Читать книгу 2610 m ü.M. Irma Clavadetscher - Irene Wirtlin - Страница 6
Kinderjahre «Noch heute stört es mich, wenn Schuhe nicht ordentlich weggeräumt werden, die Schuhbändel nicht in den Schuhen versteckt sind.»
ОглавлениеHedi, Franz und Irma
Es ist Freitag, der 29. März 1940. In Schmerikon, einem Dorf am oberen Zürichsee, bricht ein grauer, für die Jahreszeit aussergewöhnlich kalter Tag an, als im Haus zur Krone an der Hauptstrasse 21, in der Wohnung im ersten Stockwerk, Irma Adelina Müller geboren wird. Es ist eine komplikationslose Geburt, Mutter und Kind sind wohlauf.
Die vierjährige Hedi und der dreijährige Franz, die beiden älteren Kinder der Familie Müller, werden gleich nach dem Aufwachen von der Haushaltshilfe Marie ins Schlafzimmer der Eltern geführt, wo zu ihrer grossen Überraschung in einer Ecke eine Wiege steht, mit einem winzigen, fest schlafenden Kind darin. «Das ist euer Schwesterchen Irma», erklärt man ihnen. Die beiden haben zwar keine Ahnung, warum und woher dieses Schwesterchen so plötzlich gekommen ist, aber das beschäftigt sie im Augenblick auch nicht besonders. Viel interessanter ist, dass die Mutter um diese Zeit noch im Bett liegt, das ist ganz unerhört und in ihrem Leben noch nie vorgekommen. Es ist Marie, die heute das Frühstück zubereitet, und in den beiden Schleckmäulchen keimt die Hoffnung auf, dass sie ihr vielleicht eine doppelte Portion Erdbeerkonfitüre aufs Brot abschmeicheln können. Das Aufregendste aber ist, dass offenbar am Abend der Vater vom Militärdienst zurückerwartet wird, obwohl er doch eigentlich erst in einer Woche wieder Urlaub haben sollte. Der wird staunen, dass es hier nun plötzlich dieses kleine Schwesterchen gibt, und sie können es kaum erwarten, ihm die Neuigkeit zu erzählen.
Auch in Schmerikon spürt man in diesem Frühling, ein halbes Jahr nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, die Auswirkungen der Generalmobilmachung. Wie der Vater der neugeborenen Irma Adelina stehen viele Männer im Aktivdienst an der Grenze. In den gewerblichen wie auch den landwirtschaftlichen Betrieben muss man zusehen, wie man ohne die Männer zurechtkommt; die Frauen tun ihr Bestes, um die Lücken auszufüllen. In den Hausgärten des schmucken Dorfs werden im Sommer weniger Blumen blühen als sonst, denn jetzt wird fast ausschliesslich Gemüse angepflanzt, und wo immer möglich werden Kartoffeläcker angelegt. Niemand weiss, wie lange noch Lebensmittel aus dem Ausland in die Schweiz eingeführt werden können.
Irma ist etwas mehr als zwei Monate alt, als die Mutter im Frühsommer mit den Kindern die Felsenburg, den elterlichen Bauernbetrieb am Dorfrand von Schmerikon, besucht, um das kleine Mädchen seinen Grosseltern vorzustellen. Auch Irmas Patentante ist aus Winterthur angereist. Alle freuen sich über den Familienzuwachs. Gleichzeitig haben die Erwachsenen jedoch einiges zu besprechen, das sie beunruhigt. Der Grossvater berichtet, dass im Buechberg der Bau der Festung Grynau begonnen hat, die in den nächsten zwei Jahren fertiggestellt werden soll. Er erklärt, dass es eine der wichtigsten Staustellen für die vorgesehene militärische Überflutung der Linthebene sein wird, falls feindliche Truppen von Norden eindringen sollten. Hinter vorgehaltener Hand spricht man im Dorf darüber, welche Familien sich bereits nach Unterkunftsmöglichkeiten in der Innerschweiz umgesehen haben, für den Fall einer Evakuierung. Wie soll man dieses Verhalten einstufen, als überängstlich oder als weise vorausschauend? Die Grossmutter erzählt vom Erste-Hilfe-Kurs für Notfälle, den sie im neu gegründeten Samariterverein besucht hat. Die Themen, die dort behandelt wurden, geben ebenfalls Anlass zur Besorgnis: Organisation einer Evakuierung – Schussverletzungen – Handhabung von Gewehr und Gasmaske.
Irmas Geschwister hingegen erleben einen unbeschwerten, wunderschönen Tag. Nichts tun Hedi und Franz lieber, als die Grosseltern zu besuchen und mit den Nachbarskindern im Stall, im Hühnerhof und im Obstgarten herumzustreifen. Hedi ist diesmal allerdings etwas enttäuscht, weil ihre Freundin Barbara, von allen liebevoll Bärbeli genannt, gar nicht so richtig spielen mag. Sie hat Bauchschmerzen und wohl auch Fieber.
Nun, ein paar Tage später stellt sich heraus, dass bei Bärbeli Verdacht auf eine Polioerkrankung besteht. Ab sofort stehen nicht nur die Bewohner der Felsenburg und des Nachbarhofs für drei Wochen unter strenger Quarantäne, sondern auch die ganze Familie Müller. Niemand darf das Haus verlassen. Hedi und der kleine Franz finden das zunächst interessant. Immer wieder schauen sie aus dem Fenster zu dem Soldaten hinunter, der den ganzen Tag auf einem Holzhocker vor ihrer Haustüre sitzt und aufpasst, dass niemand hinein- oder hinausgeht. Ob er wohl auch nachts dort sitzt? Oder darf er nach Hause gehen, um zu schlafen? Das interessiert die beiden brennend, aber die Mutter erlaubt ihnen nicht, nachts aufzustehen, um nachzusehen. Jeden Vormittag jedoch reichen ihm die Mutter oder Marie einen Zettel und eine grosse Tasche durch den Türspalt, und er verschwindet für kurze Zeit, um im Dorfladen Brot, Milch, Eier oder Kartoffeln und Gemüse für die Familie einzukaufen. Und später am Tag geht die Türe noch einmal auf, diesmal etwas weiter, und der Soldat nimmt einen Korb mit frisch gewaschenen Windeln entgegen, die er dann im Hinterhof an die Wäscheleine hängt. Hedi lacht laut, als sie ihm aus dem Fenster im ersten Stockwerk zuschaut, denn die Windeln hängen schlaff und traurig, nicht schön straff und regelmässig, jeweils zwei mit einer Wäscheklammer zusammengehalten, so wie das die Mama oder Marie machen. Ob der Vater, der ja jetzt auch Soldat ist, das besser könnte?, fragt sie sich. Jedenfalls hat sie den Vater noch nie Wäsche aufhängen sehen.
Inzwischen ist ihr der Soldat in seiner grünen Uniform nicht mehr so unheimlich wie am Anfang, weil er öfters zum Fenster hochschaut, lacht und ihr zuwinkt, wenn er sie dort stehen sieht. Aber vor den anderen Soldaten, die manchmal in einer langen Kolonne im Gleichschritt am Haus vorbeimarschieren, fürchtet sie sich schon ein wenig; vor allem nachts, wenn es ganz still ist und sie nicht schlafen kann und dann plötzlich die genagelten Stiefel in regelmässigem Rhythmus auf dem Pflaster aufschlagen. Manchmal hört sie auch ein lautes Rattern und Rumpeln; dann sagt die Mutter am Morgen jeweils zu Marie: «Heute Nacht haben sie wieder Panzer verschoben.» Hedi hat keine Ahnung, was Panzer sind und warum man sie auf der Strasse herumschieben muss. Vielleicht so etwas wie grosse Möbel in der Stube? Aber sie hat am Morgen noch nie ein Bett oder einen Schrank auf der Strasse gesehen.
Wenn sie und Franz nur endlich wieder einmal draussen spielen dürften. Langsam wird ihnen langweilig im Haus, denn das neue Schwesterchen ist eine Enttäuschung, man kann gar nichts mit ihm anfangen; wenn es nicht schläft, schreit es, und Hedi versteht nicht, warum die Mutter dann immer gleich nach ihm schaut. Nie sagt sie zu ihm: «Du musst jetzt warten; ich habe in der Küche zu tun, in einer Stunde gibt es Mittagessen», was sie zu ihr oder Franz oft sagt. Es gefällt Hedi nicht, dass die Mutter so wenig Zeit hat, und sie hat manchmal Heimweh nach dem Vater. Als er einmal vom Militärdienst nach Hause kommt, darf er das Haus nicht betreten und muss bei der Grossmutter im Dorf übernachten. Er steht draussen auf der Strasse, ruft und winkt den Kindern zu.
Die Spenglerei Müller 1940–1945
Trotz der Unruhe und den Ängsten, die in der Luft liegen, verlaufen Irmas erstes Lebensjahr und auch die folgenden Jahre in ruhigen Bahnen. Die langen Abwesenheiten des Vaters und sein sporadisches Auftauchen sind für die Kinder zur Normalität geworden, nur Hedi, das älteste der Kinder, macht sich manchmal ihre Gedanken; zum Beispiel über den riesigen Rucksack, der immer voll bepackt im Hausflur steht und den man unter Androhung von Strafe weder berühren noch wegschubsen darf. «Er muss bereit sein, für den Fall, dass …», erklärt die Mutter. «Für welchen Fall? Was ist ein Fall?», fragt Hedi. – «Ach, was du immer alles wissen willst! Und jetzt muss ich zusehen, dass die Suppe auf den Herd kommt.» Und Hedi fragt sich, ob vielleicht der Rucksack nützlich sein könnte, wenn jemand hinfallen würde.
Die Mutter ist auch immer kurz angebunden, wenn es darum geht, abends die dicken, neuen Vorhänge zuzuziehen. Nicht der kleinste Lichtspalt dürfe nach draussen dringen, sagt sie immer wieder. Überhaupt gibt es Dinge, bei denen die Mutter jetzt so unerbittlich streng ist wie sonst nur der Vater. Vor dem Mittagessen schaltet sie immer das Radio ein, und wenn dann die Stimme im Radio sagt: «Beim dritten Ton ist es genau zwölf Uhr dreissig», und es dreimal so merkwürdig pfeift, macht sie das Radio noch lauter, und man muss augenblicklich mucksmäuschenstill sein. Und dann redet ein Mann ganz lange, und man darf immer noch nichts sagen, obwohl der Vater doch gar nicht mit am Tisch sitzt.
Aber bald gehören der Rucksack, die zugezogenen Vorhänge nachts und das absolute Sprechverbot während der Mittagsnachrichten von Radio Beromünster zum Alltag und werden mit kindlicher Unbeschwertheit akzeptiert. Viel aufregender ist, dass die Familie nun bald umziehen wird; in ein neu gebautes, grosses Haus einige Hundert Meter dorfauswärts, an der Hauptstrasse 77. Das Gebäude ist schon fast fertig, auch die daran angebaute Werkstatt. Die Mutter hat es den Kindern einmal gezeigt, als ein Maler gerade die letzten Buchstaben des schwarzen Schriftzugs SPENGLEREI MÜLLER an die Aussenwand der Werkstatt pinselte. Noch in diesem Jahr werden sie dort einziehen.
«In solchen Zeiten baut man doch kein Haus. Wer weiss, was in den nächsten Monaten hier geschieht. Wenn du mich fragst, der ist verrückt», hört man in Schmerikon. Tatsächlich sind überall Angst und Beunruhigung zu spüren, als sich die Schweiz im Juni, nach Frankreichs Zusammenbruch und Italiens Eintritt in den Krieg, von zwei totalitären Nachbarstaaten umgeben sieht. Viele Schweizerinnen und Schweizer fürchten eine Vereinnahmung durch nationalsozialistisches Gedankengut oder gar einen Angriff auf die Schweiz. Die einen befürworten den unbedingten Widerstand, um die Unabhängigkeit der Schweiz zu wahren, die anderen glauben, Deutschlands Wünsche möglichst zu erfüllen, werde am ehesten das Überleben der Schweiz sichern. «Anpassung oder Widerstand?» lautet die Frage, die jede Schweizerin, jeden Schweizer beschäftigt.
Aber der 32-jährige Franz Müller lässt sich weder von den einen noch von den anderen abhalten und baut im ersten Kriegsjahr ein Haus und eine Werkstatt, obwohl auch er, wie die meisten Soldaten, einen guten Teil des Jahres Aktivdienst leistet. Vor sieben Jahren eröffnete er mit bescheidensten Mitteln seine eigene Spenglerwerkstatt im Dorf und fuhr mit dem Fahrrad oder dem Handwagen zu seinen Kunden, wie die anderen Handwerker auch. Jetzt ist für ihn der Zeitpunkt gekommen, er möchte sich vergrössern, Kriegsängste hin oder her. Er hat Pläne, ist ehrgeizig, will sich im Dorf einen Namen machen. Vor allem will er für seine wachsende Familie gut sorgen. Seine Frau soll sich nicht abrackern müssen wie einst seine Mutter, die früh Witwe wurde und ihre drei Söhne kaum durchbrachte; und seinen Kindern soll niemals der Geruch der Armut anhaften, unter dem er selbst so gelitten hat. Sie sollen im stolzen Bewusstsein aufwachsen, dass ihr Vater jemand ist, der respektiert wird und auf den man im Dorf hört. Schon bald beschäftigt er in seiner neuen Werkstatt drei Arbeiter und einen Lehrling, und mitten im Krieg, 1943, wird sein zweiter Sohn, Jakob, geboren.
Franz Müller hat Glück, die Schweiz hat Glück: Sie bleibt verschont. Am 8. Mai 1945 kapitulieren die deutschen Streitkräfte bedingungslos, und es ist endlich Frieden in Europa. Abends um acht Uhr läuten im ganzen Land eine Viertelstunde lang die Kirchenglocken, und es finden spontane Dankgottesdienste statt. Die Angst fällt von den Menschen ab, die Freude explodiert förmlich; überall wird gesungen, getanzt und gefeiert.
Franz und Sophie Müller-Kuster: die Eltern
Mit dem Kriegsende kehrt in Schmerikon langsam wieder die Normalität ein, und in dem idyllisch gelegenen Dorf, mit seinen schilfbestandenen Seeufern, die den Blick nach Süden auf den gegenüberliegenden, bewaldeten Buchberg und nach Osten auf den Speer und den markanten Gipfel des Mürtschenstocks freigeben, nehmen Männer und Frauen wieder ihre traditionellen Rollen und ihre ursprüngliche Arbeit auf. Einige Zeit noch muss man zwar mit Lebensmittelmarken auskommen, aber bald nimmt das Alltagsleben seinen gewohnten Lauf. Am Sonntag pilgert man zum Gottesdient in die katholische Kirche St. Jodokus, die leicht erhöht über dem Dorf thront. Unten am See legt ab und zu ein Dampfschiff, von Rapperswil herkommend, am Steg an, und wenn man sich beim Einkaufen in der Hauptstrasse trifft, sind die Gesichter wieder entspannter und die Gesprächsthemen banaler.
1948, mit der Geburt einer dritten Tochter, Ursula, ist die Familie Müller komplett. Wiederum ist es, wie auch bei Irma und Jakob, eine Hausgeburt. Eines Abends fasst sich die Mutter während des Abendessens mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Seite, und die vier älteren Kinder werden zu ihrer Verwunderung noch bei Tageslicht ins Bett geschickt, um am anderen Morgen mit der Nachricht überrascht zu werden, sie hätten ein Schwesterchen bekommen. Nicht einmal die zwölfjährige Hedi hatte eine Erklärung gewusst, als Franz wenige Wochen zuvor festgestellt hatte, die Mama werde immer dicker, und auch Irma sich fragte, was wohl mit der Mutter nicht stimme. Und nun ist ein kleines Schwesterchen da, und die Mama wird bald wieder weniger dick sein, aber darüber wird in der Familie – wie wohl zu dieser Zeit in vielen anderen Familien auch – nicht gesprochen. Diese Dinge bleiben geheim. Und geheimnisvoll. Damit müssen sich die Geschwister abfinden, dazu Fragen zu stellen, das spüren sie genau, das geht auf keinen Fall.
Franz Müllers Geschäft blüht. Man kennt und schätzt ihn. Sein Hang zum Perfektionismus garantiert den Kunden eine sorgfältige, einwandfreie Arbeit. Die Spenglerei Müller geniesst in Schmerikon und in der Umgebung einen guten Ruf, sie ist geradezu zu einem Begriff geworden, sodass die Kinder bei einem Besuch von Frau Müller in Irmas Kindergartenklasse spontan schreien: «Grüezi, Frau Spengler!» Längst fährt Franz Müller nicht mehr mit dem Fahrrad zu den Baustellen, auch das Motorrad ist mit den Jahren durch einen glänzenden, schwarzen Mercedes ersetzt worden. Franz Müller ist angekommen. Er besetzt verschiedene Ämter im Dorf und erlangt schliesslich einen Sitz im Kantonsrat. Aufgewachsen als arme Halbwaise, gehört er nun zu jenen im Dorf, die das Sagen haben. Das verpflichtet natürlich und prägt das Familienleben, denn auch zu Hause erwartet und verlangt der Vater Ordnung, Disziplin und Wohlverhalten. Die Familie soll ihrer Stellung im Dorf gerecht werden.
Franz Müller und Sophie Kuster gingen zusammen in Schmerikon zur Schule. In ihr fand Franz später die ideale Ehepartnerin. Sophie wuchs als Zweitälteste von zehn Geschwistern auf einem Bauernhof, der Felsenburg, auf und lernte von Kindsbeinen an, hart zu arbeiten. Neben dem Bauernhof führten ihre Eltern eine Gastwirtschaft. Sophie half bei den Arbeiten auf dem Hof, betreute die jüngeren Geschwister und bediente in der Gastwirtschaft. Die Frage, welchen Beruf sie erlernen möchte, stellte sich nie. Als sie die Schule beendet hatte, begann sie ganz selbstverständlich, in verschiedenen Gastbetrieben am Obersee zu servieren, um für die Familie Geld zu verdienen.
Nach ihrer Heirat stellt sich heraus, dass sie für ihre Aufgabe als Ehefrau eines Handwerkers mit eigenem Betrieb und als Mutter von fünf Kindern bestens «ausgebildet» ist, denn sie hat Tag für Tag ein gewaltiges Arbeitspensum zu bewältigen: Sie wäscht – in den ersten Jahren gibt es noch keine Waschmaschine –, putzt und kocht drei warme Mahlzeiten am Tag. Zum Frühstück will der Vater zusätzlich zu Brot, Butter und Konfitüre Rösti oder Polenta, und das Mittagessen muss jeden Tag mit einer Suppe beginnen; hausgemacht, versteht sich, und es hat Punkt zwölf Uhr auf dem Tisch zu stehen. Daneben schreibt sie die Rechnungen und macht die Buchhaltung für das Geschäft. Ab und zu kommt Marie vorbei, um beim Bügeln oder Wäscheausbessern zu helfen. Und da sind ja auch noch die Kinder … Aber Sophie schafft das alles, und sie schafft es sogar, mit ihrer schönen Stimme eines der vielen Lieder, die sie kennt, zu singen, wenn sie nach dem Essen den Berg von Pfannen, Geschirr und Besteck abwäscht. Geschirr abtrocknen ist deshalb bei den Müller-Kindern weniger unbeliebt als anderswo.
Eine «Aufgabe», um die sie andere Frauen im Dorf beneiden mögen, fällt ihr fast schwerer als das Arbeiten: Ihr Mann erwartet von ihr, dass sie sich seiner Stellung im Dorf entsprechend kleidet – dezent, gediegen und elegant. Sie soll «etwas darstellen». Sie fühlt sich mit dieser Aufgabe gar nicht wohl, denn ihrem Wesen nach ist sie die einfache, bescheidene Bauerntochter geblieben. So wird sie jeweils von ihrem Mann begleitet, wenn sie nach Rapperswil fährt, um ihre Garderobe einzukaufen. Er will sicherstellen, dass alles, was sie kauft, von bester Qualität ist. Nach und nach kauft er ihr auch schönen Goldschmuck. Sie trägt beides, die Kleider und den Schmuck, zögerlich und immer etwas unsicher.
Ein Sonntag, vielleicht im Sommer 1952
Es ist halb neun Uhr an einem warmen, sonnigen Sonntagvormittag im Frühsommer. Im Hause Müller herrscht, wie jeden Sonntag um diese Zeit, eine gewisse Hektik. Der Vater ist nirgends zu sehen, aber alle wissen, dass er die ganze Familie um Punkt 8.45 Uhr vor der Haustür erwartet, sonntäglich gekleidet zum Besuch des Gottesdienstes in St. Jodokus. Die Mutter ist bereits in ihrem Sonntagsstaat: hellbeiges Deuxpièces mit passender Seidenbluse, einen hellbeigen, modischen Hut auf dem Kopf, braune Schuhe mit halbhohen Absätzen, eine cognacfarbene Ledertasche, gleichfarbige Lederhandschuhe, eine Perlenkette. Sie hält die kleine Uschi an der Hand, die ebenfalls ein Sonntagskleidchen trägt, und ermahnt Franz und Jakob, vorwärtszumachen. Franz findet seine Schuhe nicht, und das breite Grinsen auf dem Gesicht seines jüngeren Bruders zeigt ihm, dass der wohl etwas mit dem Verschwinden der Schuhe zu tun hat. «Warte», droht er ihm, «jetzt kriegst du’s!» Aber die Mutter steht schon dazwischen und schaut ihn bittend an. «Zieh halt die Werktagsschuhe an, sie sind ja frisch geputzt.» Inzwischen sind auch Hedi und Irma die Treppe heruntergekommen, Hedi in einem dunkelblauen Blazer, Irma in einem roten. Beide tragen ein weisses Béret und weisse Handschuhe. Hedi lächelt die Mutter an und anerbietet sich, die kleine Schwester zu tragen. Die will aber gerade jetzt nicht von Hedi, sondern von Mama getragen werden. «Nein, nein, nein», protestiert sie laut und klammert sich an Mamas Rock fest, die seufzend sagt: «Also, dann kommst du halt mit mir.» Irmas Gesicht, ohnehin schon düster, verfinstert sich noch mehr: «Die bekommt doch immer ihren Willen!», zischt sie Hedi zu, und die beiden Mädchen nehmen ihre Kirchengesangsbücher und verlassen das Haus. «Wie affig wir aussehen! Ich hasse diese blöden Handschuhe!», schimpft Irma wütend, verstummt aber sofort, als sie den Vater neben der Haustüre warten sieht.
Die Bibellesungen, die Predigt, die Gebete, die Eucharistiefeier, der Gemeindegesang: Für die Kinder will es kein Ende nehmen. Endlich braust die Orgel das Ausgangslied, und die Kirchentüre geht auf. Aber jetzt gehen das Bravsein und das Warten gleich weiter, denn der Vater wird von diesem begrüsst, von jenem etwas gefragt, und ein Dritter will ihm unbedingt noch etwas erzählen. Welche Erleichterung, als er der Mutter ein Zeichen gibt, sie solle doch mit den Kindern bereits nach Hause gehen. Kaum dort angekommen, reisst sich Irma die Sonntagskleider vom Leib; sie hasst das «Glump»!
Während des Essens – am Sonntag verlangt die Tradition einen Braten mit Sauce und Kartoffelstock – heisst es noch einmal: brav sein und warten. Die Kinder lieben zwar alle das «Saucenseeli», das die Mutter mit der Kelle in den Kartoffelstock drückt, aber irgendwann hält Jakob das Stillsitzen nicht mehr länger aus. «Dürfen wir heute nach der Christenlehre im See baden gehen, Mama?» – «Da musst du den Vater fragen.» – «Vater, dürfen wir heute Nachmittag im See baden gehen? Bitte!» – «Nein, heute nicht.» – «Aber warum nicht? Es ist so schön warm. Ach, bitte!» – «Ja, bitte, Vater!» – «Weil ich es sage.» Eine halbe Stunde später, während des Abwaschs in der Küche: «Mama, dürfen wir nicht doch baden gehen?» – «Ihr habt gehört, was der Vater gesagt hat.» – «Aber es ist so heiss und so langweilig hier, bitte, bitte!» – «Nun gut; ihr könnt es vielleicht noch einmal versuchen. Der Vater ist beim Nachmittagsjass im ‹Ochsen›. Einer von euch kann hingehen und ihn nochmals fragen.»
Möglich, dass der Vater dann gut gelaunt sagt: «Gut, aber pünktlich um halb sechs seid ihr alle wieder zu Hause!» Oder vielleicht sagt er auch: «In einer halben Stunde bin ich zu Hause. Macht euch bereit. Wir machen einen Ausflug.» Und dann steigt die ganze Familie in den schwarzen Mercedes, und der Vater steuert Richtung Uznach, Rickenpass dem Appenzellerland zu. Irgendwann wird haltgemacht für eine kurze Wanderung und Einkehr in einem Restaurant. Und die Kinder, denen, eingepfercht auf dem Rücksitz, meist übel wird, träumen vom Baden im See.
Einen dieser Ausflüge wird Irma nie vergessen. Man besucht einen entfernten Verwandten des Vaters, den die Kinder nicht kennen, in der psychiatrischen Klinik im sankt-gallischen Wil. Die Kinder werden nicht informiert über die Art des Besuchs und erwarten eine Einladung zu Kaffee und Kuchen oder etwas Ähnliches. Als der Vater vor einem grossen Gebäude hält, erschrecken sie zuerst über die vergitterten Fenster und später über die Gesichter der Menschen, die sie in den langen Gängen antreffen. Am allermeisten aber ängstigen sie die unartikulierten Laute, die Schreie und das Jammern, das aus einigen der Zimmer zu hören ist. Irma läuft entsetzt davon, zurück zum Auto, und versteckt sich in einem nahen Gebüsch. So etwas Schlimmes hat sie noch nie gesehen oder gehört. Sie ist zutiefst schockiert. Niemals will sie so eingesperrt sein! Niemals überhaupt in irgendeiner Weise eingesperrt sein! Das schwört sie sich.
Die grosse, weite Welt
Im Juni 1948 hob auf der ersten Piste des neuen Flughafens Zürich Kloten erstmals eine DC-4 nach London ab, und wenige Monate danach wurde die 2,6 Kilometer lange Blindlandepiste feierlich eingeweiht, im Beisein geladener Gäste aus Politik und Medien. Weitere fünf Jahre später bestand der Flughafen bereits aus einem zentralen Passagiertrakt, flankiert von einem Restaurant und Bürotrakt, und einer grossen Zuschauerterrasse. Die Flugzeuge vor den Hangars zu bestaunen, die Start- und Landemanöver zu beobachten, war bald eine grosse Attraktion für die Bevölkerung von Zürich und Umgebung. Für viele Familien war der Sonntagsausflug zum Flughafen ein Höhepunkt des Jahres, und an schönen Sommersonntagen war die Zuschauerterrasse oft überfüllt, und manch einer träumte davon, in einem der startenden Flugzeuge zu sitzen und an einen exotischen Ort dieser Welt zu fliegen. Aber das war damals ein Privileg für wenige Auserwählte und Reiche. Die Männer und Knaben bestaunten die Maschinen und versuchten, sich gegenseitig mit fachmännischen Kommentaren zu überbieten, die Mädchen und jungen Frauen bewunderten die gross gewachsenen, schlanken Frauen in den eleganten, graublauen Uniformen, mit ihren gepflegten Frisuren und den kecken Hütchen. Jedes Härchen sass exakt da, wo es sollte, und die Lippen waren allesamt perfekt und leuchtend rot geschminkt. «Stewardessen» nannte man sie, und sie verkörperten für viele junge Mädchen einen Traum: den Traum von Eleganz, Schönheit, Exklusivität, von Weltoffenheit und Abenteuer. Ein Beruf, der gar nichts mit Arbeit zu tun zu haben schien, sondern eher eine Startposition darstellte, um bald von einem attraktiven, wohlhabenden und weit gereisten Mann entdeckt und geheiratet zu werden.
So will auch Papa Müller in den frühen 1950er-Jahren seinen Lieben an einem Frühlingssonntag etwas Besonderes bieten und fährt mit ihnen nach Zürich, zum Flughafen Kloten. Die ganze Familie ist ohne Ausnahme fasziniert von den grossen, modernen Flugzeugen und vom «Hauch der grossen, weiten Welt», der sie im Flughafen umweht. Irma staunt über die Piloten mit den Goldstreifen an ihren blauen Mützen und Uniformen – schon bald erfährt sie, dass dieses ganz besondere Blau «Swissairblau» heisst – und über die Stewardessen in ihren hochhackigen Schuhen und schicken Uniformen, die mit den Umhängetaschen und eleganten Köfferchen durch die Halle eilen und dann durch Türen entschwinden, die für das gewöhnliche Publikum verboten sind. Und sie bemerkt sofort, dass auch die Passagiere, vor allem die Damen, ausserordentlich elegant gekleidet sind, die meisten in sogenannten Reisekostümen und feinen Baumwoll- oder Seidenblusen. Sie führen assortierte Gepäckstücke mit sich, alles in weinrotem, dunkelblauem oder sogar elfenbeinfarbenem Leder. Einige halten ihre Pässe in den wildlederbehandschuhten Händen, und sie kann sehen, dass es zum Teil ausländische Pässe sind. Ab und zu, wenn eine dieser Damen an ihr vorübergeht, steigt ihr ein wunderbarer Duft in die Nase. Niemand scheint im Geringsten aufgeregt; diese Menschen sind es offenbar gewohnt, sich hier zu bewegen.
Auf der Heimfahrt nach Schmerikon unterhalten sich die Brüder aufgeregt über die verschiedenen Flugzeugtypen, und die Mutter und Hedi finden, ihnen wäre schon etwas unheimlich, hoch über dem Boden in einer solchen Blechbüchse zu sitzen. Nur Irma ist still, sagt kein Wort und lässt vor ihrem inneren Auge immer wieder die eleganten Stewardessen und die vornehmen Damen in ihren Reisekostümen vorbeiziehen und stellt sich die ebenso vornehmen Häuser vor, in denen diese Damen gewiss wohnen – und dann all die fremden Städte, in die sie fliegen werden: London, Paris, New York! Sie ist begeistert, aufgeregt und verwirrt zugleich, und sie weiss gar nicht so recht, was sie von all dem halten soll.
Was Vater sagt, gilt
Zurück im Alltag sind Vaters Ansprüche an die Familie hoch. Im Haus muss Ordnung und Pünktlichkeit herrschen, und alle Arbeiten müssen sorgfältig ausgeführt werden. So müssen die Schuhe zum Beispiel immer sauber geputzt und ordentlich weggeräumt werden, wobei «ordentlich» heisst: Die Schuhbändel dürfen nicht herunterhängen, sie müssen im Schuh versteckt werden. Nicht umsonst ist der Vater Wachtmeister im Militär. Den Mercedes putzt er eigenhändig blitzblank, jeden Samstag, niemand darf ihm dabei helfen, niemand macht das gut genug. Nicht einmal Hedi, die liebend gerne einmal den schwarzen Lack polieren würde. Sie darf auch der Mutter beim Kochen nicht helfen; es könnte etwas danebengehen, und der Vater hat auch beim Essen hohe Ansprüche. Am meisten Gewicht jedoch legt er auf den sonntäglichen Kirchgang und die religiöse sowie die schulische Erziehung.
Alle Kinder besuchen die Sekundarschule in einer katholischen Schule, die Buben sogar im Internat. Hedi ist die Erste, die nicht mehr im Dorf zur Schule geht, sondern jeden Tag mit dem Fahrrad acht Kilometer nach Bollingen fährt, wo sie die Sekundarschule in der Zisterzienserinnen-Abtei Mariazell-Wurmsbach besucht. Ein Jahr später kommt Franz ins Internat des Klosters Disentis, und drei Jahre später, als Hedi bereits ihre Lehre beginnt, radelt auch Irma nach Wurmsbach. Nach weiteren drei Jahren tritt Jakob ins neu gegründete Katholische Knabeninstitut in Vättis ein, und wiederum fünf Jahre später fährt auch Ursula jeden Tag nach Wurmsbach. Dies bedeutet, dass nach Hedis Eintritt in die Sekundarschule nie wieder alle Geschwister zusammen zu Hause leben. Mindestens eines der Kinder besucht jeweils auswärts die Schule oder die Lehre.
Die strenge und oft unnachgiebige Haltung des Vaters wird durch die liebevolle, sanfte und nachsichtige Art der Mutter gemildert. Nur hat eben nicht sie das Sagen, sondern ausschliesslich der Vater. Jedes der fünf Kinder reagiert anders auf diese Situation.
Hedi, die Älteste, ist ruhig und zurückgezogen, gehorsam und willig. Sie erfüllt die Erwartungen des Vaters, beginnt aber früh davon zu träumen, wegzugehen und ein eigenes Leben nach ihren Vorstellungen zu führen. Franz, der älteste Sohn, scheint schon als kleiner Junge wegzustreben von Schmerikon. Die Mutter muss ein besonderes Auge auf ihn haben. Er liebt Züge und Zugfahren über alles und wird mehr als einmal vom Bahnhofsvorstand zurückgehalten, als er, mit einem Schirm bewaffnet, einen Zug besteigen will.
Irma erfüllt – nicht ganz so perfekt wie ihre ältere Schwester, aber doch einigermassen – die Erwartungen, die in der Familie an ein Mädchen gestellt werden. In ihrem Inneren jedoch beginnt eine kleine Rebellin zu wachsen, die sich an den vielen Einschränkungen und Vorschriften reibt und andere Vorstellungen entwickelt, als sie der Vater für seine Töchter hat. Jakob widersetzt sich allen Vorschriften von klein auf am unbekümmertsten. Er strapaziert immer wieder Nerven und Geduld der Mutter aufs Äusserste. Die sonntäglichen Wanderungen im Toggenburg oder in den Appenzeller Bergen gefallen ihm gar nicht, und einmal kann überhaupt nicht gewandert werden, weil der kleine Knirps unbemerkt während der Fahrt seine Schuhe aus dem Autofenster geworfen hat. Als er dann die Schule besucht, muss am Morgen immer mal wieder sein Schulranzen gesucht werden, weil er ihn am Abend zuvor irgendwo am See liegen gelassen hat, und wenn im Dorf ein Spitzbubenstreich verübt wird, ist allen klar: «Das war Spenglers Köbeli.» Als es darum geht, nach den sechs Jahren Primarschule die richtige Schule für Jakob zu finden, ist der Vater überzeugt: Jakob braucht eine besonders strenge Schule.
Für Ursula, das allseits verwöhnte Nesthäkchen, gelten besondere Regeln. Da Hedi, die älteste Schwester, schon bald nach Ursulas Geburt auswärts zur Schule geht, wird sie in ihren ersten Lebensjahren oft von Irma betreut. Es ist eine traumatische Erfahrung für die ganze Familie, aber vor allem für Irma, als Ursula im Kindergartenalter vor ihren Augen direkt vor dem Elternhaus auf die Strasse springt und von einem Auto erfasst wird. Mit einem Schädelbruch und einem gebrochenen Bein kommt sie halbwegs glimpflich davon, aber der Spitalaufenthalt ist lang, und der Unfall markiert den Beginn von weiteren gesundheitlichen Problemen, mit denen Ursula noch lange kämpft.
Fast achtzig Jahre später zieht Irma dieses Fazit: «Wir hatten eine gute Kindheit. Es fehlte uns an nichts, was damals überhaupt nicht selbstverständlich war. Wir lebten in einem geräumigen, modernen Haus, in dem es sogar ein Badezimmer gab. Von unserem Balkon aus sahen wir direkt auf die Strasse hinunter und zählten zur Unterhaltung die Autos. Jedes Auto war noch fast eine Sensation. Die Felsenburg, der Bauernhof der Grosseltern mütterlicherseits, war für uns Kinder ein Paradies, ebenso der kleine Hühnerhof der Grossmutter väterlicherseits ein paar Strassen entfernt, wo wir frische Eier holten und den duftenden Kuchen, der eben aus dem Backofen kam, kosten durften. Und das Allerschönste: der See, in dem wir im Sommer schwammen und badeten, bis wir blau waren vor Kälte und schlotterten, die ausgedehnte Riedlandschaft, wo wir Wasservögel beobachteten und Frösche quaken hörten und wo wir die grossen Ledischiffe und ab und zu ein elegantes Dampfschiff vorbeiziehen sahen. Unsere Spielplätze waren tausendmal schöner als jeder moderne Abenteuerspielplatz.»
Franz und Sophie Müller-Kuster mit dem zehnjährigen Franz in Schmerikon. Irma Adelina Müller, 1947.