Читать книгу Anna - Isabel Tahiri - Страница 5
Hoffnung
ОглавлениеNachdem Anna versorgt war, wendete sich Anita den anderen Probanden zu. Sie waren inzwischen auf dem Weg der Besserung. Angeblich könnten sie nach Hause gehen, wenn sie wieder gesund wären, aber Anita hatte noch nie mitbekommen, dass jemand entlassen wurde. Sie machte sich an die Arbeit. Allen musste Blut abgenommen werden, ihre körperlichen Symptome beschrieben, Verschlechterung und Verbesserung erfasst werden. Das dauerte wohl den ganzen Vormittag. Sie seufzte. Der Nachmittag gehörte den Auswertungen. Es würde wieder spät werden.
*
Sie hat mich Anna genannt, seit über einem Jahr habe ich das erste Mal wieder meinen Namen gehört. Ich bin sehr aufgewühlt, ein Teil meiner harten Schale will abbröckeln, aber das wäre nicht gut für mich. Mein Schweigen habe ich mir hart erarbeitet. Am Anfang habe ich geschrien, geweint, mich beschwert, die Zusammenarbeit verweigert und versucht mich zu wehren. Aber immer sind sie stärker gewesen. Sie haben mich sediert und gefesselt, eine ganze Zeit lang habe ich nur Nebel gesehen. Dann habe ich mich geändert, mich abgeschottet. Jetzt versuche ich es mit passivem Widerstand, ich lasse mir keine Reaktion entlocken.
Nur deshalb ist mir schon drei Mal die Flucht aus dem Labor gelungen, sie konnten einfach keinen Hinweis in meinen Verhalten sehen. Ich verhalte mich immer gleich, bekomme aber alles mit, hoffe ich jedenfalls. Der Mikrochip in meinem Nacken sorgt dafür, dass sie mich immer wieder finden. Ohne ihn wäre ich schon über alle Berge. Allein kann ich ihn leider nicht loswerden, er sitzt direkt an meiner Halswirbelsäule. Jemand müsste ihn operativ entfernen. Ich sehe zu Anita hinüber, wenn ich mich ihr öffne, könnte ich sie dann überzeugen mir zu helfen?
*
„Wo ist die Akte von Proband Nummer Acht?“ Professor Heilmann tauchte plötzlich vor Anita, die in ihre Arbeit vertieft war, auf. Der Chef ließ sich hier selten blicken.
Sie zuckte zusammen. „Äh, die habe ich mit nach Hause genommen, um sie zu studieren. Nummer Acht ist gegen alle getesteten Virenstämme immun, da dachte ich, dass aus ihrem Blut vielleicht ein Antiserum gewonnen werden könnte.“
Er sah sie empört an. „Mit nach Hause genommen? Ohne Genehmigung? Frau Dr. Parell, Sie müssen mich fragen, wenn sie eine Akte aus dem Hause entfernen, obwohl ihre Absicht löblich ist. Sie sind noch neu hier, aber es gibt Vorschriften!“ Er schien sich aufzuregen.
Sie wurde rot. „Entschuldigung, Herr Professor, es wird nicht wieder vorkommen. Soll ich die Akte holen?“
Heilmann überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf. „Ich werde ihnen eine Genehmigung erteilen, vielleicht sehen Sie, mit frischem Blick, etwas, was unsere Mitarbeiter bis jetzt übersehen haben. Diese Nummer Acht ist etwas Besonderes, da lohnt sich bestimmt ein zweiter Blick. Aber für die Zukunft, keine Eigenmächtigkeiten mehr, verstanden?“ Er warf ihr einen Blick zu, den sie nicht deuten konnte, irgendwie seltsam.
Anita nickte. „Ja, Herr Professor, Danke!“ Sie atmete auf, als ihr Chef den Raum verließ, das hätte auch anders ausgehen können. Was wollte er andeuten? Anna sei etwas Besonderes? Wollte er ihr damit etwas sagen? Sie hatte es nicht so recht verstanden.
Sie warf einen Blick auf Anna, die an der Käfigtür stand und sie anstarrte.
„Was? Ach so, ich habe vergessen, dass Du nicht sprichst.“
„Anita?“ Die Stimme klang brüchig und leicht heiser, Anita erstarrte, Anna hatte ihren Namen gesagt, das erste Wort seit langer Zeit. Sie wollte sie nicht erschrecken. Vorsichtig näherte sie sich dem Käfig.
„Willst Du etwas wissen?“ Anna nickte. „Frag mich einfach, wenn ich kann, werde ich deine Fragen beantworten.“
Anna schien zu überlegen, aber gerade als sie sprechen wollte, ging erneut die Tür des Labors auf. Unwillig drehte Anita sich um, es war einer der Wachleute.
„Ich habe niemanden bestellt!“
Der junge Mann starrte erst Anna an und wendete sich dann wieder Anita zu.
„Ich wollte nur sehen, ob es diesem Versuchsobjekt gut geht...“ Dann sah er wieder an ihr vorbei, er konnte seinen Blick kaum vom Käfig abwenden.
Merkwürdiges Verhalten, dachte Anita. „Warum? Was interessiert Sie an Nummer Acht?“ Sie wunderte sich.
Er gab sich einen Ruck. „Nichts Bestimmtes, ich werde wieder gehen.“ Er machte Anita verstohlen ein Zeichen, ihm zu folgen, drehte sich um und verschwand wieder. Sie wechselte einen Blick mit Anna und folgte dem Wachmann neugierig nach draußen. Was wollte er?
Sie ging auf ihn zu, er nahm sie am Arm und zog sie in eine Ecke.
„Das ist ein toter Winkel der Kamera, ich muss dringend mit Ihnen reden, heute Abend im Park?“ Sein Ton war leise und eindringlich.
Sie zog an ihrem Arm. „Was soll das? Lassen Sie meinen Arm los.“ Zischte sie.
Er sah sie ernst an. „Entschuldigung, aber es ist wichtig, bitte!“ Anita schaute sich den jungen Mann an, er wirkte aufrichtig, was sollte sie tun? Könnte es wichtig sein? Es hatte irgendetwas mit Anna zu tun, da war sie sicher, wie er sie angestarrte hatte.
Ihre Neugier war geweckt, sie musste es wissen. „Wo?“ Fragte sie.
„Im Rosengarten? Wissen Sie wo der ist?“ Er sah sich nervös um. Vor was hatte er Angst?
Sie nickte. „Ja, aber vor halb acht schaffe ich das nicht.“ Ihr war heiß geworden. Wenn jetzt jemand käme, was sollte sie da sagen?
Sie musste zurück ins Labor. „In Ordnung, halb acht, Rosengarten.“ Dann ließ er ihren Arm endlich los und verschwand durch die nächste Tür.
Anitas Herz schlug hart gegen ihren Brustkorb, sie war gleichzeitig aufgeregt und verwirrt. Was konnte der Wachmann nur von ihr wollen? Wie kam er gerade auf sie? Sie atmete tief durch und begab sich wieder zurück ins Labor. Noch eine halbe Stunde, dann konnte sie gehen. Sie räumte ihre Sachen weg, wechselte einen kurzen Blick mit Anna und verließ das Labor vorzeitig. Sie wollte noch in die Personalabteilung. Ruth, die Sekretärin war nett, vielleicht konnte sie ihr dabei helfen, herauszufinden, wer dieser junge Mann war.
*
Ich habe die Stimme erkannt, das war der Wachmann, der letzte Nacht versucht hat, seinen Kollegen aufzuhalten, was will er von Anita?
*
Anita schlüpfte aus ihrem luftdichten Laboranzug und durchlief den Reinigungsprozess, Desinfektionsdusche, Vernebelung mit antiviralen Mitteln und zum Schluss der Ganzkörperanzug. Das war schon einer der vierten Generation, er ließ sich angenehm tragen, das Visier engte einem nicht mehr so ein, wie bei seinem Vorgänger. Außerdem war er aus einen sehr dünnen Material, sie konnte wieder etwas fühlen.
Beim Verlassen des Labors schaute sie auf die große Uhr in der Halle, 19.10 h, sie musste sich beeilen. Nach dem Verlassen des Gebäudes wendete sie sich nach rechts, bis zum Park waren es zu Fuß ungefähr zehn Laufminuten, dann noch einmal mindestens fünf, um zum Rosengarten zu kommen, es würde knapp werden. Sie wurde schneller.
*
Ben konnte die Augen nicht abwenden, dieses Gesicht, woher kannte er es nur, obwohl man wegen des Blutes eigentlich nur das halbe Gesicht sehen konnte, er war ganz sicher, dass er die Frau im Käfig kannte, aber woher nur?
Der Aufseher räusperte sich. „Herr Samuel, was gibt es denn so interessantes zu sehen?“ Ben zuckte zusammen, einen Moment lang war er weit weg gewesen. „Die Frau hier wurde verletzt, ein Wächter hat sie geschlagen. Muss ich das melden? Und an welche Stelle soll ich es schicken?“
Der Mann schaute kurz auf Bens Bildschirm. „Löschen Sie es einfach, das ist irrelevant.“
„Aber...“ Ben wollte etwas einwenden, aber er wurde sofort abgewürgt.
„Löschen, sofort.“ Der Aufseher hatte seinen besten Kommandoton angeschlagen. Ben drückte auf die entsprechende Taste. Das Video verschwand vom Bildschirm. Aber nicht aus seinem Kopf, er würde bestimmt noch darauf kommen, woher er die junge Frau kannte.
Peter stand im Licht der Laterne inmitten des Rosengartens, früher war er hier gerne mit einem guten Buch auf einer der Bänke gesessen. Seine Uhr zeigte 19.31 h, hoffentlich kam die Ärztin überhaupt, bei ihr hatte er ein gutes Gefühl, sie behandelte die Versuchsobjekte gut. Und Verbündete würde er brauchen. Da sah er sie auch schon in schnellen Schritten näherkommen.
Er hob die Hand, um auf sich aufmerksam zu machen. Sie änderte ihre Richtung und kam jetzt direkt auf ihn zu.
„Hallo, Sie wollten mich sprechen?“ Sagte sie anstelle einer Begrüßung. Peter schaute sich um, kein anderer Mensch in Sicht, sie schien nicht verfolgt zu werden.
Er sah sie wieder an und fragte. „Haben Sie ihren Kommunikationschip ausgeschaltet, Sie wissen ja, der sendet immer ihren Standort.“
Sie nickte entnervt. „Ja, natürlich, was denken Sie denn.“ Dann schüttelte sie den Kopf.
„Kommen Sie, wir gehen aus dem Lichtschein der Laterne, dort steht eine Bank.“ Anita folgte ihm hinüber und setzte sich.
Er sah sie direkt an. „Erst einmal muss ich Sie fragen, was Sie von diesen menschlichen Versuchsobjekten halten.“ Sein fragender Blick schien sie zu durchbohren.
„Was wollen Sie hören? Dass ich es falsch finde? Vielleicht wollen Sie mich nur aushorchen und anschließend verraten.“ Sie sah ihn aufgebracht an.
„Nein, ich spreche mit niemandem darüber, das können Sie mir glauben. Aber ich möchte die Wahrheit wissen, sonst ist unser Gespräch jetzt beendet.“ Peter konnte eigentlich kein Risiko eingehen, musste es in diesem Fall aber tun, die Ärztin könnte eine gute Verbündete sein.
Sie schien zu überlegen, was sie ihm sagen sollte. Anita sah ihm prüfend ins Gesicht, dann seufzte sie. „Also gut, nehmen wir einmal an, Sie meinen es ehrlich. Ich persönlich glaube, dass man die Versuche auch an differenzierten Zellen oder Embryonen durchführen könnte, warum es unbedingt Menschen sein müssen, weiß ich nicht. Das ist eine staatliche Anordnung.“ Sie zuckte mit den Schultern.
Peter warf ihr einen skeptischen Blick zu. „Und? Finden Sie die Bedingungen, unter denen diese Menschen leben müssen, normal?“ Fragte er dann. Was wollte der eigentlich hören?
Sie verdrehte die Augen. „Nein, natürlich nicht, im Gegenteil, ich habe schon versucht etwas zu ändern. Es ist nicht gut, wenn man den ganzen Tag im Käfig sitzt, der Mensch braucht Bewegung, sonst verkümmern die Muskeln. 'Aber die Gefahren seien zu groß, wenn man die Probanden herumlaufen ließe, selbst in einer kontrollierten Umgebung.' Originalton Prof. Heilmann.“ Sie lehnte sich zurück und sah sich um, es war schön hier, sogar in der Dunkelheit. Seltsamerweise hatte sie kein bisschen Angst vor Peter. Sie fühlte sich sogar wohl in seiner Nähe. Er hatte kurz geschwiegen, und sich erneut suchend umgeschaut.
Jetzt sagte er. „Das erleichtert die Sache etwas. Haben Sie schon von der Liga gegen Menschenversuche gehört?“
Sie lachte. „Wer nicht, werden die nicht ständig verhaftet bei ihren Demonstrationen?“
Er nickte ernst. „Ja, sehr oft, aber sie machen trotzdem weiter.“
Jetzt sah sie ihm direkt in die Augen. „Was wollen Sie eigentlich von mir?“ Ihr Blick war herausfordernd.
Er lächelte süffisant. „Ich möchte Sie rekrutieren.“
„Bitte? Etwa für die Liga?“ Sie fiel aus allen Wolken, damit hätte sie niemals gerechnet.
„Ja.“ Er meinte es anscheinend ernst.
Anita stand auf und ging ein paar Schritte zurück. „Sie sind verrückt, ich gehe jetzt, ich werde vergessen, dass dieses Gespräch je stattgefunden hat, auf Wiedersehen.“ Sie drehte sich um und wollte gehen.
Er hielt sie auf. „Moment, bitte, wir glauben, die Regierung will gar kein Gegenmittel finden, so gut wie in den letzten zwei Jahren hatte sie die Bevölkerung noch nie im Griff. Alle richten sich nach den Gesetzen, jeder hat Angst vor Ansteckung. Ich weiß, dass es einige resistente Personen gibt, warum versucht man nicht aus deren Blut ein Serum herzustellen? Haben Sie dafür eine Erklärung?“
Das brachte sie zum Nachdenken. Sie blieb stehen. Das war Anita auch schon aufgefallen, bei Anna, die jetzt schon die dritte Testreihe über sich ergehen lassen musste. Anita setzte sich, mit hängenden Schultern, zurück auf die Bank.
„Mein Gott, Sie könnten recht haben, aber warum? Was verspricht sich die Regierung davon? Immerhin sterben doch Menschen.“ Sie sah ihn fragend an.
Er hob seine Schultern. „Wir haben auch keine Erklärung dafür, deshalb arbeite ich ja im Laborkomplex von Prof. Heilmann. Es ist das größte Labor im Land. Aber bis jetzt habe ich noch nichts herausfinden können. Als Wachmann habe ich wenig Zugriff auf Information. Da würden Sie ins Spiel kommen.“
Anita schüttelte unwillkürlich den Kopf. „Wie stellen Sie sich das vor? Für jede Akte, die ich einsehen will, muss ich einen Antrag stellen.“ Da fiel ihr Annas Akte ein, die zuhause auf ihrem Schreibtisch lag. Konnte sie dem jungen Mann trauen? Bei der Sekretärin hatte sie nichts herausbekommen, jetzt fragte sie direkt. „Wie ist eigentlich Ihr Name? Den würde ich schon gerne wissen, wenn ich mit Ihnen zusammenarbeiten soll, meinen Sie nicht?“
Er grinste. „Verzeihung, mein Name ist Peter, Peter Berger. Frau Dr. Parell, Anita, helfen Sie uns, bitte.“ Sein Blick war flehend.
Sie nickte ergeben. „Ich habe Zugriff, zumindest auf eine Akte. Die von Nummer Acht. Aber bis jetzt habe ich noch nichts gefunden.“ Anita hatte sich entschlossen zu helfen, sie hoffte, dass es kein Fehler war. „Wenn ich etwas herausfinde, wie kann ich Sie dann erreichen?“ Sie sah ihn an, ein netter Mann eigentlich, auch wenn er sie mit seinem Anliegen überfallen hatte. Irgendwie gefiel er ihr.
Peter überlegt kurz, was denn am Sinnvollsten wäre. „Rufen Sie einen Wachmann, meine Dienstnummer ist WP1234, Sie können mich ruhig verlangen, andere machen das auch. Aber reden Sie niemals Klartext im Labor. Ich habe herausgefunden, dass alles überwacht wird, in Bild und Ton.“ Anita nickt, das wusste sie inzwischen auch. „Und jetzt, gehen Sie bitte nach Hause, achten Sie darauf, dass die Kameras Sie nicht erfassen, wenn Sie den Park verlassen. Wenn doch, denken Sie sich eine Erklärung aus, was Sie hier wollten.“ Er schien besorgt zu sein.
Sie verabschiedete sich. „Ja, gut. Bis... morgen?“ Anita schaut ihn fragend an, sie lächelte zaghaft.
Er erwiderte es. „Ja, bis Morgen.“ Peter schaute sich um und verschwand ohne ein weiteres Wort in einem kleinen Weg.
Anita blieb noch einen Moment sitzen, dann erhob sie sich langsam und macht sich auf den Heimweg. Wer hätte gedacht, dass die Liga einmal an sie herantreten würde. Sie musste aufpassen. Trotzdem, das war eine interessante Unterhaltung gewesen. Dieser Mann hatte etwas an sich, dass sie ansprach. Nun, sie würde ihn bald wiedersehen.