Читать книгу Die Toten von Stade - Irene Dorfner - Страница 10
5.
ОглавлениеDie Klingel der Wohnung schien nicht zu funktionieren, Leo hörte keinen einzigen Ton. Er begann zu Klopfen. Da er nicht vorhatte, klein beizugeben, klopfte er schließlich ohne Unterbrechung.
Carina erschrak. Sie hatte strikte Anweisung, mit niemandem Kontakt aufzunehmen und mit niemandem auch nur ein Wort zu wechseln. Vorsichtig sah sie durch den Türspion. Ein fremder Mann. Sie nagte hektisch an ihren Fingernägeln, wie sie es immer tat, wenn sie nervös war. Wann ging der Mann endlich wieder? Dann kam ihr die Idee, dass es vielleicht derjenige war, der ihren Mann und den Sohn in seiner Gewalt hatte. Konnte es sein, dass dieser Alptraum endlich ein Ende hatte?
Leo hatte durch den Türspion gesehen, dass jemand da sein musste. Er wartete und klopfte ununterbrochen, denn er war sich sicher, dass ihm irgendwann die Tür geöffnet wurde. Wenn er etwas wollte, konnte er echt nervtötend werden. Endlich hörte er, wie langsam und fast zaghaft der Schlüssel im Schloss gedreht wurde.
Leo sah nur einen Teil des Gesichts einer jungen Frau. Er hielt ihr seinen Ausweis vor und reichte den Zettel mit den beiden Sätzen durch den Türspalt.
Carina war erschrocken. Spontan schloss sie die Tür wieder. Polizei! Zitternd las sie die beiden Sätze, die sie sehr wohl kannte. Woher wusste die Polizei davon? Und was wollten sie von ihr? Ob sie Reiner und Niclas gefunden hatten? War der Mann deshalb hier? Um ihr die Todesnachricht zu überbringen? Ihr wurde schlecht, sie war kurz davor, sich zu übergeben. Vielleicht war es auch nur Zufall, dass die Polizei vor ihrer Tür stand? Das konnte nicht sein, denn sonst hätten sie die Texte nicht. Warum nur diese beiden Sätze und nicht alle? Carina war hin und hergerissen. Ihrem Magen ging es immer schlechter. Das Gefühl kannte sie sehr gut, denn seit sie gekidnappt wurde, hatte sie Magenschmerzen, die immer schlimmer wurden. Sie zitterte und war unfähig, eine Entscheidung zu treffen. Die Minuten vergingen. Was sollte sie jetzt tun? Der Polizist, der vor ihrer Tür stand, würde sich nicht abwimmeln lassen, das war ihr klar. Was war, wenn er nicht wegen Reiner und Niclas hier war? Was würde mit ihr und den beiden liebsten Menschen in ihrem Leben geschehen?
Leo wartete geduldig. Je länger er hier stand und je länger die Frau nachdachte, desto sicherer war er sich, dass etwas nicht stimmte und die Frau dringend Hilfe brauchte.
Dann endlich öffnete sich die Tür erneut. Gerade so viel, dass Leo eintreten konnte. Auf der Anrichte lag sein Ausweis, den er wieder an sich nahm. Den Zettel mit den beiden Sprüchen ließ er liegen, er kannte sie inzwischen auswendig. Carina ging voraus und setzte sich auf das schäbige Sofa. Leo sah sofort, dass die blonde Frau niemals hierhergehörte, der alte Herr Jäger und der Postbote lagen völlig richtig mit ihrer Annahme. Leo setzte sich ihr gegenüber.
„Ich bin hier, um Ihnen zu helfen. Was ist hier los?“, fragte er ruhig und so hochdeutsch wie möglich, was für einen Schwaben echt anstrengend war.
„Ich weiß es nicht“, flüsterte Carina und erschrak vor ihrer eigenen Stimme. Es war lange her, dass sie gesprochen hatte.
Die Frau hatte Angst und schien eingeschüchtert. Das könnte aber auch eine Falle sein. Leo ließ sich von seinem ersten Eindruck nicht leiten.
„Was ist mit diesen Sätzen?“, stellte er sie auf die Probe. Er hatte nicht lange gebraucht, um hinter das Geheimnis zu kommen, denn so kompliziert war der Code nicht.
Carina sah Leo an. Wusste er denn nichts? Warum sonst war er hier?
„Das wissen Sie doch.“
„Ja, das weiß ich. WIR ALLE RENNEN TROTZ EIS NORDWÄRTS – bedeutet WARTEN. - AFFEN LIEBEN LECKERES ESSEN SEHR, OHNE KARTOFFELN – bedeutet ALLES OK. Wenn man weiß, dass man nur die Anfangsbuchstaben lesen soll, ist das sehr einfach. Können Sie mir auch die anderen Postkarten zeigen?“
„Nein, die sind alle verbrannt, das war eine Anweisung. Sobald ich die Postkarten gelesen hatte, sollte ich sie verbrennen.“
„Das ist schade, aber nicht tragisch. Warum das alles? Mit was werden Sie unter Druck gesetzt?“
Carina zögerte. Ihr war es lieber, wenn der Fremde endlich gehen würde, allerdings tat es auch gut, mit jemandem sprechen zu können. Allerdings setzte sie damit das Leben ihrer Familie aufs Spiel. Durfte sie das? Wäre es nicht besser, sich einfach zu fügen und darauf zu hoffen, dass alles gut ausgehen würde?
Leo spürte den inneren Kampf der Frau.
„Reden Sie mit mir, ich kann Ihnen helfen. Ich weiß nicht, was hier vor sich geht, deshalb bin ich hier. Wenn ich Ihnen nicht helfen kann, stehe ich sofort auf und gehe, versprochen!“
„Man hat meinen Mann und meinen Sohn. Wenn ich mich nicht an alle Anweisungen halte, werden sie sterben. Ich werde beobachtet. Wenn man Sie gesehen hat, wird das in einer Katastrophe enden. Vielleicht ist es noch nicht zu spät, bitte gehen Sie!“
„Gibt es Forderungen?“
„Nein, aber die können täglich eintreffen. Meine Familie hat Geld und wird jede Summe bezahlen.“
„Wie lange geht das schon?“
„Seit dem 9. November. An diesem Tag wurde ich nach einem Friseurbesuch gekidnappt und hierher gebracht. Man gab mir Anweisungen und drohte damit, meine Familie zu töten. Niclas und Reiner sind in Gefahr!“
„Das habe ich verstanden, bleiben Sie bitte ganz ruhig. Mir ist niemand gefolgt, mich hat niemand gesehen. Haben Sie versucht, irgendjemanden zu kontaktieren?“
„Wie sollte ich? Es gibt hier kein Telefon, keinen Fernseher und kein Radio. Es wurde mir untersagt, mit irgendjemandem zu sprechen. Die beobachten mich rund um die Uhr! Das ist kein Hirngespinst, sondern die Wahrheit. Ich versuchte ein einziges Mal, eine Tageszeitung während des Einkaufs mitzunehmen. Daraufhin bekam ich sofort einen Brief, das zu unterlassen. Man drohte, mir einen Finger meines Sohnes zu schicken, wenn ich mich nicht strikt an die Anweisungen halte! Ich werde beobachtet! Verstehen Sie nicht, dass Sie das Leben meiner Familie aufs Spiel setzen? Sie dürfen nicht hier sein!“
Leo sah die ängstliche Frau lange an. Konnte es sein, dass man jemanden dermaßen einschüchtern konnte? Wenn das stimmte, musste er schnell handeln, aber dafür musste sie mitarbeiten. Er musste behutsam vorgehen, um zu ihr durchzudringen und sie auf seine Seite zu ziehen.
„Ich gehe davon aus, dass Sie nicht Carina Leipert heißen?“
„Nein, der Name wurde mir gegeben. Ich heiße Carina Schweickert, meinem Vater gehört die Schweickert-Werft.“
Leo sagte das nichts, aber das war jetzt auch nicht wichtig.
„Ihr Mann heißt auch Schweickert?“
„Ja. Er nahm bei unserer Hochzeit meinen Namen an. Nicht freiwillig, mein Vater bestand darauf.“
Als Leo sein Handy hervorholte, zuckte Carina erschrocken zusammen.
„Keine Sorge, ich weiß, was ich tue. Ich werde Hilfe holen. Nicht von hier, von außerhalb. Niemand wird davon erfahren.“
Carina kämpfte mit einer Ohnmacht. Das, was hier gerade geschah, kam ihr vor wie ein Film, mit dem sie nichts zu tun haben wollte. Sie schloss die Augen und dachte an ihren Sohn, an schöne, unbeschwerte Stunden mit ihm.
Leo wählte und rief seinen Freund und Kollegen Hans Hiebler im heimischen Mühldorf am Inn an, da er hier in Stade niemanden kannte. Er brauchte jetzt jemanden, dem er vertrauen konnte, und da fiel ihm spontan nur Hans ein.
„Leo? Schön von dir zu hören. Wie ist es in Stade?“
„Beschissen. Kannst du etwas für mich überprüfen? Es geht um einen Reiner Schweickert und den Sohn Niclas. Im Zusammenhang steht die Schweickert-Werft.“
„Wo ist der Sitz der Firma? Wo wohnen die beiden Gesuchten?“
Leo wandte sich Carina zu und wiederholte die Fragen. Da sie sie zuerst wegen seines Dialektes nicht verstand, musste er sie auf Hochdeutsch wiederholen.
„Die Firma befindet sich im Industriegebiet Steinwerder, mein Mann, mein Sohn und ich wohnen in einem Vorort von Hamburg. Nur wenige Häuser entfernt lebt mein Vater mit seiner Frau Laura.“ Als Carina den Namen ihrer Stiefmutter aussprach, fühlte sie sich noch schlechter, denn sie hasste die neue Frau ihres Vaters abgrundtief. Laura machte keinen Hehl daraus, dass sie nur des Geldes wegen geheiratet hatte, was Carina nicht gutheißen konnte. Sie hatte ihren Vater angebettelt, die dralle Brünette nicht zu heiraten, aber der schien blind vor Liebe zu sein und schlug alle Warnungen in den Wind.
Leo wiederholte die Antworten der Frau, die Carina jetzt wiederum kaum verstand. Was war das für ein Kauderwelsch, den der Mann sprach?
„Alles klar, ich kümmere mich darum.“ Hans verstand sofort, dass es um etwas Ernstes gehen musste, denn dafür kannte er Leo viel zu gut. In was war er hineingeraten? „Sobald ich etwas habe, rufe ich dich an.“
Es dauerte nicht lange, bis Hans sich meldete. Das Klingeln des Handys ließ Carina zusammenzucken.
„Herr Schweickert vermisst seine Frau seit dem 9. November letzten Jahres. Ich habe mit ihm und auch mit dem Vater gesprochen, alle machen sich riesige Sorgen.“
„Du hast hoffentlich nicht erwähnt, dass du Polizist bist?“
„Selbstverständlich nicht. Ich rief mit unterdrückter Nummer an und gab vor, eine Reportage über die Schweickert-Werft zu bringen. Dass die vermisste Tochter dabei eine Rolle spielt, haben beide Männer verstanden. Reiner Schweickert hat angedeutet, dass seine Frau Carina psychische Probleme hat.“
„Ich verstehe“, murmelte Leo.
„Die Familie und auch die Firma genießen einen sehr guten Ruf, aber da hake ich nach. Für meine Begriffe alles zu sauber und geleckt, das gefällt mir nicht.“
„Sehr gut, mach das. Aber geh vorsichtig vor.“
„Um mich brauchst du dir keine Sorgen machen. Was ist los bei dir?“
„Die Frau sitzt vor mir.“ Konnte Leo vor der Frau das aussprechen, was er vermutete? Und wenn er sich täuschte? „Ich gehe davon aus, dass man sie gelinkt hat“, entschied er, Hans seine Meinung mitzuteilen.
„Nicht dein Ernst, oder?“
„Sie sitzt völlig eingeschüchtert in einer heruntergekommenen Wohnung in Stade und sagt, dass man sie hierher gebracht hat und sie bedroht. Man beobachtet sie offenbar rund um die Uhr. Sie bekam Anweisungen, an die sie sich zu halten hat, sonst würden es Mann und Kind zu spüren bekommen.“
„Danach sieht es nicht aus. Dem Ehemann und dem Sohn scheint es gut zu gehen. Die Bilder der letzten Wochen in den Medien, auf denen beide abgebildet sind, sprechen für sich. Wenn das stimmt was du sagst, wäre das Wahnsinn. Könnte es nicht sein, dass dir die Frau einen Bären aufbindet?“
„Nein, das denke ich nicht. Es gibt Beweise dafür, dass sie die Wahrheit sagt. Postkarten, die Anweisungen enthielten, wurden zwar vernichtet, aber ich habe zwei Zeugen.“
„Was hast du jetzt vor?“
„Ich werde versuchen, die hiesigen Kollegen zu kontaktieren.“
„Und wenn die nicht mitspielen?“
„Dann muss ich mir etwas einfallen lassen.“
„Mach bitte keinen Blödsinn!“
„Was würdest du denn an meiner Stelle machen?“
Hans nickte nur, auch wenn Leo das nicht sehen konnte. Ja, er würde genauso handeln.
„Pass auf dich auf und halt mich auf dem Laufenden. Ich melde mich, sobald ich etwas Neues für dich habe.“
Carina sah Leo mit großen Augen an. Hatte sie richtig verstanden?
„Reiner und Niclas geht es gut?“
„Ja, ihnen geht es gut.“
„Die Entführer haben sie freigelassen?“
Leo nickte nur, woraufhin die Frau erleichtert weinte. Sollte er ihr sagen, dass er nicht an einen Entführer glaubte? Und wenn er mit seiner Vermutung falsch lag? Der Familie ging es gut, diese Information reichte vorerst aus.
Nach dem Telefonat machte sich Hans sofort an die Arbeit. Er suchte sofort nach mehr Informationen über die Firma Schweickert und vor allem über Reiner Schweickert. Was war los in Stade? Wenn Leo richtig lag, lief da eine echte Sauerei ab. Und wenn nicht?
„Was machst du da?“
Die Kollegin Diana Nußbaumer stand hinter Hans und versuchte herauszufinden, was er recherchierte. Sie waren vom Chef der Mühldorfer Kriminalpolizei dazu verdonnert worden, sich um alte Fälle zu kümmern und final abzuschließen – eine Arbeit, die keiner gerne machte, denn damit trat man den Kollegen auf die Füße, was immer Unstimmigkeiten mit sich brachte.
„Ich recherchiere.“
„Aha. Und welchen Fall betrifft das genau?“
„Es geht um Leo.“
„Ist der nicht in Stade?“
„Richtig.“
„Sag jetzt nicht, dass er dort ermittelt!“
„Er ist da in etwas reingeschlittert. Vielleicht ist ja auch nichts dran“, beschwichtigte Hans, der mit seiner Kollegin im Nacken nicht gerne arbeitete.
„Reingeschlittert? Blödsinn! Leo langweilt sich und da sucht er sich eine Beschäftigung, das ist es. Und anstatt mir und Alf bei den alten Fällen zu helfen, hilfst du Leo.“ Diana war sauer. Wenn sie alle drei, also Hans, sie selbst und Alfred Demir den Stapel abarbeiteten, konnten sie diese beschissene Arbeit endlich erledigen. Sie befürchtete, dass sie jetzt nur zu zweit daran arbeiteten und dadurch auch den ganzen Zorn der involvierten Kollegen zu spüren bekämen.
Alfred Demir war auf der Toilette und kam zurück. Er spürte die Spannung zwischen den Kollegen.
„Was ist hier los?“
„Leo hat angerufen, er bat Hans um Hilfe.“
Alf verstand sofort und verschränkte die Arme.
„Aha! Und jetzt hilfst du also Leo, oder wie soll ich das verstehen?“
„Richtig. Was ist los mit euch? Würdet ihr Leo nicht helfen?“
„Selbstverständlich – und genau das wollen wir auch“, sagte Diana sehr deutlich. „Anstatt die verstaubten Akten zu durchwühlen und Kollegen auf die Füße zu treten, wollen wir mit einbezogen werden.“
„Ihr wollt mir helfen?“
„Gut kombiniert, Hans. Für einen Kriminalbeamten bist du manchmal echt begriffsstutzig.“
„Leo meint, dass er da einer Sache auf der Spur ist, was noch nichts bedeutet. Vielleicht ist ja auch nichts dran, wer weiß?“
„Um was geht es genau?“ Alf schob Diana einen Stuhl zu und nahm sich selbst einen. Hans konnte nicht anders. Er gab das wieder, was Leo ihm erzählte.
„Eine ziemlich krasse Geschichte. Wie sieht die Frau aus?“, durchbrach Alf zuerst die eingetretene Stille.
„Warum?“
„Vielleicht hat er sich von ihr einlullen lassen? Leo ist schließlich auch nur ein Mann.“
„Leo?“, rief Diana und sah Alf mit großen Augen an. Dann musste sie laut lachen. „Niemals! Für ihn gibt es nur seine Sabine. Er gehört zu den Männern, die nicht begreifen, wenn sie angebaggert werden.“
„Stimmt. Du könntest ihm eine Frau nackt auf den Bauch binden, da würde nichts passieren“, sagte Hans voller Überzeugung. „Leo hat ein gutes Gespür. Wenn er der Frau glaubt, sollten wir das ernst nehmen.“
„Auch Leo hat sich schon geirrt, er ist schließlich nicht unfehlbar“, maulte Alf.
„Das ist richtig. Trotzdem möchte ich ihm helfen. Wenn einer von euch dabei ist, habe ich nichts dagegen.“
„Ich bin auf jeden Fall dabei“, rief Diana erleichtert, die vor allem froh war, die alten Fälle nicht mehr in die Hand nehmen zu müssen.
„Meinetwegen“, gab Alf klein bei. „Das ist allemal besser als diese Scheißarbeit!“
„Aber kein Wort zum Chef, verstanden? Wenn er das rausbekommt, sind wir geliefert. Offiziell bearbeiten wir die alten Fälle. Kann ich mich auf euch verlassen?“
Dass es nicht lange dauern würde, bis der Leiter der Mühldorfer Polizei und sogar der Staatsanwalt Eberwein miteinbezogen wurden, konnte in diesem Moment niemand ahnen.