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Jugend «Day-o, Day-ay-ay-o … Daylight come and me wanna go home.» (Harry Belafonte)

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Die Schülerin

Im Anschluss an die Primarschule besteht Irma die Aufnahmeprüfung in die Sekundarschule. Es kränkt sie, dass der Vater sie dennoch nach Wurmsbach schicken will. Sie weiss, dass die Klosterschwestern dem Vater immer wieder grössere Aufträge zuhalten, und fragt sich, ob die Müller-Töchter eine Art diplomatisches Gegengeschenk an die Klostergemeinschaft sind. Aber Hedi wurde ja auch nach Wurmsbach geschickt, und sie war dort schliesslich nicht unglücklich. Als Irma dann an einem schönen Frühlingsmorgen zum ersten Mal das Seeufer entlang nach Wurmsbach radelt und auf der einen Seite des Wegs das Schilf mannshoch steht, während auf der anderen dunkelblaue und gelbe Iris blühen, ist sie schon halb ausgesöhnt, und gänzlich zufrieden ist sie am Ende des ersten Schultags, nachdem sie ihre Lehrerinnen kennengelernt hat.

Die Klosterfrauen sind uralt; zumindest in Irmas Augen. Und sie sind, ebenfalls das in Irmas Augen, durchwegs eigenartig, ja schrullig. Aber sie sind auch freundlich und geduldig. Und es gibt eine Lehrerin, die ohnehin alles andere aufwiegt: die schöne, junge Klosterfrau, die Irma sofort zu ihrer Lieblingslehrerin erkürt. Ihr zuliebe will sie eine glänzende Schülerin sein, und die Schule – ganz egal, welches Fach – beginnt plötzlich, richtig Spass zu machen. Dennoch wird sie nie verstehen können, warum eine so attraktive und lebensfrohe junge Frau den Weg ins Kloster gewählt hat und sich freiwilllig einsperren lässt. Diese Frage beschäftigt sie. Im zweiten Sekundarschuljahr glaubt Irma, in den Augen ihrer Lieblingslehrerin Traurigkeit zu entdecken; zweifellos ist sie unglücklich. Machte sie nicht kürzlich auf dem Flur, als Irma mit ihr für einen Moment allein war, eine diesbezügliche Bemerkung? Irma würde sie gerne danach fragen, wagt es aber nicht. Heimlich beobachtet sie die geliebte Lehrerin. Einige Monate später ist die junge Klosterfrau eines Morgens verschwunden. Den Schülerinnen wird mitgeteilt, sie habe das Kloster verlassen. Irma freut sich unbändig, sie zweifelt keinen Augenblick, dass vor den Klostermauern ein gut aussehender, junger Mann gewartet und sie abgeholt hat. Sie stellt sich vor, wie die junge Frau endlich das strenge Kleid ablegt und man ihr schönes Haar sehen kann. Gewiss ist es dunkel und fällt bis auf die Schultern. Die beiden sind wohl schon über alle Berge, in Italien vielleicht, an einer tiefblauen Bucht, wo Kamelien und Oleander blühen …

Im Anschluss an die Sekundarschule hat der Vater Irma für einen Jahreskurs an der traditionsreichen Haushaltungsschule im Broderhaus in Sargans angemeldet. Das behäbige Bürgerhaus mitten im Städtchen Sargans gefällt Irma, auch mit den Lerninhalten Haushalt, Küche und Babypflege ist sie ganz zufrieden, aber nach diesem Jahr möchte sie ihren Traumberuf Coiffeuse lernen, was der Vater jedoch strikte verbietet, da ihm das zu oberflächlich und unseriös erscheint. Erstaunlicherweise kämpft Irma nicht für diesen Traum, wohl weil der Vater für einen anderen Vorschlag, der ihr ebenfalls entspricht, sehr zugänglich ist. Irma hat schon immer gerne gestrickt und genäht, und mit einer Damenschneiderinnenlehre ist er einverstanden.

Die Lehrstelle und heikle Fragen

Schnell findet Irma eine Lehrstelle in Rapperswil und beginnt mit viel Elan und Freude ihre Ausbildung. Das exakte Arbeiten bereitet ihr keine Mühe, und der Umgang mit den verschiedenen Materialien, Farben und Schnitten fasziniert sie und befriedigt ihren Sinn für Schönheit und Eleganz. Schon bald schneidert sie alle ihre Kleider selbst und verdient sich ein zusätzliches Taschengeld, indem sie auch für andere näht. Sie liebt die derzeitige Mode: die weiten Röcke und eng anliegenden Oberteile, die breiten Gürtel um die schmale Taille. Ganz besonders gefällt ihr das wichtigste Zubehör, der Petticoat, ein weiter Unterrock aus gestärkter Baumwolle oder Tüll, verziert mit Rüschen, Schleifchen und Spitzen, der dem weiten Oberrock Halt und Volumen verleihen soll, sodass dieser möglichst weit von der Taille absteht. Die Mädchen und jungen Frauen sehen alle aus wie Balletttänzerinnen mit knielangen Tutus in bunten Farben. Wenn Irma in einem solchen Kleid ausgehen will und das Pech hat, dem Vater zu begegnen, gibt es keine Gnade; sie muss sich umziehen. Der Petticoat hebt den weiten Rock so weit an, dass man das Knie sieht. «So kannst du nicht rumlaufen. Was sollen die Leute denken!» Und auch ihr erster, mutiger Versuch mit einem leuchtend roten Lippenstift und passendem Nagellack stösst auf keinerlei Verständnis: In hohem Bogen wirft der Vater Lippenstift und Nagellack aus dem Fenster.

Darüber, was sich gehört und was nicht, sind die Meinungen in Schmerikon jedoch geteilt. Die jungen Männer sind allesamt angetan von der jungen Irma Müller, der allseits bekannten, hübschen und schick gekleideten Tochter aus gutem Haus. Wenn Irma bei einer offiziellen Veranstaltung dank der Position ihres Vaters als Ehrendame auftreten darf, stehen die Verehrer Schlange. Aus verschiedenen Rekrutenschulen treffen buchstäblich Berge von Feldpostkarten ein: «Tausend Grüsse und Küsse von D. R.» oder «Die ganze Nacht träumte ich von dir, ich konnte fast nicht schlafen». Walter fragt an: «Liebes Irmeli, Hättest Du Lust, an einem Wochenende im August mit mir auf den Pizol zu kommen?», und ein etwas kindlicher, anonymer Verehrer, der sich Tom Dooley nennt, schreibt: «Ich liebe Dich wie Apfelmus, so fest wie Marmelade. Ich liebe dich am linken Fuss, und an der rechten Wade.» Oder etwas deftiger: «Wir lieben Dich so heiss, wie der Bock die Geiss!» Die Karten sind an «Fräulein Irma Müller, Spenglers Töchterli, Schmerikon» oder an «Fräulein Irmeli Müller, Damenschneiderin, Schmerikon» adressiert.

So sehr sich die jungen Männer mit Komplimenten und Einladungen förmlich überschlagen, Irmas Freizeit spielt sich in einem beschränkten und harmlosen Bereich ab. Es gibt nicht allzu viele Möglichkeiten für Mädchen aus gutem Hause, auszugehen, und wenn, dann geht man mit seiner besten Freundin. In Schmerikon und Umgebung haben Elvis Presley und der Rock ’n’ Roll Einzug gehalten, und Irma träumt zu Harry Belafontes «Banana Boat Song», der allerersten Langspielplatte, die sie sich kauft, von der Karibik und den heissen Rhythmen, zu denen dort getanzt wird. In modisch weitem Kleid und Petticoat geht sie mit ihrer besten Freundin an Sommersamstagen aber dennoch zu Fuss an die volkstümlichen Tanzanlässe in den umliegenden Dörfern und im Herbst an eine der vielen Älplerchilbis. Ab und zu nehmen sie den Zug nach Rapperswil, um sich dort einen Kinofilm anzuschauen. Aber egal, wo sie den Samstagabend verbringen, Irmas Vater holt die beiden im schwarzen Mercedes ab oder wartet am Bahnhof Schmerikon, wenn sie mit dem letzten Zug aus Rapperswil eintreffen. Es sei spätnachts zu gefährlich für zwei junge Frauen, meint er. Das passt Irma gar nicht, sie fühlt sich überwacht und eingeschränkt. Sie provoziert den Vater: «Wir sind doch auch allein hingegangen, warum soll es auf dem Heimweg plötzlich gefährlich sein? Was soll uns denn passieren? Hast du Angst, ich könnte ein Kind bekommen? Dazu müsste ich zuerst einmal wissen, wie das überhaupt geht! Passiert das schon bei einem Kuss? Das müsstest du mir einmal erklären!»

Sie weiss, dass sie darauf keine Antwort erhalten wird, dass der Vater, peinlich berührt, ausweichen und schweigen wird. Mehrmals hat sie schon erfahren, dass sich auch die Mutter nicht an dieses heikle Thema wagt. Wie in allen Belangen war die Antwort der Mutter: «Frag den Vater.» Es ist eine Mischung aus Wut und Verzweiflung, die Irma so heftig reagieren lässt. Natürlich ist es nicht so, dass sie gar keine Ahnung hat, sie hat schon vielerorts tuscheln hören, hat sich auch schon heimlich die vom Vater streng verbotene Jugendzeitschrift Bravo gekauft, in der Hoffnung, endlich etwas Genaueres über das Geheimnis zu erfahren, das die Erwachsenen vor den Jugendlichen so streng hüten. Und da sind ja auch noch die immer mächtigeren Zweifel, dass die Geschichte von der unbefleckten Empfängnis, die in der Christenlehre erzählt wird, nicht stimmen kann. So viel ist ihr klar, ohne Sex gibt es keine Kinder, aber sie weiss nicht, wie Sex funktioniert. Und sie ist wütend auf die Eltern, die gar keine Erklärungen abgeben, und wütend auf den Pfarrer, der etwas erzählt, das so offensichtlich falsch ist.

Sie möchte endlich mehr wissen, sie kann ihre eigenen Gefühle und Empfindungen nicht einordnen, sie verwirren sie, zumal ihre Eltern offenbar solche Gefühle gar nicht kennen. Niemals hat sie ihre Eltern Berührungen oder gar Zärtlichkeiten oder Küsse austauschen sehen, und sie haben immer sorgsam darauf geachtet, dass die Kinder sie nie unvollständig bekleidet oder gar nackt sehen. Und Hedi oder Franz, die ihr vielleicht etwas dazu hätten sagen können, wohnen nicht mehr zu Hause. Hedi ist im Welschland und Franz im Internat. Irma möchte jetzt wirklich endlich ganz genau wissen, was geschieht, wenn ein Kind entsteht. Schon einmal hat sie vor einiger Zeit den Vater herausgefordert, als er ein Bravo bei ihr entdeckte und es sofort verbrannte. «Dann sag du es mir doch, wenn ich das nicht lesen darf! Dann kläre doch du mich auf!» Aber der Vater hat auch damals geschwiegen.

Nach erfolgreich abgeschlossener Lehre arbeitet Irma noch einige Monate als Damenschneiderin in Rapperswil, aber sie will so bald als möglich weg von zu Hause, in die Welt hinaus. Sie findet eine Stelle als Au-pair in Paris. Während eines Abendessens informiert sie die Eltern über ihre Pläne. Der Vater ist zunächst sprachlos, dann explodiert er förmlich. «Das kommt überhaupt nicht infrage! Du bleibst hier in Schmerikon!» – «Tue ich nicht! Ich gehe nach Paris! Ich bin 19, und du kannst mir das nicht mehr verbieten!», kontert Irma. Wie immer sitzt der Vater oben am Tisch und Irma unten, ihm gegenüber. Schon bei mancher Meinungsverschiedenheit haben sie einander über den Tisch hinweg angeschrien, und ab und zu flog auch mal ein Löffel über den Tisch, wenn Irma den Vater zu sehr reizte. Diesmal fliegt kein Löffel, aber der Vater bleibt unnachgiebig: «Du bleibst hier! Ich befehle es dir!» – Vielleicht ist es ein Rest Gehorsamkeit oder doch die Angst vor der grossen Stadt, der fremden Sprache. Nach einer schlaflosen Nacht gibt Irma jedenfalls teilweise nach und beschliesst, in der Schweiz eine Stelle zu suchen. Aber weg von Schmerikon will sie auf alle Fälle.

Endlich flügge

Schon bald findet sie eine Saisonstelle bei einer Damenschneiderin in Arosa. Aber auch damit ist der Vater nicht einverstanden. Er will seine Tochter in Schmerikon behalten, zumal er weiss, dass es hier einen gut situierten jungen Mann gibt, der in Irma verliebt ist und sie heiraten möchte. Er versucht nun, Irma mit einer Bestechung umzustimmen. Wenn sie hierbleibt und die Stelle in Rapperswil nicht aufgibt, wird er ihr ein eigenes Auto kaufen und auch die Fahrstunden bezahlen. Sie darf bei der Wahl der Marke und der Farbe mitreden! Irma lacht laut. «Ich brauche kein Auto, das bedeutet mir nichts.» Und dann fügt sie etwas versöhnlicher hinzu: «Sieh mal, Vater. Ich bin 19 Jahre alt. Ich bin jetzt erwachsen. Du kannst mich nicht ewig behüten und beschützen.»

Und so bezieht Irma Müller, Spenglerstochter, im Herbst 1959 im Hause Fortuna in Arosa ein Zimmer und beginnt, im Couture-Atelier Urech zu arbeiten.

Was sie nicht weiss, ist, dass nur wenige Monate zuvor ein junger Aroser namens Hans Clavadetscher das Amt des Hüttenwarts in der Chamanna Coaz im Oberengadin übernommen hat. Im Winter spielt Hans im Team des Eishockeyclubs Arosa, der gerade eine beispiellose Erfolgsphase mit sieben Schweizermeistertiteln hinter sich hat. Da ist die Wartung der kleinen, primitiven Hütte zuhinterst im Engadiner Val Roseg ein idealer Sommerjob. 1959 erstürmen erst wenige Touristen und Wanderer die Gipfel, und die Bergsteiger, die zur Hütte aufsteigen – fast ausnahmslos Mitglieder des Schweizer Alpen-Clubs –, bringen ihr eigenes Essen mit und erwarten keinen Komfort. Hans’ Aufgabe ist es, die Hütte sauber und ordentlich zu halten und dafür zu sorgen, dass der Holzvorrat nicht ausgeht und die Quelle bei der Hütte sauber bleibt. Davon hat Irma natürlich noch keine Ahnung, denn zu diesem Zeitpunkt hat all das noch nichts mit ihrem eigenen Leben zu tun.

2610 m ü.M. Irma Clavadetscher

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