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1. Die Katze ist tot

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Im Angesicht des Todes sind alle gleich.

Der August blies eine warme Brise in das Wohnzimmer, als Louise die Haustür öffnete. Genüsslich sog sie die Luft ein, schluckte den Rest ihres Latte Macchiato herunter und senkte den Blick auf den kleinen Menschen, der an ihrer Tür geklingelt hatte.

Er hieß Stepheny, war zehneinhalb Jahre alt und atmete schwer, als stünde er kurz vor einer Explosion. Stepheny war wütend. So wütend, dass ihre Augen dunkler waren als sonst, ihre Nasenflügel riesig und ihr Körper so gespannt und aufrecht, dass sie zehn Zentimeter größer wirkte.

Louise war alarmiert, obwohl sie das Kind nicht gut kannte.

„Was ist los? Stepheny, sag!“

Das Mädchen öffnete kurz den Mund, um zu sprechen. Haltung zu bewahren kostete sie allerdings soviel Anstrengung, dass sie nichts herausbrachte. Stattdessen warf sie Louise einen verzweifelten, kämpferischen Blick zu, drehte sich um und lief davon.

Verwirrt blickte Louise ihr nach.

„Was war das denn?“, fragte sie laut.

„Was war was?“ Nick, ihr Mitbewohner, hatte zwar nur wenige Schritte entfernt auf dem Sofa gesessen, aber nichts von der verstörenden Szene mit bekommen, weil er Play Station spielte. Andere Welt.

Louise wunderte sich kurz, dass er ihre Frage überhaupt gehört hatte.

„Die kleine Mowig war gerade hier. Sie war total aufgeregt. Wollte irgendwas sagen, aber sie brachte nichts heraus. Keine Ahnung, was das sollte.“

„Keinen Plan.“, erwiderte Nick, völlig versunken in sein GTA oder was auch immer er da spielte und nicht weiter in der Lage, Interesse vorzutäuschen.

Louise setzte sich neben ihn.

Noch immer fühlte sie sich nicht heimisch hier. Diese Wohnung war alles andere als das, was sie gewohnt war. Und der Halbwüchsige, wie sie den Neunzehnjährigen vor sich in Gedanken nannte, war alles andere als die Art Mann, mit der sie eigentlich ihren Lebensabend verbringen wollte.

Sie lachte kurz, vom Halbwüchsigen unbemerkt.

Das weiche Sofa lud sie dazu ein, sich zurückzulehnen und ihre braungebrannten, schmalen Füße auf dem Tischrand abzustützen. Sie goss sich einen zweiten Milchkaffee nach und ließ ihn lange auf der Zunge liegen, bevor sie schluckte.

Dabei sah sie Nick an. Das tat sie gern, und oft kam dabei ein Gefühl tiefer Zärtlichkeit in ihr auf. Freundschaft. Vertrautheit.

Wie kommt es, dass dieser Junge mir am Ende meines Lebens am nächsten steht?

Sie dachte zurück.

Vor einem Jahr hatten sie sich im Krankenhaus kennen gelernt und gleichzeitig erfahren, dass sie sehr krank waren, Louise sogar todkrank. Vier Jahre hatten sie ihr gegeben, vielleicht. Mit Mitte zwanzig. Einfach so. Ohne Vorwarnung.

Nick hatte einen Herzfehler.

Beide verloren gleichzeitig ihre Arbeit, und beide hatten gleichzeitig ihre Behausungen verloren, Louise ein luxuriöses Apartment. Nicks Eltern waren nach Südafrika ausgewandert, kurz bevor seine Krankheit erkannt worden war.

Bis heute hatte er sie nicht darüber informiert. Stattdessen hatte er, wie verabredet, ihren Haushalt aufgelöst, den Hund verkauft und sich eine WG gesucht. Nur dass er seine Wohnung nun mit einer sieben Jahre älteren Frau teilte und nicht mit einem Kumpel.

Louise und Nick hatten sich im Flur des Hospitals getroffen und einander ohne höfliches Kennenlern-Geplänkel erzählt, was mit ihnen los war, wie es ihnen mit dem nahen Tod so ging, dass sie Angst hatten und eigentlich noch beschissen viel erleben wollten. Unheimlich befreiend war das gewesen, mit jemandem zu reden, auf den sie keine Rücksicht nehmen mussten, weil sie ihn nicht kannten. Mit jemand zu reden, der nicht wusste, wie sie sonst waren, dadurch nicht aus der Rolle fallen zu können, nicht alarmierend anders zu sein als sonst, das war unendlich befreiend für beide gewesen. Und deshalb war alles so schnell gegangen, dass Vertrautheit wuchs und man sich kannte wie sonst keiner. Kennen lernen ohne jeden Schutz, den brauchte man ja nicht mehr, ohne jede Maske, dafür war zu wenig Zeit.

Beide merkten damals: Im Angesicht des Todes sind alle gleich. Also muss es eigentlich auch im Leben so sein.

Ihr Altersunterschied, ihr unterschiedliches Geschlecht, ihre sehr unterschiedlichen Biografien konnten ihrer Vertrautheit nicht im Wege stehen und wo andere eine verzweifelte, unpassende Affäre unterstellten, gab es in Wirklichkeit nur zwei Seelen, die sich an den Händen hielten, die miteinander verweilen wollten, weil sie sich nun mal gefunden und für gut befunden hatten.

Erneutes Klingeln riss Louise aus ihren Gedanken. Sie sprang auf und öffnete die Tür. Wieder stand Stepheny da, aber dieses Mal hielt sie ihre Arme steif geknickt, als ob sie ein Tablett trüge und präsentierte ihrem Gegenüber eine quer darüber liegende Katze.

Schnell atmend blickte das Kind auf sein Tier, das offensichtlich überfahren worden war. Und dann schaute es hoch, bohrte sich in Louises Augen und sagte: „Murdock ist ermordet worden. Er war mein bester Freund. Mama sagt, ihr beide habt nichts zu tun. Findet ihr den Mörder... bitte?“

Wie starb Murdock?

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