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2.

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Stade, Altländer Viertel, 16. März

Endlich sah sie das Fahrzeug des Briefträgers, auf das sie sehnsüchtig wartete. Seit Stunden stand sie am Fenster. Ob heute endlich die ersehnte Nachricht kam?

Sie zog die blonde Perücke auf und rannte die Treppen des Mehrfamilienhauses im Altländer Viertel in Stade nach unten. Das hier war nicht ihr Zuhause, die Wohnung war ihr zugewiesen geworden. Es war eine Anweisung gewesen, sich hier aufzuhalten und auf weitere Informationen zu warten, die heute, nach vier Monaten, vielleicht endlich ein Ende fanden. Dass sie hier so lange ausharren und sogar Weihnachten und Silvester in dieser fremden Umgebung verbringen musste, war ihr gleichgültig. Da sie verstanden hatte, dass man nur mit ihr zusammenarbeitete und sie das Leben ihrer Lieben schützte, wenn sie sich an die Anweisungen hielt, harrte sie geduldig aus. Ihr eigentliches Zuhause befand sich in einem noblen Vorort Hamburgs. Sie war davon überzeugt, dass ihr Vater von diesen Menschen ebenfalls unter Druck gesetzt wurde, sonst hätte der längst alle Hebel in Bewegung gesetzt, um sie zu retten. Er war ihr Held, zu ihm blickte sie auf. Anfangs hoffte sie noch auf Hilfe, aber als die ausblieb, war ihr klar, dass auch er unter diesen skrupellosen, schlechten Menschen litt. Ob man sich von anderer Seite Sorgen machte, wo sie, ihr Mann und ihr Sohn waren? Könnte es nicht sein, dass man sie vermisste und längst nach ihr suchte? Vermutlich nicht, denn alle Nachbarn kümmerten sich nur um sich selbst. Dass sie und ihr Mann daran nicht ganz unschuldig waren, war ihr bewusst, denn sie vermieden von Anfang an, seit sie vor acht Jahren in die alte Villa des verstorbenen Großvaters gezogen waren, jeglichen Kontakt zu anderen und machten ihr eigenes Ding. Ob alles anders gekommen wäre, wenn sie sich anders verhalten hätten? Nein, vermutlich nicht. Die jetzige Situation wäre auch eingetreten, wenn sie einen größeren Freundeskreis und Kontakt zu den Nachbarn gehabt hätten, das war ihr in den letzten Wochen klargeworden. Wieder und wieder hatte sie sich darüber Gedanken gemacht, Zeit hatte sie schließlich genug. Sie musste sich ausschließlich in dieser Wohnung aufhalten, was unter normalen Umständen eine Zumutung für sie gewesen wäre. Keine Spaziergänge, keine Besuche, nichts war ihr erlaubt. Ein einziger Einkauf pro Woche im angrenzenden Supermarkt war gestattet, aber auch hier durfte sie mit niemandem sprechen. Sie hatte diese schäbige blonde Perücke zu tragen, die man ihr zusammen mit Kleidung, die nicht ihrem sonstigen Stil entsprach, in dieser Wohnung parat gelegt hatte. Ihre einzige Aufgabe war es, abzuwarten. Das machte ihr die meiste Zeit nichts aus, auch wenn ihr oft die Decke auf den Kopf fiel. Das musste sie ignorieren und irgendwie aushalten. Wenn es ganz schlimm wurde, machte sie Yogaübungen oder kochte, denn die Sorgen um ihren Mann Reiner und vor allem um ihren siebenjährigen Sohn Niclas brachten sie fast um den Verstand. Was hatte der Kleine denn getan, dass man ihn so quälte? Einen Fernseher oder ein Radio gab es nicht, weshalb sie immer empfindlicher auf Geräusche achtete, die von draußen zu ihr drangen. Ein einziges Mal war sie versucht gewesen, im Supermarkt heimlich zu einer Tageszeitung zu greifen, aber das blieb nicht unbemerkt. Am nächsten Tag fand sie eine Nachricht unter der Wohnungstür, die sie erschaudern ließ, denn die Drohung war eindeutig. Wenn sie sich das nochmal getraute, würde Niclas darunter leiden, er war als erstes Opfer auserwählt worden. Man drohte, ihr einen seiner Finger zu schicken. Diese Drohung erschreckte sie bis ins Mark. Seitdem war ihr klar, dass sie beobachtet wurde, weshalb sie sich strikt an alle Anweisungen hielt.

Seit sie hier war, schlief sie schlecht, was sie von früher nicht kannte. Aber das alte Leben gab es nicht mehr, das war vorbei.

Frierend stand sie vor der Haustür. Dass es in diesem ungemütlichen März nicht wärmer wurde, war ihr gleichgültig, die Kälte spürte sie nicht. Sie wartete nur auf den Postboten, der hoffentlich eine Nachricht für sie dabei hatte.

Siegfried Schindler, den alle nur Siggi nannten, war nicht überrascht, dass die Frau auch heute wieder vor der Tür stand und auf ihn wartete. Er wusste von der Postadresse, dass sie Carina Leipert hieß und seit etwa vier Monaten hier in diesem Haus wohnte. Als er sie zum ersten Mal sah, spürte er, dass sie hier nicht hergehörte. Dieses Haus war unter den Einheimischen nicht beliebt. Abgesehen davon, dass alles dreckig und heruntergekommen aussah, war die Nummer 12 ein beliebter Drogen-umschlagplatz, der in den späten Abendstunden stark frequentiert wurde. Dann hielten sich hier Gestalten auf, um die man besser einen großen Bogen machte. Alle wussten davon, aber es wurde nicht viel dagegen unternommen. Das Informationsnetz funktionierte, weshalb die Polizei keine Chance hatte, das Treiben zu unterbinden. Hier war die fremde Frau abgestiegen, was Siggi nicht verstand. Obwohl er sich redlich bemühte, ein paar Worte mit ihr zu wechseln, gelang ihm das nicht. Wenn sie überhaupt reagierte, dann nickte sie nur und verschwand – mit oder ohne Post. Ob sie stumm war? Frau Leipert bekam nur Postkarten, ein Brief war nie dabei. Je länger er seine Kundin betreute, desto komischer kam ihm das vor – und desto mehr mochte er die Frau.

„Ich habe nichts für Sie dabei, Frau Leipert“, rief er ihr zu. Er sah, dass sie zitterte, deshalb sollte sie so schnell wie möglich ins Haus zurück. Siggi machte sich schon lange keine Gedanken mehr darüber, warum sie keine Jacke trug. Sie schien sich nur auf die Post zu konzentrieren, auf der ihr ganzer Fokus lag.

Keine Post! Carina konnte nicht fassen, dass auch heute keine Karte dabei war. Was war nur los? Sie hatte alles getan, was man von ihr verlangte. Warum ließ man sie jetzt hängen?

Siggi Schindler konnte die Enttäuschung der Frau förmlich greifen. Am liebsten hätte er sie getröstet, aber das durfte er nicht. Seit dieser verdammten Pandemie war es ihm nicht erlaubt, sich der Kundschaft zu nähern. Anfangs hatte er sich nicht daran gehalten, was ihm nicht gut bekommen war, denn irgendjemand hatte ihn angezeigt, was ihn fast den Job gekostet hätte. Seitdem hielt er demonstrativ Abstand, was ihm echt schwerfiel. Traurig sah er Frau Leipert hinterher, als sie sichtlich enttäuscht im Haus verschwand. Dass er seufzte, merkte er nicht.

„So hübsch und so traurig“, hörte Siggi eine Stimme hinter sich. Ruckartig drehte er sich um. Vor ihm stand ein Mann um die siebzig, den er sehr gut kannte: Benno Jäger. Der gebürtige Rheinländer lebte seit über dreißig Jahren in Stade, hatte aber den Dialekt nicht abgelegt.

„Wohl wahr“, murmelte Siggi. „Guten Morgen. Heute ist nichts für dich dabei.“

„Wer sollte mir auch schreiben“, lachte Jäger. „Die guten Freunde sind verstorben, die bucklige Verwandtschaft kann mich mal. Was ist nur mit dieser Frau los?“, kam er aufs Thema zurück. Schon lange beobachtete er Frau Leipert. Das fiel ihm leicht, da er im Haus gegenüber wohnte und sowieso nicht viel zu tun hatte.

„Keine Ahnung. Sie wartet täglich auf Post und ist immer wahnsinnig enttäuscht, wenn ich nichts für sie dabei habe. Sie tut mir sehr leid.“

„Welche Art Post bekommt sie denn?“

„Ausschließlich Postkarten“, entfuhr es Siggi, der sich dafür hätte ohrfeigen können, denn das durfte er nicht verraten. Hastig drehte er sich um und wollte wieder in seinen Wagen steigen, aber Jäger ließ das nicht zu.

„Was steht auf den Postkarten? Von wem sind sie?“

„Das weiß ich doch nicht!“

„Jetzt komm schon, Siggi, das glaubt dir keiner! Jeder weiß doch, wie neugierig du bist, was keine Schande ist. Warum auch nicht? Du interessierst dich für deine Kundschaft und nimmst an unser aller Leben teil, was sehr lobenswert ist.“ Es folgte ein Schwall warmer Worte, die Siggi sichtlich genoss.

„Ja, es stimmt, die kurzen Texte fielen mir auf. Auf jeder der insgesamt acht Postkarten stand jeweils nur ein einziger Satz, der für mich keinen Sinn ergab.“

„Wie soll ich das verstehen?“

„Zwei Sätze konnte ich mir merken, die anderen bekomme ich nicht mehr zusammen.“ Siggi sah sich um, so langsam wurde ihm die Situation unangenehm.

„Jetzt lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen! Wie lauten die Sätze?“

„Postgeheimnis!“, sagte Siggi und wollte nur noch weg.

„Wenn die Leute nicht wollen, dass man ihre Nachrichten liest, sollen sie keine Postkarten schreiben“, lachte Jäger, der fürchtete, dass Siggi gleich verschwand, noch bevor er seine Informationen hatte.

„Stimmt auch wieder“, gab Siggi zu, der sich genau dasselbe dachte.

„Und? Raus mit der Sprache! Wie lauten die beiden Sätze? Vielleicht können wir der armen Frau Leipert irgendwie helfen.“

„Wir beide? Das glaubst du doch selbst nicht!“

„Könnte doch sein, oder nicht? Ich möchte es jedenfalls versuchen.“

Siggi wurde weich. Carina Leipert selbst und die ominösen Postkarten ließen ihn schon lange nicht mehr zur Ruhe kommen. Bis jetzt hatte er sich niemandem anvertraut. Hatte er in dem alten Benno Jäger einen Verbündeten gefunden?

„Also gut, aber kein Wort zu niemandem, verstanden? Wenn das rauskommt, bin ich meinen Job endgültig los!“

„Selbstverständlich halte ich den Mund, was hältst du denn von mir?“

Verschwörerisch sah sich Siggi um.

„WIR ALLE RENNEN TROTZ EIS NORDWÄRTS. Gruß Niclas.“

Jäger sah Siggi mit großen Augen an.

„Willst du mich verarschen?“

„Keineswegs. Das ist genau der Satz, der auf einer der Postkarten stand. Ich habe den Sinn auch nicht verstanden, aber die Nachricht muss für Frau Leipert sehr wichtig gewesen sein. Als sie ihn las, hat sie genickt.“

Benno Jäger sah Siggi skeptisch an, denn er fühlte sich immer noch veräppelt.

„Du sprachst von einem weiteren Satz. Wie lautet der?“

„Mach dich auf etwas gefasst, denn der hört sich auch nicht besser an: AFFEN LIEBEN LECKERES ESSEN SEHR, OHNE KARTOFFELN. Gruß Niclas.“

„Was?“

„Genau das stand auf der Karte.“

„Siggi, ich warne dich! Mach dich nicht über mich lustig.“

„Das würde ich nie tun. Ich verstehe diese Nachrichten ja auch nicht. Du etwa?“

„Wie sollte ich?“ Benno Jäger holte einen Zettel und einen Stift aus der Innentasche seines alten Jacketts hervor. „WIR ALLE RENNEN TROTZ EIS NORDWÄRTS. Gruß Niclas“, murmelte er und sah Siggi an, der daraufhin nickte. „AFFEN LIEBEN LECKERES ESSEN SEHR, OHNE KARTOFFELN. Gruß Niclas.“ Auch jetzt nickte Siggi.

„Ist dir noch etwas aufgefallen?“

„Die Sätze waren in Großbuchstaben geschrieben, der Gruß ganz normal. Das ist nicht üblich, deshalb fiel mir das auf.“

„Was ist mit den Motiven der Postkarten?“

„Darauf waren Schiffe abgebildet, Segelschiffe. Abgestempelt wurden sie in Hamburg.“

„Wer wohl dieser Niclas ist?“

„Das habe ich mich auch oft gefragt, habe aber keine Antwort darauf.“

Benno Jäger sah sich die beiden Sätze auf dem Zettel wieder und wieder an.

„Das ist doch nicht normal! Was soll das?“

„Das ist für mich ein Rätsel. Ich würde Frau Leipert gerne darauf ansprechen, aber sie möchte nicht mit mir sprechen.“

„Wir sollten zur Polizei gehen“, sagte Jäger, der spürte, dass hier etwas oberfaul war.

„Womit? Mit zwei Sätzen aus meinem Gedächtnis und einer vagen Vermutung zweier Männer? Die Polizisten lachen uns doch aus.“

„Ja, da magst du recht haben. Trotzdem sollten wir etwas unternehmen.“

Siggi sah auf die Uhr. Das hier dauerte schon viel zu lange, er musste weiterarbeiten.

Jäger verstand.

„Wir machen uns beide Gedanken darüber und treffen uns morgen wieder hier. Vielleicht hat einer von uns eine zündende Idee.“ Benno Jäger ging Richtung Innenstadt zum Altstadtcafé, wo er täglich seinen Kaffee trank und sich mit den netten Damen unterhielt. Manchmal hatte er Glück und es gab eine Veranstaltung, an der er teilnehmen konnte. Ob das heute auch so war?

Auf dem Weg ins Altstadtcafé gingen Jäger die Sätze nicht mehr aus dem Kopf. Was sollte der Mist? Dass da etwas nicht stimmte, stand für ihn außer Frage. Aber was? Er nahm sich vor, am Ball zu bleiben.

Die Toten von Stade

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