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Todesangst und die Entwicklung der Psychopathologie

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Wenn die Todesangst ein wesentlicher Faktor in der Entwicklung der Psychopathologie ist, und wenn es eine wesentliche Entwicklungsaufgabe jedes Kindes ist, mit dem Todesbegriff klarzukommen, warum entwickeln einige Personen sie behindernde neurotische Störungen, und andere erreichen das Erwachsenenstadium auf relativ gut integrierte Weise? Es gibt keine empirische Forschung, die uns helfen würde, diese Frage zu beantworten, und im Augenblick kann ich nicht mehr tun, als Möglichkeiten aufzuzeigen. Zweifellos interagieren eine Vielzahl von Faktoren auf komplexe Art. Es muss ein »ideales« Timing oder eine Sequenz von Entwicklungsereignissen geben: Das Kind muss sich mit den Fragen in einem Tempo auseinandersetzen, das mit seinen inneren Ressourcen vereinbar ist. »Zuviel zu früh« schafft offensichtlich ein Ungleichgewicht. Ein Kind, das mit dem Tod hart konfrontiert wird, bevor es angemessene Abwehrkräfte entwickelt hat, kann ernsthaft gestresst sein. Ernsthafter Stress, der zu allen Zeiten des Lebens unbequem ist, hat für das Kind Implikationen, die über vorübergehende Stimmungstiefs hinausgehen. Freud beispielsweise sprach von dem unverhältnismäßig schweren und andauernden Schaden für das Ich, der durch massive Traumata früh im Leben verursacht werden kann, und er zitiert zur Veranschaulichung ein Experiment in der Biologie, das die katastrophalen Wirkungen auf den erwachsenen Organismus demonstrierte, die durch einen winzigen Nadelstich in das Embryo ganz zu Beginn seiner Entwicklung ausgelöst wurden.70

Um welche Art von Trauma mag es sich handeln? Verschiedene offensichtliche Möglichkeiten bieten sich an. Es ist ein wichtiges Ereignis, wenn das Kind in seiner Umgebung dem Tod ausgesetzt wird; einige Arten des Kontakts mit dem Tod können – in angemessener Dosierung und beim Vorhandensein bereits entwickelter Ich-Stärke, gesunder Konstitution und in der Gegenwart unterstützender Erwachsener, die selbst auf angemessene Weise mit der Todesangst umgehen können – zu einem harmlosen Ereignis werden, während einige Arten des Kontakts mit dem Tod die Fähigkeiten des Kindes, sich selbst zu schützen, übersteigen mögen. Jedes Kind ist dem Tod in der Begegnung mit Insekten, Blumen, Schoßtieren und anderen kleinen Tieren ausgesetzt, und diese Tode können Quellen der Verwirrung oder Angst sein und das Kind dazu veranlassen, Fragen über den Tod und Ängste davor mit seinen Eltern zu besprechen. Aber bei einem Kind, das dem Tod eines Menschen gegenübersteht, ist die Wahrscheinlichkeit eines Traumas viel größer.

Der Tod eines anderen Kindes ist, wie ich erläutert habe, besonders furchterregend, weil er den tröstenden Glauben, dass nur sehr alte Menschen sterben, untergräbt. Der Tod eines Geschwisters, das sowohl jung als auch wichtig für das Kind ist, ist ein noch größeres Trauma. Die Reaktionen des Kindes darauf können sehr komplex sein, denn verschiedene Punkte spielen dabei eine Rolle: Schuld, die von der Geschwisterrivalität herrührt (und aus der Freude, mehr elterliche Aufmerksamkeit zu erhalten), Verlust des anderen und das Hervorrufen von Furcht vor dem eigenen persönlichen Tod. Die Literatur beschäftigt sich vor allem mit dem ersten Punkt, der Schuld, und gelegentlich mit dem zweiten, dem Verlust, aber fast nie mit dem dritten. Beispielsweise präsentieren Rosenzweig und Bray Daten, die darauf hinweisen, dass bei schizophrenen Patienten signifikant häufiger der Tod eines Geschwisters vor dem sechsten Lebensjahr des Patienten vorkommt, wenn man sie mit normaler Population vergleicht, mit einer manisch-depressiven Stichprobe und mit einer Stichprobe von paretischen Patienten.71

Rosenzweig bietet die übliche analytische Interpretation seines Untersuchungsergebnisses an – nämlich dass überwältigende Schuld, die aus zwischengeschwisterlicher Feindseligkeit und inzestuösen Gefühlen stammt, ein wichtiger Faktor bei der Erzeugung schizophrener Verhaltensmuster ist. Um diese Schlussfolgerung zu unterstützen, präsentiert er drei kurze Fallbeispiele (in je einem Abschnitt). Trotz der Kürze der Berichte und der Selektion aus einer riesigen Stichprobe klinischen Materials für die Unterstützung seiner These, gibt es Beweise für die Furcht vor dem persönlichen Tod in zwei der drei Beispiele. Ein Patient, der seine Mutter und zwei Geschwister früh in seinem Leben verloren hatte, reagierte sehr stark auf den Tod einer Cousine: »Er war so tief verstört, dass er krank wurde und ins Bett gehen musste: Er fürchtete ständig, dass er sterben würde. Der Arzt diagnostizierte einen Nervenzusammenbruch. Der Patient zeigte bald das bizarre Verhalten eines Schizophrenen.«72 Ein anderer Patient verlor drei Brüder, den ersten, als er sechs Jahre alt war. Er entwickelte eine Psychose im siebzehnten Lebensjahr, kurz nach dem Tod des dritten Bruders. Die einzige Aussage, die von diesem Patienten zitiert wird, legt nahe, dass mehr als Schuld bei seiner Reaktion auf den Tod eine Rolle spielt. »Ich habe seine Stimme gelegentlich gehört. Manchmal scheine ich fast er zu sein. Ich weiß nicht, da scheint eine Leere im Weg zu sein … Ja, wie kann ich über eine Leere wie seinen Tod hinwegkommen? Mein Bruder ist tot, und ich bin – nun, ich bin am Leben, aber ich weiß nicht … «73 Diese hochselektive Art des Fallberichts beweist nichts. Ich habe diesen Punkt herausgearbeitet, um die Probleme bei der Interpretation der Forschungsliteratur zu veranschaulichen. Die Forscher und Kliniker sind »eingefahren« und haben Schwierigkeiten, den Bezugsrahmen zu verändern, selbst dann, wenn, wie bei dieser Forschung, eine andere Erklärung völlig plausibel und mit den Daten in Übereinstimmung zu sein scheint.

Wenn man sowohl den Verlust eines Elternteils als auch den Verlust eines Geschwisters betrachtet, findet man in Rosenzweigs Forschung, dass über 60 Prozent der schizophrenen Patienten einen frühen Verlust erlitten hatten. Vielleicht haben die schizophrenen Patienten dann »zuviel zu früh« erlebt. Diese Patienten waren dem Tod nicht nur zu sehr ausgesetzt, sondern wegen des Grads an Pathologie in der Familienumgebung waren die Familien und die Patienten auch besonders unfähig, mit Todesangst umzugehen. (Harold Searles kam, wie ich im vierten Kapitel erläutern werde, auf der Grundlage seiner psychotherapeutischen Arbeit mit erwachsenen Schizophreniepatienten zu den gleichen Schlussfolgerungen.74) Der Tod eines Elternteils ist ein katastrophales Ereignis für das Kind. Seine Reaktionen hängen von vielen Faktoren ab: Die Qualität seiner Beziehung zu dem Elternteil, die Umstände des Todes des Elternteils (war das Kind beispielsweise Zeuge eines natürlichen oder eines gewaltsamen Todes?), die Haltung des Elternteils während seiner oder ihrer Schlussphase der Krankheit und die Existenz eines starken überlebenden Elternteils und ein Netzwerk von Gemeinschafts- und Familienressourcen.75 Das Kind erleidet einen tiefen Verlust, und darüber hinaus fühlt es sich außerordentlich bedrängt von seinen Sorgen darüber, dass sein aggressives Verhalten oder seine Fantasien über den Elternteil zu dessen Tod beigetragen haben könnten. Die Rolle des Verlusts und der Schuld ist gut bekannt und wurde in kompetenter Weise von anderen erörtert.76 In der traditionellen Literatur über Verluste wird jedoch eine Betrachtung der Wirkung des Todes eines Elternteils auf die Bewusstheit des Kindes von seinem Tod ausgelassen. Wie ich zuvor betont habe, ist Vernichtung die ursprüngliche Angst der Person und ist verantwortlich für einen großen Teil der Qual bei seiner oder ihrer Reaktion auf den Verlust eines anderen Menschen. Maurer drückt das treffend aus: »Auf einer Ebene unterhalb wahrer Erkenntnis weiß das Kind mit seinem naiven Narzissmus, dass der Verlust seines Elternteils der Verlust seiner Bande zum Leben ist … Viel eher als eifersüchtiges Besitzenwollen eines verlorenen Liebesobjekts ist totale Panik um sein Leben die Ätiologie der Qual der Trennungsangst.«77

Es ist nicht schwierig nachzuweisen, dass Psychiatriepatienten, Neurotiker und Psychotiker häufiger einen Elternteil verloren haben als Personen aus der allgemeinen Bevölkerung.78 Aber die Implikationen des Todes eines Elternteils für das Kind sind so weitreichend, dass es der Forschung nicht möglich ist, all die einzelnen Komponenten der Erfahrung zu entwirren und zu gewichten. Es ist beispielsweise aus den Tierexperimenten bekannt, dass die Jungen eine Versuchsneurose entwickeln, wenn sie von ihren Müttern getrennt werden, und viel feindseliger auf Stress reagieren als jene, die bei ihren Müttern bleiben. Bei den Menschen verringert die unmittelbare Gegenwart einer mütterlichen Person die Angst, die durch unbekannte Ereignisse ausgelöst wird. Daraus folgt, dass ein Kind, das seine Mutter verloren hat, viel verletzlicher durch jeden Stress, mit dem es sich auseinandersetzen muss, ist. Das Kind wird nicht nur der Angst ausgesetzt, die von der Todesbewusstheit ausgeht, sondern leidet übermäßig an Angst vor vielen anderen Stressfaktoren (zwischenmenschlichen, sexuellen, schulbezogenen), mit denen es schlecht fertigwerden kann. Daher entwickelt das Kind wahrscheinlich eine Symptomatologie und neurotische Abwehrmechanismen, die sich im Laufe des Lebens überlagern. Die Furcht vor dem persönlichen Tod liegt vielleicht in der tiefsten Schicht und bricht in unverhüllter Form nur selten in Albträumen oder anderen Ausdrucksformen des Unbewussten durch.

Josephine Hilgard und Martha Newman erforschten Psychiatriepatienten, die einen Elternteil früh im Leben verloren hatten, und berichten von einem faszinierenden Ergebnis (das sie »Jahrestagsreaktion« nannten): Eine signifikante Korrelation zwischen dem Alter eines Patienten zur Zeit der Einweisung in die Psychiatrie und dem Alter des Elternteils beim Tod.79 Mit anderen Worten, wenn ein Patient ins Krankenhaus kommt, besteht die nicht nur zufällige Möglichkeit, dass er oder sie im gleichen Alter ist wie sein Elternteil, als dieser starb. Wenn beispielsweise die Mutter eines Patienten im Alter von dreißig starb, besteht für den Patienten im Alter von dreißig ein erhöhtes Risiko. Darüber hinaus ist das älteste Kind des Patienten wahrscheinlich im gleichen Alter, in dem der Patient war, als sein Elternteil starb. Beispielsweise ist eine Patientin, die sechs Jahre alt war, als ihre Mutter starb, psychiatrisch gesehen ein Risikofall, wenn ihre älteste Tochter sechs Jahre alt ist. Obwohl die Forscher die Frage der Todesangst nicht aufwarfen, scheint es möglich zu sein, dass der Tod der ursprünglichen Mutter das Kind – die spätere Patientin – plötzlich der Unvorhersagbarkeit aussetzte: Der Tod der Mutter signalisierte dem Kind, dass es auch selbst sterben muss. Das Kind verdrängte diese Schlussfolgerung und die sie begleitende Angst, die unbewusst blieb, bis sie durch den Jahrestag ausgelöst wurde – also dadurch, dass die Patientin das Alter erreichte, in welchem ihr Elternteil starb.

Der Grad des Traumas ist zu einem großen Ausmaß eine Funktion des Grads an Todesangst in der Familie. In vielen Kulturen nehmen die Kinder an den Todesritualen teil. Sie haben manchmal feste Rollen bei Begräbnissen oder anderen Todesritualen. In der Foré-Kultur auf Neu-Guinea beispielsweise nehmen die Kinder an dem Ritual des Verspeisens eines verstorbenen Verwandten teil. Höchstwahrscheinlich ist diese Erfahrung für das Kind nicht katastrophal, weil die Erwachsenen an der Aktivität ohne ernsthafte Angst teilnehmen; es ist Teil eines natürlichen ungehemmten Lebensstroms. Wenn jedoch, wie häufig in der westlichen Kultur, ein Elternteil ernsthafte Angst vor den Todesfragen hat, dann erhält das Kind die Botschaft, dass es viel zu fürchten gibt. Diese elterliche Mitteilung kann besonders wichtig für jene Kinder sein, die ernsthafte physische Krankheiten haben. Wie Marian Breckenridge und E. Lee Vincent es formulierten, »Die Kinder fühlen die Angst ihrer Eltern, dass sie sterben können, und neigen daher dazu, ein vages Unwohlsein mit sich herumzutragen, welches gesunde Kinder nicht empfinden.«80

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