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Kapitel 1 : Die Briefe

Lieber Ben,

nun bist du auf dem langen Weg ans andere Ende der Welt - in die Schweiz. Obwohl ich gerade erst von unserem Abschied auf dem Flughafen in Christchurch zurück in unserem Bus bin, vermisse ich dich jetzt schon ganz schrecklich.

Wer hätte gedacht, dass unsere gemeinsame Neuseelandreise auf diese Weise hier enden würde!

Hier drin, in unserem himmelblauen Bus, erinnert mich einfach alles an dich! Das ist einerseits schön und beruhigend, aber es macht mich auch traurig.

Morgen früh starten Taonga und ich die rund 1300 km lange Heimreise nach Paihia. Ich habe keine Lust, mir unterwegs irgendetwas anzusehen, wenn du nicht dabei bist! Taonga meinte, dass wir wohl so schnell wie möglich durchbrettern werden. Es sind laut ihm ungefähr 20 Stunden reine Fahrzeit, die Fährenfahrt inklusive. Wir werden so spätestens in einer Woche zurück sein.

Wird dann vielleicht schon ein Brief von dir für mich angekommen sein? Ich sehe gerade wieder deinen Gesichtsausdruck vor mir, als ich dir den Vorschlag gemacht habe, dass wir uns diesen Monat jeden Tag einen Brief schreiben könnten. Einen handgeschriebenen Brief! Keine Mail, keine Shortmessage auf dem Smartphone, ja nicht einmal skypen! Du hast mich so entgeistert angesehen, als wäre ich ein Wesen aus einer anderen Welt. Aber ich habe dir ja erzählt, dass meine Eltern einmal einige Monate getrennt voneinander waren, als meine Mutter in Paris Französisch lernte und mein Vater zur selben Zeit die Rekrutenschule absolvierte. Wie sie sich vermisst haben, wie es ihre Beziehung jedoch auch vertieft hat. Sie schrieben sich damals auch jeden Tag einen Brief. So romantisch!

Ich bin dir sehr dankbar, dass du dich tatsächlich auf dieses Experiment eingelassen hast. Ich bin unglaublich gespannt auf deinen ersten Brief. Ich kann es kaum erwarten. Und dies hier ist nun also mein erster Brief an dich.

Hoffentlich war es die richtige Entscheidung, dich nicht in die Schweiz zu begleiten! Jetzt bekomme ich gerade etwas Bedenken! Aber ich bin von den täglichen Besuchen bei dir im Krankenhaus richtig erschöpft. Eine Pause wird mir guttun.

Außerdem habe ich festgestellt, dass ich hier in Neuseeland außer dir gar keine Freundschaften aufbauen konnte, weil wir zwei einfach immer zusammen waren. Das war ja auch wunderschön!

Aber so bin ich nun diesen Monat gezwungen, auf die anderen Leute zuzugehen und sie besser kennenzulernen.

Ich bin dir sehr dankbar, dass du meine Entscheidung unterstützt. Bitte grüße alle in der Schweiz herzlich von mir! Oh, nun kommen mir die Tränen, weil ich an meine liebe Familie denke.

Ich hoffe, die weite Reise ist für dich nicht allzu anstrengend. Immerhin hast du dir dank deiner schweren Beinverletzungen einen Platz in der ersten Klasse ergattert, wo du liegen und hoffentlich auch richtig schlafen kannst. Ich wünsche dir einen wunderbaren Flug, mein Schatz!

Wenn du das liest, hast du es ja zum Glück schon hinter dich gebracht und kannst dich in deinem Zimmer in deinem Elternhaus so richtig ausruhen.

Ich bin so dankbar, dass du endlich das Christchurch Hospital verlassen durftest. Obwohl es in den vier Wochen tatsächlich ein bisschen wie ein Zuhause geworden ist. Auch für mich, schließlich war ich jeden Tag bei dir.

Am schwersten fiel dir der Abschied von Jack, dem weltbesten Assistenzarzt, nicht wahr?

Er ist auch mir mit seiner fröhlichen und einfühlsamen Art richtig ans Herz gewachsen. Er hat es geschafft, dich auch an den schwierigsten Tagen deines Krankenhausaufenthaltes zu ermutigen. Auch als du an manchen Tagen fast nicht mehr konntest, weil das mit dem Gehenlernen einfach unglaublich anstrengend und mühsam war!

Aber auch das Pflegepersonal war unglaublich, allen voran Caroline. Sie hat dich sehr ernst genommen, dir zugehört, dich ermutigt und sich immer Zeit genommen für dich, obwohl sie oft unter großem Druck stand. Ihre Arbeit hat sie stets sehr geschickt ausgeführt. Ich denke an die vielen Verbandswechsel, Infusionen und Spritzen, die bei dir nötig gewesen sind. Sie hat dich auch nach den Operationen, die du über dich ergehen lassen musstest, immer sehr gut betreut.

Wir werden uns auf jeden Fall bei diesem Team melden, wer weiß, vielleicht besuchen wir sie sogar einmal? Aber bestimmt nicht heute oder morgen. Ich bin echt froh, wenn ich für ganz lange Zeit kein Krankenhaus mehr aus der Nähe sehen muss!

Wow, das wird aber ein langer erster Brief, mir schmerzen schon die Finger!

Nun wünsche ich dir einfach von Herzen einen angenehmen Aufenthalt in deinem alten Zuhause! Ich hoffe, dass es gut geht, unter einem Dach mit deinem Dad, ja, dass ihr euch wieder näherkommt. Er hat sich echt große Sorgen um dich gemacht, als du im Krankenhaus lagst! Vielleicht ist es tatsächlich eine Chance, dass du diesen Monat bei deinen Eltern verbringst, wenigstens die Abende und Nächte.

Die Tage werden bestimmt ausgefüllt sein mit den verschiedenen Trainings.

Ich wünsche mir natürlich, dass diese Reha so gut ist, wie sie dein lieber Bruder Simon, Doktor in Spe, angepriesen hat. Ich hoffe so sehr, dass du danach nicht nur wieder schmerzfrei gehen kannst, sondern wieder genauso beweglich und sportlich wirst, wie du es vor dem Unfall warst!

Ich bete für dich, mein allerliebster Ben! Ich liebe dich so sehr, dafür finde ich leider nicht genug Worte, aber ich hoffe, du spürst es!

Ich sende dir ganz viele sehnsüchtige Küsse rund um den halben Erdball!

Mit den liebsten und herzlichsten Grüßen

deine Stella

Liebe Stella,

wow, in einigen Tagen ist dieser Monat ohne dich endlich vorüber. Bald haben wir es geschafft. Ich sehne mich so sehr nach dir, meine Süße, du kannst es dir nicht vorstellen!

Fast mit derselben Sehnsucht erwarte ich den letzten Tag dieser Reha! Ich habe dir nun schon einige Male geschrieben, wie sehr ich hier gequält und genervt werde. Aber ich muss zugeben, dass die Therapie langsam ihre Wirkung zeigt.

Ich war einige Male nahe daran, alles hinzuschmeißen und aufzugeben. Ich konnte nicht mehr. Da habe ich immer fest an dich gedacht. Dann musste ich einfach die Zähne zusammenbeißen und weitermachen, denn ich wollte vor dir auf keinen Fall als Memme dastehen und dir erklären müssen, dass ich es nicht geschafft habe.

Und stell dir vor, mein Arzt hat mir heute gesagt, dass ich es tatsächlich geschafft habe! Ich kann mich nun fast ohne Hinken fortbewegen und er meint, dass ich mit weiterem Training alles wieder tun kann, was ich liebe.

Wie du dir vorstellen kannst, bin ich wieder einmal in Tränen ausgebrochen, du kennst ja diese lästige Eigenschaft, die ich einfach nicht in den Griff bekomme. Aber es waren Freudentränen!

Weißt du noch? Die neuseeländischen Ärzte konnten nichts versprechen bei meiner Entlassung. Erinnerst du dich, wie ich mich mühsam an Krücken ins Flugzeug geschleppt habe?

Auch die Schweizer Kollegen wollten keine Versprechen machen. Ich habe einiges an Metall in meinen Beinen und vor allem mein linker Fuß machte ihnen echt Sorgen. Ich hatte da, wie du weißt, mehr oder weniger jeden der 26 Knochen mindestens einmal gebrochen.

Ich kann nun alle diese Knochen in Deutsch, Lateinisch und für alle Fälle auch in Englisch aufsagen, super, nicht wahr? Das hat mir mein lieber Doktor und Bruder Simon beigebracht.

Es war, wie gesagt, mehr als fraglich, ob ich mit diesem zerschmetterten Fuß jemals wieder eine gute Beweglichkeit erreichen würde. An diesem Fuß haben Jack und seine Knochenschlosserkollegen, wie man die Chirurgen hier scherzhaft nennt, mehrmals herumgedoktert. Anscheinend haben sie aber gute Arbeit geleistet.

Ich hatte hier eine nette Physiotherapeutin, die sich auf Füße spezialisiert hat. Die hat stundenlang an meinem linken Fuß herumtherapiert und mich mit vielen Übungen eingedeckt.

Ich darf dir heute stolz mitteilen, dass ich tatsächlich wieder Trekkings mit dir machen werden kann! Freust du dich? Machen wir zusammen den Milford Track? Oder sollten wir vielleicht nicht gerade mit einem Great Walk beginnen, sondern mit einem Spaziergang an unserem Strand?

Wie auch immer, ich bin einfach sehr dankbar! Gott und den vielen wunderbaren Leuten, die mir geholfen haben in den letzten zwei Monaten, zuerst in Christchurch und jetzt hier in der Schweiz!

Vielen Dank auch für deine vielen Gebete, deine unglaubliche Unterstützung und alle deine Briefe! Ich habe mir übrigens eine schöne Box angeschafft, in der ich sie alle gesammelt habe. 24 sind es bereits und einige kommen noch dazu!

Ich freue mich so, dass ich dich in weniger als einer Woche wieder in meine Arme schließen darf!

Ich bin froh, mein Elternhaus wieder zu verlassen, aber dieses Mal gehe ich mit viel besseren Gefühlen als das erste Mal, als ich nach Neuseeland abgehauen bin.

Mein Vater und ich sind nicht beste Freunde geworden, aber wir konnten tatsächlich einige wirklich gute Gespräche führen und uns wieder annähern. Wir sind nach wie vor oft nicht gleicher Meinung, aber wir können die Meinung des anderen akzeptieren. Mein Vater arbeitet daran, mich so anzunehmen, wie ich nun einmal bin. Ich bin über diese Wendung unglaublich erfreut, du weißt ja, wie unsere Beziehung war, Stella!

Auch deine liebe Familie habe ich einige Male getroffen. Ich habe ganz viele Sachen, die ich dir von ihnen mitbringen soll, mal schauen, ob ich damit problemlos durch die Einwanderungskontrolle komme.

Am 21. Mai fliege ich in Zürich ab und komme am 23. Mai um zehn Uhr morgens in Auckland an. Phil hat gesagt, er wird mich abholen. Er besucht wieder einmal seine Schwester Charlotte (dank uns sieht er sie öfters). Begleitest du ihn? Bitte!

Hey, genieße noch meine letzten Briefe, du kannst sie nun an einer Hand abzählen! Ich bin, ehrlich gesagt, echt stolz auf mich, dass ich es geschafft habe, jeden Tag einen Brief zu schreiben. Ich habe nicht einmal während der Zeit am Gymnasium je so viel geschrieben. Aber ich bin froh, dass ich bald nicht mehr schreiben muss, sonst müsste ich auch noch eine Fingertherapie machen.

Ich möchte endlich wieder mit dir sprechen, dich hören und dich fühlen, aber zuallererst dich küssen! Mach dich schon jetzt auf den längsten und intensivsten Kuss, den du je gekriegt hast, gefasst, okay?

Mit vielen lieben Grüßen

dein Ben

Am anderen Ende der Welt

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