Читать книгу Paul und das Geheimnis seiner Ehefrau - Iris Rösner - Страница 8
Kapitel Drei
ОглавлениеPaul legte die Zeitschrift aus der Hand und klappte das Tischchen vor sich herunter. Am Ende des Ganges erspähte er bereits den Steward, der eifrig dabei war, das Essen zu verteilten. „Claire, runter mit deinem Tisch. Es gibt gleich Arbeit für meinen leeren Magen.“
„So lange mir keine Stewardess direkt in die Augen blickt, kann das mit dem Essen noch dauern“, murmelte sie. Paul sah den Gang hinunter: „Was sind schon zehn Meter?“
„Zwanzig Minuten“, antwortete seine Ehefrau belehrend, „also lass´ mich weiterlesen.“
Paul lehnte seinen Kopf an die Rückenlehen und schloss die Augen. Claires Begeisterung für diesen Urlaub hielt sich weiterhin in Grenzen. Er gab die Hoffnung nicht auf, dass sich diese negative Einstellung spätestens mit Betreten des amerikanischen Bodens ändern würde. Hoffnungsvoll nahm Paul einen Schluck Kaffee aus dem kleinen Plastikbecher und schüttelte sich. Der dunkle Wachmacher schmeckte scheußlich nach gefärbten Wasser mit einem Hauch von Kunststoff. Sein letzter Flug lag einige Jahrzehnte in der Vergangenheit, aber Paul hatte in Erinnerung, dass die Kaffeetassen damals nach Hotel Ritz und nicht nach Imbissbude aussahen. Gleiches galt für den Inhalt.
Er streckte die langen Beine seitliche am Sitz des Vordermannes vorbei und versuchte sich zu entspannen. Die letzten Wochen waren anstrengend gewesen. Er hatte die endgültige Reiseroute festgelegt, Tickets gebucht, Hotels reserviert, neue Pässe beantragt und abgeholt, die Einkaufslisten seiner Töchter entgegengenommen und schließlich die Koffer gepackt. Nicht zu vergessen, dass er seinem Nachfolger in der Firma einen sauberen Schreibtisch und ordentliche Bilanzen hinterlassen wollte. Obwohl seine Frau sich ihrem Schicksal gefügt hatte, maulte Claire noch bis zum Abflug über die bevorstehende Reise. Bei Freunden und Arbeitskollegen fanden Pauls Reisepläne hingegen großen Anklang und selbst die junge Dame im Reisebüro war von seinem Abenteuergeist begeistert.
„In Ihrem Alter noch eine Tour durch Amerika zu unternehmen. Das finde ich total megacool.“
„So alt bin ich ja auch noch nicht“, warf Paul beleidigt ein. Die Mitarbeiterin des Reisebüros lachte gekünstelt.
„Ich weiß, ich weiß, die Generation der Best Ager. 50 Plus und so. Mit Leuten wie ihnen kenne ich mich aus.“
Paul wagte, das zu bezweifeln. Frau Schnäble, wie auf dem Namensschild zu lesen war, befand sich entweder noch in der Ausbildung oder hatte diese gerade beendet. Viel älter als Achtzehn konnte sie nicht sein. Eifrig bearbeitete sie die Computertastatur und starrte konzentriert auf den Bildschirm. Paul rutschte ungeduldig auf dem Stuhl hin und her, während er aus dem Schaufenster des Reisebüros schaute. Direkt gegenüber befand sich der Eingang zum Edeka Markt, der an diesem Samstagvormittag unablässig Menschen verschlang und wieder ausspuckte. Alte Frauen zogen ihre vollgepackten Einkaufs Trolleys hinter sich her, Mütter in breiten SUVs versuchten sich am rückwärts einparken und Yuppie-Pärchen packten ihren überschaubaren Wochenendeinkauf in den Kofferraum des kleinen Sportflitzers. Ein ganz normaler Samstag im beschaulichen Seckenheim. Zu beschaulich für Paul, denn die junge Angestellte des Reisebüros war immer noch in ihren Bildschirm vertieft. Paul räusperte sich. Es war Eile geboten, ehe Claire es sich vielleicht anders überlegte. „Können Sie schon etwas zu den Hotels sagen? Für New York, Philadelphia und Washington möchte ich die Übernachtungen bereits heute buchen,“ versuchte Paul, sein Vorhaben voranzutreiben, „Ebenso wie den Mietwagen. Gibt es eine Mietwagenstation in New York? Oder muss ich dafür an den Flughafen zurück?“
Die junge Frau starrte Paul an, als hätte er ihr gerade mitgeteilt, dass er per Gummiboot nach Amerika reisen möchte. Dann nahm sie einen Tonfall an, den sie wohl benutzte, wenn sie mit kleinen Kinder oder jungen Hunden sprach: „Herr Schreiber, wir reden hier von New York. Selbstverständlich gibt es Mietwagenstation in der Stadt. In New York gibt es alles. Und zwar zu jeder Tageszeit.“
„Sind Sie schon einmal dort gewesen?“
Jetzt schaute Frau Schnäble peinlich berührt drein: „So direkt bin ich noch nicht dort gewesen. Nein.“
„Woher wissen Sie dann, dass Sie alles in New York bekommen?“
„Schauen Sie kein Fernsehen? In amerikanischen Serien können Sie alles zu jeder Uhrzeit in New York kaufen. Außerdem habe ich diverse New Yorker Freunde auf Facebook, die mich global auf dem Laufenden halten. Ich bin daher immer up to date.“
Paul nickte. Von Facebook hatte er schon gehört. Selbst Twitter war ihm ein Begriff. Er nutzte das Internet um sich zu informieren oder Mails zu schreiben. Mehr unternahm er nicht in der virtuellen Welt. Privat bevorzugte er das Telefon und auf der Arbeit suchte er den persönlichen Kontakt zu seinen Kollegen, um Probleme und Fragen zu klären. Seine nächste Reise würde er jedoch im Internet buchen, so schnell wie Frau Schnäble war er alle mal.
Claires Fingernagel, der ihm in die linke Schulter gebohrt wurde, holte Paul aus seinen Gedanken. „Was ist los?“, bellte er. Statt einer Antwort folgte er Claires Zeigefinger mit den Augen in Richtung Flugzeuggang. Ein Lächeln, das Paul an einen Breitmaulfrosch erinnerte, und von einer unnatürlichen braunen Haut umrandet war, starrte ihn erwartungsvoll an.
„Möchte der Herr Pute oder Pasta?“
„Haben Sie auch Schnitzel mit Pommes?“
Claires Fingernagel kam erneut zum Einsatz. Dieses Mal etwas fester.
„Aua“, jammerte Paul, „war doch nur ein Scherz.“
„Du hältst den ganzen Betrieb auf, Paul.“
„Wir sind doch noch gut sechs Stunden unterwegs. Da bekommt jeder was zum Futtern.“
„Geben Sie ihm die Pute“, übernahm Claire das Kommando, „Nicht, dass bei den anderen Passagieren der Blutzuckerspiegel sinkt und eine Meuterei zu befürchten ist.“
Der aalglatte Steward lächelte gequält und reichte Paul sein Essen. Während Claire eifrig das Plastikbesteck aus der Tüte riss, schaute Paul sie finster an. „Was?“, fauchte Claire und versuchte, gleichzeitig eine Nudel mit den Zacken der Gabel aufzuspießen.
„Was sollte das eben? Wir haben doch Zeit. Pute oder Pasta? Ist doch egal. Schmeckt bestimmt alles gleich scheußlich.“
Claire legte ihre Gabel aus der Hand und ließ die Schulter sinken.
„Es tut mir leid. Du hast Recht – ich bin etwas angespannt in letzter Zeit.“
Paul umarmte Claire und drückte sie, soweit es möglich war, eng an seine Schulter.
„Was ist denn los mit dir? Ich weiß ja, dass du nicht gerade vor Freude in die Luft gesprungen bist, als ich dir von meinen Plänen erzählt habe. Daher habe ich dich, so gut es ging aus den Vorbereitungen herausgehalten.“
„Ich hätte aber gerne ein bisschen mit geplant.“
Paul schob Claire ein Stück von sich fort und sah sie überrascht an: „Warum hast du nichts gesagt?“
Claire druckste herum, dann rückte sie mit der Sprache heraus: „Du warst voller Begeisterung. Du hattest eine Aufgabe. Du bist nicht mehr mit Leichenbittermiene durch das Haus geschlurft und hast gejammert‚ was mache ich nur den ganzen Tag im Ruhestand, ich armer, herzkranker Mann‘.“
„So schlimm war ich gar nicht.“
„Du hast Vicky angeboten, ihr Bad zu renovieren, inklusive Fliesenarbeiten und Marie wolltest du beim Ausmisten helfen. Du, der sich von nichts trennen kann.“
„Ich bin halt ein liebevoller Vater, der seine Töchter vergöttert und ihnen bei den schweren Aufgaben im Leben stets behilflich ist.“
„Deine Kinder sind erwachsen. Und wenn sie Hilfe brauchen, dann kommen sie angerannt. Keine Sorge.“
Paul wandte sich wieder seiner Pute zu und blickte durch den Plastikdeckel auf ein fein geschnittenes Stück helles Fleisch. Sein Flugzeugessen sah nicht schlecht aus und beim Öffnen der unhandlichen Plastikverpackung stieg ihm ein angenehmer Duft in die Nase. Selbst die Minigurken und kleinen Tomaten erfreuten sich einer erstaunlich knackigen Qualität. Paul spießte ein Stück Pute auf und schob es sich schwungvoll in den Mund. Eine Geschmacksüberraschung breitete sich in seinem Mund aus.
„Mensch Claire, das schmeckt ja.“
„Was hast du erwartet? Panierte Pappe?“
Paul entging der sarkastische Unterton in Claires Stimme nicht. Ihre Gemütsschwankungen waren in den letzten Wochen unberechenbar gewesen. Dabei war Claire selbst in ihren Wechseljahren eine Ausgeburt an Sorglosigkeit. Obwohl Paul sich auf eine hormonelle Berg- und Talfahrt eingestellt hatte. Doch Claire überrascht ihn ein ums andere Mal.
Hitzewallungen, Stimmungsschwankungen oder Schlafstörungen blieben aus. Seine Ehefrau ging förmlich in ihrer Yoga-Ausbildung auf, die sie bisweilen für eine Woche aus der häuslichen Umgebung fortlockte. Claires Abwesenheit nutzte Paul, um seine Vater-Tochter Beziehung zu stärken. Vicky und Marie waren damals siebzehn und fünfzehn Jahre alt und somit dem Gröbsten entwachsen. Gemeinsam saßen sie abends vor dem Fernseher mit Pizza vom Lieferdienst auf den Schoß. Paul ging sogar mit seinen Töchtern auf der Mannheimer Einkaufsmeile, den Planken, shoppen. Aus dieser Zeit besaß er noch heute einen orangefarbenen Pullover, zu dem ihn seine Töchter überredet hatten. Seit mehr als einem Jahrzehnt vermoderte das gute Stück in Pauls Kleiderschrank.
Seiner Ehefrau gönnte er die Auszeit von der Familie, kam Claire doch stets ausgeglichen und überraschend ausgehungert nach Sex von ihren Yoga-Wochenenden zurück. Dann umgarnte sie Paul wie eine Katze. Sie flüsterte ihm in der Küche kleine Unanständigkeiten ins Ohr und ließ die Finger nicht von seinem Po. Von Lustlosigkeit in den Wechseljahren war weit und breit keine Spur. Dafür schien seine Ehefrau in den letzten sechs Wochen sämtliche Gemütsschwankungen aus dieser weiblichen Lebensphase nachgeholt zu haben. Sie ließ keinen Vorwand aus, um nicht ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu reisen.
„Ich will aber nicht extra wegen den blöden Amerikanern einen neuen Reisepass. Meiner ist noch gut. Erst acht Jahre alt, kaum gebraucht und teuer war er auch,“ beschwerte sie sich bei Paul. Dieses Argument ließ er jedoch nicht gelten. „Die Zeiten ändern sich und wir benötigen neue Pässe. Nun komm´ schon.“
„Dafür müssen wir jetzt extra in die Innenstadt fahren,“ versuchte Claire, ihrem Unwillen Ausdruck zu verleihen.
„Das schreckliche Los der Bevölkerung aus Vorstädten“, erwiderte Paul und schnappte sich an diesem kühlen Januartag seine blaue Wollmütze.
„Ich sehe immer so schrecklich aus auf Passbildern. Meine Passbilder schreien förmlich nach ‚Verbrecher und Gangster‘.“
„Und wenn ich dich anschließend ins Café Herrdegen in die Innenstadt einlade? Zu Kaffee und Mannheimer Dreck?“
„Und anschließend bummeln wir noch ein wenig durch das neue Stadtquartier Q6Q7, mit seinen schicken Geschäften?“
„Um für dich die Sonne scheinen zu lassen, mache ich alles.“
Trotz der Bemühungen und Zugeständnissen von Pauls Seite, wollte Claire die Reise dennoch absagen. Immerhin ließen die Aussicht auf Besuche im Museum of Modern Art in New York und der Nationalgalerie in Philadelphia Claires Bedenken bezüglich der Reise wie Eiszapfen in der Sonne schmelzen.
Mit einem Gefühl der Sättigung drückte Paul dem Steward die leere Essensverpackung in die Hand und bestellte einen Tomatensaft. Der kleine Bildschirm zwei Reihen vor ihm zeigte die Route samt der aktuellen Flughöhe des Fliegers an. Sie befanden sich zehntausend Meter über dem Boden. 2140 Kilometer lagen hinter ihnen, aber es war noch ein langer Weg, bevor sie neue Welten erobern konnten. Liebevoll strich Claire über Pauls knochige Hand, die den einen oder anderen Altersfleck. Er ließ die Rückenlehne nach hinten sinken und lehnten sein erschöpftes Haupt an die Kopfstütze. In seinen Armen und Beinen spürte er die Anstrengungen der letzten Tage, doch in seinem Kopf ging es hoch her. Hatten Sie alles Nötige eingepackt? Ihre Medikamente, die Pässe, alle erforderlichen Reiseunterlagen? Befanden sich die Kreditkarten und die Reiseauslandsversicherung in seinem Handgepäck? Paul schüttelte mit dem Kopf und versuchte dadurch eine wenig Ordnung in seine Gehirngänge zu bringen.
Er schaute hinüber zu Claire, die ihr müdes Haupt auf ein kleines Kissen gebettet hatte, dass zwischen Flugzeugfenster und Rückenlehne klemmte. Zärtlich strich er über ihre Hand. Claire sah mit ihren zweiundsechzig Jahren im Schlaf immer noch zerbrechlich und verführerisch zugleich aus. Die vollen Lippen waren leicht geöffnet, eine dunkle Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht und die schlanken Beine hatte sie fast bis zur Brust hochgezogen. Claire sah aus wie ein Kätzchen, dass es sich vor dem Kamin gemütlich gemacht hat. Dabei hinkte der Vergleich, wenn Paul gedanklich vierundzwanzig Stunden zurückwanderte. Da fegte ein tasmanischer Teufel durch ihr Schlafzimmer und schrie unentwegt „Wie soll ich mit nur einem Koffer zurechtkommen“ oder „Wohin mit meinen Schuhen?“. Hin und wieder warf dieser Teufel Paul böse Blicke zu, weil er längst mit dem Packen fertig war. Er hatte einfach seine Lieblingskleidung in den Koffer geworfen, Badeshorts sowie Sandalen oben draufgelegt und ohne Probleme den Deckel seines Reisegepäcks geschlossen. Falls er wirklich mehr Kleidung benötigen sollte, dann ging er halt einkaufen. In Amerika soll alles unglaublich günstig sein, laut seiner Tochter Vicky, die ihm gestern noch eine Einkaufsliste zugesteckt hatte.
„Zwei Latzhosen von Oshkosh in Größe 104. Alternativ nehmen wir auch normale Jeans. Aber sie müssen einen Rundumgummibund haben. Knöpfe sind unpraktisch. Außerdem noch drei Sweatshirts von GAP, Turnschuhe von Converse in Größe 26, 30 und 39. Die 39er bitte nicht in grellen Farben, die sind nämlich für mich, und noch zwei 501 Jeans von Levis. In den Outlets bekommst du die Sachen oft bis zu 70 Prozent günstiger. Ihr habt doch noch eine weitere Reisetasche dabei, oder?“
„Nein, die kaufen wir im Outlet.“
„Eine weise Entscheidung, Paps.“
Die Liste verstaute Paul im Koffer und kehrt anschließend zurück zu Claire, um ihr seelischen Beistand beim Packen zu leisten. Sie saß inmitten von einem Berg Kleidung und hielt verzweifelt eine Jeans in den Händen, während sie sich im Kleiderberg umsah.
„Eine gute Wahl“, merkte Paul an, „Jeans kann man immer tragen, oder? Vor allem im Land der Jeans. Jeans sind schließlich echte Amerikaner. Jetzt noch ein paar spitze Stiefel und ein Cowboyhut dazu und du hast das perfekte Outfit für eine USA-Reise.“
Augenblicklich traf ein blaues T-Shirt Paul am Kopf.
„Verschweigst du mir irgendetwas? Machen wir vielleicht Urlaub auf einer Ranch? Ich hasse Kühe und reiten durch die texanischen Weiten will ich auch nicht.“
Paul ließ sich neben Claire auf den Boden sinken.
„Ach Claire, jetzt mach´ es dir nicht so schwer. Eine schöne Frau wie du zieht selbst in Gummistiefeln und Latzhose alle Blicke auf sich.“
Bei diesen Worten verwandelten sich Claires hängende Mundwinkel in ein strahlendes, nach oben geöffnetes Hufeisen. Während Claire nach dem Packen eine Liste mit Anweisungen für Vicky schrieb, kraulte Paul ihren zwei Stubentigern ausgiebig den Bauch. Wer wusste, ob Marie oder Vicky Zeit für solche Schmusestunden mitbrachten oder ob lediglich das Füttern und die Reinigung des Katzenklos auf dem Programm stand.
In der Nacht vor ihrer Abreise hatte er fantastisch geschlafen. Er schwang sich daher gut gelaunt an seinem ersten offiziellen Tag als Rentner aus dem Bett. Leise schlüpfte er in Bademantel und Pantoffeln, um Claire nicht zu wecken, und begab sich auf sein erstes Abenteuer: Er folgte dem Geruch von frisch gebrühtem Kaffee. Wer konnte das sein? Einbrecher, die Kaffee kochen?
„Morgen Papa“, begrüßte ihn seine jüngere Tochter Marie und drückte ihm einen Kuss auf die Backe, „Wer eine lange Reise antritt, der sollte ordentlich frühstücken.“
Mit einem Lächeln im Gesicht präsentierte sie Paul eine Brötchentüte von seinem Lieblingsbäcker, der sich auf der Seckenheimer Hauptstraße befand. Der köstliche Geruch von buttrigen Croissants, knusprigen Weizenbrötchen und salzigen Laugenbrezeln stieg in seine Nase. Vergnügt goss Paul sich eine große Tasse Kaffee ein und griff zu einer Laugenbrezel. Ein großzügiges Stück Butter landetet auf der Brezel, bevor Paul es genüsslich in den Mund stopfte und kauend seiner Tochter eröffnete: „Du bist mein Lieblingskind, weißt Du? Aber verrate es Vicky nicht.“
Marie schüttelte den Kopf, ließ sich im Schneidersitz auf der Sitzbank nieder und zerrupfte anschließend ein Croissant, welches einen Umweg über den Milchkaffee nahm, bevor es in ihrem Mund landete.
„Wenn Du mir jeden Morgen Brötchen von meinem Lieblingsbäcker servierst, enterbe ich Vicky und hinterlasse dir mein ganzes Reich,“ dabei schwenkte Paul ausladend mit den Armen durch die Küche.
„Den Rest des Hauses will ich auch. Und nicht nur die Küche.“
„Meine ich doch mit ‚mein ganzes Reich‘.“
Marie dachte über den Vorschlag nach und rückte ihre schwarze Brille auf der Nase zurecht.
„Ich verzichte dankend und bleibe weiterhin in meiner kuscheligen Mansardenwohnung in Heidelberg wohnen. Da werde ich sonntags wenigstens nicht in aller Herrgottsfrühe von den Kirchglocken geweckt. Ich brauche schließlich meinen Schönheitsschlaf.“
Paul tätschelte seiner Tochter den Kopf: „Schönheitsschlaf hast du doch gar nicht nötig.“
„Das sagen alle Väter.“
„Nein, schau dir deine Mutter an. Sie ist zweiundsechzig und anziehender als je zuvor.“
Marie zog skeptisch die Augenbrauen hoch.
„Für eine Frau Anfang sechzig vielleicht. Aber ich bin auf der Suche nach einem Ehemann, der die fünfunddreißig noch nicht überschritten hat. Auf Erbschleicherei à la Anna Nicole Smith habe ich keine Lust.“
„Ja, allein schon wegen dem Erbschaftsärger mit Sippschaft des alten Knackers. Kann ich total verstehen.“
Marie knuffte ihren Vater in die Seite.
„Mach´ dich nur über mich lustig. Dann kannst Du sehen, wer dich zum Flughafen fährt.“
Marie verzog sich in die Ecke der Sitzbank und schlürfte ihren Milchkaffee aus einer großen Tasse. Paul wollte sich noch ein wenig mit seiner Tochter kabbeln. Das vermisste er am meisten, seit Marie vor acht Jahren zum Studium das Haus verlassen hatte. Ihre täglichen Dispute. Den verbalen Schlagabtausch. Ein Witz folgte dem anderen. Eine Pointe nahm die Nächste. Marie war seine Tochter. Durch und durch. Obwohl die Jahre an der Universität sie verändert hatten. Ernster war sie geworden. „Einfach nur Erwachsen“, meinte Claire damals, als er seine Bedenken äußerte. Das stimmte natürlich. Aber für Paul würde Marie immer seine mutige Amazone sein, die frechen Jungs eins auf die Nase schlug und anschließend schneller als der Wind davon sauste. Bis zur Pubertät konnte Paul den Eindruck nicht loswerden, dass Marie ein Junge hätte werden sollen. Dann überfiel eine Horde Hormone seine Tochter und die burschikose Marie verwandelte sich in eine selbstbewusste junge Frau, die zu Lippenstift und Handtaschen schlecht Nein sagen konnte. An ihrem mathematischen Verständnis hatte sich trotz Hormonschub nichts geändert. Das Jonglieren mit Zahlen war Maries Welt und würden es auch in Zukunft bleiben. Mittlerweile war seine „Kleine“ siebenundzwanzig Jahre alt und Doktorandin am Lehrstuhl für Mathematik in Mannheim.
Die Lichter im Flugzeug wechselten in den Nachtmodus. Von Claire hörte Paul nur tiefe und gleichmäßige Atemzüge. Bewundernswert, dass sie schlafen konnte. Das mochte daran liegen, dass Claire sich in der letzten Nacht lediglich hin und her gewälzt hatte. Trotz Kaffeeduft im ganzen Haus schlich sie erst gegen zehn Uhr wortlos in die Küche. Paul bekam einen Kuss auf den Kopf, Marie eine kurze Umarmung. Dann streckte sie sich, legte die Arme in den Nacken und fing auf einem Bein stehend an in der Lautstärke eines brüllenden Gorillas zu gähnen. Bei jedem Gähnen entblößte Claire ihre Zähne und gab den Blick frei auf ihre zwei goldenen Kronen. Anschließend räusperte sie sich und verkündete: „Wir können heute nicht in den Urlaub fahren.“
„Das ist ja mal eine ganz neue Info aus deinem Mund, Mama“.
Streng blickte Claire ihre Jüngste an.
„Ich habe so ein Ziehen in meinem rechten Backenzahn.“
„Deine Krone ist locker?“, fragte Marie frech.
Claires dicke V-förmige Falte über dem Nasenbein kam zum Vorschein.
„Mein liebes Kind, du solltest die hellseherischen Fähigkeiten meiner Krone nicht unterschätzen. Ein Unglück bahnt sich an. Da bin ich mir sicher. Vielleicht stürzen wir ab oder unsere Koffer kommen nicht mit oder wir lassen den Herd an oder den Wasserhahn laufen oder …“
„Oder Du setzt dich jetzt an den gedeckten Tisch“, fiel ihr Marie ins Wort, „trinkst einen Schluck Kaffee und freust dich auf eine atemberaubende Stadt. Hast du verstanden Mama?“
„Du behandelst mich wie eine demenzkranke Neunzigjährige, die nicht weiß, ob sie Männlein oder Weiblein ist.“
Wütend ließ Claire sich auf den Stuhl plumpsen. Paul stand währenddessen auf und stellte sich hinter seine Frau. Sanft begann er ihr den Nacken zu massieren.
„Okay, okay, dann fahren wir nicht nach Amerika, sehen nicht das Empire State Building, das Lincoln Monument oder die Freiheitsglocke und schießen obendrein einen Haufen Geld in den Wind. Für dich, mein Schatz tue ich alles.“
Fünf Minuten lang sagte Niemand ein Wort. Nur leises Kaffee schlürfen und Essgeräusche waren in der Küche zu vernehmen.
„Nun ja … das MOMA in New York oder die Nationalgallery in Philadelphia sollen sehr beeindruckend sein. Ein Mekka für Kunstfreunde.“
Freudig sprang Paul auf und drückte Claire einen Kuss auf den Kopf: „Du wirst es nicht bereuen.“
Bisher verlief alles nach Plan. Es war keine Katastrophe in Sicht. Paul nahm sich das Minikissen und versuchte, sein müdes Haupt auf zwanzig mal zwanzig Zentimeter zu betten. Die Rückenlehne hatte er bis zum Anschlag nach hinten gefahren, aber die Freiheit für seine Beine blieb überschaubar. Paul fragte sich, ob die Flugzeugreihen in den letzten Dreißig Jahren geschrumpft waren oder ob er aufgrund seines gehobenen Alters den Platzmangel beklemmend empfand. So musst es sich in einem Sarg anfühlen. Allerdings bestand in der letzten Ruhestätte die Möglichkeit, die eigenen Beine gemütlich auszustrecken. Hier im Flieger war die Aussicht auf mehr Komfort in der Holzklasse hoffnungslos. So hoffnungslos wie die Suche nach einem freien Parkplatz vor dem Terminal 1 am Frankfurter Flughafen. Für Marie und ihren kleinen Fiat 500 stellte die Suche nach einem freien Platz kein Problem dar. Für Pauls lange Beine und die zwei großen Reisekoffer erwies sich der Fiat 500 als erhebliches Problem. Nachdem endlich die Koffer im Auto verstaut, der Herd und die Wasserhähne kontrolliert und Claire auf den Rücksitz verfrachtet worden war, konnte das Abenteuer beginnen. Auf der einstündigen Fahrt zum Flughafen pries Marie die Vorzüge der Vereinigten Staaten an: „Weißt du Mama, ich war erst letztes Jahr auf einer Konferenz in Amerika. Es war toll. Auch wenn die meisten Menschen das von Atlanta nicht behaupten. Aber die Hauptstadt von Georgia ist Amerika durch und durch. Totaler USA Style“, lobte ihre Tochter bei 150 km/h Fahrtgeschwindigkeit ihr Urlaubsland. „In Amerika einen Burger zu essen ist ein Erlebnis. Die sind gigantisch und beim Reinbeißen quillt es an allen anderen Seiten heraus. Das ist vielleicht eine Sauerei.“
Aufmunternd lachte Marie ihrer Mutter aus dem Rückspiegel entgegen. Doch Claires Mundwinkel verzogen sich keinen Millimeter nach oben. „Ich denke, auf die Erfahrung, mich von oben bis unten mit Essen voll zu kleckern, kann ich gerne noch ein oder zwei Jahrzehnte verzichten. Mit dem Alter kommt das unweigerlich.“
„Ach Mama ...“, seufzte ihre jüngere Tochter.
„Ach Marie, ich weiß wie Amerika ist. Wie du dich sicher erinnerst, fahre ich nicht zum ersten Mal in die USA. Dein Vater vielleicht, aber ich nicht.“
Marie überholte rasant einen LKW und setzte dann die Diskussion mit ihrer Mutter fort. „Ich erinnere mich. Da gab es mal ein Leben ohne deine wundervollen Töchter, indem du die Welt von Nord nach Süd und von West nach Ost bereist hast.“
„Ja, Claire,“ warf Paul ein, „aber Zeit, dir die Städte genauer anzuschauen, hattest du damals nicht. Keine Sorge, das holen wir jetzt gemeinsam nach.“
Sie fuhren gerade am Frankfurter Kreuz von der Autobahn ab, als Marie zum Thema Amerika noch etwas einfiel: „Lediglich die Einreise hat ein wenig länger gedauert. Die Amis sind da schon sehr penibel, wen sie in ihr gelobtes Land hereinlassen.“
„Du hattest Probleme?“, hakte Claire nach, „davon hast du nie was erzählt, Schatz.“
„Aber Mama, doch nur bei der Einreise. Und das stellte sich schnell als Systemfehler oder so was ähnliches heraus. Also kein Grund zur Aufregung.“
Im Flieger war es mittlerweile ruhig geworden. Hier und da vernahm Paul ein Grunzen oder lautes Schnarchen. Aber davon abgesehen, war es friedlich an Bord. Paul genoss diese Ruhe. Die letzten zwei Wochen hatten ihn sehr aufgewühlt. Das würde er vor Claire niemals zugeben. Seine Ehefrau wirkte in den letzten Vierzehn Tagen, trotz ihrer wöchentlichen Yoga-Stunden, wie das Duracell-Häschen. Wenn ihre Nervosität auf dem Höhepunkt schien, griff Claire zum Hörer und telefonierte mit ihrer Schwester in der Schweiz. Zumindest nahm Paul an, dass Claire mit ihrer Schwester sprach. Denn wen sonst, wenn nicht ihre Schwester, sollte Claire in der Schweiz kontaktieren? Nur mit Estelle sprach sie Französisch. Dann schossen die Wörter aus ihrem Mund heraus. Wie die Salven eines Maschinengewehrs. Paul verlor bei dem Tempo jegliches Interesse, dem Gespräch zu folgen. Er gähnte und überlegte, ob er ein wenig im Reiseführer lesen sollte. Seitenweise hatte er zu Hause bereits die Reiseliteratur zur Ostküste Amerikas gewälzt, um mit dem Reisebüro die endgültige Route sowie die Flüge abzustimmen. Seine Kollegen ließen es sich nicht nehmen, ihm zum Abschied den Mietwagen in New York zu schenken. Er war etwas in Sorge, was für ein Gefährt ihn erwarten würde. Seine Kollegen feixten und lachten, als sie ihm feierlich den Gutschein von der Mietwagenfirma in die Hand drückten. Mit dem Abschied aus der Firma beschloss Paul, sich mehr den unvorhergesehenen Dingen des Lebens zu widmen. Die letzten Jahre konnte er sich mit Überraschungen, welcher Art auch immer, nicht anfreunden. Im Gegenteil. Sein Leben als Familienvater musste planbar und überschaubar sein. Feste Regeln und Rituale waren ihm wichtig. Privat wie beruflich. Er freute sich bereits mittwochs auf die frischen Brötchen, die er jeden Samstag beim Bäcker kaufte. Dann frühstückten Claire und er ausgiebig und teilten sich die Wochenendausgabe des Mannheimer Morgen. Im Job sah es ähnlich aus. Am Ende eines Monats standen die Abschlüsse auf dem Programm. Die Bilanz erstellte sich nicht von. Sein Leben in den letzten Jahrzehnten war gradlinig und vorhersehbar. Es verlief nach Pauls Geschmack. Aber die Zeiten standen auf Veränderung. Mit seinen sechzig Lenzen spürte er diesen unwiderstehlichen Drang nach Neuem, nach unentdeckten Land, nach weißen Flecken auf seiner Landkarte. Paul warf einen Blick aus dem Fenster. Er freute sich auf das Abenteuer, genoss das Kribbeln in seinem Bauch und die Sehnsucht nach dem Unerwarteten. „Rentnerdasein pass´ auf, Paul kommt“, ging es ihm durch den Kopf, bevor die Müdigkeit Besitz von seinem Körper ergriff.