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Kapitel 2
ОглавлениеKönigshof Breitenbach in der Nähe von Hersfeld
„Bist du zufrieden mit der Ausrüstung und den Pferden, die ich für dich als Ersatz bestimmt habe? Schließlich musstest du vieles in der Pfalz Goslar und in der Harzburg zurücklassen.“ Der hochgewachsene Heinrich saß an einem Eichentisch in seinem Gemach. Er hatte die breiten Schultern eines trainierten Kämpfers und eine schmale Taille. Sein Gesicht war schmal und die Nase länglich. Er trug einen kurz gestutzten Bart, und sein dunkelblondes Haar bedeckte Ohren und Nacken. Auf dem Tisch stand ein goldener, edelsteinbesetzter Kelch, daneben lag ein Holzbrett, in dem das Mühlespiel eingeritzt war. Heinrich hatte die Mühlesteine in abwechselnden Farben um das Brett postiert, als wäre dies eine feindliche Armee, die eine Burg belagerte.
„Ja, Herr. Eure Gaben waren überaus großzügig. Ich danke Euch.“ Der braunhaarige hünenhafte vierundzwanzigjährige Arend hatte sich neben dem Tisch aufgebaut und schaute auf den ein Jahr jüngeren König hinab.
Dieser wirkte bedrückt. „Setz dich.“
„Majestät?“ Arend war verwirrt und strich sich mit der Hand über seinen kurzen Bart.
„Setz dich!“ Die dunkelblauen Augen des Königs blitzten verärgert auf.
Vor Unbehagen räusperte Arend sich und ließ sich eher widerwillig auf den ihm dargebotenen Stuhl nieder. Er mochte Heinrich nicht, zumal dieser Herzog Magnus Billung so überaus schlecht auf der Harzburg behandelt hatte. Dieses hatte sich erst geändert, nachdem er selbst um bessere Nahrung und Aufenthalte im Freien für den befreundeten Herzog gebeten hatte.
Arend hasste seine Situation. Viel lieber würde er jetzt aufseiten seines Volkes gegen diesen skrupellosen König kämpfen, doch Gott hatte einen anderen Weg für ihn vorgesehen. Als der Befehl gekommen war, dass er als Berthas Leibwächter am Hof dienen sollte, hatte er gerade in verschwörerischer Runde mit seinem Vater, seinen älteren Brüdern Giselher und Suidger, zudem mit Magnus Billung, Otto von Northeim, Graf Lothar Udo II. von Stade und Gebhard von Süpplingenburg zusammengesessen. Wäre er der Order nicht nachgekommen, hätte er unweigerlich die Aufmerksamkeit und den Unmut des Königs auf die väterliche Burg gerichtet. Nur um seine Familie zu schützen, war Arend an den Hof gegangen. Obwohl dort seine edle Geburt vollkommen missachtet und er oft provoziert worden war, hatte er es dennoch als betörend empfunden, in der Nähe der schönen Königin zu sein. Bei dem Gedanken an sie zog sich sein Herz vor Liebe und Sehnsucht zusammen. Es bereitete ihm Magenschmerzen, dass sie allein in der Pfalz war, und er hoffte, bald wieder bei ihr sein zu können. Anstatt sie zu beschützen, hatte er den König auf die Harzburg begleiten und ihm zudem auf seiner Flucht beistehen müssen. Dabei hatte er Männer seines eigenen Volkes getötet, und er fühlte sich schuldbeladen und besudelt.
„Majestät?“ Arend war es unangenehm, dass Heinrich nichts sagte, sondern ihn unverwandt ansah, als versuchte er, die Tiefen seiner Seele zu ergründen. Doch er hielt dem Blick stand.
Schließlich nahm Heinrich einen schwarzen und einen weißen Stein und legte sie mitten ins Spielfeld. Der Hauch eines Lächelns huschte über seine Lippen. „Es ist schon seltsam, aber ich schätze dich mittlerweile. Du bist so berechenbar … Du hast einen Eid geleistet und hältst diesen.“ Für einen Moment verengten sich seine Augen zu Schlitzen. „Gut. Ich habe den Anreiz für deine Treue erhöht, indem ich dir den Schutz deiner Familie, die zu den Aufrührern gehört, zugesagt habe. Aber es gibt Männer, die würden sich trotzdem nicht darum scheren und versuchen, dies anders zu regeln. So wie dein Freund Folkmar, den du mit an den Hof gebracht hast. Er hat sich feige und unehrenhaft davongemacht. Wenn ich ihn in die Finger bekomme, werde ich ihn dafür bestrafen.“ Seine Augen wurden noch schmaler. „Du hattest auf der Flucht von der Harzburg mannigfach die Gelegenheit, mich durch lautes Rufen zu verraten. Unterwegs hättest du mich sogar im Schlaf umbringen und dich zum sächsischen Heer durchschlagen können. Aber du hast es nicht getan“, sagte er und schüttelte den Kopf, als könnte er es kaum glauben. „Ich kenne außer dir keinen Mann, dem es nicht nach Ansehen und Ruhm gelüstet. Viele verkaufen ihre Seele dafür, scheuen weder vor Mord noch Verrat zurück.“ Verbittert verzog er das Gesicht. Er war sich sicherlich bewusst, dass er selbst zu diesen Menschen zählte. „Dir ist dies alles egal, du gehst einen geraden Weg, allerdings durch eine tiefe Schlucht, wo beständiger Steinschlag droht. Du wurdest schon in der Pfalz und in der Harzburg von meinen Leuten angefeindet, aber hier im Heer noch bedeutend mehr. Es wird dich sicherlich freuen zu hören, dass ich dich unter meinen persönlichen Schutz gestellt habe. Und noch mehr: Wenn dich jemand angreift oder deine Ehre beleidigt, hast du meine Erlaubnis, denjenigen zum Kampf zu fordern … Nur Kuno nicht. Er ist mit seinem entstellten Gesicht schon genug bestraft und zählt zudem zu meinen Vertrauten.“
Verwundert zog Arend die Augenbrauen empor. Anscheinend wollte er ihn, den Sachsen, mit diesen Maßnahmen ehren. Trotzdem wartete Arend noch auf eine schallende Ohrfeige. Er hasste diesen Kuno, der ihn vom ersten Tage in der Goslarer Pfalz an beleidigt und bis aufs Blut gereizt hatte. Einmal hatte Arend ihm im Streit die Nase gebrochen, als er ihm gegenüber Bertha verhöhnt hatte. Ein weiteres Mal hatte er ihn bei einer deftigen Schlägerei erneut die Nase gebrochen und ihm so ziemlich jeden Schneidezahn ausgeschlagen, als dieser widerliche Leibwächter des Königs Arends Weib brutal vergewaltigen wollte.
Heinrich nahm die Steine aus dem Spielfeld heraus und wog sie in seiner Hand. „Menschen, insbesondere die Adligen, kümmern sich vornehmlich um ihre eigenen Belange. Sie besitzen nicht annähernd deine Aufrichtigkeit. Ich habe mich vor einigen Edlen erniedrigt, sie gebeten, mit mir gegen dein Volk zu ziehen …“ Über sein Gesicht huschte ein dunkler Schatten. „Aber sie versagen mir die Hilfe. Mir, dem König! Das hatte ich nicht erwartet, das gebe ich zu. Die Sache läuft gut für deine Sachsen. Otto hat mit seinem Heer in Hessen die Burg Hollende erobert und Giso von Lahngau, Adalbert von Schauenburg sowie dessen vier Söhne gnadenlos erschlagen.“ Der König warf die Steine zurück ins Spielfeld. Der weiße Stein rollte auf seiner Kante und blieb dann aufrecht stehen. „Meine Burgen im Harz werden belagert, Magnus hat seine Lüneburg zurück, die Sachsen und die Thüringer nähern sich an, ein Bündnis ist wahrscheinlich. Zahlreiche Bischöfe – am schlimmsten Burchard II. von Halberstadt und Erzbischof Werner von Magdeburg – hetzen gegen mich und sammeln ihre Truppen. Dies alles sollte dich recht fröhlich stimmen, nicht wahr?“
Arend legte seine Rechte auf die glatte Armlehne des Stuhls und rieb mit dem Daumen leicht an der Kante. „Warum sollte es das? Es wäre besser für das Reich, wenn es diese Situation gar nicht gäbe – und für mich und meine Familie ebenfalls.“
Der König schnipste gegen den weißen Stein, sodass dieser über den Tisch hinausflog.
Reflexartig fing Arend ihn auf und drehte das glatte Gebilde aus Elfenbein in seinen Fingern.
„Du verurteilst, was ich tue, auch wenn du es nicht sagst.“ Heinrich streckte seine Hand aus, forderte den Stein zurück.
„Ich denke, das Verurteilen steht mir nicht zu. Gott wird urteilen, über alles, was wir tun, und niemand ist ohne Fehl.“ Arend lehnte sich vor und überreichte ihm die Elfenbeinscheibe.
Heinrichs Augen waren nur noch schmale Schlitze, und sein Mund zuckte, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er zürnen oder spotten sollte. „So ehrbar …“ Der König umschloss den Stein mit der Faust. „So verdammt nobel.“ Er legte den Stein ins Spielfeld und lehnte sich zurück. „Die Kämpfe um die Harzburg sind grimmiger geworden. Die Sachsen haben versucht, die Zuleitung zum Brunnen abzugraben, haben es aber nicht geschafft. Sie bauen nun verstärkt an ihrer hölzernen Schanze auf dem Berg im Osten. Sicherlich werden sie die Harzburg von dort oben irgendwann beschießen. In Goslar gab es auch bereits Tumulte. Ein Eilbote ist eingetroffen und hat mir mitgeteilt, dass Bertha sich in die gut befestigte Burg Volkenroda begibt, die zu Fuß drei bis vier Tage von Goslar entfernt ist. Sie bringt dein Weib und die Kinder, dein Kriegsross und deinen sommersprossigen Knecht Erkmar mit. Dort sind sie in Sicherheit, und du kannst sie wiedersehen. Die Burg ist für Fußläufer nur zwei bis drei Tage von Breitenbach entfernt.“
Ein erleichtertes Lächeln zeigte sich auf Arends müdem Gesicht. „Danke, Herr.“
„Wir werden noch ein wenig hierbleiben. Bald werde ich abziehen, um Verpflichtungen auf anderen Königshöfen nachzukommen, aber danach werde ich wieder zurückkehren. Ich habe vor einiger Zeit Reiter durchs gesamte Land gehetzt, die ein Aufgebot des Reiches für den 5. Oktober hierher beordern. Dann werde ich ein gewaltiges Heer gegen deine Sachsen führen und sie zerschmettern.“ Er funkelte Arend an, und dieser erkannte, dass Heinrich unversöhnlich sein würde, komme, was wolle. „Aber sei versichert, deine väterliche Familie werde ich schützen – wie ich es dir zugesagt habe.“ Nacheinander warf er die Spielsteine wieder aufs Brett. „Es gibt so viele Schlangen im Reich … Eine Grube voller Schlangen, kleine unscheinbare, aber auch große und mächtige. Und die Mächtigen sind es, denen mein Augenmerk gilt. Geh jetzt! In ein paar Tagen wirst du dein Weib in deine Arme schließen können. Du siehst, deine Redlichkeit wird belohnt – erinnere dich stets daran! Gott hält sicher schon einen Ehrenplatz für dich bereit.“ Sarkasmus klang in seiner Stimme mit, aber unterschwellig auch Bewunderung.
Arend erhob sich, verbeugte sich ein wenig steif und ging hinaus.
Draußen auf dem Gang stand ein kräftiger Krieger namens Arnulf, der schon in der Pfalz manchmal vor Heinrichs Tür gewacht hatte. Arnulf war kleiner als Arend, blond und mit einem langen Bart, er hatte tief liegende Augen und eine gerade Nase.
Arend nickte ihm zu, verließ diesen Gebäudetrakt und überquerte den ausgedehnten Hof. Dieser war vollgestopft mit den Edlen des Heeres, die hier im Königshof untergebracht waren und eigentlich wegen des angeblichen Polenfeldzuges erschienen waren.
In einem winzigen Loch, in dem sich zahlreiche Arbeitsgeräte befanden, war er selbst einquartiert worden. Aber er war dankbar für diese kleine Insel auf dem Meer der Anfeindungen. Auch jetzt konnte er die giftigen Blicke im Rücken spüren. Die anderen Männer hassten ihn, den Sachsen. Wäre er nicht die Leibwache des Königs, hätten sie ihn bestimmt schon längst gemeuchelt. Insgeheim wartete er nur darauf, dass man ihn beseitigte. Er verweigerte das Essen, wenn ihm eine eigene Portion gebracht wurde, und bediente sich stets nur aus großen Kesseln, aus denen mehrere aßen. Er hatte sich mit einem zotteligen großen Hund angefreundet, der herrenlos auf dem Hof herumlief. Dieses graue Tier, das er Streuner nannte, wachte vor seiner Tür, wenn Arend ruhte. Mehr als einmal hatte ihn der Hund schon mit einem drohenden Knurren aus dem Schlaf gerissen, und der Sachse hatte nur noch eine gedrungene Gestalt davonrennen sehen. Vielleicht würde dies nun enden, nachdem der König ihn ausdrücklich unter seinen Schutz gestellt hatte.
Arend ließ sich auf seinen prallen, mit Stroh gefüllten großen Leinensack, der ihm als Schlafstatt diente, nieder und strich sich mit beiden Händen durchs schulterlange Haar. Er bangte um sein Weib, seine Söhne … und um Bertha. Wenn es so schlimm im Harz stand, war nur zu hoffen, dass sie es unbeschadet bis zur Burg Volkenroda schafften. Arend hoffte, dass er seine Familie bald wieder in seine Arme schließen konnte … in geheimen Augenblicken vielleicht sogar Bertha. Die Gedanken an die Königin weckten Schuldgefühle in ihm, denn sie waren alles andere als unschuldig. Auf sein Weib freute er sich auch, ja, aber anders.
Wenigstens sorgte sich Heinrich um seine Gemahlin – das war mal anders gewesen.
Der Sachse konnte den König einfach nicht durchschauen. Ihm gegenüber war er weniger misstrauisch geworden, sprach manchmal sogar laut, wenn Arend vor seiner Tür wachte. So hatte er mitbekommen, dass er einem Schreiber seiner Hofkanzlei einen langen, unterwürfigen Brief an Papst Gregor VII. diktiert hatte, in dem er sich selbst und seine eigene Verworfenheit büßend angeklagt hatte. Darin hatte er seine christliche Einheit mit dem Papst betont und zugegeben, in Kirchengut eingedrungen zu sein und Kirchenämter an Unwürdige vergeben zu haben, denen der Gestank der Simonie anhing. Er hatte Gregor VII. um Rat und Beistand gebeten und versichert, dass er sich an die päpstlichen Vorschriften halten wollte. Außerdem hatte er um Entschuldigung für den Irrtum der Mailänder Kirche gebeten. Arend wusste, dass Mailand in Italien eine besondere Stellung zukam. Sie galt als zweitwichtigste Stadt nach Rom, und daher war alles brisant, was dort vor sich ging. Die Geistlichen in Mailand wehrten sich gegen die päpstlichen Versuche, die Priesterehen und Simonie zu verbieten. Dem stellte sich die Pataria entgegen, die ein willkommenes Werkzeug des Papstes war. Diese religiös motivierte Bewegung wurde auch ‚das Lumpenpack’ genannt, da sie sich angeblich nach einem Trödelmarkt benannt hatte. Sie prangerte nicht nur die Missstände zwischen Arm und Reich an, sondern beklagte die Ämterschacherei und Verworfenheit des Klerus und kämpfte für die Kirchenreform. Traditionell fühlten sich die Mailänder dem König verbunden, weshalb die Vorgänge in dieser Stadt so überaus brisant waren – hier kollidierten die Interessen des Königs mit denen des Papstes. Vor zwei Jahren hatte Heinrich den Kleriker Gotofredo da Castiglione mit Stab und Ring investiert. Dieser königstreue Erzbischof war ein Gegner der Reformen, die der Papst anstrebte. Bald darauf hatte der Anführer der Pataria, der Ritter Erlembad, mit Zustimmung des damaligen Papstes einen Geistlichen namens Atto als Gegenbischof einsetzen lassen und somit Heinrichs Recht zur Investitur in Mailand missachtet. Die empörten Mailänder hatten Atto sogar entführen und misshandeln lassen. Daraufhin hatte dieser auf sein Amt verzichten wollen, doch der Papst hatte dies nicht zugelassen, sondern stattdessen Gotofredo mit dem Bann wegen Simonie belegt. Die Bischöfe der Lombardei hatten zum König gehalten und Gotofredo zum Erzbischof von Mailand geweiht. Zur Strafe hatte der damalige Papst Alexander II. die beteiligten Räte des Königs, die an der Erhebung von Gotofredo involviert gewesen waren, ebenfalls mit dem Bann belegt.
Schon damals hatte sich ein Bruch zwischen Papst und König abgezeichnet, und nach dem Tod Alexanders II. war dieser nicht behoben worden. Zwar hatten sich Heinrich und der jetzige Papst Gregor VII. anfangs sehr um Einvernehmen bemüht, aber Gregor verlangte vom König ein entschiedenes Vorgehen gegen Simonie und Priesterehe … und dass Heinrich Bischöfe investierte, schien ihm auch ein Dorn im Auge zu sein.
Dies war ein Problem, dessen Lösung erhebliche Anstrengungen bedurfte, die Heinrich zurzeit nicht aufbringen konnte. Nach dem Brief hatte er gesagt: „In Rom wird jetzt erst einmal Ruhe herrschen, so kann ich mich besser auf die Sachsen konzentrieren.“
Der junge König war durchtrieben und gerissen, verstand es geschickt, sich zu demütigen, wenn es ihm Vorteile versprach, und dennoch bedauerte Arend ihn. Er war einsam und vergrämt, und der Sachse war sich nicht ganz sicher, ob Heinrich einiges im Brief nicht vielleicht sogar ernst gemeint hatte. Denn Arend hatte auch erlebt, dass er sich mitfühlend um Kranke und Arme gekümmert, sie reichlich beschenkt und sich sogar mit ehrlichem Interesse ihre Sorgen angehört hatte.
„Arend?“ Der Sachse erschrak ein wenig und sah auf. Ein kleiner Schatten verdunkelte den Eingang. „Kommst du heraus?“
Er erkannte die Stimme des alten Trossweibes Hedda. Ein wenig schwerfällig erhob er sich vom raschelnden Sack und ging ins Freie. Unter dem grauen Kopftuch der kleinen schrumpeligen Frau quoll schlohweißes Haar hervor. Ihre braunen Augen waren halb verdeckt von hängenden Schlupflidern, unter denen sie hervorschielte. Es waren Augen, die schon viel Leid gesehen hatten, aber dennoch Wärme verströmten wie ein Herdfeuer in einer kalten Winternacht. Sie streckte ihm einen alten Umhang entgegen, den er sich gekauft hatte. „Ich bin fertig. Schau mal, ob ich ihn dir ordentlich genug geflickt habe.“
Dankbar nahm Arend ihn entgegen, suchte die geflickten Stellen und entdeckte sie erst nach einigem Suchen. „Wunderbar! Deine Hände sind Gold wert.“
Freudig lachte Hedda. Ihre wenigen Zähne waren gelb-braune Ruinen. „Ach, Arend, wenn das mal wahr wäre.“
„Was möchtest du dafür haben?“ Er faltete den Umhang grob zusammen und legte ihn sich über die linke Schulter.
„Nichts. Du hast es hier ohnehin nicht leicht. Da denke ich, die Liebenswürdigkeit einer Fränkin dir gegenüber ist da nur recht und billig … Oh, warte, ich hätte doch einen klitzekleinen Wunsch: Schenke mir einen Kuss. Ein Zeichen der Zuneigung in dieser erbarmungslosen Welt.“
„Gern.“ Arend beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie auf die wettergegerbte Wange.
Die Alte errötete. „Wäre ich noch ein junges Mädchen! Du hättest mir wahrlich gefallen.“ Sie grinste so breit, dass ihre Augen völlig im Faltenmeer verschwanden.
Dann wurde Arend allerdings abgelenkt. Der stiernackige Kuno näherte sich ihm, zeigte höhnisch mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den Sachsen. Einst hatte er eine Knollnase gehabt, doch diese war nun durch den zweifachen Nasenbruch krumm und schief. Er hatte sich den Bart an der Oberlippe ein wenig länger wachsen lassen, damit nicht jedem sogleich seine ausgeschlagenen Zähne auffielen. Neben ihm ging ein Krieger, dessen blondes Haar in sanften Wellen das Licht einfing, als bestünde es aus feinen Goldfäden. Der Fremde trug prächtige Kleidung aus kostbaren Stoffen mit golddurchwirkten Borten. Lässig ruhte dessen Hand auf dem Knauf seines Schwertes. Wie ein Fuchs die Feldmaus, so musterte er Arend.
„Oh, das ist Ulrich von Godesheim“, wusste die Alte. „Ein überragender Kämpfer, sagt man. Von ihm solltest du dich fernhalten, mein Junge.“ Hedda reckte sich und tätschelte ihm mit ihrer dünnen, mit braunen Flecken besprenkelten Hand die Wange. „Lass dich nicht reizen. Das hast du nicht nötig. Du musst keinem etwas beweisen.“ Sie wandte sich ab und schlurfte mit leicht schwankenden Schritten davon.
„Wohl seine Geliebte …“, hörte Arend Kuno lästern, und Ulrich lachte amüsiert.
Während Kuno Abstand wahrte, kam Ulrich alleine zu Arend, blieb zwei Armlängen von ihm entfernt stehen und musterte ihn prüfend, als wäre er Schlachtvieh, das er zu kaufen gedachte.
Ulrich war einen Kopf kleiner als Arend und hatte breite Schultern wie ein Auerochse, dennoch bewegte er sich geschmeidig. Er war nicht hübsch, hatte eine breite Nase, eine aufgeworfene Narbe auf der Wange, kleine Augen, einen ausdrucksstarken Mund und ein markantes Kinn. In seinem Blick lag die Wachsamkeit eines Adlers. „So, du bist hier also der beste Kämpfer im Heer. Ein Sachse, ein verdammter Sachse …“ Es lag keine Bosheit in seiner Stimme, sondern etwas Lauerndes.
„Was willst du? Wenn du mich nur anpinkeln möchtest, entschuldige, so gehe ich wieder hinein“, ließ sich Arend gelangweilt vernehmen und wandte sich ab.
„Warte!“ Ulrich klang enttäuscht.
Arend schaute über die Schulter zu ihm zurück. „Was ist?“
„Ich will gegen dich kämpfen.“
„Ich bin zu müde.“
„Du hast anders über ihn gesprochen.“ Mit einem Hauch Verzweiflung in der Stimme wandte sich Ulrich an Kuno.
„Er ist halt ein sturer Sachsenarsch“, erwiderte der hässliche Franke und spuckte aus.
Ulrich brummte skeptisch und holte tief Luft. „Weißt du, Arend von Hadenstein, ich bin in Frankreich gewesen. Dort entsteht etwas Aufregendes. Die Übungskämpfe haben sich zu etwas anderem entwickelt, zu Kampfspielen. Sie werden Conflictus Gallicus genannt. Dabei gehen die adligen Kämpfer aufeinander los zum eigenen Vergnügen, zum Kräftemessen, aber auch zur Unterhaltung der Zuschauer. Man kann in dem Kampf Gefangene nehmen, die sich mit hohem Lösegeld freikaufen müssen. Ich habe dort Ruhm, Ehre und auch ein Vermögen erlangt. Im Reich habe ich auch schon die ersten Buhurte – wie sie hier heißen – erlebt. Sie werden bestimmt rasch großen Anklang finden. Ich habe Freude daran gefunden, mich mit anderen zu vergleichen. Du sollst hier angeblich der beste Kämpfer sein. Glorreich möchte ich sein und will dich deshalb mit dem Gesicht im Dreck sehen. Wie wäre es mit einem Kampf? Den Einsatz kannst du bestimmen, ob nun dein Pferd, Waffen oder Geld. Was sagst du?“ Selbstbewusst stand er vor ihm und starrte ihn an.
Arend gähnte gelangweilt. „Bis auf mein Schwert hat mir der König meine Ausrüstung gestellt, da die meinige in der Harzburg zurückblieb. Ich denke, er wäre enttäuscht von mir, wenn ich diese so leichtfertig aufs Spiel setzte. Ich bin nicht sehr bemittelt, musst du wissen. Geh und suche dir einen reichen, ruhmsüchtigen Spielgefährten.“
Verständnislos und enttäuscht zog Ulrich eine Grimasse und wandte sich empört an Kuno. „Ich glaube es nicht! Was ist das für ein Kerl? Wir sind keine Panzerreiter mehr wie zu Zeiten Karls des Großen, sondern mehr als das, es mischen sich immer mehr Ideale mit ein. Wir sind Ritter! Mut und Ehre sollten wir stets unter Beweis stellen. Doch dieser … dieser … was auch immer, er entspricht dem nicht, wirkt eher feige.“
Der zottige Streuner kam über den Hof gelaufen und ließ sich von Arend streicheln. Als er hingegen Kuno erblickte, wandte er sich knurrend zu ihm um und legte die Ohren an.
„Brav. Recht so“, lobte Arend das Tier.
Kunos Hand zuckte zum Schwertgriff, aber dann besann er sich.
Arend kniete sich neben den Hund, der sich nun beruhigte und ihm die Hand leckte. Dann schielte er zu Ulrich empor. „Du wirst dir leider einen anderen Gegner suchen müssen, um dir und jenem deine Ehre und deinen Mut zu demonstrieren, stolzer Ritter. Ich muss niemandem etwas beweisen.“ Damit erhob er sich und ging in seinen winzigen Raum.
„Ich sagte es doch: ein sturer Sachsenarsch!“, hörte er Kuno schimpfen.
Am Abend wurde im großen Saal des hölzernen Palas des Königshofes gespeist, dessen Wände kunstvoll in allen Farben des Regenbogens bemalt waren. Die kräftigen Holzstützen waren ebenfalls verziert und glänzten hier und da golden. Viele Geistliche, Adlige, aber auch Ministeriale, die sich bereits im Heer befanden, hielten sich hier auf. Versorgt wurde der Königshof von den zum Kloster Hersfeld gehörenden Orten und Höfen. Diese vielen Mäuler des Heeres zu stopfen bedeutete eine gewaltige und unliebsame Kraftanstrengung.
Arend und Kuno hatten sich hinter dem König aufgebaut. Es wurden die neuesten Meldungen verbreitet, über die Sachsen und deren Untreue gehetzt, Vorschläge für deren Unterdrückung und Bestrafung gemacht. In Arend schwelte der Zorn, manchmal gelang es ihm kaum, sich zu beherrschen. So verschloss er seine Ohren und dachte sich mal wieder an einen Ort, an dem er Bertha treffen konnte. Bald würde er sie wiedersehen.
Die prahlerischen Reden von Ulrich von Godesheim lenkten Arends Aufmerksamkeit schließlich auf ihn. Der König und er schienen sich gut zu kennen. Ulrich erzählte von Frankreich, von den Veränderungen, die dort vor sich gingen, und schwärmte vom erstrahlenden Glanz des französischen Hofes. Er verstand es, auf eine Art davon zu berichten, dass er Heinrich nicht herabwürdigte, sondern dass dieser äußerst interessiert zuhörte.
Schließlich wandte sich Heinrich, seinen Weinbecher fast vergnügt schwenkend, an Arend. „Ulrich hat viele Kämpfe in Frankreich gewonnen. Es würde mich interessieren, ob du ihm gewachsen bist. Und da ich weiß, dass du uns das Vergnügen eines Schaukampfes nicht einfach so bereiten wirst, befehle ich dir diesen.“
Arend beugte sich ein wenig zu ihm hinunter. „Majestät, dies hat nichts mit meiner Treue zu tun. Dieser Befehl wäre Willkür, und daher brauche ich ihn nicht zu befolgen“, raunte er ihm zu.
Verschmitzt verzog Heinrich den Mund. „Es wird nicht zum Schaden deiner Familie sein. Dieser Krieg hat noch gar nicht richtig begonnen. Ich vergesse nie etwas.“
Arend fühlte sich gezwungen. Eigentlich war es auch nichts anderes als Erpressung. „Gut, ich werde kämpfen, aber bei passender Gelegenheit werde ich dafür von Euch einen Gefallen einfordern!“, flüsterte er ihm zu.
In Heinrichs Augen glühten zornige Funken, und sein Unterkiefer mahlte aufgebracht. Doch dann wurde er ruhiger, lachte kurz auf und zog den rechten Mundwinkel empor. Er klatschte mit der flachen Hand auf den Tisch. „Also gut! Morgen nach der Frühmesse, vor den Toren des Königshofes.“
„Wunderbar“, rief Ulrich lachend. „Ich liebe Kämpfe am Morgen. Lass uns Karl den Großen und Widukind spielen, und ich unterwerfe dich, Sachse.“
So sollte ich alles dafür geben, dass Widukind dieses Mal obsiegt, dachte Arend, lächelte in sich hinein, entgegnete aber nichts.
Arend wartete auf einer Wiese vor dem mit Gräben, Wällen und Palisaden geschützten Königshof. Er war gerüstet mit Gambeson, Kettenhemd, gepolsterter Bundhaube, Kettenhaube, Handschuhen, Helm und Schild. Entschlossen hielt er die Übungswaffe in Händen und schwang sie hin und her, um seine Muskeln zu lockern und zu erwärmen. Surrend durchschnitt die stumpfe Klinge die Luft. Er wusste nicht, wie hart Ulrich den Kampf wünschte. Doch er war bereit. Sein Blick glitt kurz zum Himmel, der ein müdes Grau zeigte. Die Wolken wirkten bleischwer, als würden sie sogleich zu Boden sinken. Der Sommer nahm Abschied, dies war deutlich zu spüren, obwohl die Bäume noch ihr sattes Grün trugen. Bald würde sich das Laub färben, das eigene Sterben verkündend. Der Baum, der es im Frühling hervorgebracht und im Sommer genährt hatte, würde es von sich stoßen und es gnadenlos seinem Tod überlassen.
Beide Flügel des Tores wurden aufgezogen, und daraus ergoss sich eine große Menschenschar. Sie marschierte über eine hölzerne Brücke, die sich über einen tiefen Graben spannte. Auch aus dem angrenzenden Zeltlager trieb es die Schaulustigen zu Arend, und sie bildeten einen großen Kreis um ihn.
Zwischen ihnen schob sich Ulrich von Godesheim hindurch, gut gerüstet und mit grimmiger Miene, die nicht auf einen Übungskampf schließen ließ. Dessen Blick huschte vom König, der sich in freudiger Erwartung auf einem eilends aufgestellten Faltstuhl niederließ, zu Kuno, der sich mit fast schadenfroher Miene hinter seinem Herrn aufbaute.
Arend ließ Ulrich nicht aus den Augen, studierte dessen Bewegungen. Angeberisch fuchtelte sein Gegner mit seiner Waffe herum, und sein Gesicht glänzte vor Schweiß, als hätte er bereits ausgiebig mit der Waffe geübt.
Immer mehr Männer versammelten sich um sie, wollten nichts verpassen. Manche kletterten sogar auf Bäume oder hatten sich Bänke und Tische besorgt, auf die sie sich nun stellten.
Ulrich nahm Arend gegenüber Aufstellung. „Na, dann wollen wir mal sehen, Sachse, ob in deinen Armen Kraft steckt oder ob sie nur mit weichgekochter Grütze gefüllt sind.“ Er lachte, doch seine Augen, mit denen er ihn unter seinem Nasalhelm hervor fixierte, taten es nicht. Dieses Gefecht war ihm bitterernst.
Arend wurde kurz abgelenkt, da eifrig um ihn herum Wetten abgeschlossen wurden. Es war deutlich zu hören, dass man ihm eine Niederlage wünschte.
Das Blut rauschte durch seinen Körper. Er war zum Kampf bereit. Er packt seinen Schild fester, dann preschte er auf den Kontrahenten mit einer Heftigkeit los, die dieser offenbar nicht erwartet hatte. Geschickt fing Ulrich die wuchtigen Schläge ab. Arend stutzte – sein Gegner kämpfte mit einer scharfen Klinge, während er selbst nur ein stumpfes Übungsschwert besaß! Klirrend, wuchtig und dennoch federnd trafen die Waffen zusammen. Arend wollte Ulrich keinen Raum für das gefährliche Schwert geben. Er bedrängte ihn mit dem Schild, stieß ihn vor sich her. Die scharfe Schneide prallte auf den Schild, der mit harter Rohhaut überzogen war. Ulrichs Schwert wischte an den Kettengliedern von Arends Arm entlang. Der Widersacher stritt wirklich hervorragend, konnte ihm gefährlich werden. Zorn erwachte in Arend. Er schnellte hinter dem Schild hervor, verpasste seinem Gegner einen harten Schlag mit dem stumpfen Schwert gegen den Helm, sodass es blechern dröhnte. Dann bedrängte er ihn weiter, stieß ihn kraftvoll vor sich her, tauchte nach unten, trat ihm das Standbein fort, und Ulrich kam zu Fall, verlor Schild und Schwert. Hastig tastete er nach seiner Waffe, doch Arend war geschwind bei ihm und fegte es mit dem Fuß weg.
„Du hast ein scharfes Schwert!“, warf Arend ihm schnaufend vor.
„Wir hatten nicht vereinbart, dass es stumpf sein soll“, verteidigte sich Ulrich. „Bei Buhurten wird auch mit scharfen Waffen gekämpft, und es gibt durchaus Tote.“
„Das hier war kein Buhurt!“ Forschend schaute Arend ihn an, konnte aber nicht erkennen, ob Tücke dahintersteckte, und wich zurück.
Einige der Umstehenden rieben sich vorfreudig die Hände, da sie nun einen satten Gewinn einstreichen würden, die meisten der Männer waren allerdings erbost.
Der König saß auf seinem Faltstuhl und kraulte sich nachdenklich den Bart. Seine Augen waren kleine, gefährliche Schlitze, und sein Unterkiefer schob sich unentschlossen hin und her. Arend war der Leibwächter der Königin und mehrte ihren Ruhm, aber nun erschien ihm der Sachse wieder überaus gefährlich.
„Das nächste Mal werde ich es dir vorher mitteilen lassen, damit wir unter gleichen Bedingungen kämpfen. Aber ich konnte durchaus feststellen, dass du mehr in deinen Armen hast als Grütze, verdammt mehr. Du solltest nach Frankreich gehen. Dort könntest du bei den Kämpfen ein reicher Mann werden“, sagte Ulrich, während er sich aufrappelte. Dann ging er auf Arend zu und lächelte sogar. „Ich erkenne es an, wenn jemand besser ist als ich … und verflucht – du bist es. Ich würde gern heute mit dir gemeinsam trinken und Geschichten deiner Kämpfe hören.“
„Da gibt es nichts zu erzählen.“ Arends Blick schweifte zu Kuno, dessen Wangen vor Zorn bis zu den Ohren glühten. Er hatte sich Arends Niederlage erhofft oder zumindest Ulrichs Wut, aber nicht, dass dieser dem verhassten Sachsen auch noch seine Anerkennung zollte.
Ulrich folgte seinem Blick. „Verstehe. Ihr seid keine Freunde, nicht wahr? Er hat mich vor dir gewarnt, vor deiner Hinterlist und Tücke. Man sollte nicht auf das Gerede anderer achten, denke ich. Was ist, bekomme ich deine Kampferlebnisse zu hören?“ Er nahm sich den Helm ab. Die aufgeworfene Narbe auf seiner linken Wange tanzte, als er lächelte.
Verdrießlich blickte Arend auf den kleineren, breitschultrigen Mann hinab. „Ich bin ein Sachse, du solltest dich nicht mit mir abgeben.“
Ulrich lächelte versöhnlich. „Um es derbe auszudrücken: Da scheiß’ ich drauf! Für mich zählt nur der Mann, und wenn mich dieser überzeugt, habe ich genug Ehrgefühl und Courage, meine vorgefasste Meinung zu ändern.“
Arend verneigte sich leicht vor ihm. „Ich halte dir dieses zugute, aber es ist besser so“, meinte er, bevor er sich abwandte.
In Kunos Augen flackerte ein Höllenfeuer. Und was tat der König? Dieser betrachtete den Sachsen immer noch abschätzend. Dann wurde ihm Geld überreicht – er hatte auf Arend gesetzt.