Читать книгу GESCHICHTE EINER LIEBE - Iris Bleeck - Страница 6
Karl Kliesows Enkel
ОглавлениеStiene Mattis nannte ihn so. Einfach Kliesows Enkel, als ob er keinen eigenen Namen hätte. Karl Kliesows Enkel schien das nicht zu stören. Er mochte die alte Frau, die so herzhaft scherzen und lachen konnte. Die immer geradeaus war. Sie wusste ja nicht, was er wusste. Auch deshalb brachte er ihr immer noch Fisch und hackte das Holz für ihren Ofen. Seine Familie stand in ihrer Schuld, die war von seinem Großvater, auf den Vater und am Sterbebett seines Vaters auf ihn übertragen worden. Bevor der starb, vertraute er seinem Sohn das Vergehen an. Der Großvater war es, der damals Stiene und Josef am Strand beobachtet und diese Begegnung im Schnapsdusel am Tresen im Dorfkrug erzählt hatte. Allerdings verschwieg er, wer das Mädchen war. Nur Josef nannte er und behauptete, die Frau nicht erkannt zu haben.
Stiene war damals jung, hübsch anzusehen und bei den Männern im Dorf begehrt. Karl Kliesows Meinung war, Stiene sollte im Dorf heiraten. Sich nicht mit so einem hergelaufenen Polen einlassen. Niemand wusste zu diesem Zeitpunkt, dass Stiene bereits ein Kind erwartete. Der Besitzer des Dorfkruges, Ortsgruppenführer Peters, sprang sofort hinterm Tresen hervor, schwang sich auf sein Fahrrad und fuhr in Richtung Gutshaus. Erst da wurde Karl Kliesow klar, was er mit dieser Neuigkeit losgetreten hatte. Seine Beobachtungen lagen schon Monate zurück, das war im Spätsommer 1944. Vielleicht hätte er es vergessen, wenn er Stiene und Josef nicht einen Abend vorher auf dem Kutter von Mattis beobachtet hätte. Es war kalt und er wollte schon wieder gehen, als er beide lachen hörte und ihm bewusst wurde, dass das nicht der alte Mattis sein konnte. Der hatte das Lachen seit dem Tod seines Sohnes verloren. Irgendwie fand Karl Kliesow, Stienes Lachen mit diesem anderen Mann nicht passend. Vielleicht hatte er es deshalb erzählt. Peters drohte, den Zwangsarbeiter zu erschießen, und wenn er herausbekäme, wer diese Schlampe sei, die auch gleich mit. Das ließ Karl Kliesow nicht schlafen. Am nächsten Tag war Josef mit Kliesows Beiboot weg, und irgendwie fehlte dem genug Wut über diesen Verlust. Im Stillen war er froh, dass er Josef nicht auf dem Gewissen hatte. Und als Peters ihn verhörte, weil der sich nicht vorstellen konnte, dass Karl Kliesow das Mädchen nicht kannte, stellte der sich dumm. Er schimpfte auf Peters, dass er seinetwegen das Beiboot verloren hatte, und der ihn nun auch noch von der Arbeit abhielt. Mit der Zeit verlor sich in den nächsten Wochen diese Geschichte, sicher auch durch das couragierte Auftreten von Frau von Arndt, Peters gegenüber.
Dass sie sich einige Monate später, Anfang Mai 1945, mit dem Jagdgewehr ihres vermissten Mannes erschießen würde, hätte niemand für möglich gehalten. Sie hatte nur einen Zettel hinterlassen mit der Bitte, sie im Guts Park zu begraben. Das war alles, was sie wollte. Diesen letzten Willen erfüllten die männlichen Dorfbewohner, die nicht im Krieg waren. Obwohl das nun schon fast zwei Generationen her war, hielt der Enkel von Karl Kliesow sein Wort, das er seinem Vater gegeben hatte. Manchmal dachte er darüber nach, ob er mit Stiene darüber reden soll. Schließlich war es sein Großvater, der damals als Einziger wusste, wer der Vater von Stienes unehelichem Sohn war. Hatte sie nicht ein Recht auf die Wahrheit? Dann traute er sich doch nicht. Es war gut so, wie es zwischen den beiden war, solange Stiene glaubte, dass Karl Kliesows Enkel aus reiner Familientradition und dem dörflichen Zugehörigkeitsgefühl, Hilfe leistete. Er war Stienes letzte Anker an eine untergegangene Welt, die sie manchmal idealisierte und verklärte. Oft genug schaute sie mit Ironie auf das schnelle Leben, das ihr Liebgewonnenes unter den Füssen wegspülte, wie das Hochwasser bei Sturm die Dünen aushöhlte. Wer tat sonst noch so viel für sie, wie Kliesows Enkel? Nicht einmal der eigene Sohn. Und Wiebke und Olaf lebten ihr eigenes Leben, in dem ihre Großmutter kaum eine nennenswerte Rolle spielte. Nur zu Weihnachten und zum Geburtstag riefen sie an und einmal im Jahr kamen sie in das Haus ihrer Vorfahren am Meer. Im Sommer freute Stiene sich über die wenigen Tage, die Wiebke und Olaf bei ihr verbrachten. Dann lauschte sie deren Worte, versuchte sich einzuschleichen in dieses neue Leben ihrer Nachfahren, das ihrer Seele fremd blieb.
Stiene hatte keinen Anteil am Alltag der Enkel, kannte nicht deren Nöte und Freuden. Irgendwann werde sie in ihren Erzählungen ihren Kindern sagen, „ wir hatten eine Großmutter aus einer fernen Zeit, die nicht sterben wollte, eine Übriggebliebene.“ Stiene beschloss, die Enkelkinder trotzdem zu fragen, ob sie die Kate erben möchten. Aber sie würde darauf bestehen, dass nichts abgerissen werden darf, damit ihr Sohn kein seelenloses Haus an dieser Stelle errichtet. Malte sollte das alte Haus modernisieren dürfen, das sah sie ein. In dieser Kate hatten Stienes Vorfahren um ihre Existenz gekämpft. Hier wurde überlebt, das machte sie stolz.