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STIENE

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Schon aus der Ferne erkannte sie ihn. Es war Josef, der ihr am Strand entgegen kam. Manchmal sanken seine Füße zu tief in den nassen Sand, was seine rudernden Bewegungen etwas unbeholfen aussehen ließ. Stiene lachte als Josef sich bückte, um etwas aufzuheben. Sie breitete ihre Arme aus, wippte federleicht über den Strandsand. Ein Gefühl von Glückseligkeit strömte durch ihren jungen Körper. Sie wollte eben seinen Namen rufen, als ein lauter Schlag sie aus ihrem Traum riss.

Ein von See kommender Sturm war hinter die blau gestrichenen Holzläden der kleinen Schlafstube ihrer Kate gekrochen. Er ließ eine vom Haken gelöste Lade rhythmisch hin und her tänzeln. Manchmal schlug diese mit Gepolter bis zum Fensterrahmen und dann zurück an die Hauswand. Die alte Frau drehte sich mit einem seufzenden Fluch in ihrem Bett herum. „Deibel noch mal, der Lärm zerschlägt meine Träume und den Morgen.“ Lautstark fluchen konnte sie, das lag in ihrer Familie, sie war damit aufgewachsen. Auf dem Papier hieß die alte Frau Kristine Mattis, aber solange sie denken konnte, wurde sie Stiene genannt. Verblasste Erinnerungen suggerierten, dass sie früher, in guten Momenten, Tienchen gerufen worden war. Aber das war über achtzig Jahre her. Dieses Erinnern war manchmal so weit weg, wie der endlose Blick auf das Meer, das gleich hinter dem Deich begann. Zuweilen benahm es sich wie die lose Lade, schlug donnernd zu, um anschließend ruhig auf der Lauer zu liegen. Stiene überlegte, ob es vielleicht der Tod sein könnte, der gierig um ihr Haus schlich. „Schließlich bin ich nah am Verfallsdatum. Bloß, dass es nirgendwo draufsteht,“ bemerkte sie lachend. Es gab nichts mehr, dass sie noch festhalten wollte. Gelassen sah sie dem Unabwendbaren entgegen. Die alte Kate war mit den Jahren, genau wie Stiene Mattis, in sich zusammengesackt. Und Stiene fragte sich, was sie wohl noch in ihrem alten Haus erledigen müsse? Es ging ja nur noch um alltäglichen Kram, und wenn das Wetter mitspielte, um den morgendlichen Gang zum Meer. Dort ließ sie ihre Kleider fallen, und tauchte kurz in die Wellen, so wie früher.

Achtzig Jahre und mehr war es her, der Beginn ihres irdischen Daseins. Neuerdings wurde sie wunderlich und sprach beim Auftauchen aus dem Wasser: „Ich taufe dich auf den Namen Tienchen.“ Dann lächelte sie, bis ihr einfiel: „Mein einziges Kind und dessen Vater, mein Bruder und meine Eltern, sie alle haben mich verlassen und manchmal geht mein Geist eigene Wege. Na gut, den Sohn Malte gibt es noch. An dessen Wegbleiben trage ich auch einen Teil. „Verdammt Malte, du könntest dich auch mal wieder blicken lassen, bevor ich ganz tüttelig werde,“ fluchte sie. Aber, vielleicht, war der windige Poltergeist heute Morgen auch mein Bruder. Sein Schicksal endete jung auf See. Ob nun seine Seele nach der letzten Mattis in diesem Katen Ausschau hält? „Ach Malte, stöhnte sie, bist schon siebzig Jahre tot. Wenn du nicht über Bord gegangen wärst, hättest du das Haus geerbt. Und wer weiß, wen ich geheiratet hätte, um ein eigenes Dach über dem Kopf zu haben?“ Ein bisschen kicherte sie bei diesem Gedanken.

Sie hatte auch nicht mit diesem Dach über dem Kopf geheiratet. Und den unehelichen Sohn ohne Mann großgezogen. Stienes Erinnerungen, an das blonde Mädchen, das furchtlos mit seinem Vater zum Fischen rausfuhr, an die schöne hochgewachsene junge Frau, die ihr blondes Haar in einem dicken Zopf bändigte und nicht nur damit Begehren bei einigen Männern weckte, begannen brüchig zu werden. Mal konnte sie sich gar nicht mehr vorstellen, jung gewesen zu sein. Vater und Mutter gehabt zu haben, dann holten Träume längst Vergangenes in ihr Bewusstsein. Sie gruselte sich ein wenig, wenn Bruder Malte nachts auf ihrer Bettkante saß, schweigend und mit traurigem Gesichtsausdruck. Als ob es ihre Schuld gewesen wäre, dass er so jung sterben musste. „Nein, schrie sie, Malte das hat niemand gewollt, auch Vadding nicht.“ Dann verschwand Malte und Stiene fluchte, dass ihr Leben und ihre Träume, sich auf die wenigen Personen ihrer Ursprungs-Familie beschränkte. Sie hatte nichts dagegen, dass Malte sie nachts heimsuchte. Nur lächeln könnte er schon mal. Wenn Stiene darüber nachdachte, erinnerte sie, Malte war eher ein melancholischer Junge gewesen. Er grübelte viel und schwieg die meiste Zeit. Warum sollte er nun grienen, wenn er auf seine alt gewordene Schwester und ihr zusammen geschrumpfte Leben schaute? Vielleicht hoffte sie, dass ein Lächeln ihren Alltag verschönen könnte.

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