängten die Wartenden ins Innere. Schnell füllte sich die winzige Kapelle und viele sahen sich um. Was war hier passiert? Warum waren die Polizei und die Spurensicherung hier? Es musste etwas Schreckliches passiert sein und die Gerüchteküche brodelte. Kaum jemand achtete auf die Schwarze Madonna, den Altar oder die vielen Kostbarkeiten der Gnadenkapelle. Die Suche nach Spuren stand bei allen im Fokus. Aber Fuchs hatte gute Arbeit geleistet, es war nicht der kleinste Hinweis übrig geblieben.

Viktoria Untermaier war zurück von ihrem Zahnarztbesuch und strahlte übers ganze Gesicht. Ihr wurde der Zahn gezogen und sie war endlich wieder schmerzfrei. Dass eine Zahnbehandlung folgte, sobald die Schwellung abgeklungen war, interessierte sie jetzt nicht. Auch Werner Grössert, der 40-jährige, frischgebackene Vater war längst an seinem Platz. Er kam heute eine Stunde später zur Arbeit, da er gerne bei der Impfung seiner Tochter dabei sein wollte.

„Wo sind Leo und Hans?“, wollte Viktoria schmerzfrei und gutgelaunt wissen.

„Soweit ich den Chef verstanden habe, sind sie in Altötting in der Gnadenkapelle. Dort wurde ein Herz gefunden.“

Viktoria verzog angewidert das Gesicht.

„Ein Herz? Dann haben wir ja nichts verpasst.“

Leo und Hans kamen zurück und berichteten ausführlich. Hans beschrieb in schillernden Farben, wie das Herz auf dem Boden der Gnadenkapelle gelegen hatte, und untermauerte seine Schilderungen mit den Fotos, die ihm die neue Mitarbeiterin der Spurensicherung vorhin in die Hand gedrückt hatte. Leo und Viktoria waren nicht besonders scharf auf die Sichtung der vielen Fotos, eins hätte auch gereicht. Nur Werner war fasziniert und ließ sich alles nochmals ausführlich erzählen. Er ärgerte sich, dass er diesen Fund verpasst hatte.

„Was hat es mit dem Herz in der Gnadenkapelle auf sich?“ Rudolf Krohmer, der 58-jährige Leiter der Mühldorfer Polizei war neugierig. Hans schilderte zu Leo und Viktorias Leidwesen nochmals alles ausführlich und legte auch hier ein Foto nach dem anderen auf den Tisch. Krohmer hörte sich alles ohne Regung an. Die Schilderung konnte ihn nicht schocken, dafür hatte er während seiner beruflichen Laufbahn schon viel zu viel gesehen.

„Herzbestattungen waren nur dem Hochadel oder herausragenden Persönlichkeiten vorbehalten. Was soll dieser Mist? Gibt es irgendwelche Spuren? Zeugen? Kameraaufzeichnungen?“

„Nein. Keine Spuren, keine Zeugen. Auf dem Kapellplatz gibt es zwei Kameras, deren Aufzeichnungen wir vorhin gesichtet haben. Nichts Auffälliges oder Ungewöhnliches. Das Herz könnte theoretisch jeder in der Gnadenkapelle deponiert haben. Fuchs ist mit dem Herz und dem Behältnis in München. Sobald er zurück ist, meldet er sich bei uns.“

Fuchs berichtete am späten Nachmittag ausführlich über die Ergebnisse der Pathologie.

„Das eindeutig menschliche Herz gehört einer älteren, männlichen Person, deren DNA nicht in unserer Kartei ist. Das Herz wurde in Formaldehyd eingelegt und dann in der Gnadenkapelle deponiert.“

„Du großer Gott! Dann suchen wir die Nadel im Heuhaufen! Wie soll man da den genauen Todeszeitpunkt herausfinden?“ Krohmer war außer sich.

„Die Pathologen machen einige Tests, das kann aber noch dauern. Sie arbeiten mit Hochdruck an der Feststellung des Todeszeitpunkts. Ich bezweifle, dass ein positives Ergebnis herauskommt. Wenn das Herz vorher in Formaldehyd eingelegt war, ist eine Todeszeitbestimmung schier unmöglich.“

„Wissen wir wenigstens, wann dieses Herz in die Gnadenkapelle gebracht wurde? Gab es Einbruchspuren?“

„Keine Einbruchspuren. Die Gnadenkapelle ist nicht immer gut besucht. Besonders sehr früh am Morgen oder spät am Abend gibt es Zeiten, in denen sich niemand oder nur sehr wenige Besucher dort einfinden. Das Herz unbemerkt zu deponieren, dürfte kein größeres Problem darstellen.“

„Bruder Siegmund ist sich ganz sicher, dass das Herz am Morgen des vorherigen Tages, also gestern am 03. August, noch nicht in der Gnadenkapelle war, das schloss er kategorisch aus. Er selbst und zwei Putzfrauen waren von 5.30 Uhr bis 6.30 Uhr in der Gnadenkapelle; zu der Zeit war noch alles in Ordnung,“ las Leo von seinen Aufzeichnungen ab.

„Bruder Siegmund hat eine Leiter gebraucht, um dort hinzugelangen, wo das Herz deponiert wurde. Zugegeben, der Mann ist sehr klein. Selbst ich würde mit meiner stattlichen Größe nicht ohne Hilfe das Herz so weit oben deponieren können. Wie soll es ohne Leiter dort raufgekommen sein?“ Hans hatte es versucht und sich gestreckt, ihm fehlten bestimmt dreißig Zentimeter.

„Da gibt es viele Möglichkeiten. Die einfachste Möglichkeit wäre die Hilfe einer zweiten Person. Mit einer Räuberleiter ist das in Nullkommanichts erledigt. Auch eine Gehhilfe wäre eine Option. Auch eine Tasche, ein kleiner Koffer oder etwas Ähnliches würde einem normal gewachsenen Menschen ausreichen, um dort hinzugelangen. Wenn ich jetzt auf die Schatulle kommen dürfte? Bei der reich verzierten Schatulle handelt es sich um ein altes Objekt aus Blech, das aber aufgrund des billigen Materials und der nicht sehr hochwertigen Verarbeitung keinen großen Wert darstellt. Meine Recherchen haben ergeben, dass in dieser Art Schatulle ab 1952 bis 1974 Uhren und Modeschmuck der Münchner Manufaktur Schneck & Sohn verkauft wurden. Danach wurden die Verpackungen auf Plastik umgestellt, was ich persönlich sehr schade finde. Die Firma Schneck & Sohn gibt es seit über zwanzig Jahren nicht mehr.“

„Schneck & Sohn kenne ich aus meiner Kindheit und Jugend. Die Artikel dieser Firma waren damals bei den Damen sehr beliebt. Auch meine Mutter und meine Schwester besaßen diese Dosen, die mein Vater zur Aufbewahrung von Schrauben und Muttern zweckentfremdet hat. Von diesen Dosen dürften auch heute noch tausende in Umlauf sein. Haben Sie wenigstens irgendwelche Spuren gefunden?“

Fuchs ärgerte sich über die abfällige Bezeichnung dieser doch sehr ansprechenden Schatulle. Sie als einfache Dose zu bezeichnen, war ein Frevel. Die opulente Verzierung und die Verarbeitung der Dose, die zwar Massenware war, war doch weit ansprechender als irgendeine Dose. Die Firma hatte sich mit den Verpackungen ihrer Artikel zur damaligen Zeit noch richtig Mühe gegeben; nicht so wie heute, wo alles nur lieblos in Plastikbeuteln verpackt wird.

„In und auf der Schatulle sind außer den Abdrücken des Klosterbruders keine weiteren Fingerspuren. Allerdings konnte im Inneren ein Haar sichergestellt werden.“

„Ein Haar? Besser als nichts. Wie sieht es mit der DNA aus?“

„Es handelt sich um kein menschliches Haar. Es ist ein Katzenhaar einer Siamkatze mit hellem Fell.“

„Das ist alles? Mehr haben Sie nicht? Nur ein Katzenhaar?“ Krohmer war enttäuscht. Er hatte sich mehr davon versprochen.

„Leider ja.“

„Ich sehe keinen Ermittlungsansatz. Wir wissen weder, wem das Herz gehörte oder wann derjenige verstorben ist. Wie sollen wir bei den dürftigen Angaben den Körper zu dem Herz finden?“

„Das ist völlig aussichtslos. Gehen wir davon aus, dass wir es mit einer Einzeltat von einem Spinner zu tun haben. Legen wir den Fall zu den Akten. Und kein Wort an die Presse! Ich habe keine Lust, dass die Geschichte aufgebauscht wird und wir damit einen dummen Menschen auf dumme Ideen bringen. Wie gesagt: Der Herzfund ist ein Einzelfall.“

Dass Krohmer damit falsch lag, wusste er noch nicht.

Ein Herz zu viel

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