Читать книгу Die Toten von Stade - Irene Dorfner - Страница 9
4.
ОглавлениеChristine Künstle war sauer. Sie ging durch die Altstadt, ohne die schönen Gebäude wahrzunehmen. In Gedanken war sie weit weg – nicht bei dem, was morgen beim Notar auf sie zukam, sondern bei Leo. Ahnte er denn nicht, wie sehr sie sich auf diese beiden gemeinsamen Tage gefreut hatte? Es ging ihr doch nicht um dieses Erbe. Ja, sie war neugierig, aber das war es auch schon. Große Reichtümer erwartete sie nicht. Sie freute sich auf etwas Zeit, die sie mit Leo verbringen konnte, und zwar nur mit ihm. Als Leo vor Jahren von Ulm nach Mühldorf am Inn strafversetzt wurde, brach ihr das fast das Herz. Viele Jahre hatten sie zusammengearbeitet – er als leitender Kommissar der Mordkommission, sie als Pathologin. Dann war er einfach verschwunden und alles war anders. Ja, sie konnte damals gut verstehen, warum er die Schuld für den missglückten Plan auf sich genommen hatte, aber deshalb war Leo trotzdem weg. Er war ihr Vertrauter, ihr bester Freund in Ulm gewesen, danach fühlte sie sich trotz der anderen Freunde und ihres Bruders allein. Nichts war mehr wie vorher. Sie hatte sich in die Arbeit gestürzt, bis die unerbittliche Pensionierung sie erneut hart traf, die sie vor drei Jahren ereilte. Als die liebe Gerda, Leos Ersatzmutter und Vermieterin, ihr vor einem halben Jahr anbot, dass sie zu ihr auf den ausgebauten Bauernhof vor den Toren Altöttings ziehen solle, hatte sie sofort zugegriffen. Endlich waren Leo und sie wieder vereint, lebten sogar unter einem Dach. Sie hoffte auf die Vertrautheit, auf die vielen Gespräche, die es früher fast täglich gab, aber die blieben bisher aus. Sie nahm Rücksicht auf Leo, der von ihrem Einzug nicht begeistert war. Sie und Gerda waren überzeugt davon, dass sich alles entspannen würde, aber das war nicht so. Leo distanzierte sich und kam mit der neuen Situation nur sehr schwer zurecht. Es schien sogar so, als wäre er froh darüber, wenn sie wieder ausziehen würde. Seit Weihnachten stand die Hochzeit von Leo mit seiner langjährigen Lebensgefährtin Sabine Kofler ins Haus, auf die sich alle freuten. Christine hoffte darauf, dass sich mit der Aufregung und den vielen Vorbereitungen die Wogen glätten würden, aber Leo verhielt sich unverändert. Als der Brief des Notars Boll ins Haus flatterte, sah Christine ihre Chance gekommen. Die darin angekündigte Erbschaft an sich war interessant, aber nicht wichtig. Das war eine sehr gute Gelegenheit, mit Leo allein zu sein und mit ihm endlich in Ruhe sprechen zu können. Leos Verlobte Sabine Kofler, die mitten im Umzug nach Altötting steckte und auch wegen der bevorstehenden Hochzeit im Mai jede Menge um die Ohren hatte, war mit Christines Plan sofort einverstanden. Auch ihr passte das Verhältnis zwischen Leo und Christine nicht. Wie sollten sie mit ungeklärten Dingen in Ruhe alle unter einem Dach wohnen? Damit waren Probleme vorprogrammiert, auf die sie gerne verzichten konnte.
Christine hatte Leo überrumpelt, das musste sie zugeben, aber wie sonst hätte sie ihn dazu bringen können, mit ihr nach Stade zu fliegen? Und jetzt? Leo war verschwunden und sie lief allein durch die Altstadt. Wann er zurück war? Sie wusste es nicht. Könnte es nicht sein, dass er sogar den Braten roch und ihr absichtlich aus dem Weg ging?
Je länger Christine darüber nachdachte, desto verrückter wurden ihre Gedanken. Dann blieb sie stehen. Ungläubig sah sie die vielen Yachten in dem Hafen an. Wie war sie hier hergekommen? Völlig außer Atem setzte sie sich auf eine Mauer. Schnell versammelten sich zahllose Möwen um sie herum. Da sie nichts bei sich hatte, was für die Vögel interessant war, und sie sich auch sonst ruhig verhielt, verloren die Tiere schnell das Interesse an ihr. Sie beobachtete, wie ein wunderschönes Segelboot in den Yachthafen fuhr. Als es näherkam, konnte sie den Namen Calimero lesen. Sofort kam ihr das Lied der Zeichentrickserie in den Sinn: Calimero, aus Palermo. Sie summte das Lied vor sich hin und sofort wurde die Laune besser. Da das Segelboot nicht weit weg von ihr anlegte, bekam sie etwas zu sehen, was ihr sonst entgangen wäre. Der Kapitän ging sehr geschickt vor. Er trug eine dieser albernen Mützen, wie sie auch im Fernsehen oft zu sehen waren und wie es sie in jedem Ramschladen in Küstennähe zu kaufen gab. Gekonnt machte der Mann das Boot fest, was Christine bewunderte. Dann schloss er die Kajüte und ging von Bord, diesmal ohne diese affige Mütze. Er lief direkt an ihr vorbei.
„Grüß Gott“, grüßte sie den Mann, auch wenn sie die Ältere war. Das war ihre Art. Höflichkeit kostete nichts, deshalb grüßte sie jeden.
Der Mann sah sie nur kurz an und drehte den Kopf wieder zur Seite.
„Arroganter Schnösel“, sagte Christine. Belustigt stellte sie fest, dass er sie gehört hatte. Wenn er sich jetzt umdrehte und sie dumm anmachte, war sie darauf gefasst. Vor einer Auseinandersetzung hatte sie noch nie Angst gehabt. Aber der Mann ging einfach weiter. Komisch.
Christine stand irgendwann auf und ging weiter. Das große, grüne Schiff mit Namen Greundiek zog sie magisch an. Ungläubig stand sie vor dem Museumsschiff – das musste sie sich ansehen. Sie kam mit einem netten Mann ins Gespräch, der ihr stolz das alte Schiff zeigte, das von vielen Freiwilligen instandgehalten wurde. Sie erfuhr, dass hier ein breit gefächertes Spktrum an Veranstaltungen möglich war. Sie machte viele Fotos, die sie nicht nur Leo, sondern zuhause allen zeigen konnte.
Sie schlenderte weiter, denn Zeit hatte sie genug. Wenn Leo sie brauchte, wusste er, wo er sie finden konnte. Sie entdeckte einen Stand, an dem Fischbrötchen verkauft wurden. Lecker. Sie kam mit dem Verkäufer ins Gespräch - von ihrer üblen Laune war inzwischen nichts mehr zu spüren. Auch die Möwen hatten sie wieder ins Visier genommen und scharrten sich um sie, da sie an ihrem Brötchen interessiert waren. Sie kaufte zwei Brötchen, die sie verfütterte. Dass das nicht gerne gesehen war, war ihr gleichgültig.
Christine hatte die Begegnung mit dem unhöflichen Mann längst vergessen. Dass sie noch mit ihm zu tun bekäme, ahnte sie nicht.