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Zwei Wochen später: Mittwoch 19. August

„Bitte ganz ruhig. Atmen Sie tief durch. Wer sind Sie? Wie ist Ihr Name?“ Viktoria versuchte, die Anruferin zu beruhigen, die so schnell sprach, dass sie sie kaum verstand.

„Kerbel, Sabine Kerbel. Ich bin Putzfrau in der St.Nikolaus-Kirche in Mühldorf. Ich habe eine Blechdose gefunden. Und darin ist etwas Blutverschmiertes. Es sieht aus wie eine Leber oder ähnliches. Ich kenne mich da nicht aus, aber es ist furchtbar ekelhaft. Bitte kommen Sie schnell.“

Viktoria wurde übel. Sie hatte den Herzfund in der Altöttinger Gnadenkapelle schon fast vergessen. Jetzt erinnerte sie sich sofort an jede Kleinigkeit.

„Bleiben Sie wo Sie sind. Fassen Sie nichts an und lassen Sie keine anderen Personen in die Kirche. Wir sind in wenigen Minuten bei Ihnen.“

Viktoria unterrichtete ihre Kollegen, die ebenso geschockt waren, wie sie selbst. Auch sie hatten das Herz der Gnadenkapelle schon vergessen. Sie fuhren sofort los. Was würde sie heute erwarten? Trieb sich ein Irrer herum, der in Kirchen Innereien verteilte?

Die St.Nikolaus-Kirche befand sich am Kirchplatz in der Nähe des Mühldorfer Stadtplatzes. Als sie sich der Kirche näherten, kam ihnen eine aufgeregte Frau Ende fünfzig entgegen.

„Kommen Sie mit, schnell!“ Sie lief voraus und die anderen hatten Mühe, ihr zu folgen. „Da hinten liegt es, gleich neben den Altarstufen. Ich gehe nicht weiter, ich will mir das nicht nochmal ansehen.“

Die Kripo-Beamten gingen zum Altar und starrten auf den Boden.

„Das ist ein Herz,“ sagte Hans. „Und wieder ein silberfarbenes Behältnis, wie in Altötting. Allerdings ist das Blut noch recht frisch, womit wir zumindest den Todeszeitpunkt des Besitzers eingrenzen können.“

Das war das zweite Herz in zwei Wochen. Viktoria hatte angenommen, dass es sich mit dem aufgefundenen Herz in der Altöttinger Gnadenkapelle um eine einmalige Sache handelte. Und jetzt das! Sie rief umgehend Friedrich Fuchs an, der nach wenigen Minuten mit seinen Leuten vor Ort war.

„Wo genau haben Sie dieses silberne Behältnis gefunden?“, fragte Hans Frau Kerbel, die kreidebleich war.

„Dort hinten. Sehen Sie die Nische neben dem Altar? Dort war das Ding deponiert. Es war gut versteckt. Das hätte Wochen dauern können, bis das jemandem aufgefallen wäre.“

„Wie sind Sie darauf aufmerksam geworden?“

„Im Augenwinkel habe ich etwas glitzern sehen. Ich putze hier schon seit Jahren zu jeder möglichen Tageszeit. In dem Eck hat noch nie etwas geglitzert. Also habe ich nachgesehen. Ich nahm diese Dose aus der Nische und muss zugeben, dass ich diese aus Neugier geöffnet habe. Als ich den Inhalt sah, ließ ich alles fallen und habe sofort die Polizei angerufen. Was ist das für ein ekliges Ding? Eine Leber?“

„Es ist ein Herz,“ sagte Hans, worauf Frau Kerbel kreidebleich wurde und damit zu kämpfen hatte, sich nicht übergeben zu müssen. Sie setzte - sich so weit weg wie möglich - in eine Bankreihe.

Hans ging zu der beschriebenen Stelle; er reichte aus dem Stand problemlos an die Nische. Hier konnte man ohne Hilfe hingelangen. Fuchs beobachtete ihn bei dieser Aktion und warf ihm einen strengen Blick zu.

„Keine Sorge Kollege, ich fasse nichts an.“

„Was können Sie mir sagen Herr Fuchs?“, drängelte Viktoria, die die Kollegen der Spurensicherung nicht aus den Augen ließ und dadurch mächtig Druck aufbaute. „Kann man aufgrund des Zustands des Herzens den Todeszeitpunkt eingrenzen?“

„Das kann man und das wissen Sie auch. Trotzdem werde ich keine groben Schätzungen abgeben, das müssten Sie doch wissen. Die Vorgehensweise ist wie bei dem Altöttinger Herz,“ schnauzte Fuchs zurück.

„Gut. Aber beeilen Sie sich.“

„Es dauert nun mal so lange, wie es dauert. Oder denken Sie, dass ich mit meiner Arbeit trödle?“ Wieder diese unverschämte Art und Weise von Frau Untermaier. Sie ist zwar die Chefin der Mordkommission, aber noch lange nicht sein Chef. Was bildet sich die Frau eigentlich ein? Um einer weiteren Konfrontation aus dem Weg zu gehen, ließ Fuchs Frau Untermaier stehen. So, wie er sie kannte, würde sie vor einer ausführ-lichen Diskussion nicht zurückschrecken.

„Dort hinten im Gebüsch ist jemand,“ sagte Hans zu Leo, als sie die Kirche verließen. Die Spurensicherung war bereits unterwegs, Viktoria und Werner waren vor einer halben Stunde gegangen. Hans hatte die beiden weggeschickt. Auch, weil er einen Streit zwischen Viktoria und Fuchs vermeiden wollte; er hatte keine Lust auf den Mist.

„Du hast Recht. Auf drei. Eins, zwei, drei!“ Hans und Leo rannten los, woraufhin zwei Jungs aus dem Gebüsch auftauchten und versuchten, zu verschwinden. Die Polizisten waren schneller und bekamen sie nach wenigen Minuten zu fassen.

„Was macht ihr hier?“

„Die Frage kannst du dir sparen Leo. Meiner riecht nach frischem Zigarettenrauch und Bier. Schnupper mal an deinem,“ sagte Hans.

„Ihr habt hier geraucht und Bier getrunken? Wie alt seid ihr? Und warum seid ihr nicht in der Schule?“

Als beide Namen, Geburtsdaten und Adressen angaben, begann der, den Leo festhielt, zu weinen.

„So harte Jungs seid ihr also,“ sagte Leo und lockerte den Griff. Sie hatten den beiden einen gehörigen Schreck eingejagt.

„Wie lange seid ihr schon hier?“

„Seit halb 8,“ flüsterte der, den Hans festhielt. Leo und Hans erkannten sofort ihre Chance.

„Machen wir einen Deal. Ihr erzählt uns, was ihr gesehen habt. Dafür versprecht ihr uns, dass ihr nicht mehr raucht und keinen Alkohol mehr trinkt, bis ihr 16 seid. Die Schule nicht mehr zu schwänzen versteht sich von selbst. Und wenn wir mit den Informationen zufrieden sind, werden wir euch nicht an eure Eltern ausliefern. Deal?“

Die beiden Jungs sahen sich an und konnten ihr Glück kaum fassen.

„Deal,“ sagten sie beide. „Ich habe nicht viel gesehen. Hier ist morgens nicht viel los, deshalb kommen wir hierher. Ich schwöre, dass wir nur selten hier sind. Heute kam uns von der Kirche eine Nonne entgegen.“

„Das stimmt, ich habe sie auch gesehen.“

„Wie sah sie aus? Könnt ihr sie beschreiben?“

„Wie Nonnen halt so aussehen. Schwarz von oben bis unten. Um den Hals hatte sie eine Kette mit einem großen Holzkreuz. Wir haben sie gegrüßt, aber sie hat den Kopf weggedreht.“

„Wie alt war sie?“

„Keine Ahnung. Bestimmt alt, junge Frauen werden heute doch nicht mehr freiwillig Nonnen.“

„Die ganz hässlichen vielleicht,“ sagte der andere und beide lachten.

„Nicht frech werden Jungs. Noch was?“ Die beiden hörten sofort auf zu lachen und schüttelten die Köpfe. „Gut, ich will euch mal glauben. Denkt an euer Versprechen, wir behalten euch im Auge!“ Leo und Hans ließen die beiden laufen und sahen ihnen lachend hinterher. Auch sie waren in ihrer Kindheit und Jugend keine Engel gewesen.

„Schon wieder ein Herzfund in einer Kirche?“ Rudolf Krohmer war erschrocken, als ihn seine Beamten über den neuesten Fund informierten.

„Bezüglich des Herzens sind wir uns sicher. Fuchs ist damit in München und informiert uns, sobald er wieder zurück ist. Diesmal haben wir es nicht mit einem konservierten Herz zu tun, das Herz war definitiv frisch, wodurch wir den Todeszeitpunkt des Besitzers eingrenzen können. Wir haben große Chancen, den zugehörigen Leichnam zu finden.“

„Und das Behältnis?“

„Wieder eine silberfarbene Schatulle, allerdings diesmal eckig und nicht rund.“ Leo legte Krohmer die Fotos vor.

„Stimmt, diese Dosen gab es in verschiedenen Formen und Größen. Wollen wir hoffen, dass Fuchs diesmal irgendeine Spur findet, die uns zu dem Irren führt, der diese Herzen in Kirchen verteilt.“

„Sie gehen von einer Person aus?“

„Sicher! Denken Sie wirklich, dass zwei voneinander unabhängige Personen denselben irren Gedanken haben? Niemand von uns hat geplaudert und nichts ist an die Öffentlichkeit durchgedrungen, das hätte ich mitbekommen. Nein, wir haben es ganz sicher mit einer Person zu tun, die meines Erachtens nach sehr gläubig ist.“

„Auf jeden Fall katholisch. Dazu würde die Nonne passen, die zwei Zeugen gesehen haben wollen. Eine Beschreibung haben wir nicht.“

„Nonnen sind in unserer Gegend nichts Besonderes, vor allem nicht in der Nähe einer katholischen Kirche. Ich möchte nicht daran glauben, dass eine Nonne die Herzen deponiert.“

„Es muss ja keine echte Nonne sein, vielleicht nur eine Tarnung?“

„Mag sein. Trotzdem glaube ich an einen sehr gläubigen, katholischen Menschen, der aus irgendeinem Grund Herzen in Kirchen deponiert.“ Werner hatte sich nach dem Herzfund in der Altöttinger Gnadenkapelle umfassend über Herzbestattungen informiert.

„Wegen der Herzbestattung? Das können Sie vergessen Herr Grössert. Die getrennte Bestattung von Herz, auch den anderen Innereien und dem Leichnam gibt es schon seit der Antike und ist keine Erfindung der Katholiken.“

„Aber seit dem Mittelalter bis in die heutige Zeit werden vor allem Päpste, Bischöfe, gekrönte Häupter und hohe Adlige auf diese Weise bestattet. Und die sind seit dem Mittelalter allesamt katholisch. Außerdem wurden die Herzen in katholischen Kirchen platziert.“ Werner Grössert beharrte auf dieser Tatsache. Was in der Antike Usus war, interessierte ihn nicht. Für ihn zählten die jüngere Vergangenheit und die Gegenwart. Werner trug auch heute bei der höllischen Hitze einen Anzug, Hemd und Krawatte. Während alle wegen der hohen Temperaturen stöhnten, schien er sie überhaupt nicht zu bemerken. Diese Herzbestattungen faszinierten ihn. Er interessierte sich für Traditionen der Bestattungsarten. Überhaupt hatten ihn der Tod und die damit verbundenen Gepflogenheiten schon seit der frühesten Kindheit fasziniert. Vor allem alte Grabkreuze fand er wunderschön und würde sich am liebsten welche zur Dekoration in den Garten stellen, aber seine Frau war dagegen. Sie fand sein Interesse an antiken, vor allem schmiedeeisernen Grabkreuzen abartig und gruselte sich davor. Was Werner nun wiederum überhaupt nicht verstand. In diesen Grabkreuzen vereinten sich Kunst, Tradition und Geschichte.

„Irgendwelche Kameraaufzeichnungen in der Umgebung beider Kirchen?“

„Negativ. Wir haben zwar eine Kamera in der Nähe der Kirche, aber die vielen Personen auszuwerten würde Monate dauern. Trotzdem werden wir die Aufzeichnungen sichten, vielleicht kann man die vermeintliche Nonne darauf besser sehen.“

„Zu dem Thema Kamera möchte ich kurz anmerken, dass ich mit dem Guardian der Kapuziner, Bruder Paul, vorhin gesprochen habe. Ich habe dringend angeraten, eine Kamera im Inneren der Gnadenkapelle Altötting anzubringen. Die zuständigen Herren haben das abgelehnt. Sie wollen die Ruhe und die Gebete der Gläubigen nicht stören. Obwohl ich die Argumente durchaus verstehen kann, könnte man durch eine Überwachungskamera eine weitere, private Herzbestattung sofort aufdecken und wir könnten den Übeltäter schnellstmöglich dingfest machen.“

„Dann ist den Herren auch nicht zu helfen. Wir gehen also davon aus, dass es sich bei demjenigen, der die Herzen in beiden Kirchen deponiert hat, um einen Katholiken handelt? Ist das alles von Ihrer Seite?“

„Wir müssen auf Fuchs warten, dann haben wir hoffentlich irgendeinen Ermittlungsansatz, der uns weiterbringt.“

„Hoffentlich haben wir es nicht mit einem Spinner zu tun,“ murmelte Leo. Auch die anderen hatten bereits an diese Möglichkeit gedacht, denn wer kam schon auf die Idee, Herzen in billigen Behältnissen in Kirchen zu verteilen?

Die Auswertung der Kameraaufzeichnungen vom Mühldorfer Stadtplatz war deprimierend. Die Bilder waren unscharf und man hatte Mühe, Männern von Frauen zu unterscheiden. Eine Nonne war nirgends zu sehen. Nachdem Krohmer die Bilder gesehen hatte, rief er umgehend den Bürgermeister an.

„Ich weiß um die Qualität der Bilder. Aber die Stadt kann sich keine neue Kamera leisten,“ versuchte sich der Bürgermeister zu rechtfertigen.

„Und warum läuft die Kamera trotzdem und verursacht unnötige Kosten? Die Bilder sind unbrauchbar und somit hat die Kamera außer einem psychologischen Zweck keinerlei Daseinsberechtigung.“

„Das wissen wir auch. Trotzdem hat der Stadtrat beschlossen, die Kamera dort zu lassen, wo sie ist.“ Der Bürgermeister war beleidigt, dass Krohmer eine der Schwachstellen des Stadtplatzes infrage stellte. Er wusste selbst, dass die Kamera, die vor Jahren sündhaft teuer gewesen war, nichts brachte. Aber das Ding wurde nun mal aus Steuergeldern finanziert und war gegen den Protest vieler Bürger angebracht worden. Immer wieder ist er gegen die Argumente aufgebrachter Bürger, die sich beobachtet und überwacht fühlten, mit dem Gegenargument der Sicherheit angetreten. Schon nach dem ersten Winter hatten sie feststellen müssen, dass die Bildqualität sehr gelitten hatte. Nachbesserungen der Herstellerfirma waren nicht zufriedenstellend und er hatte persönlich immer wieder darauf gedrängt, nachzubessern. Er wurde vertröstet und hingehalten, bis ihm vor drei Jahren aus heiterem Himmel die Nachricht erreichte, dass die Herstellerfirma Konkurs angemeldet hatte. Was hätte er der Bevölkerung sagen sollen? Der Stadtrat hatte in einer nichtöffentlichen Sitzung beschlossen, die Kamera dort zu lassen, obwohl die Mängel auf dem Tisch lagen. Das ging die ganze Zeit gut und er hatte nicht mehr daran gedacht, bis ihn jetzt dieser Krohmer darauf aufmerksam machte. Heute Abend gab es einen großen Empfang mit einer Delegation der ungarischen Städtepartnerstadt Cegléd, wobei er keine Kritik an seiner Stadt brauchen konnte. Er zeigte sich gerne mit Mühldorf von der besten Seite. Würde Krohmer den anderen gegenüber über diesen wunden Punkt den Mund halten?

Am späten Abend kam Fuchs endlich aus München zurück und alle waren gespannt auf seinen Bericht. Fuchs genoss die Aufmerksamkeit. Er trödelte absichtlich und sprach so ausführlich wie möglich, um die Spannung zu steigern. Krohmer hatte genug von seinen langgezogenen Ausführungen und wies ihn zurecht.

„Kommen Sie endlich auf den Punkt Herr Fuchs. Wir haben alle noch viel Arbeit.“

Fuchs war beleidigt und fasste zusammen.

„Männlich, Alter ungefähr 60-80 Jahre. Todeszeitpunkt bei Auffindung ca. 36 Stunden zuvor. Vernarbungen aufgrund von zwei Hinterwandinfarkten deutlich erkennbar,“ schnellte es jetzt aus ihm heraus und er warf die zugehörigen Fotos einfach nacheinander auf den Tisch. „Keine Spuren am Herz selbst.“

„Der Todestag ist somit der 17. oder 18. August. Der Hinweis auf die beiden Hinterwandinfarkte ist sehr interessant, das dürfte in einem ärztlichen Krankenblatt vermerkt sein. Irgendwelche Spuren an der Dose?“

„Außer den Fingerspuren der Putzfrau konnten keine weiteren sichergestellt werden. Keine Wischspuren, die Person muss Handschuhe getragen haben. Es gibt aber eine gute Nachricht: Wir konnten an der Innenseite des Deckels Seifenrückstände feststellen. Ich habe mit Hilfe der Münchner Kollegen die Marke der Seife herausbekommen. Es gibt da ein neues Verfahren, die einzelnen Substanzen….“ Fuchs war euphorisch, denn dieses Verfahren war ihm vollkommen unbekannt und er würde gerne ausführlich berichten und erklären. Aber Krohmer bremste ihn abermals.

„Ich bitte Sie Herr Fuchs, nur die Kurzfassung. In einer Stunde habe ich einen Termin im Rathaus, vorher muss ich mich noch umziehen.“

„Wie Sie wollen. Die Seifenrückstände gehören zur Kernseife Ludwig der gleichnamigen Seifenfabrik in München. Das Traditionsunternehmen wurde damals noch zur Zeit König Ludwig I. 1866 gegründet und hat 1972 die Pforten schließen müssen. Das Gebäude wurde 1978 aufgrund von Straßenbaumaßnahmen abgerissen. Unterlagen der Firma sind nicht mehr auffindbar. Ich habe erfahren, dass die Seifenfabrik Ludwig ganz München und Umgebung mit Kernseifen, später dann auch mit Waschmittel und Duschgel beliefert hat. Die Produkte waren sehr beliebt und es gab einen Aufschrei in der Bevölkerung, als die Seifenfabrik schließen musste. Man munkelte von Misswirtschaft in der Chefetage und absichtlicher Insolvenz-Verschleppung. Aber das sind nur Gerüchte.“

„Die Seifenfabrik Ludwig sagt mir nichts, davon habe ich noch nie gehört. Ich denke, dass wir diese Spur getrost vergessen können.“ Krohmer stand auf und verabschiedete sich. Sein Termin, auf den er nicht scharf war, saß ihm im Nacken. Das würde wieder einer der langweiligen Abende werden, bei denen sich alle Anwesenden selbst beweihräucherten, die ungarischen Gäste hofierten und wo sich alle gegenseitig anschleimten. Dieser Abend würde sich wieder endlos in die Länge ziehen. Aber als Chef der Polizei konnte er nicht kneifen, er musste dort auftauchen. Früher hatte ihn seine Frau begleitet, was den Abend erträglicher machte. Aber seit über einem Jahr weigerte sie sich und erfand immer wieder neue Ausreden.

Fuchs war sauer, dass man seine Arbeit bezüglich der Seife nicht besser würdigte. Es war aufwändig gewesen, die genaue Seife festzustellen, was hier offensichtlich niemanden interessierte. Wieso waren die Kollegen immer so undankbar und mit seinen Ergebnissen unzufrieden? Er konnte nur mit dem arbeiten, was zur Verfügung stand, schließlich konnte er nicht zaubern!

Auch die anderen waren enttäuscht, sie hatten mehr Hinweise erhofft. Jetzt galt es, einen Verstorbenen zu finden, der am 17. oder 18. August verstorben ist und dem ein Herz fehlt. Wo starb der Mann? Das konnte überall sein! Das würde eine Sisyphusarbeit werden und jede Menge Probleme bedeuten. Wenn es keine leiblichen Verwandten des Verstorbenen gab, mit denen sie die DNA des Herzens vergleichen konnten, mussten sie wohl oder übel die Leiche exhumieren. Sie standen auf und wollten gehen, nur Leo bewegte sich nicht.

„Was ist mit dir?“

„Wenn diese Seifenfabrik 1972 geschlossen wurde, dürften doch noch Mitarbeiter leben, die uns zu Kunden Angaben machen können.“

„Bist du irre? Was glaubst du, wie viele Kunden diese Seifenfabrik hatte.“

„Ganz so viele können es nicht gewesen sein. Ich kannte die Seife nicht. Und an eurer Reaktion habe ich gemerkt, dass ihr sie auch nicht kennt. 1972 waren wir alle schon geboren, bis auf Werner. Diese Seife müsste wenigstens einem von uns etwas sagen, zumindest dem Chef.“ Leo sah seine Kollegen an, die ins Grübeln kamen. „Wir könnten es wenigstens versuchen.“

„Und wie sollen wir diese Mitarbeiter finden?“

„Keine Ahnung, uns wird schon etwas einfallen.“ Die Polizisten machten sich sofort an die Arbeit und suchten im Internet nach Spuren der Seifenfabrik Ludwig. Hans war der Erste, der auf die entscheidende Information stieß. Es gab eine Gruppe ehemaliger Seifen-Ludwig-Mitarbeiter, die sich im Restaurant Tanneck im Münchner Süden monatlich trafen. Dies war vor zwei Jahren einer Münchner Tageszeitung ein Artikel wert, der ihnen nun die Information lieferte. Hans rief umgehend im Restaurant Tanneck an und schilderte sein Anliegen. Das Gespräch war schwierig, denn die Geräuschkulisse war sehr hoch.

„Sie meinen die Seifen-Ludwigs? Ja, die kommen immer am ersten Donnerstag im Monat. Die Mitgliederanzahl schrumpft von Jahr zu Jahr, die Alten sterben weg. Ich kann Ihnen die Nummer vom Hias geben.“ Der Wirt wiederholte mehrfach die Telefonnummer, die Hans sofort wählte, als er aufgelegt hatte.

„Kriminalpolizei Mühldorf, mein Name ist Hiebler. Ich bin auf der Suche nach einem ehemaligen Mitglied der Seifenfabrik Ludwig. Meine Informationen besagen, dass ich bei Ihnen richtig bin.“

„Das stimmt, ich war bis zur Schließung Vorabeiter bei den Ludwigs, wie wir unsere Seifenfabrik nannten. Sie machen mich neugierig Herr Hiebler. Warum interessiert sich die Kriminalpolizei für die Ludwigs?“

„Bei Recherchen zu einem komplizierten Fall stießen wir auf die Seifenfabrik Ludwig. Wir sind auf der Suche nach Informationen über die damaligen Vertriebswege.“

„Da haben Sie Glück! Die Chefetage wollte, dass wir die entsprechenden Unterlagen entsorgen. Ich habe einige Ordner widerrechtlich mit nach Hause genommen. Sie stehen in meinem Keller. Hätte ich das jetzt nicht sagen dürfen? Können Sie mich dafür heute noch belangen?“

Hans musste lachen. Der Mann, von dem er nur den Namen Hias bisher wusste, sprach tiefen, bayrischen Dialekt und war noch völlig fit. Wie alt könnte der Mann heute sein?

„Nein, dafür bekommen Sie keine Probleme mehr. Ganz im Gegenteil. Ich würde mir die Unterlagen gerne ausleihen.“

„Sie rufen von Mühldorf am Inn an?“

„Richtig.“

„Dann bringe ich Ihnen die Unterlagen morgen vorbei. Ich wollte schon lange einen kleinen Ausflug machen, konnte mich aber für kein Ziel entscheiden. Mein Wagen müsste sowieso mal wieder bewegt werden. Wir sehen uns dann morgen früh.“

Hans wollte widersprechen, aber der Mann hatte bereits aufgelegt. Konnte er dem vermutlich sehr alten Mann diese Reise überhaupt zumuten? Aber er war erwachsen und konnte somit selbst entscheiden.

Nun galt es, die Verstorbenen im fraglichen Zeitraum zu ermitteln. Es gab sechs verstorbene Herren im Altöttinger und Mühldorfer Landkreis, die vom Alter her in ihr Raster passten. Aber es war schon nach 20.00 Uhr und die Familien der Verstorbenen um diese Uhrzeit zu belästigen war nicht sehr einfühlsam. Sie wollten sich gleich morgen früh darum kümmern.

„Machen wir für heute Schluss. Ich freue mich nach der drückenden Schwüle der vergangenen Wochen und dem Gewitterwochenende auf einen lauen Biergartenbesuch. Wer kommt mit?“ Leo war begeistert, dass sich nicht nur Viktoria, sondern auch Hans anschlossen. Werner wäre bestimmt auch gerne mitgegangen, aber er hatte zuhause Frau und Baby, die auf ihn warteten.

Die drei unterhielten sich noch lange über die Herzfunde und konnten sich keinen Reim darauf machen, welches kranke Hirn auf diese Idee kam. Sie gingen nochmals alle Möglichkeiten durch, bis sich Hans verabschiedete. Er hatte am Wochenende eine neue Eroberung gemacht und wollte diese von der Arbeit abholen. Die Frau, von der Hans nur den Vornamen Martha bekanntgab, arbeitete in der Altenpflege und hatte Spätschicht. Sie wird Augen machen, wenn er mit einem Blumenstrauß vor dem Altenheim steht und sie überrascht!

Viktoria und Leo waren gerade zuhause angekommen, als sie ein Anruf erreichte: Der Mesner der St.Nikolaus-Kirche. Er war sehr aufgeregt und sprach schnell. Leo hatte Mühe, den Mann zu verstehen.

„Noch ein Herz in der St.Nikolaus-Kirche,“ sagte Leo erschrocken und startete den Wagen. Viktoria informierte die Kollegen, die fast zeitgleich mit ihnen bei der St. Nikolaus-Kirche eintrafen. Der Mesner wartete vor der Kirche und winkte ihnen zu. Er ging voraus direkt auf den Altar zu. Dort angekommen zeigte er auf die rechte Seite.

„Dort ist es, ich habe es nicht angefasst. Nachdem die Reinigungskraft der Kirche Frau Kerbel mich heute ausführlich über den Fund informierte, war ich zum Glück vorgewarnt. Sie können sich nicht vorstellen, wie erschrocken ich war, als ich diesen Behälter dort entdeckt habe.“ Der Mesner war völlig außer sich und wischte sich immer wieder über Stirn und Mund. Als ihm die Putzfrau von dem Fund erzählte, war er noch froh darüber, dass er das Herz nicht gefunden hatte. Und jetzt das! Er war wegen eines Bibel-Abends im Gemeindehaus nicht dazugekommen, die Kirche für den morgigen Gottesdienst, dem eine Taufe angeschlossen wurde, herzurichten und hatte dies zur späten Stunde nachgeholt.

Fuchs ging routiniert seiner Arbeit nach und fuhr noch in der Nacht in die Pathologie nach München. Er war gespannt darauf, was dieser Fund für Spuren ans Tageslicht bringen würde, zumal auch dieses Herz, wie das Vorherige, ebenfalls einen sehr frischen Eindruck machte.

Noch in derselben Nacht versuchten die Polizisten, die Bilder der Kamera zu sichten und Passanten zu befragen. Die Bilder waren wie erwartet sehr unscharf und man konnte auch jetzt absolut nichts erkennen. Die befragten Passanten hatten nichts gesehen oder gehört, obwohl aufgrund der warmen Nacht noch viele unterwegs waren.

Jetzt hatten sie es mit drei Herzen zu tun. Welcher Spinner trieb in ihrem Zuständigkeitsbereich mit diesem Wahnsinn sein Unwesen? Und was würde noch auf sie zukommen?

Ein Herz zu viel

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