Читать книгу Couscous Crème fraîche - Iris Maria vom Hof - Страница 9
Kai des Vergessens
ОглавлениеLe Havre, Februar 1974 /// An einem abgelegenen Pier von Le Havre wird die France, der einstmalige Stolz Frankreichs, eingemottet. Auf seinem Lotsenboot bugsiert der Hafenmeister den abgehalfterten Luxusliner mit viel Hin und Her und Vor und Zurück auf seine endgültige Parkposition. Der Schiffsrumpf ächzt, grollt, bäumt sich im Schatten eines abblätternden Hafenkrans auf. In seinen Kolben steckt immer noch der unerschütterliche Widerstand eines allen Wettern gewachsenen Atlantik-Potts. Einige neugierige Gaffer sehen von Land aus zu. Allen voran die Ben Ali. Der Vater, die älteren Söhne Gérard und Denis, der kleinste, Laurent und die vierzehnjährige Tochter Katy. Der Vater Ben Ali betrachtet den maroden Schiffsgiganten. „Der Pott sah 1960 noch ganz anders aus. Und wir waren dabei, bei der Taufe, eure Mutter und ich...“ brüstet er sich vor seinen Kindern, „als Präsident de Gaulle den Dampfer eingeweiht hat. Der General hatte seine Gattin auch dabei. Das war vielleicht ein Aufstand, sag ich euch. Eine sechs Liter Flasche Champagner hat der Präsident an den Bug geknallt. Schade drum, die hätte ich mir an seiner Stelle lieber selbst hinter die Binde gegossen.“ „Durften die Großen nicht mit?“, möchte Katy wissen. „Halt den Rand, der Vater Ben Ali lässt sich nicht dazwischen quasseln. „Das war ein riesiges Ding damals. Könnt ihr mir glauben. Die Zeitungen haben sich nur so überschlagen. Technische Meisterleistung und anderes geschwollenes Zeug. Ich lach mich schlapp. Am schlimmsten waren die Werftarbeiter. Normalerweise stehen die auf Streik, die linken Säcke. Aber bei der Schiffstaufe sind sie fast übergeschnappt vor Stolz, als der Präsident die technischen Sachen vorgetragen hat. So und soviel Meter Länge. So und so viele Millionen Francs teuer. Über 100000 PS Motor und so weiter. Mit dem bescheuerten Satz die France hat soeben das Meer geheiratet war das gequirlte Gequatsche zu Ende. Dieser de Gaulle hat immer viel zu viel Schmalz abgesondert.“ „Toll, Papa!“ Technik imponiert den drei Jungs total. „Reife Leistung...“ bestätigt der Vater, „qualmte mächtig aus den beiden Dingern oben drauf, die aussehen wie Flugzeugteile.“ „Die beiden rostigen Kamine dort?“, ruft Katy vorlaut. Bum, schon fängt sie sich eine. Der Vater verpasst ihr einen satten Hieb auf den Hintern. Nicht weiter tragisch. Katy kennt ganz andere Schläge. So einen kleinen Klatsch steckt sie weg wie nix. „Schon mal von nationaler Ehre gehört?“, die gereizte Stimme des Vaters droht den nächsten Hieb an. „Quatsch, begehrt Katy auf, „wir sind doch bloß Araber!“ Katy hat es voll drauf, dem Vater auf den Sack zu gehen. Nicht extra. Aber damit macht sie sich ihr Leben nicht leichter. Denis schubst Katy vom Vater weg, um die Situation zu retten. „Du nervst, Katy. Halt die Schnauze, sonst knallt er dir noch eine!“ Und Gérard schiebt nach: „Bist du blöd, Katy? Wir sind Algerier und nicht Araber.“ „Dass du auch mal was weißt...“ giftet Katy schnippisch zurück. „Und warum waren wir nicht bei der Einweihung, Papa?“ Gérard will es jetzt wissen. Als Ältester hat er Anspruch auf eine Erklärung, denkt er. „Du bist zu dämlich, antwortet der Vater unwirsch, „rechne mal. Ihr beiden Großen, ihr wart noch Hosenscheißer. Euch konnte man nicht mitnehmen, weil es gleich gestunken hat wie im Schweinestall. Und Katy hing noch an den Titten eurer Mutter. Und die brauchte mal eine Pause. Katy, du Kröte, du hast Tag und Nacht gebrüllt als Baby.“ Und während Gérard, Denis und Katy plötzlich so tun, als geht sie das Ganze einen Dreck an, hebt der Vater Laurent auf die Schultern, damit er besser sehen kann. „Schau gut hin, du Zwerg! Du warst als einziger beim ersten Mal dabei. Du konntest bloß noch nichts sehen, weil du noch im Bauch deiner Mutter gesteckt bist...“ Der Vater schüttet sich aus vor Lachen und greift sich ungehobelt an den Sack. „Ihr seid eine zu blöde Bande. Leckt mich doch. Ich gönne mir erst mal einen Schluck!“ Damit setzt er Laurent auf den Boden und dreht ab Richtung Stammkneipe. Ein paar Bier zischen und Dreierwette, das Übliche. / „Ab nach Hause, ihr Gören!“, kommandiert Gérard, „aber flott! Araber! Katy, du hast sie nicht mehr alle! Schämst du dich eigentlich nicht?“ „Blase dich nur auf!“, rotzt Katy zurück. Stur flitzt sie unter Gérards erhobener Schlaghand durch. Sie hat die Schnauze gestrichen voll. Und diese ganzen Leute nerven. Sie ist so viele Menschen auf einem Haufen nicht gewöhnt. Mal von links geschubst, mal von hinten geboxt, blödes Pack. Aber am schlimmsten ist immer noch ihre eigene Bande. Gibt es in dieser Familie irgendeinen, der nicht ständig überreagiert, nein. Diese blöde Sippe kennt nur eines: Von oben nach unten, hau drauf. Schlag zu. Brasil-bescheuert. Katy leidet seit Wochen an massiven Schlafstörungen. Bisher dachte sie, dann ist es eben so, scheiß drauf. Nach dem Vater kommandiert der älteste Bruder. Sie hat drei Brüder und die älteren beiden in der Kiste, zwischen den Beinen, wenn die Eltern pennen. Nicht freiwillig, oh nein. Aber sie kann sich nicht wehren. So nicht weiter. Sie macht die Fliege. Sie lässt sich von keinem dieser Arschlöcher mehr wehtun. Die Sache mit dem rostigen Pott hat Katy irgendwie getroffen, verschreckt, aufgerüttelt. Vierzehn Jahre alt und der Kahn ist kaputt. Im Eimer. Vierzehn Jahre alt wie sie. /// Nicht vor und nicht zurück. Katy hadert mit ihrem Entschluss abzuhauen. Findet sich feige. Vielleicht bringt sie es einfach nicht? Katy hängt komplett in der Uhr. Zum Trost knallt sie sich vor die Glotze. Da kann die Mutter austicken wie sie will. Katy zieht sich jede Folge von Der Schäfer Nans rein und wenn sich die Larve auf den Kopf stellt. So was hat Katy bisher noch nie gebracht. Aber dieses kleine Stück Traumwelt muss sein. Die zu Herzen gehende Geschichte spielt in der Gegend um Aups in den Bergen. Nans wohnt in einem uralten Bauernhof, der innen immer sauber geputzt aussieht. Das hat Katy besonders gern. Und Grotten kommen vor, in denen sich doofe Schafe verlaufen. Ein wunderschöner See spielt mit. Es gibt Olivenbäume und Wildschweine. Hier wird geliebt und gelitten über Jahrzehnte. Und Katys pubertäres Mädchenherz liebt und leidet mit, oh ja. / Und dann, einfach so, aus dem Stand wirft Katy das Handtuch und vertraut sich der Sozial-helferin ihrer Schule an. Woher sie den Mut dazu nimmt, weiß Katy selber nicht. Jetzt ist sie soweit. Madame Brunou, eine zupackende Person mittleren Alters, der man nicht so schnell was vormachen kann, schnappt sich das Mädchen und untersucht seinen körperlichen Zustand. „Mein Gott, Kind!“ Katy hat dicke Beulen am Kopf und Hämatome über den ganzen Körper verteilt. Blau bis violett, frische und ältere. Madame Brunou hat schon einiges gesehen, aber die kleine Ben Ali ist vollkommen fertig. Fertig gemacht. Verprügelt ohne Ende. Mit hoher Wahrscheinlichkeit vergewaltigt. „Missbrauch?“, flüstert die Sozialhelferin. „Wie?“, Katy kennt das Wort nicht. „Hat dich einer auf eine Art angepackt, die du nicht wolltest, Katy?“ „Nein Madame.“ Katy haut ihre Brüder nicht in die Pfanne, so was macht sie nicht. Sie erzählt kein Sterbenswörtchen von den nächtlichen Besuchen der beiden Älteren. Madre mio Katy lässt auch den Wichs-Opa raus, Scheißspiel das. Madame Brunou verschont das aufgewühlte Mädchen mit weiteren Fragen. Entschlossen, mutig, eine forsche Soldatin für Gerechtigkeit. Madame Brunou marschiert ohne Umschweife an ihren Schreibtisch, greift zum Telefon und wählt die Nummer der Polizei. „Brunou hier, Einsatz, sofort!“ Der übliche Fall, konstatiert Mademoiselle Brunou. Kein Kind der Liebe. Ein Kind der Beihilfe. Herzlos behandelt wie der letzte Dreck. „Wir werden dir beistehen, mein Kind!“ / Katy staunt Bauklötze, so läuft das also. Ab jetzt rollt ein Programm, dem sich Katy ohne Wenn und Aber zu fügen hat. Selbst eingebrockt. Zwei Bullen treffen ein. Katy muss in das Polizeiauto einsteigen. Dann ab nach Hause. Katy zittert am ganzen Körper vor Angst. Der Alte dreht sie durch den Wolf, wenn die beiden Bullen nicht gegen ihn ankommen. „Öffnen Sie die Türe, Polizei!“ Nicht schwer zu erraten, was drinnen abgeht. Erst hört man die Schritte des Vaters. Dann die Schranktür. Jetzt holt er den Karabiner raus. Dann die Wackeltritte der Mutter. Die Türe wird hastig aufgerissen, mitten in ihrem hektischen Aufschrei: „Bitte, meine Herren, retten Sie mich. Mein Mann dreht durch...“ entdeckt die Mutter Katy. „Was soll das denn werden? Schau sich einer die kleine Henne an. Hetzt uns die Bullen auf den Hals.“ „Pack’ deine Sachen!“, die Polizisten machen Katy Zeichen, dass sie voran machen soll. Gleichzeitig stürmen sie mit gezogenen Knarren auf den Vater Ben Ali zu: „Her mit dem Gewehr, Gesicht zur Wand! Schritt zurück!“, brüllt der eine. „Beine auseinander!“, brüllt der andere. Katy rast kopflos durch die Wohnung. Sie krallt sich einen leeren Karton unter dem Bett der Eltern, wirft ihre zwei, drei Klamotten hinein und kommt wieder zur Tür: „Fertig!“ Die beiden Polizisten versichern sich noch mal, dass der Ben Ali kein Messer oder so am Körper versteckt hält. Da flüstert die Mutter ihrer Tochter ins Ohr. „Du kleines Biest, du willst also abhauen. Du kannst doch nur Nutte werden, dass ist dir klar, oder?“ „Na und!“, schreit Katy und rast mit den beiden Bullen zum Auto. Dann wird sie eben Nutte. Brasil-Kacke. Schlechter als es ist, kann es nicht werden. /// Dass der Pier mit der gigantischen Rostlaube in Le Havre „Kai des Vergessens“ genannt wird, erscheint wie eine Bestätigung für Katys Ausbruch. Für ihre Flucht vor dem Verkommen, Verrotten, Verrohen. Alles hinter sich lassen. Alles vergessen. Ein neues Leben. Katy wird in einem eigenen, kleinen Appartement mit zwei anderen Mädchen im Mädchenwohnheim „Die Algen“ untergebracht. Als sie an ihrem ersten Abend nach dem Essen in der Kantine todmüde schlafen geht, findet Katy ein frisches Leintuch, einen Kopfkissenbezug, eine Zudecke und zwei frische Handtücher auf ihrem Bett. Drei Betten, dreimal die gleiche Garnitur. Jedes Mädchen hat ihr eigenes Zeug, plus Schrankfach. Die Betten der beiden Nachbarinnen sind nicht gemacht, aber das ist Katy so was von schnuppe. Wenn nichts Schlimmeres kommt. Wie die wohl drauf sind, die beiden anderen? Keine zuhause. Zwei Mädels, schon mal gut. Und kein Bruder weit und breit. An die Zimmertüre ist ein Din A4-Blatt mit Regeln und Pflichten für die Bewohnerinnen getackert. Wer unter sechzehn ist hat bis 22 Uhr Ausgang. Ab sechzehn bis 24 Uhr. Ab achtzehn unbegrenzt. Keine Herrenbesuche. Rauchverbot und so weiter. He Leute, Katy kann es echt kaum glauben. Katy ist überwältigt. Sie fühlt sich wie eine Prinzessin. Sie ist in Sicherheit. Niemand wird sie beim schlafen stören. Niemand wird sie schlagen. Niemand wird sie daran hindern sich zu waschen. In der Dusche steht eine dritte Zahnbürste für Katy, die erste ihres Lebens. Und falls jemand zufällig wissen möchte, ob sie traurig ist wegen der Familie und so, nicht die Bohne, niente. Wer aus der Hölle kommt, wird im Paradies nicht heulen oder? Und was ist schon groß zu tun? Frühstück und Abendessen kommen vom Heim. Essen und Trinken für zwischendurch organisieren die Mädchen selbst. Konserven, Nudeln und so besorgen sie sich von ihrem wöchentlichen Taschengeld. Schmu ist nicht drin. Alles wird abgerechnet. Den schulpflichtigen Mädchen ist klar, dass sie echt Schwein haben, weil sie aus ihren beknackten Lebensverhältnissen herausgeholt wurden. Da muss man die Heimleitung nicht verscheißern. Jedenfalls nicht wegen Essen. Und die Älteren, die Arbeiterinnen, die haben ihre eigene Kohle. Allerdings dürfen die nicht bis in alle Ewigkeit im Wohnheim bleiben. Kommt drauf an, wie viel Platz für Sozialfälle benötigt wird. / Noch so n Wunder. Nach den ersten Tagen bekriegt sich Katy soweit, dass sie zur Schule gehen kann. Sieht übel aus mit ihren Leistungen. Das weiß sie selber, das braucht ihr keiner sagen. Ob sie auf die CM1 zurück muss? Bis zum Ende des Schuljahres ist nicht klar ob sie noch mal eine Ehrenrunde dreht oder nicht. Sie hat enorme Lernschwierigkeiten. Kann nie etwas wirklich zu Ende bringen. Versteht von Allem nur die Hälfte. Katy kann so la-la schreiben, aber sie schreibt alles zusammen. Sie bildet Wortungetüme über mehrere Zeilen, ohne Unterbrechung, alle Worte aneinander geklebt. Sie hat einfach keinen Schimmer, wie das richtig geht. Zu wenige Schulstunden, niemals Hausaufgaben. Verdammter Besendienst zuhause! Nicht so optimal gelaufen bisher, oh nein. / Katy lebt sich in kurzer Zeit gut ein. Und es dauert nicht lange, bis Katy die Abläufe im Mädchenwohnheim blickt. Katy lacht sich einen Ast, auf eine bekloppte Weise zieht sie die Irren dieser Welt an. Wie Charly, ihren Erzieher. Ein Oberirrer, Grasraucher von Gottes Gnaden, entspannt und immer super drauf. Er hat seine ganze Jugend in Heimen zugebracht. Jetzt arbeitet er im Sozialen. Freiwillig lebenslänglich. Charly weiß Bescheid und mimt nicht den zart besaiteten Sozialfuzzy. Er tut, was zu tun ist. Darüber hinaus amüsiert er sich. Cooler Hippie. Mit seinem Schnauzbart und den schulterlangen Haaren, ein Ass. Er fährt die Mädchenklicken mit seiner grasgrünen Ente zur Schule. Er achtet auch darauf, dass die Mädels genug essen und trinken. Er hat so gut wie immer eine große Coca unter dem Beifahrersitz. Krass, wenn sich Charly beim Autofahren einhändig einen Joint dreht und mit der anderen Hand lenkt. Quietsch, da muss die Ente manch einen Schlenker mitmachen. Und die Mädchen drehen durch und kreischen wie die Wilden: „Hilfe, wir bauen noch einen Unfall! Zu Hilfe, zu Hilfe!“ Nicht doch, keine Bange. Alles im Griff! Einen von Charlys Sprüchen, dass Gras die Nerven beruhigt, finden die Mädels besonders geil. Und weil Charly ihnen das Gras rauchen erlaubt, steht er bei allen hoch im Kurs. Allen voran bei Katy. Toller Typ, ihr Charly! Aber er ermahnt auch, wenn es nötig ist: „Hasch ist viel gesünder als Nikotin. Katy und ihr Mädels, ihr seit noch Teenies, vergesst das nicht! Achtet auf eure Gesundheit!“ / Katy startet wachsam und mit einem Wahnsinnsmut in ihre neue Zukunft. „Wenn sie dich an der Basis kaputt gemacht haben - das kannst du nie mehr reparieren, meint Charly. „Aber du kannst dir ein neues Leben um das alte drum herum häkeln. Das kannst du, Katy, mach das!“ Und als Katy sogar in die CM2 versetzt wird, man glaubt es nicht, da keimt ein Körnchen Hoffnung in ihr auf. Und Katy hört drauf. Sie nennt das von nun an ihre innere, kleine Katy. Ihre Gefühls-Katy. Ihre innere Stimme. Ihre Rettung.