Читать книгу GESCHICHTE EINER LIEBE - Iris Bleeck - Страница 5
Ulrike
ОглавлениеSorgsam verschloss Stiene die Haustür ihrer schilfbedeckten Kate. Den alten eisernen Schlüssel verstaute sie in einem Stoffbeutel, den sie an ihrem Gürtel befestigt hatte. Sie trug einen knöchellangen braunen Rock ihrer Mutter, den diese mit kunstvollem Stickwerk verziert hatte. Stiene hatte dieses Talent nicht. Klatschmohn, Kornblumen und Margeriten blühten über dem Saum, ohne zu welken. Sie schüttelte den Rock, um die Blüten besser zur Geltung zu bringen. Über ihre Schultern warf sie ein gestricktes Wolltuch.
Seit Wochen ging Stiene jeden Tag den Weg zu den Dünen, um ans Meer zu kommen. Sie wusste nicht genau, weshalb sie das tat. Vielleicht, weil Josef sie zum ersten Mal hier küsste, als sie nackt aus dem Wasser stieg. Mit einem alten Handtuch kam er ihr in der Dunkelheit entgegen und schloss sie in seine Arme. Trotzdem waren beide darauf bedacht, dass niemand etwas bemerkt. Josef rubbelte unbeholfen über ihren nassen Rücken und küsste sie immer wieder sanft auf den Mund, bis auch seine Lippen nach Salz schmeckten. Wie Josef nun wohl aussehen mag? überlegte sie. Malte war seinem Vater zum Verwechseln ähnlich. Diese Ähnlichkeit hielt seit über sechzig Jahre ihre Erinnerung an ihn wach. Sie fröstelte. Fast neunzig Jahre war Stiene nun auf dieser Welt und seit Kurzem saß auf ihrem zierlichen Brustkorb ein Elefant. Der ihr oft genug die Luft zum
Atmen nahm und sich tief in ihr Inneres bohrte. Nachts wagte sie nicht mehr, auf der linken Seite ihres Körpers zu schlafen, zu bedrohlich klang das laute Pochen ihres Herzens. Viele ihrer Vorfahren waren so alt wie sie geworden. Stiene hatte beschlossen, sich keinem großen Eingriff zu unterziehen. Niemandem zu gestatten, ihren Brustkorb auf zu sägen, um nach ihrem Herzen zu greifen. Auf dem Weg zum Meer federten ihre Schritte über den weichen Boden, der durch unzählige Kiefernnadeln und einen Moosteppich lautloses Gehen ermöglichte. Links und rechts des Weges wuchsen Blaubeerbüsche. Am Wurzelwerk der Krüppelkiefern, die sich dem Wind abgewandt hatten, bildete Pilzgeflecht schmückendes Beiwerk. Auf diesem Stück des Weges benutzte sie kaum ihren Stock als Stütze. Hier zog sie ihn hinter sich her. Das war ein Familienerbstück, hart im Holz, aus Hainbuche, der Knauf kunstvoll aus Messing geschmiedet. Wenn man den Knauf abdrehte, kam ein Gefäß aus Glas zum Vorschein. In dieses füllte ihr Großvater Hochprozentigen, wenn er sich mit dem kleinen Holzkarren voller Fische auf den Weg in die umliegenden Dörfer machte. Es könnte schlechtes Wetter kommen, war seine Erklärung. Wenn es ein guter Tag war, kehrte er auf dem Heimweg in die Dorfschänke ein. Dann blieb der Schnaps im Gehstock unberührt. Wenn er nicht viel verkauft hatte, reichte der Schnaps, um den Ärger darüber runterzuspülen. Als Stiene die Dünen erreichte, sank der Stock in den feinkörnigen Sand, dadurch wurde ihr Gehen noch schleppender. Sie seufzte bei jedem Schritt. „Meine Leichtigkeit ist dahin“, stellte sie verärgert fest und schien den Schuldigen dafür zu
suchen. Drohend erhob sie ihren Stock. „Es ist nicht richtig, dass die letzten Tage meines irdischen Daseins so mühsam sind.“ Manchmal stocherte sie so lange im Sand, bis ein Feuerstein sich von seiner besten Seite zeigte. Heute fiel ihr ein kleiner Stein ins Auge, der wie ein Herz geformt war. Seufzend bückte sie sich, hob das versteinerte Kunstwerk auf und umschloss es mit ihrer rechten Hand. „Ist es so weit?“ fragte sie das Meer. Sie steckte ihren stummen Fund in den Stoffbeutel und setzte ihren Weg fort. Am Wasser angekommen bohrte Stiene ihren Stock in den feuchten Sand und hockte sich seufzend auf einen großen Findling, der hier schon seit ewigen Zeiten lag. Er hatte eine kleine Stufe, auf die sich Stiene bereits als Kind gern niederließ. Das Wetter war angenehm. Nur eine leichte Brise erinnerte an den Sturm von heute Morgen. Stiene fixierte das silberglänzende Meer, das heute der Farbe ihres ergrauten Haares ähnlich war. Obwohl hartnäckig einige helle Strähnen an ihr ursprüngliches Blond erinnerten. Am Ufer des Strandes ließ eine junge Frau ihre Kleider fallen. Nackt lief sie zum Wasser, zog mit beiden Händen spielerisch Kreise um ihren Körper, dabei tauchte sie immer wieder in das Nass. Stiene sah, dass ihr Körper braungebrannt war, ihre Brüste jugendlich frisch. Obwohl sie einige Meter entfernt war, glaubte Stiene die Augen des Mädchens seien grün, wie das Meer an manchen Tagen. Das braune Haar klebte in nassen Strähnen an ihrem Hals. Sie lachte und kreischte, als sie sich in die Wellen stürzte. Diese Frau hat noch alles vor sich, dachte Stiene, was ich schon lange hinter mir habe. „Hier bin ich“, hörte Stiene die Fremde vertraut rufen, als sie aus dem Wasser zurück ans Ufer kam. Noch während sie lief, griff sie ihre Kleidung und streifte diese über ihren nassen Körper. „Wie ich früher,“ dachte Stiene lächelnd. „Komm zu mir, bat sie, Du erinnerst mich an mich.“ Die junge Frau setzte sich prustend in den Sand. „Ich bin Ulrike.“ „So lange ich denken kann, heiße ich Stiene Mattis. Was machst Du hier?“ fragte die alte Frau. „Ich bin Fotografin und habe mich, in dieses abseits gelegene Dorf und den Strand verliebt. Und nun arbeite ich an einer Fotoserie über diese Landschaft.“ Stiene sinnierte. „Ich leb schon so lange hier und hab nie darüber nachgedacht, ob man sich in Landschaft verlieben kann. Es ist mein Zuhause. Kaum war ich geboren, hat mich mein Vater ans Meer gebracht und gesagt: „Guck mal, wie söt die lütte Dirn ist. Ich wünsche, dass sie so kraftvoll wie du wirst.“ „Dann hat er eine Handvoll Meerwasser genommen und mir das Gesicht abgewaschen. Ich soll stillgehalten haben. Ulrike, ich rate Dir, schau den Alten im Dorf ins Gesicht. Wenn Du geduldig genug bist, wirst Du Spuren und Geheimnisse entdecken. Du solltest dir die alte Kliesow anschauen, die sieht aus, wie der Strand nach einem tüchtigen Sturm, wenn er das Seegras aufgewühlt hat und kaum noch Sand zu sehen ist. Nur das Gestrüpp von Seegras. Nun weißt Du, wie Anna mit ihren fast hundert Jahren aussieht. Aber Hering puhlen, das kann sie immer noch. Den Hering stört das Seegrasgesicht nicht. Und von Stiene Mattis in jungen Jahren, ist auch nicht mehr viel übrig. Nur, dass ich immer noch weiß, wer ich bin. Anna weiß das nicht mehr. Nun erzähl, wohnst Du hier im Dorf?“ „Ja, aber nur, um zu fotografieren, gebürtig bin ich aus der Nähe von Schwerin. Meine schlichte Unterkunft im Dorfkrug ist ausreichend. Ich bleibe nicht mehr lange, bald werde ich nach Südamerika gehen. Weg aus Deutschland, andere Länder
riechen, bunte Röcke tragen, tanzen bis zur Bewusstlosigkeit. Waren Sie schon einmal woanders?“ Stiene blickte erstaunt, fast erschrocken. Das hatte noch nie jemand gefragt. Diese Sehnsüchte waren ihr fremd geblieben. Nicht einmal in der Nacht, als sie Josef zur Flucht verhalf, wäre sie mit nach Dänemark oder nach dem Kriegsende nach Polen gefahren. Es war so, immer wenn sie in Hamburg bei Malte und den Enkelkindern zu Besuch war, fühlte sie sich auf eigenartige Weise fremd und kränkelte, bis sie wieder zu Hause in ihrer Hütte war. Und nun gluckte sie immer noch am selben Ort, war über die Dünen kaum hinaus gekommen und hier saß ein junges Ding, das bis an das Ende der Welt reisen wollte, nur um bunte Röcke zu tragen und bis zur Bewusstlosigkeit zu tanzen? Und sie fragte sich, warum diese junge Frau das alles nicht hier erleben wollte. Stiene wiegte ungläubig ihren Kopf: „Vielleicht habe ich damals meine Wünsche, meine Hoffnungen, meine kleine Rebellion im Meer ertränkt, als mein Josef kurz vor Kriegsende, von diesem Strand aus, über das Meer nach Dänemark fliehen musste. Am nächsten Tag hätten die Nazis ihn erschossen, wegen unerlaubten Kontakts zu einer arischen Frau. Das war ich. Damals ist ein Teil von mir hier am Meer gestorben und vielleicht hat Josef die Reise über das Wasser nicht überlebt. Wer weiß das schon? Es war eine schreckliche Zeit. In den letzten Kriegswochen haben wir statt Bernstein, die angeschwemmten Toten am Ufer eingesammelt, deren einzige Hoffnung zu überleben, ein Schiff gewesen war. Wenn das bombardiert oder torpediert wurde, war alle Hoffnung dahin. Namenlos liegen sie begraben auf dem Dorffriedhof. Wer ist so erbarmungslos und schießt auf überladene Schiffe mit Frauen, Kindern und Verwundeten? Auf dem Wasser spielten sich Tragödien ab. Nur unser gemeinsames Kind ist mir geblieben.“ „Haben Sie nie nach ihrem Josef gesucht?“ Stiene fühlte sich bei dieser Frage von Ulrike ertappt, weil sie nie etwas unternommen hatte. „Wo sollte ich suchen? In diesen Wirren der letzten Kriegstage und der Zeit danach? Josef war Pole und wir durften lange nicht dorthin reisen. Irgendwann, fand ich, war es zu spät. Und mein Sohn war auch nicht begeistert, dass sein Erzeuger, wie er ihn nennt, ein ehemaliger Zwangsarbeiter war. Wenn ihn jemand nach seinem Vater fragte, erfand er eine passende Legende: Der Vater sei Fischer gewesen und auf See geblieben. Das löste Bedauern aus und erlaubte keine Nachfrage. Und ich habe das nicht korrigiert.“ „Stiene Mattis, soll ich mitkommen auf eine Reise nach Polen? Eine Reise, die Sie nie angetreten haben?“ „Riecke, ich kann mich kaum noch von meinem Haus bis hier bewegen, wie soll ich das schaffen?“ „Stiene, wir holen Versäumtes nach. Sie haben nichts mehr zu verlieren, außer Ihrem irdischen Dasein.“ „Das hast du brutal schön gesagt, aber es ist zu spät. Das einzige, was ich noch wissen möchte, ist, ob Josef noch lebt.“ „Dann lassen Sie es uns gemeinsam herausfinden. Ich brauche seine Daten und werde recherchieren. Ich bin überzeugt, wenn Josef noch leben sollte, er würde Dich immer noch lieben, so schön, wie Du bist.“ Ulrike hatte Stiene einfach geduzt und sie protestierte nicht einmal. Das war ungewöhnlich, stattdessen lachte sie herzlich: „Du kannst einen Menschen richtig um den Finger wickeln. Riecke, hilf mir auf die Beine und lass uns zu meiner Hütte gehen. Ich wohne gleich hinter der Düne, dort gebe ich Dir alles, was ich über Josef habe.“ „Sag bloß, diese altersschöne Kate gehört Dir? Könnte ich mich mächtig drin verlieben.“ „Altersschön ist gut, aber das ist inzwischen auch ein Pflegefall, so ähnlich wie ich. Macht ja schon lange keiner mehr was am Haus. Ich glaub, so lang min Vadding tot ist. Der ist, wie mein Großvater, Stammgast im Dorfkrug gewesen.“ Bevor Ulrike Stiene aufhalf, zückte sie ihren Fotoapparat und ehe die alte Frau protestieren konnte, hatte Ulrike Fotos geschossen. Sie kicherte zufrieden und lachte dann laut. „Stiene, was für ein schöner Moment, Du und das Meer. Du schmückst den Strand mit Deiner Anwesenheit.“ „Riecke, Du meinst wohl, ein Fossil mehr. Du schmeißt aber auch mit Komplimenten um Dich. Meinst Du, dass das gut ist? Mit mir kannst Du das machen, ich bilde mir nichts ein, aber wenn Du jemanden so mit Deinem Verzücken kommst, kann das auch mal ins Auge gehen.“ Stiene wunderte sich nicht einmal, dass sie mit Ulrike so vertraut war, wie selten in ihrem Leben mit einem Menschen. „Vielleicht hätte sich das mit einer Tochter so angefühlt?“, dachte sie. „Mit meiner Schwiegertochter komm ich nicht überein, immer ist diese innere Ablehnung mir gegenüber im Raum, die mir zu verstehen gibt, dass ich nie gut genug war und bin.“ Und nun fühlte Stiene in Ulrikes Gegenwart so etwas, wie ein leichtes Glück. Sie begann wie Riecke zu lachen, erst vorsichtig dann laut, bis beide Frauen nicht mehr wussten, warum sie lachen.
Am Haus angekommen, strich Ulrike zärtlich über die alte Haustür und bewunderte das Originalschloss. „Was für eine filigrane Handarbeit.“ „Alles noch wie früher“, meinte Stiene nicht ohne Stolz. „Dir müssen die Makler die Hütte einrennen. Dein Haus erfüllt drei Herzenswünsche aller Immobilienhaie, Lage, Lage, Lage.“ „Nun komm erst mal rein. Drinnen verliert sich ganz schnell Dein Schwärmen, da nützt auch nicht das Meer vor der Tür.“ Stiene hatte sich getäuscht, Ulrike bestaunte den gemauerten Ofen, die alte Standuhr, die von Hand geleimten Möbel, einfach alles. „Riecke, man könnt ja denken, Du kommst aus einer anderen Zeit, und Du bist mit diesen Dingen aufgewachsen und teilst deshalb meine Freude über das alles hier.“ „Stiene, vielleicht hab ich Sehnsucht nach Beständigkeit? Du hast nichts ausgewechselt, Dich nicht unterworfen, hast das alles gehütet. Was für ein fester Charakter. Ich kann das von mir nicht sagen. Ich bin verführbar. Wirst Du das Haus Deinem Sohn vererben?“ „Ich weiß es nicht. Sein Interesse ist müde. Die beiden Enkelkinder werde ich fragen, das gehört sich so. Ich hatte auch an eine alteingesessene Fischerfamilie gedacht, falls meine Familie keinen Wert auf das Haus legen sollte. Und heute war ein junger Mann hier, mit Anzug verkleidet, und wollte es kaufen. Ich bin ganz baff von diesem plötzlichen Interesse.“ „Stiene, das ist kein Wunder. Das hier ist die letzte wirkliche Idylle abseits des Dorfes. Du bist die einzige, die direkt hinter der Düne wohnt. Lass dir das nicht abschwatzen. Vielleicht reißt der Käufer das Haus ab, und setzt irgendeine Villa oder ein Hotel an diesen schönen Platz. Es ist einiges möglich, wenn man genug Seilschaften hat. Stiene, ich werde mich umhören. Wie heißt der Typ, der hier war?“ „Christian Burwitz, meine Mutter würde sagen, verdammt hübscher Bengel.“ „Versteck Dich man nicht hinter Deiner toten Mutter, das kann ich nicht nachprüfen.“ „Du nimmst mich ja ganz schön aufs Korn.“ Na gut, gab Stiene zu, „ich fand ihn auch hübsch.“ „Stiene Mattis, wenn ich genug Geld hätte, würde ich mich in die Reihe der Interessenten stellen, dann könnten wir eine WG gründen. Aber nur, wenn Du noch eine Schlafstube für mich hast.“ „Du bist hier nicht bei armen Leuten, Ulrike.“ Stiene lachte laut. „Komm, ich zeige Dir das Haus. Im Keller brauchen wir nicht anzufangen, den gibt es nicht, das war damals nicht üblich. Meine Schlafstube erreiche ich mit wenigen Schritten von der Küche. Nebenan war früher das Kinderzimmer, mein Bruder Malte und ich teilten es uns, bis ich vierzehn Jahre alt wurde. Dann zog ich in die nächste Kammer und Malte blieb in der Kinderstube, bis er über Bord ging. Die gute Stube, unser Wohnzimmer, wurde nur an Sonn-und Feiertagen benutzt. Es war sehr festlich, wenn wir den Raum betreten durften und das Essen aufgetragen wurde. Wir kamen uns vor wie im Museum. Mussten uns ordentlich benehmen, durften nicht kleckern. Eigentlich war es eher Strafe als Freude. In der Küche, am alten Holztisch, konnte schon mal was daneben gehen. Mutter wischte ohne Geschrei mit dem Lappen drüber. Aber, wenn etwas auf die Sonntagsdecke kam, dann gab es schon mal eine tüchtige Backpfeife. Und von der Küche, gleich neben dem Ofen, kann man mit einer schmalen Leiter nach oben auf den Dachboden steigen.
Früher haben wir dort in der Räucherkammer geräuchert. Ich benutze diese Leiter schon ewig nicht mehr, das würde mir den Hals brechen. Vielleicht schaust du in den nächsten Tagen mal nach, wie es dort oben aussieht?“ „Das machen ich Stiene. Darf ich fotografieren?“ „So viel du willst. Halt das alles fest. Glaubt uns in zwanzig Jahren wahrscheinlich keiner, dass ich hier noch wie anno dazumal gelebt habe. Wo heute alles so schnelllebig ist.“ Stiene ging in ihre Schlafstube und kam mit einem größeren Briefumschlag zurück: „Riecke, du kannst Dir alles abschreiben, was ich über Josef habe. Er war etwas jünger als ich, auch
deshalb könnte er noch leben.“ Sie legte ein Blatt Papier und einen Stift dazu. „Du hast etwas in mir losgetreten. Mein altes Leben ist wieder da, der Josef und die Hoffnung, dass Du etwas heraus bekommst. Auch wenn es die Nachricht über seinen Tod sein sollte. Dann weiß ich, dass er da oben auf mich wartet, so wie ich in all den Jahren, bewusst oder auch unbewusst, auf ihn gewartet habe. Gewissheit tut mir sicher gut. Ich hab viel rumgesponnen, wenn ich hier alleine war, das muss aufhören. Am Ende eines Lebens soll man Klarheit und Wahrheit ertragen können. Und vielleicht bekommt mein Junge endlich ein Foto seines Vaters, damit er mit dem Geschichten erzählen aufhören kann, wenn sein Vater endlich ein Gesicht bekommt.“ Ulrike hatte sich alles notiert. Aber da lag noch ein zusammengefaltetes Blatt. Sie nahm es auseinander und sah auf eine Bleistiftzeichnung. „Stiene, bist Du das Mädchen?“ Ja, das Bild hat mir Josef zum Geburtstag geschenkt. Mein Gott, wie lange habe ich das nicht mehr angesehen. Ich hatte es fast vergessen.“ „Josef hatte Talent,“ meinte Ulrike anerkennend. Dann faltete sie sorgsam die Zeichnung zusammen und steckte diese in den Umschlag zurück. „Für heute lass es gut sein, Stiene. Ich gehe zurück in den Dorfkrug und werde sofort anfangen zu telefonieren, und im Internet recherchieren. Die Zeit ist leider knapp, die uns beiden zur Verfügung steht.“ „Du meinst wohl, meine Zeit ist knapp, die Sanduhr ist fast durchgelaufen. Ich glaube Riecke, da irrst Du Dich. Seit langem habe ich mich nicht mehr so gut gefühlt, geradezu unsterblich.“ Stiene und Ulrike lachten, die eine hell, die andere mit rauer Stimme. Ulrike umarmte Stiene: „Es berührt mich, wenn Du mich Riecke nennst. Meine verstorbene Mutter hat mich so gerufen. Das ist auch
schon an die zehn Jahre her. Wenn das keine Fügung mit uns beiden ist“. Riecke verließ die Küche versprach aber, bald wiederzukommen. Jetzt trieb sie die Neugier. Sie wollte Josef finden. Erst als Riecke gegangen war, spürte Stiene, wie müde sie sich fühlte. „Nun mach man nicht schlapp“, munterte sie sich auf. So einen aufregenden Tag hatte sie schon lange nicht mehr erlebt, das musste sich ja in ihren alten Knochen niederschlagen. Sie ging in ihre Schlafstube, zog den Rock und die Bluse ihrer Mutter aus und strich liebevoll darüber. Mudding, hier ist vielleicht was los. Ich weiß nicht, ob dir so viel Trubel gefallen würde. Aber neugierig wärst du allemal gewesen. Dann legte sie sich in ihr Bett und schlief sofort ein.