Читать книгу Ein Herz zu viel - Irene Dorfner - Страница 8

3.

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„Darf ich vorstellen? Das ist die neue Sekretärin Charlotte Deichberg,“ sagte Krohmer immer noch mit heftigen Kopfschmerzen, als sie sich heute ausnahmsweise auf Viktorias ausdrücklichen Wunsch erst um 11.00 Uhr im Besprechungszimmer trafen. Die 56-jährige, dunkelhaarige, sehr schlanke Charlotte Deichberg war zwar keine Augenweide, aber die Frau wurde vom Staatsanwalt nicht nur wärmstens empfohlen, sondern fast aufgedrängt. Die hektischen Augen der Frau wanderten hin und her, wodurch sich die Brille mit dem auffällig roten Gestell ständig bewegte. Leo und Hans hatten sofort eine Abneigung gegen die Frau, während es Viktoria und Werner herzlich egal war, wer im Vorzimmer des Chefs saß. Alle begrüßten die Frau und Krohmer entschied, dass er Frau Deichberg an der heutigen Besprechung teilhaben lassen wollte. Sie setzte sich, nahm Block und Bleistift aus ihrer handgewebten Tasche und war bereit.

Krohmer war erschrocken, als er von dem zweiten Herzfund in der St.Nikolaus-Kirche hörte.

„Ein weiteres Herz? Warum haben Sie mich nicht umgehend informiert?“

„Was hätte das gebracht Chef? Erstens hatten sie einen wichtigen Termin im Rathaus, und zweitens hätten Sie nichts tun können. Fuchs ist mit den Ergebnissen der Pathologie auf dem Weg und dürfte in Kürze eintreffen. Vielleicht haben wir diesmal Glück.“

„Irgendwelche Zeugen?“

„Leider nein. Die Kameraaufzeichnungen sind unbrauchbar und es gibt keine Zeugen.“

Hans informierte den Chef über den bevorstehenden Besuch des ehemaligen Seifen-Ludwig-Mitarbeiters. Krohmer nickte diese Information nur ab, er versprach sich nicht viel von den Unterlagen. Hatte er gestern nicht deutlich gemacht, dass diese Spur nichts brachte? Er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Seine Kopfschmerzen wurden immer schlimmer. Bei dem gestrigen Termin hatte er zu viel getrunken. Irgendein Idiot kam auf die Idee, Cocktails zu reichen, die aufgrund des heißen Wetters zwar wunderbar schmeckten und auch erfrischten, aber auch jede Menge Alkohol beinhalteten. Er hatte bereits zwei Kopfschmerztabletten eingenommen, spürte aber nicht die kleinste Linderung.

Dann legte Viktoria eine Liste der verstorbenen sechs Personen im Mühldorfer und Altöttinger Landkreis vor, die für den ersten Herzfund in der St. Nikolaus-Kirche infrage kamen.

„Wir haben die Familien der Verstorbenen heute Morgen aufgesucht, deshalb die verspätete Besprechung. Alle Hinterbliebenen haben versichert, dass die Leichen im Herzbereich unversehrt waren, was uns von den jeweiligen Bestattungsunternehmen bestätigt wurde. Trotzdem haben wir von allen Angehörigen Speichelproben genommen und durch einen Schnelltest mit dem ersten Herz in der St.Nikolaus-Kirche verglichen. Keine Übereinstimmung!“

„Dann müssen wir den Kreis ausdehnen. Vielleicht stammt der Tote aus München, Traunstein, oder einer anderen Gegend,“ sagte Krohmer verärgert, wobei ihm fast der Schädel platzte. Das wäre auch zu einfach gewesen.

„Die Anfrage ist längst durch. Ich habe Fuchs schon dahingehend informiert, dass jede Menge Speichelproben auf ihn zukommen werden. Sie können sich vorstellen, dass er darüber nicht begeistert war.“ Viktoria untertrieb mit ihrer Aussage, denn Fuchs wäre ihr fast ins Gesicht gesprungen. Er war auf so eine große Flut von DNA-Tests nicht vorbereitet.

„Das mit Fuchs kläre ich schon, machen Sie sich darüber keine Sorgen. Wo bleibt denn Fuchs? Er müsste doch längst hier sein!“ Krohmer sah auf die Uhr und wurde immer ungeduldiger. Vor allem nervte ihn der kratzige Bleistift seiner neuen Sekretärin, der ununterbrochen benutzt wurde und ein Blatt nach dem anderen füllte. Was schrieb die Frau nur ständig? Er ließ sie gewähren, schließlich war das ihr erster Arbeitstag.

Wieder kam der Kollege Hiebler auf diese Seifenfabrik Ludwig zu sprechen, was ihn absolut nicht interessierte. Er hatte genug, er musste sich dringend hinlegen. Er sehnte sich nach einer kurzen Ruhepause auf der bequemen Couch in seinem Büro. Endlich traf Fuchs ein und genoss die Aufmerksamkeit, die er auf sich zog. Langsam zog er die Unterlagen aus seiner Tasche und setzte zu einem langen Vortrag an, den Krohmer sofort unterbrach.

„Bitte keine langen Erklärungen Herr Fuchs. Was haben Sie für uns?“

„Diesmal haben wir es mit einem weiblichen Herz zu tun. Die Besitzerin müsste ebenfalls zwischen 60-80 Jahre alt sein und ist am 18. oder 19. August verstorben. Auf keinen Fall früher, darin war sich der Pathologe sehr sicher. Keine sonstigen Besonderheiten am Herz selber. Auch an der Schatulle, die den Modellen der vorherigen Herzfunde sehr ähnlich ist, konnten keine Spuren gesichert werden. Bis auf die Tatsache, dass auch hier winzige Reste von der Kernseife der Seifenfabrik Ludwig festgestellt wurden.“ Fuchs blickte in die Runde. Das, was er von sich gab, hatte die erhoffte Wirkung. Alle waren erstaunt, dass es auch hier wieder einen Bezug zu Seifen-Ludwig gab. Niemand hatte bemerkt, dass es Charlotte Deichberg bei den Schilderungen immer schlechter ging. Als sie ebenfalls einen Blick auf die Fotos warf, die Fuchs auf den Tisch legte, war sie kurz davor, sich zu übergeben. Bis vor wenigen Stunden war ihr nicht klar, mit welchen Fällen sie hier konfrontiert werden würde, und nahm sich vor, heute Abend noch ein ernstes Wort mit ihrem Cousin zu sprechen, der ihr diese Stelle wärmstens empfohlen hatte.

„Vielleicht liegen Sie mit dieser Seifenspur doch nicht so falsch. Warten wir ab, was die Unterlagen der Seifenfabrik ergeben. Wir treffen uns morgen früh um 8.00 Uhr wieder hier. Es sei denn, es gibt wichtige Neuigkeiten, die eine vorzeitige Besprechung notwendig machen. Suchen Sie mit Hochdruck nach dem Spinner, der die Herzen in Kirchen verteilt. Es wird nicht mehr lange dauern und die Bevölkerung wird auf die Sache aufmerksam werden.“ Krohmer stöhnte auf. Er konnte sich jetzt schon die Schlagzeilen und die unendlichen Fragen der Journalisten vorstellen. Vor allem musste er endlich den Staatsanwalt von den Herzfunden unterrichten. Alles Dinge, auf die er gerne verzichten konnte!

Krohmer ging und Frau Deichberg folgte ihm. Die Frau war glücklich über die neue Arbeit, die sehr viel mehr Verantwortung und Abwechslung bieten würde, als ihr letzter Job. Bis auf die gruseligen Einzelheiten, die der Job mit sich brachte. Als sie gestern das Angebot schriftlich vorgelegt bekommen hatte und ihr Cousin lange mit ihr darüber gesprochen hatte, sagte sie schließlich zu. Das Hauptargument war der kurze Weg zu ihrer Mühldorfer Wohnung, die sie sich von der Lebensversicherung ihres verstorbenen Mannes gekauft hatte. Sie lebte allein und hatte keine Kinder. Das war der einzige Punkt, mit dem sie mit der früheren Sekretärin Hilde Gutbrod übereinstimmte.

„Das ist Ihr Schreibtisch,“ begann Krohmer, als sie in seinem Vorzimmer angekommen waren. Nachdem er sich heute früh lange mit ihr unterhalten hatte und ihr das Polizeipräsidium gezeigt hatte, kamen sie jetzt auf ihren eigentlichen Arbeitsplatz und die damit verbundenen Aufgaben zu sprechen. Er war nur noch wenige Minuten von seiner Couch entfernt. „In dem Fach sind die laufenden Arbeiten, die sie bitte eine nach der anderen abarbeiten. Es sei denn, es liegt etwas Dringendes an, dann unterbrechen Sie ihre Arbeit. Jeder Besucher am Empfang wird von Ihnen zu den jeweiligen Kollegen geführt. Entscheiden Sie selbst, ob der Besucher wichtig ist. Wenn Sie unsicher sind, fragen Sie den jeweils gewünschten Gesprächspartner. Telefonate werden nur an mich durchgestellt, wenn ich das Okay dafür gebe. Wenn ich nicht mit dem Anrufer sprechen will, erfinden Sie eine glaubhafte Ausrede. Sie überwachen bitte meine Termine, die ich in diesen roten Kalender eintrage. Wenn Sie einen Termin für mich vereinbaren, achten Sie bitte darauf, dass die Termine nicht zu knapp liegen. Und jetzt ganz wichtig: Termine nach 18.00 Uhr mag ich überhaupt nicht, die nur im äußersten Notfall, ich habe schließlich auch ein Privatleben. Und jetzt bitte ich, mich in der nächsten Stunde nicht zu stören.“

Krohmer ging in sein Büro und war im Grunde genommen zufrieden, dass er endlich wieder eine Hilfe hatte, die ihm vor allem den Schreibkram und die lästigen Telefonate vom Hals hielt. Trotzdem vermisste er Frau Gutbrod. Wie es ihr wohl ging? Er nahm sich fest vor, sie demnächst zu besuchen. Er legte sich auf die Couch und atmete tief durch. Dieser neue Herzfund in der St. Nikolaus-Kirche hatte ihm ganz schön zugesetzt. Er wurde von dieser Information völlig überrannt. Aber das musste warten, jetzt musste er sich dringend ausruhen. Er spürte, wie er sich langsam entspannte und schließlich in einen ruhigen Schlaf fiel.

Charlotte Deichberg war von den knappen Vorgaben des Chefs erschrocken. Wie sollte sie sich das alles merken? Sie hätte sich Notizen machen sollen!

Die Polizisten machten sich sofort an die Arbeit und suchten nun auch nach weiblichen, älteren Verstorbenen vom 18. oder 19. August. Sie hatten mehrere Personen auf ihrer Liste, die es nun zu überprüfen galt.

„Wo bleibt dieser Mitarbeiter der Seifenfabrik Ludwig? Müsste der nicht schon längst hier sein?“

„Ich werde auch langsam ungeduldig. Er wird schon noch kommen, warten wir’s ab.“ Hans sah seit heute früh mehrfach aus dem Fenster und rechnete jeden Moment mit dem Erscheinen des Mannes. Er versprach sich viel von den Unterlagen. Vor allem, weil sie es nun mit zwei Toten zu tun hatten, die irgendwie in Bezug zu Ludwig-Seifen standen. Aber er musste Geduld haben und konnte nur warten.

Inzwischen hatten die Polizisten mit den verstorbenen Frauen genug Arbeit. Die Gespräche mit den Hinterbliebenen waren sehr zeitaufwändig und gingen nicht spurlos an den Polizisten vorbei. Die Beerdigungen waren noch nicht lange her und die Trauer war somit noch sehr frisch. Bezüglich der Angehörigen hatten sie Glück, denn jede der Verstorbenen in ihrem Zuständigkeitsbereich hatte Angehörige. Mit dem DNA-Schnelltest war sofort klar, dass diese nicht passten. Viktoria veranlasste, dass auch die Suche nach der verstorbenen Frau ausgeweitet wurde, was abermals Mehrarbeit für Fuchs und seine Leute bedeutete. Aber was hätten sie sonst tun sollen? Es blieb ihnen nichts anderes übrig.

„Hier ist ein Matthias Beck. Er möchte mit Herrn Hiebler sprechen,“ hörte Frau Deichberg die Stimme am anderen Ende der Leitung. Sie war erschrocken, als das Telefon klingelte. Bis zum frühen Nachmittag konnte sie in Ruhe arbeiten. Niemand wollte etwas von ihr und somit konnte sie sich auf die Dinge konzentrieren, die man ihr zugewiesen hatte. Sie stöhnte mehrmals auf, denn die Arbeit schien nicht auszugehen. Der Chef sah besser aus. Er kam zweimal zu ihr und legte ihr wortlos weitere Arbeit ins Fach. Und jetzt der Anruf kurz vor Feierabend! Ein Besucher war hier und es war ihre Aufgabe, diesen in Empfang zu nehmen. Wer war noch dieser Hiebler? Sie würde es schon irgendwie herausfinden. Sie brauchte lange, bis sie durch das Labyrinth des Gebäudes den Empfang gefunden hatte. Der dortige uniformierte Beamte sah sie vorwurfsvoll an und sah demonstrativ auf seine Uhr, als sie sich bei ihm vorstellte. Er wusste bereits, wer sie war. Dass sie der Ersatz für Frau Gutbrod war, hatte sich schnell herumgesprochen. Einer der Kollegen wusste, dass sie die Cousine des Staatsanwaltes war und wohl durch seine Verbindungen an den Job gekommen war. Ein Umstand, der sie den meisten von Anfang an nicht sympathisch machte.

„Der Herr dort ist der Besuch für Herrn Hiebler.“

„Kommen Sie mit,“ sagte Frau Deichberg und Matthias Beck folgte ihr. Wo war denn das Büro von Herrn Hiebler? Sie stoppte an jeder Tür und las das Türschild, bis sie endlich vor der richtigen Tür stand. Ohne zu klopfen trat sie ein.

„Ein Herr Beck möchte zu Herrn Hiebler,“ sagte sie und bat Herrn Beck herein. Wie selbstverständlich blieb auch sie und holte abermals Block und Stift aus ihrer Jackentasche. Leo wollte protestieren, aber Viktoria hielt ihn zurück.

„Lass sie, sie ist neu hier und übereifrig,“ flüsterte sie ihm zu. „Gib ihr eine Chance und sei fair.“

„Beck mein Name. Ehemaliger Mitarbeiter der Firma Seifen-Ludwig. Wir haben gestern miteinander telefoniert?“, stellte sich der alte Mann vor.

„Endlich! Wir wollten bereits eine Vermisstenanzeige aufgeben. Was ist passiert?“

„Eine unvorhergesehene Autopanne, die sehr viel Zeit in Anspruch genommen hat. Ich möchte mich in aller Form entschuldigen. Mich zu verspäten ist sonst nicht meine Art. Aber was hätte ich machen sollen? Ich besitze kein Handy, ich möchte mich nicht zum Sklaven der ständigen Erreichbarkeit machen. Zugegeben wäre ein Handy heute sehr von Vorteil gewesen. Vielleicht sollte ich meine Einstellung nochmals überdenken.“

„Sie haben die Unterlagen dabei?“

„Selbstverständlich, wie versprochen. Sie sind in meinem Kofferraum. Wenn Sie wollen, hole ich sie.“

„Das übernehmen wir für Sie,“ sagte Werner und Matthias Beck gab ihm seinen Autoschlüssel.

„Ich habe mir erlaubt, direkt vor dem Eingang zu parken. Sie können mein knallrotes Schätzchen nicht übersehen. Es ist weit und breit das schönste Fahrzeug.“

Werner staunte nicht schlecht, als er vor dem Oldtimer stand, der tadellos in Schuss war. Er brauchte einen Moment, bis sich das alte Schloss des Kofferraumes öffnen ließ und nahm die beiden Kartons heraus, die randvoll mit Ordnern gefüllt waren. Er bat einen Kollegen um Hilfe und sie trugen die schweren Kartons nach oben.

„Donnerwetter,“ staunte Hans. „Das sind ja locker zwanzig Ordner!“

„Ich schwöre, dass das alle sind, die ich bei mir hatte. Ich konnte sie retten, bevor sie im Container gelandet sind. Das ist nicht nur ein Stück Firmengeschichte, sondern auch Teil meines Lebens. Es hätte mir im Herzen wehgetan, wenn das einfach alles im Müll gelandet wäre. Der damalige Geschäftsführer Dr. Bruhnke wollte alles so schnell wie möglich weghaben. Ich bin mir sicher, dass er die Firma damals mit Absicht an die Wand gefahren hat, die Geschäfte liefen hervorragend. Das war auch kein Kunststück, denn unsere Produkte waren von exzellenter Qualität. Vor dem Konkurs hat Dr. Bruhnke noch kräftig abgesahnt. Man munkelte, dass er mit dem Großteil seiner Verwandten mit Seifen-Ludwig reich geworden ist. Warum sonst wohnen die alle heute in chicen Wohngegenden mit riesigen Häusern? Aber Dr. Bruhnke hatte nicht lange Freude an seinen miesen Geschäften. Drei Jahre nach dem Konkurs ist er durch einen tragischen Bootsunfall im Mittelmeer ums Leben gekommen. Das ist zwar ein Tod in traumhafter Umgebung, aber was nützt das? Tot ist tot!“

„Sie waren Vorabeiter in der Seifenfabrik?“

„Ja, aber nur die letzten zwei Jahre bis zur Schließung der Fabrik. Das war einer der traurigsten Momente meines Lebens, als endgültig die Tore geschlossen wurden. Die Ludwigs waren immer Teil meines Lebens, schon mein Vater und dessen Vater haben dort gearbeitet.“ Beck trank einen Schluck Kaffee, während er immer wieder zu Frau Deichberg blickte. „Ich war bei der Schließung der Fabrik 38 Jahre alt. Ich habe zwar gleich wieder Arbeit gefunden, aber die war nicht vergleichbar mit der bei Ludwig. Alle Ludwig-Angestellten waren wie eine große Familie, jeder kannte jeden. Man hatte privaten Kontakt und regelmäßig fanden gemeinsame Freizeitaktivitäten statt, an denen auch immer die Familie Ludwig teilgenommen hat. Es gab sogar eine Ludwig-Band, in der ich Gitarre gespielt habe. Ja, das waren noch goldene Zeiten, so etwas gibt es heute kaum mehr! Alles war prima und die Welt bei den Ludwigs war in Ordnung. Bis zum 15. Januar 1968, da starb der letzte Nachkomme der Familie Ludwig durch eine heimtückische Krankheit mit nur 54 Jahren. Kurz darauf kam seine junge Frau und deren einziges Kind und Firmenerbe durch einen Verkehrsunfall ums Leben. So spielt das Leben! Die Fabrik hat eine entfernte Verwandte in Amerika geerbt, die keinen Bezug zu München und zur Fabrik hatte und sie daher verkaufte. Käufer waren Investoren, die diesen dämlichen Geschäftsführer Dr. Bruhnke eingesetzt haben. Abgesehen davon, dass von da ab alles gestrichen und verboten wurde, was auch nur annähernd mit gemeinsamen Aktionen zu tun hatte, ging es mit der Firma immer weiter bergab. Langgediente Mitarbeiter wurden entlassen, dafür wurden billige Leiharbeiter eingestellt, die mit großen Versprechungen gelockt und dann doch auch wieder entlassen wurden. Bei den wenigen Betriebsversammlungen wurde uns immer wieder mitgeteilt, dass es um die Firma sehr schlecht stehe und daher weitere Einsparungen unumgänglich seien. Zuerst hat man uns das Weihnachtsgeld und dann das Urlaubsgeld gestrichen. Auch die Pensionskasse, in die wir viele Jahre eingezahlt haben, wurde eingefroren. Man konnte zusehen, wie die Firma systematisch zugrunde gerichtet wurde. Schließlich war der Konkurs nicht mehr aufzuhalten. Noch bevor wir offiziell von Dr. Bruhnke davon unterrichtet wurden, war uns das allen klar. Eine Schande, sage ich Ihnen. Ich gab dem damaligen Konkursverwalter einen Tipp, aber der Trottel hat sich nicht dafür interessiert.“ Immer wieder sah Beck zu Frau Deichberg. „Was schreiben Sie da eigentlich die ganze Zeit? Sie machen mich wahnsinnig!“

Charlotte Deichberg erschrak, denn sie wollte kein einziges Wort von dem, was der Mann von sich gab, verpassen.

„Entschuldigen Sie bitte…“

„Sie können dann auch gehen Frau Deichberg,“ sagte Leo, der die Frau immer noch nicht mochte. „Wir brauchen Sie nicht mehr.“

Viktoria protestierte nicht, denn auch sie nervte das Geräusch des kratzigen Bleistifts. Beleidigt zog Frau Deichberg davon.

„Jetzt möchte ich aber wissen, was sie an Seifen-Ludwig interessiert?“

„In unserem aktuellen Fall konnten wir Rückstände von Kernseife feststellen, die eindeutig der Firma Ludwig zugeordnet werden konnten.,“

„Das glaube ich gerne. Die Rezeptur der Kernseife war viele Jahre ein gutgehütetes Geheimnis und ist mit der Schließung der Firma in Vergessenheit geraten.“

„Wir interessieren uns brennend für die Vertriebswege, sprich Kunden der Seifenfabrik.“

„Ihren Job möchte ich nicht haben. In meiner Jugend nannte man das Schnitzeljagd, heute gibt es bestimmt einen englischen Begriff dafür.“ Beck lachte, denn für ihn waren diese englischen Begriffe nicht nachvollziehbar und er hatte es längst aufgegeben, sie zu verstehen. „Unsere Vertriebswege waren recht vielseitig. Wir belieferten Hotels und Gaststätten, unsere Hauptkunden waren aber Einzelhändler und Kircheneinrichtungen.“

Besonders die kirchlichen Einrichtungen waren für die Polizisten sehr interessant. Sie machten sich sofort an die Arbeit. Sie verabschiedeten Matthias Beck und versprachen, die Unterlagen nach Ende des Falles wieder zurückzugeben. Der ehemalige Mitarbeiter von Seifen-Ludwig hing wirklich sehr an diesem Stück Zeit- und Lebensgeschichte.

Die vier Kriminalbeamten sortierten nach verschiedenen Systemen. Wie sie es auch drehten und wendeten, die Listen waren immer ellenlang.

„So kommen wir nicht weiter. Wir werden Fotos der Behältnisse veröffentlichen, vielleicht bekommen wir aus der Bevölkerung einen wertvollen Hinweis.“ Viktoria war am Ende. Auch heute war es wieder drückend heiß gewesen und sie sehnte sich nach einer Abkühlung. Dieser Sommer war für sie die Hölle!

Ein Herz zu viel

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