Читать книгу 2610 m ü.M. Irma Clavadetscher - Irene Wirtlin - Страница 8

Freiheit in der rauen Bergwelt «Als er begann, mich die Namen der Berge abzufragen, wäre ich fast davongelaufen.»

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Arosa: Herbst 1959 bis Herbst 1961

Irma lebt sich schnell ein in Arosa. Die neue Chefin ist zwar eine etwas griesgrämige, altjüngferliche Frau, aber die Arbeit mit der zum Teil internationalen, eleganten Kundschaft gefällt Irma. Sie macht Bekanntschaften, schliesst Freundschaften, sie wagt erste Rutschversuche auf den Skiern, sie geht aus, tanzt, flirtet und geniesst die neue Freiheit. Niemand schreibt ihr etwas vor, niemand kontrolliert sie, sie ist niemandem Rechenschaft schuldig. Sie experimentiert mit neuer Kleidung, neuer Frisur, neuer Haarfarbe. Ein kurzer Besuch zu Hause in Schmerikon mit rot gefärbtem Bubikopf bestätigt ihr die Richtigkeit ihres Entschlusses, Schmerikon zu verlassen. Als der Vater sie in ihrer neuen Aufmachung sieht, beginnt er sofort zu gestikulieren und zu schreien, sodass sie die Türklinke gar nicht erst loslässt und gleich in den nächsten Zug steigt, zurück nach Arosa. Dort, zuhinterst im engen Bergtal, atmet sie auf und fühlt sich freier als in der offenen, freien Landschaft des Zürichsees.

Schon bald hat sie eine «beste» Freundin gefunden. Marianne ist vor Kurzem aus Deutschland angekommen und arbeitet als Floristin in einem Aroser Blumengeschäft. Die beiden jungen Frauen verstehen sich auf Anhieb und empfinden sich als Seelenverwandte. Sie sind beide ausgezogen, um die Welt zu erobern, sie teilen den Drang nach Freiheit und Ungebundenheit und die Leidenschaft fürs Tanzen. Auch haben beide einen ausgeprägten Sinn für Schönheit, Farben und Formen. Irma schneidert in ihrer Freizeit schicke, modische Tanzkleider für sich und Marianne, manchmal sogar identische, in denen sie sich wie Zwillinge fühlen. Und so verhalten sie sich auch, wenn sie zusammen zum Tanzen ausgehen: Sie gehen zusammen hin, und sie gehen wieder zusammen nach Hause. Das ist eine unausgesprochene Abmachung, ganz egal, wie heftig sie flirten oder wie attraktiv der Tänzer sein mag, der sich für die eine oder die andere interessiert. Sie beschützen sich gegenseitig vor der Versuchung, sich mit einem Mann einzulassen, denn sie haben noch viel vor und wollen keinesfalls frühzeitig in die Beziehungs- oder gar Ehefalle tappen. Das Leben in Arosa gefällt ihnen ausgezeichnet, aber es soll für beide nur die erste Station sein auf ihrem Weg in die grosse, weite Welt.

Dreimal kommt es vor, während Irmas erstem Jahr in Arosa, dass sie unerwarteten Besuch aus Schmerikon erhält. Drei junge Männer haben dieselbe Idee. Jeder von ihnen hofft offenbar, dass er nun, da Irma allein in der Fremde lebt, vielleicht bessere Chancen hat, sie doch noch zu erobern. Einer versucht es mit einem Geschenk, der zweite mit einem Blumenstrauss und der dritte, Willi, mit seiner Überzeugungskraft. Alle drei wollen sie nach Schmerikon zurückholen; wenn sie möchte, gerne auch als Braut. Irma fühlt sich durchaus geschmeichelt, aber sie braucht keine Bedenkzeit. Verlobung? Niemals! Zurück nach Schmerikon? Niemals!

Christian Clavadetscher

Obwohl – so ganz ohne Männer fehlt auf die Dauer doch das Salz in der Lebenssuppe. Da gibt es zum Beispiel die zwei «Spinner», die in Arosa immer mal wieder von sich reden machen. Es sind zwei befreundete junge Männer, ungefähr gleich gross, die durch ihr Wuschelhaar und ihre langen Vollbärte auffallen. Der eine ist rothaarig wie eine Karotte, der andere hat rabenschwarze Haare. Irmas Chefin weiss, dass der schwarzhaarige, den sie Hitch oder Hitta nennen, obwohl er eigentlich Christian heisst, nicht nur einen Schäferhund, sondern auch ein Maultier besitzt; er soll ein ganz einfaches, naturverbundenes Leben führen. Man erzählt sich, dass er jeweils allein, nur von den beiden Tieren begleitet, zu Fuss über die Berge ins Engadin gehe, um seinen Bruder zu besuchen, der dort als Hüttenwart eine SAC-Hütte bewirtschafte. Irma ist fasziniert. Wer wandert schon mit einem Maultier in der Welt herum? Und wie, ums Himmelswillen, gelangt man zu Fuss von Arosa ins Engadin? «Nun ja», erklärt eine Bekannte, eine Aroserin. «Auf dem alten Passweg über die Maienfelder Furgga zur Stafelalp, von da nach Davos-Frauenkirch und dann über den Scalettapass nach La Punt. Von dort sind es über St. Moritz und den Hahnensee noch etwa acht Stunden bis zur Hütte. Insgesamt sind es schon ungefähr drei Tage.» Irma staunt, und der Kopf schwirrt ihr von all den unbekannten Namen. Das muss ein ganz extremer, verrückter Kerl sein, denkt sie. Und in ihren Augen ist das eine Auszeichnung.

War es Schicksal, dass sich Irma und Hitta, die in völlig verschiedenen Welten lebten, begegneten? Oder begegnete man sich, wenn man zu jener Zeit in Arosa lebte, früher oder später unweigerlich? Beide können sich jedenfalls später nicht an ihr erstes Treffen erinnern. Fest steht nur, dass Irma seit der Bemerkung ihrer Chefin neugierig nach dem aussergewöhnlichen jungen Mann mit dem schwarzen Bart Ausschau hält. Hitta seinerseits ist die hübsche, junge Schneiderin aus dem Unterland mit dem übermütigen Lachen und den Grübchen in den Wangen auch aufgefallen, und er möchte sie gerne kennenlernen. Der glückliche Zufall will es, dass Hitta mit jenem Aroser Bauern befreundet ist, der seit einiger Zeit um Irmas Freundin Marianne wirbt, sodass die beiden miteinander bekannt gemacht werden, «wie es sich gehört». Dennoch dauert es noch ein Weilchen bis zum ersten richtigen Rendezvous. Und das beginnt nicht unbedingt erfolgversprechend. Hitta lädt Irma an einem Sonntag zu einem Spaziergang und einem Kaffee ein, und er weiss nichts Besseres, als sie die Namen aller Berge rund um den Aroser Talkessel abzufragen, vielleicht um seine eigene Unsicherheit und Verlegenheit zu überspielen, indem er sie in Verlegenheit bringt, denn er geht ja nicht jeden Tag mit einer eleganten Unterländerin spazieren. Sie fühlt sich ertappt, da sie kaum einen Berggipfel nennen kann, und ist nun tatsächlich verlegen. Von Liebe auf den ersten Blick kann bei Irma keine Rede sein, aber Tatsache ist, dass Hitta ihr mit dieser Eröffnung unbeabsichtigt einen Blick in sein tiefstes Inneres erlaubt, auch wenn sie es nicht so wahrnimmt. Die Berge gehören untrennbar zu ihm und seinem Leben, und wer ihm nahekommen will, muss sich mit den Bergen auseinandersetzen. Trotz diesem wenig verheissungsvollen Anfang treffen sich die beiden nun ab und zu an einem Sonntag und gehen miteinander in die Berge. Irma erfährt von Hitta, dass er in ganz einfachen Verhältnissen aufgewachsen ist und immer noch bei seinen Eltern lebt. Er hat nicht einmal ein eigenes Zimmer und schläft in der Stube. Im Winter arbeitet er als Pistenkontrolleur und Skilehrer. So bald als möglich möchte er das Bergführerpatent erwerben.

Der Zugvogel

Ende Wintersaison 1961 wird Irma von einer inneren Unruhe gepackt. Sie lebt nun schon seit eineinhalb Jahren in Arosa und braucht Abwechslung. Gewiss, sie ist vielleicht ein ganz klein wenig verliebt in den schwarzhaarigen Bergler, aber sie will schliesslich frei und unabhängig bleiben. Da lockt die Stadt Zürich als neues Abenteuer. Im Warenhaus St. Annahof an der Bahnhofstrasse findet sie eine Stelle als Änderungsschneiderin, und sie entschliesst sich, während der Sommermonate doch wieder in Schmerikon bei den Eltern zu wohnen – teils aus Kostengründen, teils auf Druck des Vaters, dem die Idee, dass seine Tochter allein in der grossen Stadt ein Zimmer mietet, gar nicht gefällt.

Hitta verbringt einen grossen Teil des Sommers auf 2400 Metern in der Coaz-Hütte im Val Roseg. Sein Bruder Hans ist zum Schluss gekommen, dass das Leben im Hochgebirge und die Arbeit als Hüttenwart doch nicht so ganz seine Sache seien, und Hitta hat die Hüttenwartstelle von ihm übernommen. Ihm kommt die relative Freiheit, die diese Arbeit gewährt, entgegen. Er hat die Ausbildung zum Bergführer begonnen, die in Abschnitten von jeweils einem oder mehreren Tagen absolviert wird. Ab und zu trifft in Schmerikon eine Postkarte von ihm ein, manchmal gleich zwei oder drei nacheinander.

4. Mai 1961 (Bild: Dufourhütte)

Hier eine Karte von unserer zweiten Tour. Leider haben wir die Berge nicht gesehen, alles war im Nebel. Herzliche Grüsse Hitta

6. Mai 1961 (Bild: Hotel Hermann Geiger, Sion)

Wegen schlechtem Wetter sind wir wieder im Tal. Doch auch hier ist es schön, vor allem die Mädchen. Gruss Hitta

8. Mai 1961 (Bild: Les Pyramides d’Euseigne)

Schon wieder sind wir unterwegs zum Klettern. Somit ist es aus mit den Mädchen! Gruss Hitta

Dass viele solche Karten in regelmässigen Abständen eintreffen, spricht eine deutliche Sprache; ebenso die Tatsache, dass Irma sie fast sechzig Jahre später noch immer sorgfältig aufbewahrt und etliche davon vergilbte Spuren vom Klebeband tragen, mit dem sie an der Wand befestigt wurden.

Schon bald folgt diesen kurzen, wenig emotionalen Postkartengrüssen ein Brief. Hitta hat offenbar Sehnsucht nach Irma und sie nach ihm.

Coaz, 25.6.61

Liebe Irma

[…] Alles, aber auch alles, was ich mir wünsche, ist Dich wieder zu sehen. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, ich bin gewiss, und wenn die ganze Welt gegen mich ist, ich sehe Dich wieder. Hier ist es herrlich, all die Blumen, der Himmel und ziehende Wolken, Sonnenflirren über Eis und Gletscher, helles Grün der Lärchen, Duft der Arven.

All diese Schönheit möchte ich sammeln und Dir, Irma, senden, damit Du etwas hast für Deine Traurigkeit.

Du und ich, schau, Irma, ich bete sogar zu einem Gott, dass er unsere Liebe erhalte.

Viele Küsse

Dein Christian

Diesem Brief kann Irma nicht widerstehen. Sie zögert zwar, entschliesst sich dann aber, Hitta in seiner Bergeinsamkeit zu besuchen, um mit eigenen Augen zu sehen, wo und wie er nun lebt.

August 1961: erster Besuch auf der Coaz-Hütte

Irma und ihr Bruder Franz sitzen sich im Zug nach Chur gegenüber und schweigen. Beide sind in Gedanken versunken. Franz ist in seiner Fantasie bereits in St. Moritz angekommen und stellt sich die Wanderroute vor, die er gestern auf der Karte sorgfältig studierte. Ob sie wohl Gämsen sehen werden, im Corvatschgebiet oder im Rosegtal? Oder wird er übermorgen das Engadin wieder verlassen, genauso enttäuscht wie beim letzten Mal, als alles Warten und Ausschauhalten mit dem Feldstecher ihm nichts als ein paar Murmeltiere vor die Linse brachte? Die Reise ins Engadin ist doch ziemlich lang und auch nicht gerade billig. Wenn es diesmal wieder nicht klappt mit den Gämsen, könnte es eine Weile dauern bis zum nächsten Versuch. Lohnen wird sich die Reise zwar auf jeden Fall, und nicht nur wegen der wundervollen Bergwelt. Er wird Irmas Aroser Freund kennenlernen, dessen Besuch in Schmerikon neulich den Vater so aufgebracht hat. Offenbar arbeitet er seit dem Frühling als Hüttenwart auf der Coaz-Hütte. Da muss man schon aus ganz speziellem Holz geschnitzt sein, um dieses Leben in der Abgeschiedenheit des Hochgebirges zu wählen, denkt er.

Auch Irma ist mit ihren Gedanken beschäftigt. Sie ist halb amüsiert, halb verärgert. Nur weil sie jetzt eine Sommersaison in Zürich arbeitet und wieder im Elternhaus wohnt, glaubt der Vater, er müsse erneut seine väterliche Autorität geltend machen und über ihre Tugend wachen. Dabei ist sie 21 Jahre alt und lebt und arbeitet seit bald zwei Jahren in Arosa, ohne dass er irgendeinen Einfluss darauf gehabt hätte, wie und mit wem sie ihre Zeit verbrachte. Und das geht ihn auch gar nichts mehr an.

Sie darf nicht daran denken, wie unmöglich er sich gebärdet hat, als Hitta sie vor einigen Wochen in Schmerikon besuchen wollte. Es war geradezu peinlich. Hitta musste in einem Hotel übernachten, als ob sie in ihrem grossen Haus nicht genügend Platz gehabt hätten, um ihn unterzubringen. Aber nein! Was würden auch die Leute sagen! Schlimm genug, dass Spenglers Tochter Herrenbesuch bekam, aber ihn auch noch im Haus übernachten lassen, diesen Wilden, diesen Berg-Hippie, der nichts ist und nichts hat, wo sie doch nur mit dem kleinen Finger winken müsste, um Willi, den wohlhabendsten und respektabelsten jungen Mann von Schmerikon, zu heiraten. In einer Villa in einem Park könnte sie leben, wahrscheinlich mit einem Dienstmädchen. Und wer weiss, wie weit es der junge Mann noch bringen wird. Immerhin hatte er schon jetzt gute Aussichten auf einen Sitz im Gemeinderat. Und wenn ihr dieser nicht passen würde, gäbe es genügend andere katholische junge Männer mit anständigen Berufen in Schmerikon, die sich um das schöne «Fräulein Spengler» reissen würden. Der Vater regte sich furchtbar auf, und es kam – wie so oft in früheren Jahren – wieder einmal zu einer lauten Auseinandersetzung zwischen ihm und seiner mittleren Tochter.

Irma bricht der kalte Schweiss aus, wenn sie an die Wünsche ihres Vaters für ihre Zukunft denkt. Sie hat nicht die geringste Absicht, irgendwen zu heiraten, und zuallerletzt möchte sie diesen Willi heiraten, von dem ihr Vater so begeistert ist. Weder jetzt noch irgendwann. Ihr schaudert allein bei der Vorstellung, mit einer adretten kleinen Schürze Willis Frühstück zuzubereiten und ihm dann hinterher zuzuwinken, wenn er in seinen Mercedes steigt, um eine Sitzung in seiner Firma zu präsidieren. Pünktlich um 12.15 Uhr würden sie sich zu Tische setzen, um die Mittagsnachrichten am Radio zu hören; und am Nachmittag wäre dann für sie ein Besuch beim Coiffeur angesagt oder ein Kaffeeklatsch mit Freundinnen. Natürlich müsste sie am Abend rechtzeitig zurück sein, um die adrette kleine Schürze wieder umzubinden und das Abendessen aufzutragen. Am Wochenende wäre der Besuch bei den Schwiegereltern Pflicht, und im Sommer würde man für drei Wochen an die Adria fahren, immer in dasselbe Hotel. Jeden Tag, jedes Jahr, ein ganzes Leben lang, immer dasselbe! Und stets beobachtet und überwacht von der Hautevolee de Schmerikon. Eine absolut grauenvolle Vorstellung. Niemals! Irmas Groll auf den Vater wächst, türmt sich auf wie Gewitterwolken, während der Zug den stillen, dunklen Walensee entlangfährt und irgendwann Sargans erreicht. Jetzt beginnt sie allmählich, sich auch über sich selbst zu ärgern. Warum nur hat sie sich darauf eingelassen, ihren Bruder mitzunehmen? Immerhin ist nicht anzunehmen, dass er die Rolle als Tugendwächter gern spielt.

Inzwischen nähern sie sich bereits Chur. Sie blickt ihren Bruder verstohlen an. Er schaut ruhig aus dem Fenster, mit einem sehr zufriedenen Ausdruck auf dem Gesicht. Er scheint sich doch auf diesen Ausflug zu freuen. Er mag die Berge, geht oft wandern, war im Gegensatz zu ihr selbst sogar schon einmal im Engadin. Er hat die Wanderkarte sorgfältig studiert und ihr den Weg zur Coaz-Hütte beschrieben. Drei Stunden Gehzeit und 900 Höhenmeter von St. Moritz bis zur Passhöhe Fuorcla Surlej, und dann noch einmal eineinhalb Stunden bis zur Hütte. Na ja, vielleicht ist es gar nicht so schlecht, ihn dabeizuhaben. Wer weiss, vielleicht findet sie in ihm sogar einen Verbündeten gegen die abstrusen Pläne des Vaters.

Nachdem Bruder und Schwester in Chur in die Rhätische Bahn umgestiegen sind, ist Franz’ Aufmerksamkeit ganz auf die spektakuläre Bahnstrecke nach St. Moritz gerichtet. Er blickt unentwegt aus dem Fenster, steht sogar ab und zu auf und setzt sich kurz ins Zugabteil auf der anderen Seite, wenn diese den interessanteren Ausblick verspricht. Kehre um Kehre, Tunnel um Tunnel, Brücke um Brücke schlängelt sich der Zug gemächlich in die Höhe, bis er schliesslich, nach einem kurzen Halt in Preda, in den Albulatunnel einfährt. Nach dem Lärm und der Düsternis des Tunnels entfaltet sich das liebliche, sanft abfallende Val Bever mit dem lockeren Lärchen- und Arvenbestand und dem klaren, sprudelnden Beverin fast wie der Park eines exklusiven Wohnsitzes der von Planta oder von Salis. Dann der elegante, fein gegliederte Kirchturm von Bever, Samedan mit den schönen Patrizierhäusern im Zentrum und schliesslich St. Moritz, damals, 1961, noch nicht ganz so mondän wie heute.

Während der ganzen Fahrt nimmt Irma die Naturschönheiten nur mit einem halben Auge wahr und reagiert lauwarm auf die Ausrufe ihres Bruders «Hast du das gesehen?!», «Schau dir das an!» Im Abteil gegenüber sitzen zwei junge Männer mit Bergschuhen an den Füssen und grossen Rucksäcken, an denen Pickel, Seil und Klettereisen befestigt sind. Sie sind in ein Gespräch vertieft über Wetterbedingungen, Details ihrer Route und erwähnen den Piz Morteratsch, den Piz Tschierva – Gipfel, deren Namen Irma noch nie gehört hat. Neugierig betrachtet sie die beiden: zwei gross gewachsene, gut aussehende Männer in Bergkleidung, mit kurz geschnittenen Haaren, die Gesichter leicht gebräunt. Aber irgendwie wirken sie trotzdem blass; etwas langweilig, befindet sie. Unwillkürlich taucht in ihr Hittas Bild auf, seine dunklen Augen und Haare, das tief gebräunte Gesicht, in dem die Zähne so weiss hervorblitzen, wenn er lacht. Die Ruhe, die er ausstrahlt, und wie fest und sicher er auf dem Boden steht, obwohl er längst nicht so gross und breit gebaut ist wie die beiden Männer im Abteil gegenüber. Wie wird es sein, ihn in dieser neuen Umgebung zu sehen, in der Hütte, die ihm offenbar viel bedeutet? Wie das wohl sein mag, da oben zu leben? Freut er sich auf ihren Besuch? Irma spürt eine eigenartige Unruhe bei diesen Gedanken, die sie auch später, während des Aufstiegs von St. Moritz zum Hahnensee und zur Fuorcla Surlej, nicht loslassen.

Die Steinwüste, die sie mühsam kurz vor Erreichen der Fuorcla Surlej durchqueren, lässt noch nichts vermuten von der Schönheit und Erhabenheit der gewaltigen Arena aus Fels und Eis, die sich ihnen eröffnet, als sie oben ankommen. Der Piz Bernina und die ganze Berninakette mit dem Roseggletscher scheinen zum Greifen nah, und vom kleinen See, wo sie Rast machen, bietet sich ein herrlicher Blick auf die Sellagruppe. Irma hat noch nie einen Gletscher gesehen, noch nie solche Massen aus Fels und Eis. Sie ist sprachlos. Hitta hat ihr zwar immer wieder einmal eine Postkarte geschickt mit Fotos der Berge, die er gerade erklettert hatte, aber kein Bild könnte eine Ahnung vermitteln von der Wucht des Eindrucks, den diese Landschaft macht.

Der Weg, den sie nun noch bis zur Hütte zurücklegen müssen, ist im Vergleich zum Aufstieg, den sie hinter sich haben, gemütlich. Nach einem kurzen Abstieg schlängelt er sich dem Bergabhang entlang, gesäumt von satt-farbigen Alpenblumen, die Irma grösstenteils noch nie gesehen hat. Enzian, Alpenrose und Edelweiss kennt sie natürlich von kitschigen Heimatbildern und aus süsslich-populären Liedern, aber von Frauenmantel, Türkenbund, Himmelsherold, Knabenkraut, Frauenschuh und Schwefelanemone hat sie noch nie etwas gehört, geschweige denn sie in natura gesehen. Das unscheinbare Männertreu, dessen verführerischen Vanilleduft sie beim Vorübergehen nicht wahrnehmen kann, fällt ihr nur deshalb auf, weil gerade ein hübscher, gelber Falter darauf sitzt.

Ungefähr eine Stunde später sehen sie die graue Steinhütte mit dem flachen Satteldach, die sich dicht an eine hohe Felswand schmiegt, und sie bleiben einen Augenblick stehen, um sie zu betrachten. Die Fenster sind klein, damit der Wärmeverlust im Winter möglichst gering ist, und sie sind zum Schutz gegen Wind und Wetter tief in die dicken Mauern eingelassen. Vor der Hütte befindet sich eine Terrasse, von einer Steinmauer umgeben, und einige Steinstufen führen zur Hüttentüre empor. Es ist kein Mensch zu sehen. Irma und Franz sind beide überwältigt von der Schönheit, die sie hier umgibt: schneebedeckte Gipfel, blühende Bergwiesen, Ruhe und tiefer Frieden. Das hier ist eine ganz neue Welt, eine Welt für sich, in jeder Hinsicht weit entfernt von der, aus der sie kommen und die sie kennen. Es ist Franz, der zuerst Worte findet: «Mein Gott, ist das schön hier!» Ja, es ist wunderschön hier, einmalig schön. Irma bringt kein Wort hervor. Da kann man atmen, sich bewegen, sich selbst sein; das ist Freiheit. Die Enge von Schmerikon, das lärmige Zürich sind weit weg. Gleichzeitig sind da auch leise Zweifel: Könnte sie, so wie Hitta, während Monaten hier leben? So völlig abgeschieden von allem, was ihr vertraut ist? Umgeben von Fels und Eis?

Bruder und Schwester stehen noch immer da und staunen, als sich die Hüttentüre öffnet und Hitta ihnen entgegentritt.

Zwei Tage später verabschieden sich Franz und Irma von Hitta und seiner Mutter, der Nane, die einige Tage bei ihrem Sohn verbringt und ihn bei der Bewirtschaftung der Hütte unterstützt, und wandern zurück zur Fuorcla Surlej. Wieder bleiben sie an derselben Stelle des Pfads stehen, wie zwei Tage zuvor, und blicken zur Hütte zurück. Wiederum ist es ein herrlicher Sommertag, und ein tiefblauer Himmel wölbt sich über ihnen. Franz schaut Irma von der Seite her lange an. Dann sagt er: «Es ist wirklich so schön hier, dass man sich fast vorstellen könnte, den ganzen Sommer über zu bleiben.» Und sie glaubt, einen fragenden Unterton zu hören. «Ja, es ist schön», sagt sie so leichthin wie möglich – und als sie weitergehen, beginnt sie, über Banalitäten zu plaudern: über den Weg zurück nach St. Moritz, über den Fahrplan, die Umsteigezeiten und ihren nächsten Arbeitstag im St. Annahof in Zürich. Niemand braucht von den Gefühlen zu wissen, die sie gerade völlig durcheinanderbringen. Natürlich ist sie verliebt in Hitta, ja, klar, und er auch in sie, aber das ist ja nicht ganz neu. Und dennoch fühlt sie sich so verwirrt, so an- und aufgeregt, wie wenn sie dieses Gefühl des Verliebtseins erstmals neu entdeckt hätte. Ja, natürlich, das muss es sein: Sie hat sich tatsächlich neu verliebt; in alles hier, in die Hütte, samt Hund und Maultier, in das einfache, ursprüngliche Leben und in diese Hochgebirgswelt.

Hast du nun völlig den Verstand verloren?, hört sie ihre Eltern sagen, und sie sieht auch die vielsagenden Blicke, die sich ihre Freundinnen und die alten Schulkameraden zuwerfen würden. Ganz Schmerikon würde den Kopf schütteln ob ihrer Verrücktheit, und ihr Vater würde ohne Zweifel ausrasten. Aber was kümmert sie das? Niemand wird erfahren, was in ihr vorgeht, sie wird erst einmal bis zum Ende des Sommers im St. Annahof weiterarbeiten und dann im Herbst für eine weitere Wintersaison nach Arosa gehen. Und dann wird man weiterschauen.


Die Loreley vom Zürichsee: Irma in Schmerikon, 1961. Kurz vor ihrem Besuch auf der Coaz-Hütte, als sie die herrlichen Berge mit der Sellagruppe zum ersten Mal sieht. Irma und Hitta verbringen 1963 ihren ersten gemeinsamen Sommer auf der Hütte, unternehmen Touren und leben ihren Alltag zusammen in der rauen und anmutigen Hochgebirgswelt.








2610 m ü.M. Irma Clavadetscher

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