Читать книгу Am anderen Ende der Welt - Isabel Lüdi-Roth - Страница 10
ОглавлениеKapitel 2 : Freudiges Wiedersehen
Aufgeregt stand Stella am Flughafen, sie trat ungeduldig von einem Bein aufs andere. Wann würde sie Ben endlich unter den ankommenden Passagieren entdecken? Hatte er womöglich tatsächlich Probleme mit den strengen Control Areas der Einwanderungsbehörden bekommen? Mehr und mehr Menschen strömten ihr entgegen, nur von Ben gab es nach wie vor keine Spur.
Phil beobachtete sie lächelnd, sie war so süß, wie sie vor Vorfreude und Ungeduld fast platzte. «Es kann nicht mehr lange dauern, Stella», versuchte er sie zu ermutigen.
«Yes!», schrie sie plötzlich und flitzte zwischen all den entgegenkommenden Leuten hindurch, um geradewegs in Bens Arme zu fliegen.
Ben hatte seine Reisetasche fallen lassen, als er Stella mitten in den vielen Leuten entdeckt hatte, sodass er freie Arme hatte, um sie aufzufangen und an sich zu drücken.
Sie umarmten sich eine halbe Ewigkeit. Die anderen Leute mussten sich rechts und links um sie herum weiterbewegen, während sie eine kleine Insel im Menschenstrom bildeten. Doch die beiden hatten die Welt um sich herum vergessen.
Stella hatte ihr Gesicht an Bens Brust vergraben, sie sog seinen Duft tief ein.
Er strich ihr immer wieder durch ihr gewelltes Haar, das er seit einem Monat nicht mehr berührt hatte. «Süße! Jetzt muss ich dich küssen, ich habe dich gewarnt!»
Sie schaute lächelnd zu ihm auf. Sein Gesicht bewegte sich langsam auf ihres zu, sie sah, wie sein Mund zuckte, er war wieder einmal den Tränen nahe.
Ihre Lippen berührten sich zärtlich, sie hatten die Augen geschlossen und genossen den langen und innigen Kuss. Bens Herz galoppierte und Stellas genauso. Irgendwann lösten sie sich ein wenig voneinander, um sich gegenseitig zu mustern.
Stella hatte sich wohl nicht wirklich verändert in diesem Monat, aber Ben hatte den Eindruck, sie sei noch hübscher geworden.
Doch Stella konnte tatsächlich eine Veränderung bei Ben feststellen. Vor einem Monat hatte er sich mit großer Mühe an Gehstöcken fortbewegen können. Es waren ihm nur einige wenige, sehr unsichere Schritte möglich gewesen, die ihn viel Anstrengung gekostet hatten. Jetzt stand er ohne Krücken vor ihr.
Sie strahlte ihn glücklich an. «Zeig mir, wie du gehen kannst!»
Er lächelte, ließ seine Tasche liegen und bahnte sich einen Weg durch die Leute, in Richtung Phil, den er jetzt auch entdeckt hatte. Sein Gang war noch etwas schleppend. Er blieb stehen und drehte sich nach Stella um. Er grinste sie mit sichtlichem Stolz an.
Sie kam zu ihm, seine Tasche im Schlepptau, und umarmte ihn mit Tränen in den Augen. «Wow, Ben, ich bin so glücklich!» Sie wusste, was es für ihn bedeutete, dass er bald wieder alles tun konnte, was er so liebte. Sie konnte sich Ben nicht vorstellen ohne seine Bewegungsabenteuer in der Natur.
Phil hatte ebenfalls feuchte Augen.
Die beiden Männer umarmten sich freudig. Sie hatten sich seit dreieinhalb Monaten nicht mehr gesehen!
So viel Zeit war vergangen seit dem 5. Februar, als Ben und Stella gemeinsam mit Taonga zu ihrer Neuseelandreise aufgebrochen waren. Die Reise hatte nach sechs Wochen auf der Farm von Taongas Bruder Mahora durch Bens schrecklichen Unfall ein jähes Ende genommen.
Phil klopfte Ben vorsichtig auf die Schulter, er war sich unsicher, wie viel Ben schon wieder vertragen konnte.
Ben lachte. «Du musst mich nicht so zart tätscheln, als ob ich eine Frau wäre.»
Stella schüttelte lachend den Kopf. «Als ob es Frauen nicht ertragen könnten, einen freundschaftlichen Klaps zu erhalten.»
Phil übernahm Bens Reisetasche und sie machten sich auf den Weg zum Auto. «Es ist so schön, dass du wieder da bist, Ben, ich habe dich vermisst, Junge!»
«Oh, ich habe euch auch vermisst!»
Sie erreichten das Auto. Ben und Stella setzten sich auf die Rücksitze und Phil hinter das Steuerrad. Kaum hatten sie die Metropole verlassen, flitzten grüne Hügel, Farmbäume, einfache bunte neuseeländische Holzhäuser und herrliche Ausblicke aufs Meer am Fenster vorbei.
Ben sagte zu Stella: «Wie ich das alles vermisst habe!» Er zeigte aus dem Fenster. «Neuseeland … die Weite, die Natur, die Vielfältigkeit. Ich hatte richtig Heimweh, obwohl ich doch eigentlich zu Hause war in der Schweiz. Ich habe Neuseeland vermisst, mein neues Zuhause!»
Phil schaute kurz nach hinten zu den beiden und sagte lachend: «Könntet ihr euch bitte wieder daran gewöhnen, anständiges Englisch zu sprechen, wenn ich dabei bin?»
Ben grinste und antwortete witzelnd in seinem anständigsten, britischen Englisch, das er sich während eines Englandaufenthaltes in seiner Gymnasiumszeit angeeignet hatte: «Oh, natürlich, gnädiger Herr, entschuldigen Sie bitte unsere Unhöflichkeit. Sie meinen mit anständigem Englisch doch bestimmt dieses, meine wohlgeformten Lippen verlassende englische Englisch und nicht etwa dieses neuseeländische, unwürdige Englisch?»
«Halt die Klappe, Ben!» Phil kringelte sich fast vor Lachen. «Du klingst ja britischer als die Queen herself, unglaublich!»
Mit der Zeit wurde Ben stiller, er lehnte seinen Kopf an Stellas Schulter und schlief ein.
Stella nahm seine Hand und streichelte sie sanft, um ihn nicht aufzuwecken. Er hatte nicht besonders große, aber kräftige Hände mit schönen schmalen Fingern. Es waren einige Narben verewigt, die er sich bei seinen Handwerkertätigkeiten zugezogen hatte. Sein Kopf rutschte in einer scharfen Kurve zur anderen Seite und lehnte nun am Fenster.
Stella beobachtete ihn liebevoll. Seine dunkelbraunen wilden Locken fielen ihm in sein hübsches Gesicht mit der feinen Nase, den schmalen Lippen und den ausgeprägten dunklen Augenbrauen. Stella schaute an ihm herunter. Er saß breitbeinig da, wie Männer es gern tun.
Stella erschrak, wie dünn seine Beine waren. Er hatte schon immer schlanke Beine gehabt, aber sie waren muskulös gewesen. Doch nachdem im Krankenhaus der Gips vom rechten Bein und der Fixateur externe vom linken entfernt worden war, hatte sich seine Beinmuskulatur zurückgebildet. Er hatte sie anscheinend auch im vergangenen Monat noch nicht wieder ganz aufbauen können.
Als sie in Paihia, ihrem neuseeländischen Zuhause, ankamen, erwachte Ben. Sie wurden im Haus von Julia und den Jungen, Liam und Josh, stürmisch empfangen. Die zwei Jungen sprangen fröhlich um Ben herum, sie hatten ihr großes Vorbild vermisst.
Julia hatte Tränen in den Augen, als sie Ben umarmte. «Wie geht’s dir, Ben?» Sie warf einen vorsichtigen Blick auf seine Beine.
In Gedanken waren sie als ganze Familie in den zwei letzten Monaten fast dauernd bei Ben gewesen, sie hatten sich alle große Sorgen um ihn gemacht und viel für ihn gebetet.
«Danke, Julia, es geht mir gut», antwortete Ben, «aber ich bin ehrlich gesagt schrecklich hungrig, es riecht so gut hier!»
«Das habe ich mir doch gedacht, Ben!», lachte Julia.
Ben hatte fast immer Hunger, was man ihm aber nicht ansah.
«Ich habe für euch ein Mittagessen vorbereitet. Wir drei haben schon gegessen, es ist ja bereits nach zwei Uhr.»
Ben stöhnte: «Bei mir im Kopf ist es vier Uhr nachts. Die Schweiz hinkt im Moment zeitlich zehn Stunden hinter Neuseeland her. Mann, bin ich müde! Bitte seid mir nicht böse, aber nach dem Essen werde ich mich in mein kleines Reich zurückziehen und noch ein Stündchen schlafen.»
Julia wärmte den dreien das Essen auf und sie setzten sich an den großen Familientisch. Als sie angefangen hatten zu essen, klopfte es an der Tür. Sekunden später stürmte Taonga ins Haus.
«Ist er schon da, unser Lieblingsschweizer?» Er entdeckte Ben und umarmte ihn in seiner gewohnt ungestümen Art. Er drückte Ben so fest, dass Stella sich einmal mehr sorgte, er könnte Ben alle Knochen brechen. Von gebrochenen Knochen hatte sie ein für alle Mal genug!
«Hey, Ben, wie geht es dir? Sind deine Wunden gut verheilt, komm, zeig uns deine hübschen Beine!»
Ben lachte und fragte Taonga zum Scherz: «Willst du dir das wirklich ansehen? Es ist kein schöner Anblick!»
«Aber klar doch, ein richtiger Neuseeländer ist unbeschreiblich neugierig!»
«Das stimmt!», lachte Ben und ließ kurzerhand seine Hose herunter. «Keine Panik, ich trage Boxershorts!» Er grinste. «Und ich habe sie sogar vor meinem Abflug frisch angezogen. Naja, sorry, das ist nun auch schon wieder eine Weile her!»
Alle starrten auf seine Beine. Stella schauderte, als sie die Narben sah. Überall, wo die Schrauben in Bens Bein und Fuß geschraubt gewesen waren, zeugten kleine runde Narben davon. Auch einige Operationsnarben waren sichtbar. Am Oberschenkel hatte eine tiefe Wunde eine unschöne großflächige Narbe hinterlassen.
Stella begann zu weinen.
«Nicht doch, Süße!» Ben zog schnell seine Jeans wieder hoch und nahm Stella in die Arme.
«Tut das nicht weh, Ben?»
Er streichelte ihr zärtlich übers Haar und flüsterte: «Nein, nicht mehr.»
«Kennst du den Manuka-Honig, Ben?», fragte Julia.
«Klar, ich liebe Manuka-Honig auf dem Brot! Der Manuka-Busch wächst nur in Neuseeland und der Honig ist sehr gesund, nicht wahr?»
«Genau, Manuka wirkt antibakteriell, die Maoris verwenden ihn schon seit Jahrhunderten zu medizinischen Zwecken. Man kann den Honig nicht nur auf das Brot streichen», sie lächelte, «sondern auch auf Wunden.»
Ben nickte. «Stimmt, im Krankenhaus haben sie mir Manuka-Honig-Wundauflagen auf diese große entzündete Wunde am Oberschenkel gelegt.»
«Ja, das ist in vielen neuseeländischen Krankenhäusern üblich. Es gibt den Manuka-Honig auch in verschiedensten Hautpflegeprodukten. Ich bringe dir morgen eine Salbe von der Klinik mit, damit kannst du deine Narben pflegen.»
«Das ist lieb, Julia, ich probiere die Salbe gerne aus.» Er gähnte laut. «Sorry, aber jetzt muss ich mich echt eine Weile hinlegen. Stella kommst du mich in etwa einer Stunde wecken? Sonst kann ich in der Nacht nicht schlafen und komme nicht in den neuseeländischen Zeitrhythmus.»
«Klar, das mach ich, mein Schatz!»
Ben verkroch sich in seiner Cabin, dem kleinen gemütlichen Holzhäuschen. Die Hütte stand auf dem Campingplatz ganz in der Nähe des Wohnhauses der Familie Harris. Seit über drei Monaten war er nicht mehr hier gewesen. Er schaute sich glücklich um und kroch schnell in sein Bett, wo er sofort einschlief.
Eine Stunde später huschte Stella leise in die Hütte und beobachtete Ben einen Moment beim Schlafen. Dann küsste sie ihn zärtlich.
Er erwachte langsam und realisierte, wie ihm geschah. Er erwiderte den Kuss und zog Stella fest an sich. «O Mann, so würde ich gerne jeden Tag geweckt werden», sagte er und zog ihr Gesicht nochmals zu sich. «Noch einen!»
Stella wand sich lachend aus seiner Umarmung. «So, mein Lieber, nun ist aber Zeit für etwas Wellness!» Sie riss ihm die Decke weg und zeigte lachend zu seiner kleinen Nasszelle. «Duschen, rasieren und Zähne putzen!» Sie grinste.
«Sonst noch etwas?», meinte er gespielt beleidigt. «Stinke ich so?»
«So hätte ich es nicht formuliert, aber ja, du hast echt schon besser gerochen. Dein Drei- oder wohl eher Mehrtagebart kratzt grässlich und du hast Mundgeruch!»
«Vielen Dank für deine Offenheit!» Er kroch aus dem Bett, streckte sich und schlurfte brav zum Bad. «Zu Befehl, Süße, ich möchte doch schließlich ein Wohlgeruch für dich sein.»
Stella umarmte ihn und meinte: «Danke, dass du nicht beleidigt bist!»
«Wieso denn? Wenn man sich liebt, braucht es manchmal klare Worte, oder? Ehrlich gesagt, hätte ich mich dieser Prozedur auch ohne deine freundliche Aufforderung unterzogen. Ich möchte schließlich nicht als der am übelsten riechende und ungepflegteste Schweizer in die Geschichte Neuseelands eingehen!»
Stella lachte. «Nein, das wirst du bestimmt nie! Kommst du nachher rüber ins Haus? Dann können wir besprechen, was wir noch machen bis zum Abend, okay?»
«Abgemacht! Aber jetzt raus hier!» Er schob sie sanft aus dem kleinen Bad und schloss die Tür hinter sich.
Stella ging zurück in Richtung Haus. Der Schulbus hielt gerade am Eingang zum Campingplatz und Leah und Chloe sprangen hinaus.
«Wo ist Ben?», rief Chloe, die Jüngere, schon von Weitem.
«Er steht gerade unter der Dusche», entgegnete Stella, «er kommt nachher rüber».
«Kannst du mir bei den Deutschaufgaben helfen, Stella? Ich muss die doofen vier Fälle üben, ich kapiere das einfach nicht!», fragte Leah.
Julia sprach zwar mit den Kindern oft Schweizerdeutsch, aber da Phil die Sprache kaum beherrschte, fand ein großer Teil der Familienkonversation auf Englisch statt. Julia war es wichtig, dass die Kinder Deutsch lernten, deshalb hatten sie es als Freifach gewählt.
Das neuseeländische Schulsystem ist sehr flexibel und kann den Fähigkeiten und Bedürfnissen der Kinder gut angepasst werden, sodass sie gefördert und unterstützt werden, wie es ihnen entspricht.
«Die vier Fälle? Ich versuche auf alle Fälle, dir das zu erklären.» Stella lachte.
«Das ist so kompliziert, Stella, Deutsch ist furchtbar kompliziert!»
«Ich weiß, Leah. Auch für uns Schweizer sind die Fälle gar nicht so einfach, denn im Schweizerdeutschen gibt es nur zwei Fälle.»
«Echt? Das habe ich noch gar nicht bemerkt», sagte Leah verwundert.
Sie setzten sich um den großen Tisch, wo es zuerst einmal Früchte zum Essen gab und etwas zu trinken. Auch die Jungen waren angestürmt gekommen, als sie Stella hatten kommen hören. Die Kinder liebten ihre große Cousine.
Nach dem Essen wurden die vier Fälle geübt. Stella las sich die Sätze durch, die bewusst falsch geschrieben waren. Sie mussten als Aufgabe korrigiert und in den passenden Fall gesetzt werden. Stella hatte keine Mühe, den korrekten Fall anzuwenden und auch zu nennen, doch wie konnte man das einem Kind erklären?
«Wen rufst du an?», fragte Leah verunsichert. «Warum muss dieser Satz im Akkusativ geschrieben werden? Ich kapiere das nicht! Für mich klingt es im Dativ richtig», stöhnte Leah.
Stella kaute auf dem Bleistift herum. «In Schweizerdeutsch wäre das auch der Dativ, naja, den Akkusativ gibt es schlicht und einfach nicht. O weh, wie soll ich dir das bloß erklären?»
Ben kam frisch geduscht und in guter Laune herein. Die Kinder stürmten lautstark auf ihn los. Eine wilde Begrüßung begann.
Stella stand lächelnd daneben. «Ben kann dir das mit den Fällen sicher besser erklären, Leah!»
Tatsächlich war Ben nicht nur ein wandelndes Grammatikwunder, sondern, was viel wichtiger war, er konnte es Leah so praktisch erklären, dass es ihr wirklich weiterhalf.
«Danke, Ben, du bist echt super!», meinte sie dankbar. «Du bist auch super, Stella, nicht traurig sein! Ben war nur ein bisschen besser beim Erklären.»
Stella lächelte. «Ben ist eben ein Genie, mein Lieblingsgenie!»
«Ach, übertreib es nur nicht!», meinte Ben und stürzte sich auf die übrig gebliebenen Früchte, als hätte er seit Tagen nichts gegessen.
Die Kinder verzogen sich nach draußen auf den Spielplatz.
Stella umarmte Ben. «Du riechst gut!»
Er lächelte schelmisch und nahm ihre Hand und führte sie über sein Gesicht. «Zart wie ein Babypopo», meinte er.
Sie grinste. «Beinahe, Ben!» Sie ließ ihre Lippen über seine frischrasierten Wangen wandern und er genoss jeden einzelnen Kuss.
«Machen wir noch einen Spaziergang am Strand?», fragte Stella.
«Gute Idee, da war ich schon viel zu lange nicht mehr!»
Sie informierten Julia, die gerade die Fenster reinigte, über ihre Idee.
«Sollen wir Josh mitnehmen?», fragte Stella.
«Ich habe ihn von hier aus gut im Auge, vielen Dank», meinte Julia fröhlich. «Genießt einfach die Zeit zu zweit.»
Ben war dankbar über die Antwort. So gern er die vier Kinder auch hatte, wollte er doch so viel Zeit wie möglich mit Stella allein verbringen. In einem Monat würde sein Studium beginnen.
Sie schlenderten gemütlich Hand in Hand über den Sand und blieben immer wieder stehen, um ihren Blick über das Meer schweifen zu lassen. Ununterbrochen krachten die Wellen auf den grobkörnigen Sand.
«Ich habe es vermisst, das Meer! Den riesigen Südpazifik hier. Abertausende Kilometer nichts als Wasser, Wasser und nochmals Wasser!» Ben seufzte staunend.
«Ja, man muss tatsächlich weit rudern, bis man ans nächste Ufer kommt.»
Ben lachte.
«Wo würde man wohl rauskommen?», überlegte Stella.
«Hm …», sagte Ben.
Das war eine gute Frage.
Er schloss die Augen, um besser überlegen zu können. Er stellte sich den Globus in Gedanken vor und drehte ihn langsam um die eigene Achse, bis der gigantische Südpazifik endlich wieder in Land überging. «Ich würde sagen, irgendwo in Südamerika?»
«Wow! Eine äußerst genaue Angabe», entgegnete Stella kichernd. «Ich muss mir das zu Hause einmal bildlich ansehen.»
Ben nickte lächelnd. «Im Flugzeug konnte ich wieder einmal nicht schlafen.» Er schüttelte den Kopf. Sonst hatte er eigentlich nie Schlafprobleme, aber in Flugzeugen blieb er regelmäßig wach, auch wenn er noch so müde war. «Als ich den zweiten Film hinter mir hatte, habe ich mir stundenlang das Filmchen mit der Flugroute angeschaut.» Er schmunzelte. «Also natürlich nicht andauernd, sonst wäre ich vielleicht tatsächlich eingeschlafen. Ich bin dieses Mal über Los Angeles geflogen. Das heißt, ich bin von dieser Seite hier gekommen». Er zeigte in Richtung Meer. «Der Bildschirm zeigte dauernd nur blaues Meer und Stunden später immer noch Meer. Wahnsinn!»
Sie blieben lange nah aneinander geschmiegt am Strand stehen und staunten über die unfassbar große Wasserfläche. Langsam dämmerte es, die Tage waren im Mai schon kurz an diesem Ende der Welt. Kalt wurde es auch. Stella fror schon länger trotz ihrer Winterjacke.
«Dieser Wind zieht durch jeden Stoff und durch Mark und Knochen!», jammerte sie.
«Dann gehen wir lieber zurück, bevor ich dich als tiefgefrorene Stella nach Hause tragen muss.»
Sie kehrten zum Haus zurück, wo sie gerade rechtzeitig zu einem wärmenden Nachtessen kamen. Ben hielt danach noch bis acht Uhr durch, dann fielen ihm die Augen fast zu. Sein Körper tickte der Zeit in Neuseeland zehn Stunden hinterher.
Der nächste Tag war ein Samstag. Ben erwachte gut erholt, er schien seinen Jetlag ausgestanden zu haben. Die ganze Familie traf sich zu einem ausgiebigen Frühstück. Es gab viel auszutauschen, sie blieben fast bis zum Mittag sitzen. Doch irgendwann wurden die Kinder, vor allem die zwei Jungen, unausstehlich. Sie lärmten, stritten und veranstalteten einen Blödsinn nach dem anderen.
«Die sind wie Hunde», stöhnte Phil, «sie brauchen ihren Auslauf! Julia, gehen wir raus mit ihnen?»
Julia nickte lachend, erhob sich und trommelte die Kinderschar zusammen, sodass sie rausgehen konnten, bevor noch etwas zu Schaden kam.
«Wir übernehmen die Küchenarbeit», bot Stella an und Ben nickte zustimmend.
«Sicher?», fragte Julia.
«Klar!», erwiderte Ben.
Bald war die Familie draußen.
«Ist das herrlich ruhig», schwärmte Ben, «ich bewundere dich, dass du in deinem Beruf dauernd diesen Lärmpegel aushalten kannst, ich würde bald durchdrehen.» Er verdrehte theatralisch die Augen.
«Ich bin mich das gewöhnt, irgendwie nehme ich das gar nicht so wahr. Ich bin auch in einer großen Familie aufgewachsen, ich weiß gar nicht, was Ruhe bedeutet.»
Er stöhnte. «O ja, so sehr ich deine Familie liebe, aber als wir in dieser Zeit, als dein Vater im Krankenhaus war, in eurem Haus gewohnt haben, ging es echt zu wie im Taubenschlag.»
Stella grinste.
Ben reichte ihr das Geschirr und sie verstaute alles in der Spülmaschine. «Aber du möchtest doch auch einmal Kinder, oder?», fragte sie vorsichtig.
Ben lächelte. Ihm war völlig klar, dass Stella sich für später eigene Kinder wünschte, auch wenn sie sich noch nie darüber unterhalten hatten.
«Auf keinen Fall! Um Himmels Willen! Nie!» Er lachte, als er ihr erschrockenes Gesicht sah. «Natürlich möchte ich Kinder, irgendwann in ferner Zukunft.» Er machte eine Pause. «Mit dir, Stella.» Er umarmte und küsste sie. «Aber nicht mehr als zwei, oder?»
Sie schmollte und schüttelte dann entschieden den Kopf. «Mindestens drei!»
Ben stöhnte und meinte: «Das hat noch Zeit, vielleicht ändert ja der eine oder die andere von uns seine Meinung.»
Die Küche war in Ordnung und Ben voller Tatendrang. «Machen wir einen schönen Ausflug? Wie wäre es, wenn wir wieder einmal durch unseren Regenwald marschieren?» Er meinte den typisch neuseeländischen wilden Wald direkt am Meer, der am Ende ihres Strandes begann.
«Ja, das wäre schön, aber kannst du denn so lange gehen?»
«Irgendwann muss ich es versuchen.»
«Ich meine, darfst du das auch von den Ärzten aus?»
«Der Arzt in der Reha meinte, dass alle Knochenbrüche soweit verheilt und die Knochen normal belastbar seien. Ich muss selbst herausfinden, wie viel ich schon machen kann. Bestimmt noch nicht Ski fahren!»
«Dafür müssten wir auf die Südinsel», sie lächelte, «aber Skifahren ist dir sowieso zu langweilig.»
«Genau! Aber spazieren mit dir wird wohl möglich sein.»
Sie zogen ihre Winterjacken an und gingen zu ihrem Strand hinunter. Es war gerade high tide, Flut, da reichte das Meer fast bis zu den Dünen, die sich zwischen der Durchgangsstraße und dem Strand erhoben. Ein kalter Wind kam vom Meer her, doch sie ließen sich nicht davon stören. Am Ende des Strands erreichten sie den Regenwald.
«Hier windet es wenigstens nicht so stark», meinte Ben, «ich habe mich etwas an die warmen Frühsommertemperaturen in der Schweiz gewöhnt. Hier beginnt definitiv schon der Winter. Tja, in ein paar Tagen ist es Juni!»
«Juni, der kälteste Monat in Neuseeland!» Stella lächelte. Normalerweise war sie es, die fror. Sie blieb stehen. «Ich habe Neuigkeiten, Ben!»
«Schieß los!», entgegnete er gespannt.
«Erinnerst du dich, über was wir am 28. Februar, an unserem einjährigen Jubiläum, miteinander gesprochen haben?», fragte sie vorsichtig. Sie hatten nie mehr über dieses Thema gesprochen. Nach Bens Unfall war alles andere in den Hintergrund getreten.
«Ja, klar!», erwiderte er zu ihrem Erstaunen sofort. «Sorry, Stella, wir sind gar nicht mehr dazu gekommen, deine Wünsche und Pläne weiter zu spinnen, das tut mir sehr leid, ehrlich. Aber erzähl, bist du weitergekommen? Ich habe mir in letzter Zeit Gedanken darüber gemacht.»
«Ehrlich?»
«Klar, ich bin nämlich der Meinung, dass du unbedingt etwas in diese Richtung machen solltest, du bist wie geschaffen dafür!»
Stella hatte den Traum, eine eigene Kindertagesstätte auf dem Land der Familie Harris aufzubauen. «Ich habe mit Phil und Julia gesprochen. Sie sind begeistert und wollen mich unterstützen. Sie stellen mir das Land zur Verfügung.»
«Du hast echt coole Verwandte!»
«Phil hat die Idee letzten Sonntag sogar in der Kirche vorgestellt und viele Familien mit kleinen Kindern wollen mich unterstützen. Viele wünschen sich eine christlich geführte Kindertagesstätte!»
«Wow, das ist genial!»
Stella fuhr fort: «Es besteht in dieser Region tatsächlich ein Mangel an solchen Einrichtungen. Ein Mann aus unserer Kirchgemeinde, Bob Smith, arbeitet in diesem Bereich und klärt nun einiges für mich ab. Ich bin eben noch sehr jung, dazu habe ich wenig Berufserfahrung und ich bin Ausländerin! Nicht gerade die besten Voraussetzungen.»
Ben nickte.
«Aber Bob kennt viele Leute, die mir weiterhelfen können. Ich müsste auf jeden Fall ein gutes Team zusammenstellen, mit dem ich gemeinsam alles aufbauen könnte.»
Ben umarmte Stella und flüsterte ihr ins Ohr: «Du schaffst das, Stella! Mit der richtigen Unterstützung wirst du das super hinkriegen, da bin ich überzeugt!»
Sie marschierten tiefer in den Regenwald hinein, zum Teil mussten sie sich durchs Dickicht kämpfen. Es war nur ein besserer Trampelpfad, der nicht so gut gepflegt wurde. Nach fast einer Stunde erreichten sie den Fluss, den Stella einmal nicht mehr hatte überqueren können, als sie während der Flut zu lange auf der anderen Seite geblieben war.
Alle zwölf Stunden ließ die Flut das kleine Gewässer zu einem breiten Fluss anschwellen, der nicht mehr passierbar war.
«Weißt du noch, wie du ganz verzweifelt auf der anderen Seite warst und die Brücke weiter oben nicht finden konntest?»
«Erinner mich nicht daran! Ich war so eifersüchtig, weil dich dieses Mädchen so frech geküsst hatte! Ich wäre am liebsten bis ans andere Ende der Welt gerannt!»
«Das andere Ende des Flusses hat mir gereicht», meinte Ben scherzend und umarmte sie. «Alle meine Küsse gehören dir allein, Stella, nach wie vor. Ich hoffe, für immer!»
«Ich möchte auch nur dich küssen, vor allem, wenn du keinen Mundgeruch hast!» Sie kicherte. Er packte sie und schleppte sie ganz nah an den Fluss und tat so, als würde er sie hineinstoßen.
Sie kreischte und klammerte sich wie ein Äffchen an ihn.
Doch plötzlich verzerrte er schmerzerfüllt sein Gesicht und ließ sie los. «Ah!», stöhnte er und zeigte auf seinen linken Fuß.
«Hast du eine dumme Bewegung gemacht? Hast du starke Schmerzen?» Stella war sehr besorgt um Ben.
Er hielt sich an ihr fest und ließ sich langsam auf den Boden gleiten. Er griff nach seinem Fuß und versuchte tief zu atmen.
«Geht’s?»
Er stöhnte wieder, nickte aber. «Der Fuß hat schon eine Weile geschmerzt, ich bin noch nie so lange am Stück gegangen seit dem Unfall. Aber jetzt habe ich ihn auch noch vertreten, Mist!» Er zog vorsichtig den Schuh und die Socke aus und begutachtete seinen Fuß.
«Wieso hast du nichts gesagt, wir hätten doch umkehren können. Warum habe ich dich nicht gefragt, wie es dir geht?»
«Es ist alles in Ordnung, ich möchte auch endlich wieder zur Normalität zurückkehren.»
«Soll ich zu Hause anrufen, dass uns jemand oben bei der Brücke abholen kommt?»
Ben nickte. «Ich gebe es nicht gerne zu, aber es geht wohl nicht anders!» Er kreiste vorsichtig mit dem Fuß und massierte ihn. «Es ist zum Glück schon besser, ich glaube, es ist noch alles ganz. Mann, bin ich froh!»
Stella versuchte Julia und Phil zu erreichen, sie gingen jedoch beide nicht ans Telefon. Zum Glück konnte sie Taonga erreichen, der versprach, so schnell wie möglich zu kommen.
Stella und Ben machten sich langsam und vorsichtig auf den Weg Richtung Brücke. Ben stützte sich auf Stella. Sie spürte seine Angst, normal auf seinen Fuß aufzutreten. «Geht’s?»
«Alles okay.»
Sie erreichten die Brücke und mussten nicht lange warten, bis Taongas Wagen in gewohnt zügigem Tempo vor ihnen hielt.
«Du meine Güte, was ist denn jetzt schon wieder passiert?», rief er, noch während er die Autotür aufriss.
Ben hinkte ihm entgegen, glücklicherweise schien sich sein Fuß aber langsam wieder zu erholen. Er traute sich, wieder ganz aufzutreten. «Ich glaube, es ist nur halb so schlimm. Vielen Dank fürs Abholen!»
Taonga schüttelte den Kopf. Sie merkten, dass er sich Sorgen gemacht hatte.
«Steigt ein, euer Aufpasser ist nun ja da.» Er konnte es nicht lassen, sie zu necken, aber dafür liebten sie ihren Maori-Freund. «Bitte lass es langsam angehen, Ben», flehte Taonga während der Fahrt.
«Versprochen!»
«Zum Glück beginnt bald dein Studium, da wirst du ziemlich viel sitzen müssen, das schont deine Knochen.»
Ben stöhnte. Genau das machte ihm ein bisschen Sorge. Er war einfach ein Bewegungsmensch. Er hatte es schon auf dem Gymnasium manchmal kaum ausgehalten, so viel an den Stuhl gebunden zu sein. Er war sogar einige Male mit dem Fahrrad nach Zürich geradelt, um vor und nach der Schule genügend Bewegung zu haben. Das waren immerhin über 30 Kilometer eine Strecke! «Weißt du, Taonga, ich lerne am besten, wenn ich in Bewegung bin, das war schon immer so.»
Taonga schüttelte den Kopf. «Wie stellst du dir das vor? Meinst du etwa, du kannst während der Vorlesungen im Hörsaal herumklettern?»
Stella musste bei dieser Vorstellung lachen. Sie sah Ben vor sich, wie er während einer Vorlesung über Stühle, Bänke und seine Studienkollegen hinweg kletterte.
«Bitte mach mir jetzt keine Angst, Taonga.»
Taonga lachte. «Die werden etwas erleben mit dir, viel Vergnügen, Kollegen!»
Ben erwiderte: «Ich freue mich auf die Zeit, wenn ich mit dir zusammenarbeiten darf! Ich habe schon viele Ideen!»
Taonga grummelte: «Ob ich mir das gut genug überlegt habe, dich in der Praxis zu unterstützen? Du wirst mir alles auf den Kopf stellen wollen! Dabei bin ich doch so gut organisiert und strukturiert.»
Ben hörte den sarkastischen Unterton heraus, Taonga war nämlich ziemlich chaotisch. «Genau, du verrückter Neuseeländer!»
«Nein, im Ernst, Ben, ich freue mich auch auf diese Zeit mit dir! Ich denke, dass du da genau richtig tickst. Theologie kann zwar ziemlich trocken sein, du wirst einiges schlicht und einfach auswendig büffeln müssen. Aber vieles muss dann lebendig in die Praxis umgesetzt, sozusagen an den Menschen gebracht werden. Genau das wird dir unglaublich gut gelingen, da bin ich überzeugt.»
«Danke, Taonga!»
«Ich bin echt gespannt, was aus euch beiden noch wird, Ben und Stella. Ich meine, beruflich und privat. Ihr seid ein starkes Paar mit viel Potenzial!»
Die beiden lächelten sich an. Sie waren auch sehr gespannt, was die Zukunft noch bringen würde.
Taonga hielt vor dem Haus.
Ben stieg vorsichtig aus und machte einige Schritte. «Der Fuß tut viel weniger weh.»
«Aber du wirst ihn heute schonen, das ist der Befehl deines zukünftigen Chefs», grinste Taonga.
«Okay, Chef!» Ben nahm Stella in den Arm. «Wir könnten uns gemeinsam einen guten Film anschauen und ich lagere dabei brav meinen Fuß hoch.»
Stella stöhnte: «Einen guten Film? Das heißt bei dir, wir sehen so einen Actionstreifen mit viel Geballer und fließendem Blut.»
Ben strahlte. «Etwas Spannung muss schon sein.» Er strich ihr über die Wange und flüsterte: «Aber dir zuliebe können wir uns auch eine triefende Liebesschnulze ansehen.»
«Du bist gemein!»
«Bevor ihr miteinander über Filme streitet …», mischte sich Taonga ein, «ich habe einen Film, den ich mir schon lange ansehen wollte. Er handelt von verschiedenen Glaubenshelden. Ihr dürft ihn euch ausleihen. Da ist für euch beide etwas dabei. Viel Spannung und viel Liebe.» Er grinste über sein rundes Gesicht, dass man fast alle seine weißen Zähne sehen konnte.
«Einverstanden», meinte Stella, «aber du schaust mit uns, okay?»
«Wollt ihr mich denn dabeihaben, ihr Verliebten?»
«Aber sicher, wir lieben dich, Aufpasser!», entgegnete Ben grinsend.
«Also, dann gehe ich schon einmal vor in mein Haus, um drei Sitzgelegenheiten bereit zu machen, und ihr organisiert unterdessen etwas zum Knabbern, okay? Ich habe nichts Essbares in meinem trauten Heim, sorry.» Er kratzte sich am Kopf und sagte: «Wo habe ich bloß diesen Film hingelegt?»
«Unser organisierter und strukturierter neuseeländischer Pastor!», lachte Ben. «Das mit dem Essen ist eine sehr gute Idee, wir werden etwas besorgen. Ich denke, wir können uns Zeit lassen, Stella, wenn Taonga noch den Film suchen muss!»