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Was geschieht mit dem Wissen, wenn das Kind einmal »weiß«?
ОглавлениеDas Gewusste bleibt nicht gewusst. Matilda McIntire, Carol Angle und Lorraine Struempler fragten 598 Kinder danach, ob ein totes Schoßtier weiß, dass sein Besitzer es vermisst, und sie fanden heraus, dass siebenjährige Kinder bei weitem mehr dazu neigen als elf- und zwölfjährige, die Endgültigkeit und Unveränderbarkeit des Todes zu akzeptieren.44 Ein ähnliches Ergebnis berichten Irving Alexander und Arthur Adlerstein, die eine große Zahl von Kindern zwischen fünf und sechzehn Jahren mit dem GSR (Galvanische Hautreaktion – ein physiologisches Maß für Angst) testeten, wobei sie einer Serie von Wörtern mit Todesbezug, die in eine Serie neutraler Wörter eingestreut waren, ausgesetzt wurden.45 Sie teilten die Kinder in drei Gruppen ein: Kindheit (5-8), Präadoleszenz oder Latenzphase (9-12) und Adoleszenz (13-16). Die Ergebnisse wiesen darauf hin, dass die jungen Kinder (und die Adoleszenten) eine wesentlich größere emotionale Reaktion auf Wärter mit Todesbezug zeigten als die Versuchspersonen der Latenzzeit. Die Autoren zogen den Schluss, dass die Latenzzeit eine gesegnete Phase ist, das »goldene Zeitalter« der Kindheit. »Die Kinder in diesem Alter scheinen zu sehr mit der Routine des Lebens und den dazugehörigen Vergnügungen beschäftigt zu sein, als dass sie sich mit dem Begriff des Todes befassen.«
Ich glaube, dass es einen weniger blauäugigen Weg gibt, diese Ergebnisse zu erklären, nämlich dass das Kind im frühen Alter über die »wahren Ursachen des Lebens« stolpert, dass die einsame Suche des Kindes es zur Entdeckung des Todes führt. Aber das Kind ist von der Entdeckung überwältigt und erfährt ursprüngliche Angst. Obwohl das Kind nach Bestätigungen sucht, muss es sich mit dem Tod auseinandersetzen: Es gerät angesichts des Todes vielleicht in Panik, verleugnet ihn, personifiziert ihn, verachtet ihn, verdrängt ihn, verschiebt ihn, aber es muss sich mit ihm auseinandersetzen. Während der Latenzzeit lernt das Kind (oder es wird ihm beigebracht), die Realität zu negieren; und allmählich, während das Kind wirksame und verfeinerte Formen der Verleugnung entwickelt, gleitet die Bewusstheit des Todes in das Unbewusste ab, und die ausdrückliche Furcht vor dem Tod lässt nach. Die sorgenfreien Tage der Präadoleszenz – das »goldene Zeitalter« der Latenzzeit – verringern die Todesangst nicht, sondern gehen aus ihr hervor. Obwohl man in der Latenzzeit viel allgemeines Wissen erwirbt, zieht man sich gleichzeitig vom Wissen über die Tatsachen des Lebens zurück. Und es ist die Bewusstheit des Todes ebenso wie die kindliche Sexualität, die »latent« ist. Während der Adoleszenz sind die Verleugnungssysteme der Kindheit nicht mehr wirksam. Die introspektiven Tendenzen und die größeren Ressourcen der Adoleszenz erlauben ihm oder ihr, sich der Unausweichlichkeit des Todes wieder einmal zu stellen, die Angst zu ertragen und nach einem veränderten Modus des Umgangs mit den Tatsachen des Lebens zu suchen.