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Kapitel 3 : Fernbeziehung

Es blieb Ben und Stella etwas mehr als ein Monat bis Bens Studienbeginn und sie wollten so viel gemeinsame Zeit wie möglich verbringen. Morgens kümmerte Stella sich weiterhin um die zwei Jungen der Familie.

Ben unterstützte Stella bei den Arbeiten im und ums Haus, er merkte aber, dass er noch lange nicht so belastbar war wie vor dem Unfall. Er hatte immer wieder Schmerzen, vor allem im linken Fuß. Er machte brav seine Übungen, die er von der Physiotherapeutin gelernt hatte, doch langsam begann es ihn zu langweilen. Er hätte lieber wieder einmal ein Surfbrett aus dem Surflokal unten am Strand geholt oder eine längere Trekkingtour mit Stella unternommen.

Doch etwas entdeckten die beiden diesen Winter neu für sich: das Fahrradfahren in der näheren und weiteren Umgebung. Sie hatten zwei fast neue Mountainbikes von einem Ehepaar geschenkt bekommen, die sie nicht mehr wollten. Das Fahrradfahren war schonend für Bens Fuß, er konnte aber doch seine Muskulatur trainieren.

Sie konnten mit den Mountainbikes die unzähligen Schotterstraßen, die zum Teil eher Wanderwegen als Fahrstraßen glichen, problemlos befahren. So kamen sie an wunderschöne, abgelegene Orte, die sie noch nicht kannten. Zum Glück war es ein ausgesprochen milder Winter. An einem besonders schönen Wintertag durften sie sogar mit einem Freund von Phil, der ein Segelboot besaß, einen Turn durch die Bay of Islands unternehmen.

Paihia liegt an der bekannten Bay of Islands. Wie der Name sagt, gibt es in dieser großen Meeresbucht viele Inseln und Halbinseln, diese heben sich mit verschiedenen Grüntönen vom Blau des Meeres ab. Hier tummeln sich viele Delfine.

Die beiden genossen diesen Ausflug bei schönstem, lauem Winterwetter im subtropischen Norden Neuseelands. Bisher waren sie noch nie auf dem Meer gewesen. Ben und Stella standen vorne am Bug und ließen sich den Fahrtwind durchs Haar wehen.

Ben stellte sich hinter Stella und hob ihre Arme seitlich nach oben, so wie Leonardo DiCaprio und Kate Winslet im Film Titanic. «Hey, Süße, so gefällt mir das Leben!»

Stella erhob ihre Stimme gegen den Wind: «Yeee!» Sie schwenkte fröhlich die Arme. Doch dann drehte sie sich langsam zu Ben um und flüsterte: «Ich mache mir Sorgen darüber, dass wir uns schon bald wieder nur selten sehen! Es ist so schön, täglich mit dir zusammen zu sein!»

Ben nahm sie fest in seine Arme und drückte sie an sich. Er sagte nichts, doch ihn plagten ähnliche Gedanken.

Bald stand Mitte Juli der Tag bevor, an dem Ben in seine Studentenbude in Whangarei umziehen musste. Es war Sonntag und am nächsten Tag würde Bens Studium beginnen.

Stella begleitete ihn auf seinem Weg nach Whangarei. Sie fuhren schon morgens mit dem Bus hin. Stella würde am Abend allein nach Paihia zurückkehren. Bens Habseligkeiten fanden in seiner großen Reisetasche Platz.

Sie schauten sich gemeinsam den Campus an. Er war gut überschaubar, was Ben sehr gefiel. Das kleine Zimmer, das er für die nächsten Jahre bewohnen würde, war winzig, doch es erfüllte seine bescheidenen Wünsche.

«Ein Schrank für die Klamotten, ein Regal für die Bücher, ein Tisch mit Stuhl zum Arbeiten und das Wichtigste: ein Bett zum Schlafen, was brauche ich mehr?», witzelte Ben. Doch dann wurden seine Augen feucht. «Nur du wirst mir fehlen, Süße!» Er nahm ein eingerahmtes Foto aus der Tasche und stellte es auf seinen Arbeitstisch. «Das ist das schönste Bild von dir! Ich werde es bestimmt jeden Tag anstarren!»

Sie umarmten sich lange, der Abschied rückte bedrückend näher! Ben brachte Stella am Abend zur Bushaltestelle, von wo sie zurück nach Paihia fahren würde.

«Hoffentlich schaffen wir das!», schluchzte Stella.

«Sicher, wir haben doch schon einiges zusammen geschafft, nicht wahr?» Ben versuchte, zuversichtlich zu klingen, doch seine Stimme verriet seine Gefühle. «Tschüss, Süße, dein Bus kommt!»

Zögernd stieg sie ein und suchte sich einen Fensterplatz, damit sie ihm noch zuwinken konnte. Ben stand an der Bushaltestelle und winkte zurück, bis der Bus um die nächste Kurve verschwand.

So begann Bens Studienzeit. Meistens kam er übers Wochenende zurück nach Paihia. Doch manchmal musste er sich auf eine Prüfung vorbereiten oder eine Arbeit oder ein Referat zu Ende schreiben, dann kam er nur am Sonntag oder blieb sogar das ganze Wochenende in Whangarei. Er hatte sich, vielleicht etwas aus Übereifer, für beide biblische Sprachen, Griechisch und Hebräisch, eingeschrieben. Er merkte schnell, dass diese Sprachen sich stark vom bisher gelernten Englisch, Französisch und Italienisch unterschieden. Es gab keine gemeinsame Wurzel, auf die er hätte zurückgreifen können, zudem war die Schrift eine völlig andere.

Vor allem Hebräisch empfand er als unglaublich facettenreiche und interessante Sprache, doch gerade das machte sie für Ben auch zur Herausforderung beim Erlernen. Deshalb musste er häufiger als gedacht Vokabeln büffeln. Von denen gab es vor allem im Hebräischen mehr, als ihm lieb war.

So sahen sich Ben und Stella die nächsten Monate tatsächlich sehr wenig, sogar noch weniger, als sie anfangs befürchtet hatten. Sie telefonierten oft oder skypten, doch das war nicht zu vergleichen mit einem realen Treffen.

Stella hatte nun wieder mehr Zeit für eine Freundschaft, die entstanden war, während Ben sich in der Schweiz aufhielt. Sie traf sich häufig mit ihrer neuen neuseeländischen Freundin Joy. Sie ging ebenfalls sonntags in ihre Kirche, so hatten sie sich kennengelernt.

Joy hatte den passenden Namen. Sie sprudelte regelrecht vor Lebensfreude. Sie war quirlig, hatte ein ansteckendes Lachen und war dauernd in Bewegung. Joy tanzte leidenschaftlich gerne und hatte auch Stellas Interesse dafür wecken können. Joy war als Kind ins Ballett gegangen, doch nun tanzte sie Modern Dance.

«Modern Dance ist freier und vielseitiger als Ballett!», erklärte sie Stella und zeigte ihr eine kurze Choreografie. «Ein Wechselspiel zwischen fließenden, schwungvollen und rhythmischen Bewegungen. So kann ich meine Emotionen ausdrücken.»

Stella war fasziniert. In ihrer Schulzeit hätte sie gerne tanzen gelernt, doch das Familienbudget ließ einen Kurs nicht zu. Nun war der alte Wunsch wieder zum Leben erwacht und Joy führte sie gerne ins Tanzen ein.

Die beiden trafen sich bei Joy zu Hause zum Tanzen. Sie hatte dort einen kleinen Tanzraum, der mit all den Spiegeln an den Wänden riesig erschien. Stella ließ sich von Joys Tanzfreude anstecken. Joy führte ihr die Bewegungen vor und sie ahmte sie nach, sie lernte sehr schnell und hatte viel Spaß dabei.

«Stella, du musst tanzen, du hast unglaubliches Talent!», rief ihre neue Freundin immer wieder und wirbelte vor Freude herum.

Sonntags im Gottesdienst war es zur Gewohnheit geworden, dass Stella sang. Sie hatte sich ihr Lampenfieber etwas abgewöhnen können. Alle waren begeistert von ihrer Stimme und froh, dass sie zusätzlich jemanden hatten für den Lobpreis. Es gab zwar eine kleine Lobpreis-Band, jedoch lange nicht jeden Sonntag.

Einen guten Sänger gab es aber noch: John war ein schüchterner Neuseeländer in Stellas Alter. Er hatte nicht nur eine ausgezeichnete Stimme, sondern spielte auch Klavier oder Gitarre, je nachdem, was gebraucht wurde. Taonga hatte ihn überreden können, öfter im Gottesdienst zu singen.

So kam es, dass Stella und John immer häufiger in den Gottesdiensten zusammen den Lobpreisteil gestalteten und natürlich auch dafür üben mussten.

Ben konnte mit beiden Freunden von Stella nicht sehr viel anfangen. Joy war ihm zu aufgedreht und John war ein Mann. Er hatte es nicht besonders gern, dass sich Stella so oft mit ihm zum Proben traf. Aber er musste zugeben, dass sie musikalisch unglaublich gut harmonierten. Ihre Stimmen im Duett, begleitet durch Johns Klavier- oder Gitarrenspiel, klangen hinreißend.

Eines Sonntags nach dem Gottesdienst unterhielt sich Stella noch mit John. Er war so schüchtern, dass er ihr kaum in die Augen sah.

So ein komischer Kerl, dachte Ben, wie verklemmt ist der denn? Er ging zügig auf Stella zu und meinte: «So, gehen wir?» Es war ihm bewusst, dass Stella mitten im Gespräch war, doch er wollte es so schnell wie möglich unterbrechen. John war ihm unsympathisch.

Eigentlich war er ein anständiger junger Mann. Doch die Tatsache, dass er ein Mann war, passte Ben nicht. Darüber hinaus sah John sehr gut aus. Wäre er nicht so unglaublich schüchtern gewesen, hätte er wohl allen Mädchen in Paihia den Kopf verdreht. Aber er schaute ihnen kaum ins Gesicht!

Stella sah kurz zu Ben. «Ich bin gleich bei dir, Schatz. Ich bespreche mit John nur noch die Lieder für nächste Woche, okay?»

Ben trat ungeduldig von einem Fuß zum anderen. Endlich verabschiedeten sich Stella und John.

John sagte, ohne Ben oder Stella anzusehen: «Tschüss!»

«Mann, ist der gesprächig!»

Stella lächelte Ben an. «Ja, man muss ihm manchmal alles aus der Nase ziehen. Ganz im Gegenteil zu Joy. Aber er ist sehr freundlich! Hast du ihn singen hören? Wahnsinn, nicht wahr?»

Ben verdrehte die Augen.

«Du bist doch nicht etwa eifersüchtig, Ben, oder?», lachte Stella, doch sie bekam nur einen bösen Blick zur Antwort.

Ben war tatsächlich eifersüchtig auf John, der im Moment fast mehr Zeit mit Stella verbrachte als er selbst. Er traute dem Kerl nicht. Was, wenn er sich in seine wunderbare Freundin verguckte?

«Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Ben! Du weißt doch, wie sehr ich dich liebe, nicht wahr? John ist mir sympathisch und ich bin begeistert davon, wie musikalisch er ist. Ich kann von ihm viel lernen!» Sie blickte Ben ernst an. «Doch ich würde mich nie in ihn verlieben!»

«Das kann man doch nicht beeinflussen», brummte Ben. «Ich sehe es nicht gerne, dass du so viel Zeit mit ihm verbringst.»

Stella lächelte. «Aber du kannst nicht verlangen, dass ich die ganze Zeit allein sein soll, nur weil du studierst und wir uns deswegen nicht oft sehen!»

«Natürlich nicht!», Ben zog Stella ganz nah zu sich. «Das würde ich nie von dir verlangen!» Er bekam feuchte Augen. «Ich vertraue dir, Stella. Ich möchte dich nicht einengen, bitte verzeih mir.»

Stella küsste ihn. «Mit John treffe ich mich wirklich nur für die Musik. Meistens ist Taonga auch in der Nähe, weil er dann seine Predigt vorbereitet.»

«Vielleicht könntest du mehr Zeit mit Joy verbringen?»

Stella musste lachen. «Die magst du doch auch nicht besonders, oder?»

«Sie ist mir einfach zu quirlig, zu laut und zu nervös. Aber wenigstens ist sie eine Frau.»

«Ja, sie steht immer unter Strom, sie ist voller Energie. Ich mag sie wirklich sehr! Wir ergänzen uns gut.»

«Das ist das Wichtigste, ich muss ja keine Zeit mit ihr verbringen.» Ben zwinkerte Stella zu. «Aber komm mir bloß nie mit Paartanzen. Ich kann nicht tanzen und weigere mich, es zu tun!»

Stella grinste: «Endlich einmal eine Sportart, bei der ich besser wegkomme als du!»

«Sport? Was hat Tanzen mit Sport zu tun?»

«Du bist gemein, Ben! Du verstehst einfach nichts davon.»

Es war und blieb herausfordernd für die zwei. So eine Fernbeziehung zu führen, war nicht einfach. Deshalb war Stella dankbar, dass sie Joy als Freundin hatte, die sie durch ihre fröhliche Art immer wieder aufmuntern konnte, wenn sie einerseits Ben und andererseits ihre Familie am anderen Ende der Welt vermisste. Auch mit John hatte sie beim Liederproben gute Gemeinschaft.

Ihren 21. Geburtstag feierte sie am 14. Oktober im kleinen Rahmen mit der Familie Harris und Joy bei einem Nachtessen. Da es ein Donnerstag war, konnte Ben leider nicht dabei sein.

Es war ein fröhlicher Abend, doch sie vermisste Ben schrecklich. Abends spät bei einem langen Skype-Gespräch konnte sie ihn endlich sehen und hören. Doch sie sehnte sich so sehr nach einer Berührung!

Stella kam mit ihren Plänen für die eigene Kindertagesstätte schneller voran, als sie es gedacht hätte. Es bestand von Seiten des Staates grundsätzlich Interesse an einer Kindertagesstätte, wie sie Stella im Sinn hatte. Es gab aber auch hohe Anforderungen und Auflagen, die erfüllt werden mussten. Stella musste alle ihre Pläne genau aufs Papier bringen, wobei Phil sie in sprachlichen Belangen unterstützte.

Ben war stolz auf alles, was sie erreichte. Er musste sie ermutigen, wenn sie wieder einmal das Gefühl hatte, dass das Ganze doch ein paar Nummern zu groß für sie war.

Das Studium war absolut das Passende für Ben. Er war mit Begeisterung dabei und konnte manchmal fast von nichts anderem erzählen, wenn sie sich endlich wiedersahen.

Dann hielt ihm Stella nach einer Weile lachend den Mund zu. «Genug gepredigt, mein Lieber!», sagte sie und meist hielt er sich an den Befehl, wenigstens für kurze Zeit.

Ben hatte einige sympathische Mitstudenten gefunden, mit denen er die Freizeit in Whangarei verbrachte. Meist aßen sie abends etwas zusammen im Studentenwohnheim und hingen anschließend im Aufenthaltsraum herum.

Vor allem Matt war Ben ans Herz gewachsen. Der große, ziemlich übergewichtige Australier mit den blonden Locken war äußerlich das pure Gegenteil von Ben. Mit ihm konnte er sich aber bestens unterhalten. Er besaß eine umwerfende Mischung aus Intelligenz und Komik. Ben genoss es, mit ihm zusammen zu sein.

Wollte er sich bewegen, musste er sich eher an Luke wenden. Der Neuseeländer war sehr sportlich. Sie drehten oft schon früh morgens eine Joggingrunde, meist am Strand. Ben musste aufpassen, dass er nicht zu sehr in Wetteifer geriet, sondern auf seinen linken Fuß achtete. Zum Glück war Luke sehr feinfühlig und ermahnte Ben oft, bevor er sich zu sehr verausgabte.

Die Monate verstrichen im Nu und schon bald waren der Winter und auch der Frühling vorüber. Stella begann voll Eifer und Freude, mit den Kindern der Kirchengemeinde ein Weihnachtsmusical einzustudieren.

Weihnachten wird in Neuseeland mitten im Sommer gefeiert, was für Menschen der Nordhalbkugel recht gewöhnungsbedürftig ist!

Stella hatte die Texte und mit Hilfe von John auch die Lieder für die Aufführung selbst geschrieben. Die Kinder übten ihre Texte und die Lieder mit Inbrunst ein. Sie liebten Stella, die sie mit viel Lob anleitete. John sagte wenig, doch man spürte, wie viel Freude auch er an dieser Inszenierung hatte. Er begleitete die singenden Kinder auf dem Klavier.

Ben hatte von Taonga den Auftrag bekommen, eine kurze Weihnachtspredigt zu halten. Ben war begeistert. Es würde seine erste kurze Predigt werden! Weniger erfreut war er jedoch über die intensive Zusammenarbeit von John und Stella. Aber er hatte Stella versprochen, ihr zu vertrauen und übte sich zähneknirschend darin. Zum Glück war John so scheu, dass er kein Wort zu viel verlor.

Für Silvester organisierten Ben und Stella, wenn sie etwas Zeit dafür fanden, eine rauschende Party. Die meiste Arbeit blieb an Stella hängen. Denn Ben war dabei, sein erstes Semester abzuschließen, und hatte viele Prüfungen, auf die er sich vorbereiten musste.

Stella hatte schon verschiedene kreative Leute aus der Kirchengemeinde angefragt, die für Unterhaltung an diesem speziellen Abend sorgen sollten. Kreative Menschen gab es eine ganze Menge. Viele hatten das bisher nur noch nicht erkannt. Stella hatte in dieser Beziehung sehr feine Antennen und so fragte sie die meist ganz erstaunten Leute, ob sie die Silvesterparty mit ihrer Begabung bereichern wollten.

Die meisten hatten zugesagt und so stand bald ein ansehnliches Fest auf dem Programm mit Musik, Comedy, Tanz und vielem mehr.

«Du hast doch nichts dagegen, wenn ich mit John ein paar Lieder singe, oder?», fragte Stella Ben eines Tages und machte ein gespielt ängstliches Gesicht.

Ben verdrehte die Augen. «Damit habe ich schon lange gerechnet», er schaute sie eindringlich an. «Viel üben müsst ihr dafür nicht mehr, ihr seid doch ein eingespieltes Team.»

Stella grinste: «Wir wollen an Silvester keine Loblieder singen, oder sicher nicht nur. Wir haben da an einige schöne Duette aus den Charts gedacht. Die müssen wir schon noch zusammen einstudieren.»

Ben verdrehte noch einmal die Augen, lächelte Stella dann jedoch an und meinte: «Das wird sicher richtig schön!»

«Joy wird für uns einen neuen Tanz einüben.»

«Wieso tanzt du nicht mit? Du hast doch Zeit genug mit Joy in ihrem Tanzsaal verbracht.»

Stella war nicht sicher, ob es Ben ernst meinte. Irgendwie fühlte sie sich ein bisschen von ihm auf die Schippe genommen. Sie wusste, dass er vom Tanzen nicht sehr viel hielt. Aber das musste er auch nicht, schließlich konnte sie sich mit seiner Surferei auch nicht so richtig anfreunden. «Dazu bin ich noch nicht bereit», entgegnete sie nur kurz. «Aber was trägst du denn bei, Ben?»

«Ich könnte eine Predigt vorbereiten», lachte er.

«O nein, mein Guter! Ich denke, die an Weihnachten genügt.» Sie grinste.

Er dachte einen Moment nach und meinte vorsichtig: «In der Schule war ich als kleiner Comedian bekannt!»

«Echt?»

Ben machte einige Grimassen und versuchte Stella von seinem komischen Talent zu überzeugen.

«Okay, du hast mich überzeugt, Ben, du bist engagiert!» Sie musste lachen. «Du wirst den Abend moderieren, nicht wahr? Sowas liegt mir nicht so.»

«Das mach ich gern.» Er strich ihr sanft durchs Haar. «Das wird bestimmt ein unvergesslicher Abend», meinte er dann. «Vor allem freue ich mich darauf, endlich Urlaub zu haben und die Zeit mit dir genießen zu können!»

Mitte Dezember hätte Ben bereits sein erstes Semester beendet und danach begannen die langen Semesterferien, die bis Ende Februar dauerten. Stella pflichtete ihm nickend bei. Sie freute sich auch sehr auf die gemeinsame Zeit.

Die Weihnachtsfeier wurde ein voller Erfolg. Die kleine Kirche platzte fast aus allen Nähten. Die Kinder waren zu Beginn alle zappelig und nervös. Stella hatte ihre liebe Mühe, ihnen hinter der kleinen Bühne in die richtigen Kostüme zu helfen. Doch das Singspiel gelang hervorragend. Die Zuschauer waren gerührt und die Kinder, Stella und John erhielten einen wohlverdienten langen Applaus.

Als der Applaus sich gelegt hatte, bedankte sich Taonga bei den Mitwirkenden. «Das war ein unglaubliches Weihnachtsfest. Kinder, ihr seid spitze! Vielen Dank, Stella, für deinen großen Einsatz. Wir sind so dankbar, dich begabte junge Frau unter uns zu haben. Vielen Dank auch unserem John. Er gehört zwar seit seiner Geburt zu uns, doch manchmal bemerkt man ihn kaum.» Er zwinkerte John fröhlich zu.

John senkte den Kopf.

Nun wandte sich Taonga mit einem ermutigenden Blick an Ben. «So, wir sind gespannt auf die allererste Predigt von Ben. Wie ihr alle wisst, hat er in diesen Tagen sein erstes Semester am College of Theology in Whangarei abgeschlossen.»

Ben wurde mit ermutigendem Klatschen auf der Bühne willkommen geheißen.

Er stand mit gemischten Gefühlen vor der Gemeinde. Er hatte sich schon seit Wochen auf seine erste Predigt gefreut, er hatte sich gut vorbereitet und alles mit Taonga im Vorfeld besprochen. Da es Weihnachten war und auch die Kinder dabei waren, die sonst in einem speziellen Kindergottesdienst betreut wurden, musste die Predigt kurz und einfach gehalten sein.

Ben wurde nervös. Als er seine Notizen auf das Rednerpult legte, zitterten seine Finger. Seine Beine fühlten sich plötzlich an wie Gummi. Zum Glück konnte er sich hinter dem Pult etwas verstecken. Nach einem Räuspern begann er. «Kinder ihr habt die Weihnachtsgeschichte vorhin so überzeugend dargestellt. Zum Beispiel die beschwerliche Reise für die hochschwangere Maria. Stellt euch vor, damals gab es noch keine Autos und das war eine echt weite Strecke!»

Einige Kinder kicherten bei der Vorstellung, dass Maria und Josef im Auto vor dem Stall vorfuhren.

«Und dann waren sie in Bethlehem nicht einmal willkommen. Sie suchten so lange nach einer Übernachtungsmöglichkeit und niemand wollte ihnen einen Schlafplatz geben. Unglaublich, denn Maria war am Ende ihrer Kräfte, sie bekam bald ein Baby! Josef war verzweifelt, er wollte doch der Frau, die er liebte, einen erholsamen Schlafplatz ergattern.»

Ben schaute kurz zu Stella, die ihm zulächelte.

«Dann bekamen sie wenigsten noch diesen alten, schmutzigen Stall, den sie auch noch mit stinkenden Viechern teilen sollten.»

Die Kinder hielten sich lachend die Nasen zu.

«Ist das der richtige Ort für die Geburt eines Königs?», fragte Ben in die Runde.

Die Kinder waren voll dabei und riefen fast einstimmig: «Nein!»

«Könige kommen in einem Palast zur Welt, nicht wahr?»

«Ja!»

Ben schüttelte den Kopf und erklärte: «Jesus war kein menschlicher König. Er war und ist viel mehr! Er ist Gottes Sohn! Er hätte ganz einfach im Himmel bleiben können, wo es unvorstellbar schön sein muss. Aber weil er uns alle so sehr liebte …»

Ben zeigte auf die Kinder, die vorne auf Kissen am Boden saßen und dann auf die Erwachsenen auf den Stühlen.

«Weil Jesus uns so sehr liebte, kam er mitten in all das Leid, in all die Ungerechtigkeit dieser Erde, ja in einen einfachen Stall zu ganz normalen Menschen. Ist das nicht unglaublich? Er hätte das nicht auf sich nehmen müssen. Aber stattdessen hat er sich entschieden, zu den Menschen auf die Erde zu kommen. Als kleines, wehrloses Menschenbaby. Wow!»

Einen Moment war es andächtig still in der kleinen gemütlichen Kirche.

Ben lächelte. «Das hat mir vorhin bei eurem Musical so gut gefallen, wie willkommen der kleine Jesus bei allen war. Maria hat ihn liebevoll an sich gedrückt und Josef hielt ihn stolz und beschützend im Arm. Sogar die Tiere durften an ihm schnuppern.»

Ben schnupperte in die Luft und die Kinder ahmten ihn nach.

«Ich möchte euch noch ein bisschen von den Hirten erzählen. Die durften vorhin in eurer Darbietung selbstverständlich auch in den Stall kommen, um das Jesusbaby zu begrüßen. Obwohl ihre Kleidung schmutzig und abgetragen war. Die Hirten waren zu jener Zeit in Israel nicht beliebt. Vielleicht etwa so wenig wie heutzutage Landstreicher, könnte ich mir vorstellen. Das Leben der Hirten war hart und ihr Ansehen gering. Meist gehörten ihnen die Herden nicht selbst, sie hüteten die Tiere der Reichen. Sie verbrachten die meiste Zeit im Freien, auch nachts schliefen sie direkt bei den Tieren, um sie vor Raubtieren und Räubern zu schützen. Wie die wohl gerochen haben?»

Die Kinder rümpften ihre Nasen.

«Aber wisst ihr, was ich interessant fand, als ich in der Bibel nach den Hirten geforscht habe? Die Hirten nehmen in den biblischen Geschichten einen großen Raum ein. Viele wichtige Persönlichkeiten waren Hirten. Zum Beispiel Abraham, Mose und auch David. Ja, und in den Psalmen und bei den Propheten wird Gott als der gute Hirte beschrieben und im Neuen Testament dann auch Jesus selbst. Da steht, dass Jesus als der gute Hirte sein Leben für seine Schafe lässt!»

Wieder war es absolut still in der Kirche.

«Es waren Hirten, die als Erste von der Geburt Jesu hörten! Für Gott waren sie so wichtig, dass er nachts eine Menge Engel zu ihnen raus auf die Weide schickte, damit sie davon hörten. Könnt ihr vielleicht dieses Lied nochmal singen? Wie hieß es gleich?»

«Habt keine Angst!», schrien die Kinder wie aus einem Mund und stürmten auf die Bühne.

Stella sorgte dafür, dass sie sich nicht gegenseitig überrannten und John setzte sich wieder hinters Klavier.

Sie sangen noch einmal das eingängige Lied der Engel für die Hirten. Es ging darum, dass sie keine Angst zu haben brauchten, denn Jesus, ihr Retter, sei endlich geboren worden. Sie sollten sich nicht sorgen, was die Leute sagen würden, wenn sie stinkend und in schlechter Kleidung ins Dorf kommen würden. Jesus sei für alle Menschen auf diese Welt gekommen. Für die Armen und die Reichen. Für die Ungebildeten und die Gebildeten. Einfach für jeden, der Jesus willkommen heißt.

Ben griff danach noch einmal zum Mikrofon: «Ein wunderschönes Lied! Also, jetzt wissen wir es alle: Jesus ist für uns alle gekommen, gerade auch für die Schwachen, die Unbeliebten, die Unbequemen, die Ausgestoßenen, um all die hat er sich immer ganz besonders gekümmert. So sollen auch wir es machen! Geht auf die Hirten unserer Zeit zu und erzählt ihnen, dass sie keine Angst haben müssen, weil Jesus da ist!»

Ben erhielt viele positive Rückmeldungen zu seiner ersten kurzen Predigt. Er war erleichtert. Auch wenn die Predigt nur sehr kurz und auch für die Kinder geeignet war, so hatte er diesen Job doch ernst genommen.

Taonga klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. «Weiter so, das war ein sehr guter Anfang! Kinder sind ein ehrliches Publikum und du hattest sie von Beginn an gewonnen.» Er drückte seinen Schützling in gewohnt kräftiger Weise an sich und fuhr fort: «Gratulation übrigens auch zu deinen Prüfungen. Ich habe gestern die Auswertungen bekommen. Die sind sehr zufrieden mit dir in Whangarei.»

Ben war froh, die erste Predigt erfolgreich hinter sich gebracht zu haben. Auch alle seine Prüfungen waren ihm gut gelungen. Doch es war eine sehr anstrengende Zeit gewesen und er freute sich, dass nun sein langer Semesterurlaub begann und er längere Zeit bei Stella sein konnte.

An Silvester knallte die Sonne heiß vom Sommerhimmel, sodass die vielen Gäste, die sich abends am Strand eingefunden hatten, froh waren, als sie endlich unterging und ein erfrischender Wind vom Meer aufkam. Für die beiden Schweizer war es das zweite Silvester am anderen Ende der Welt, doch es war für sie immer noch sehr seltsam, den Jahreswechsel bei Sommerhitze zu feiern.

«Ich vermisse das Frieren!», sprach Ben zur Eröffnung des Abends ins Mikrofon und erntete die ersten Lacher. «In der Schweiz haben wir keine Probleme, wie ihr hier, um den Champagner oder die Süßgetränke zum Anstoßen kaltzustellen. Wir stellen die Flaschen einfach auf den Balkon oder vor die Tür. Nicht wahr, Stella?»

Sie nickte lächelnd.

Er moderierte sympathisch durch den Abend, als hätte er dies schon oft gemacht. Er kündigte die Auftritte der verschiedenen Künstler an, die mit tosendem Applaus belohnt wurden.

Die Gäste waren vom Programm begeistert und auch Ben und Stella konnten den Abend genießen, obwohl sie für so manches verantwortlich waren. Doch unkompliziert und hilfsbereit, wie Neuseeländer nun einmal sind, war immer jemand da, der seine Hilfe anbot, wenn es nötig war.

Kurz vor Mittnacht verteilten Stella und Ben Fackeln, die dann in den Sand gesteckt wurden. Das sah wunderschön aus. Zuerst hatten sie Punkt zwölf kleine Himmelslaternen in den neuseeländischen Himmel steigen lassen wollen. Doch aus Umweltschutzgründen und wegen der Gefahr von Bränden hatten sie sich dagegen entschieden. Es hatte lange nicht geregnet und alles war sehr trocken, die Wiesen waren sogar gelb gebrannt.

«Nur noch eine Minute im alten Jahr!», rief Ben ins Mikrofon.

Kurz darauf zählten unzählige Menschen die letzten Sekunden herunter: « … five, four, three, two, one!» Ein lautes Jubelgeschrei erklang und dann begann ein fröhliches neuseeländisches Umarmen. «A good new year!», hörte man überall.

Stella und Ben zogen sich ein wenig zurück und standen bald darauf etwas abseits des Getümmels barfuß im Meer, so wie sie es schon vergangenes Jahr getan hatten. Ben umarmte Stella und drückte sie fest an sich. Sie legte glücklich ihren Kopf an seine Brust.

«Es war ein genialer Abend!», flüsterte Ben. «Das ist zu einem großen Teil dir zu verdanken! Du hattest so viele gute Ideen und hast all die Leute angefragt, denen ich, ehrlich gesagt, kein Talent zugetraut hätte. Aber das haben sie. Du hast das erkannt.»

«Deine Moderation war spitze, Ben. Du hast das mit so viel Charme und Lockerheit gemacht! Vielen Dank.»

Sie drückten sich aneinander und ließen sich vom nun recht kühlen Wind die Haare zerzausen.

«Wir gehören zu den ersten Menschen, die bereits ins neue Jahr gerutscht sind!», meinte Ben fast schon andächtig.»

Stella nickte. «Unsere Lieben zu Hause müssen noch ganze zwölf Stunden warten.» Ihre Stimme zitterte. «Ich vermisse sie!»

Ben drückte sie noch fester an sich.

Die beiden schwiegen und schauten zusammen lange aufs dunkle Meer hinaus.

Am anderen Ende der Welt

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