Читать книгу Anna - Isabel Tahiri - Страница 6
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ОглавлениеSeit drei Tagen versucht Anita nicht mehr mit mir zu sprechen, schade eigentlich, aber vielleicht auch besser so. Beinahe hätte ich meinen Schutzmechanismus aufgegeben.
Ich beobachte sie allerdings den ganzen Tag. Wenn sie es bemerkt, zeigt sie es nicht. Sie schaut nicht einmal zu mir herüber. Jetzt greift sie zum Telefon und wählt eine Nummer. „Zentrale? Ja, ich benötige einen Wachmann... Ist WP1234 gerade frei, der wäre mir der Liebste... Ich muss einen Probanden reinigen und dabei war er mir schon einmal eine große Hilfe... Gut, danke.“
Dann dreht sie sich zu mir um. „Nummer Acht, die Reinigung steht an, mach Dich bereit.“ Ich nicke und stehe auf. Das letzte Mal ergab sich bei der Reinigung eine Fluchtmöglichkeit. Aber fast sofort lasse ich den Gedanken wieder fallen. Solange ich das Implantat trage, werde ich es nicht mehr versuchen.
Der Wachmann betritt das Labor und kommt zu meinem Käfig herüber.
„Nummer Acht?“ Fragt er Anita.
„Ja, Reinigung in der Desinfektionsdusche.“
Er dreht sich zu mir um. „Dann wollen wir mal, Du wirst Dich doch benehmen? Oder?“ Dann zwinkert er mir vertraulich zu. Ich zucke zurück, aber dann nicke ich zögernd, irgendetwas ist seltsam, noch nie hat ein Wachmann mich als Mensch behandelt. Er öffnet die Käfigtür und nimmt mich am Arm, Anita kommt herüber und fasst nach meinem Anderen. Gemeinsam führen sie mich aus dem Labor, den Gang hinunter. Da ich sonst nie etwas anderes als das Stück Labor vor meinem Käfig sehe, schaue ich mich aufmerksam um.
Wir kommen an einem schwarzen Brett vorbei. Ein Blatt sticht mir ins Auge, es sieht aus wie ein Zeitungsartikel. 'Der Staat als Retter' und das Datum '27.Oktober 2316' mehr kann ich nicht lesen. Das war eine Woche bevor ich hierher kam. Ich bekomme vom weiteren Weg nichts mehr mit, meine Augen füllen sich ungewollt mit Tränen, das ist schon so lange her. Ich weiß noch, als sie meinen Kommunikationschip entfernten, ich dachte damals, jetzt bin ich tot.
*
Anita und Peter führten Anna schweigend zu den Duschen. Erst als sich die Tür der Reinigungsanlage hinter ihnen schloss, begannen sie zu reden.
„Und?“ Peter zog eine Augenbraue nach oben um die Frage zu unterstreichen.
„Nichts.“ Anita begann Anna beim Ausziehen zu helfen. „Danke, Sie können vor der Tür warten, wir kommen jetzt allein zurecht.“ Peter ging hinaus.
Anita beugte sich zu Anna hinüber und flüsterte ihr ins Ohr. „Anna, wir finden einen Weg, Dir zu helfen, halte durch!“ Dann zog sie ihr das Oberteil über den Kopf, Anna hatte die Augen weit aufgerissen. Nach der Dusche wurde sie neu eingekleidet und wieder in ihren Käfig zurückgebracht.
*
Anita will mir helfen! Ich kann es kaum glauben. Meine Gedanken kreisen den ganzen Tag darum. Vielleicht käme ich doch noch hier heraus und könnte ein normales Leben führen. Ein normales Leben, pah, so wie früher? Bestimmt nicht, wenn ich hier nicht ordnungsgemäß entlassen werde...
Was meint sie mit Helfen? Ich habe so viele Fragen, kann aber keine Einzige davon stellen, sie würden es hören. Mir fallen Dinge von früher ein, was bin ich stolz gewesen, als ich mit zwölf endlich den Chip bekommen habe, alle meine Freundinnen hatten einen, nun konnten wir ohne Erwachsene untereinander kommunizieren. Dass meine Eltern so immer wussten, wo ich bin und was ich tat, kam mir damals nicht in den Sinn. Ich bin so blöd gewesen. Ich berühre meine Schläfe, die Narbe ist immer noch zu spüren, schwach, aber sie ist da.
Jetzt habe ich einen anderen Chip, im Nacken. Er verbindet mich leider nicht mit der Außenwelt, aber dafür finden sie mich jederzeit. Die Labortür zischt, es kommt jemand.
*
„Frau Dr. Parell?“ Ein kleiner, etwas rundlicher Mann kam durch die Tür, sein Schutzanzug sah lächerlich aus, er schlug Falten am Bauch. Das musste noch einer der ersten Generation sein. Die modernen Anzüge passen sich an dem Körper an.
Anita blickte von ihren Notizen auf. „Ja?“ Der Mann blieb an der Tür stehen und machte einen unbehaglichen Eindruck, man sah, er war nicht gerne hier.
„Ich komme vom Ministerium für Sicherheit, mir liegt eine Anzeige vor.“
Anita klang verwundert. „Gegen mich?“
Er nickt. „Ja.“
„Warum?“ Was hatte sie angestellt?
„Sie waren am dreiundzwanzigsten November ohne Genehmigung im Park und haben sich dort siebenundzwanzig Minuten aufgehalten, haben Sie eine Erklärung dafür?“ Er sah sie prüfend an.
Ach das. „Äh, mir war nicht bewusst, dass ich das nicht darf. Entschuldigung. Ich erinnere mich natürlich. Auf dem Nachhauseweg hatte ich Lust auf einen kleinen Abstecher in den Rosengarten. Das habe ich schon öfter gemacht, nie hat es jemanden gestört.“ Sie sah bekümmert aus.
Der Mann vom Ministerium schüttelte den Kopf. „Das hätte es diesmal wahrscheinlich auch nicht, aber es war bereits dunkel. Ab 18.00 h ist das Betreten des Parks ohne Genehmigung verboten.“
Sie schien in sich zusammen zu fallen. „Oh, das tut mir leid, ich wusste das nicht.“
Er hob den Zeigefinger. „Es steht aber auf dem Schild am Eingang, Sie hätten es sehen müssen!“
Anita schaute zerknirscht zu dem Beamten hinüber. „Dann habe ich wohl eine Strafe verdient, ich war so in Gedanken, auf das Schild habe ich gar nicht geachtet. Es tut mir wirklich leid.“
Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Beamten. „Nun, Sie sind geständig und einsichtig. Ich denke, Sie bereuen ihre Tat. Es war ja auch das erste Mal. Diesmal belassen wir es bei einer Verwarnung. Aber denken Sie daran, die Schilder stehen nicht zum Spaß herum, Sie müssen sie auch lesen!“
Sie lächelte dankbar. „Ja, es tut mir leid. Ich werde das nächste Mal daran denken.“ Anita fiel ein riesiger Stein vom Herzen, natürlich wusste sie um die Vorschriften, sie befolgte sie immer. Aber vor lauter Neugier hatte sie diesmal nicht daran gedacht, sie musste vorsichtiger sein, in Zukunft.
*
Anita hat gelogen, so gut kenne ich sie inzwischen, ich habe ja nichts anderes zu tun, als sie zu beobachten.
Aber es hat geklappt, der Beamte ist, ohne eine Strafe zu verhängen, wieder abgezogen. Was hat sie im Park gemacht? Warum war sie da? Hat sie jemanden getroffen, der mir helfen kann? Schon wieder Fragen, die ich nicht stellen kann, es macht mich verrückt.
Sie kommt zu mir herüber und bittet mich, ihr meinen Nacken zu zeigen. Als ich es tue, verspüre ich einen kleinen Piks, ich habe gar keine Spritze in ihrer Hand gesehen. „Alles in Ordnung mit dem Implantat, Du kannst Dich wieder umdrehen.“ Fragend schaue ich sie an, aber Anita gibt keine Erklärung ab. Sie geht zurück zu ihrem Schreibtisch und trägt etwas in eine Liste ein.
Ich habe das Gefühl, sie beobachtet mich, immer wieder wirft sie einen Blick in meine Richtung. Will sie mir etwas sagen?
Zwei Stunden später bekomme ich Kopfschmerzen, ich kneife die Augen zusammen, das Licht schmerzt zu sehr. Meine Ohren klingeln, ich möchte schreien, dann wird alles schwarz.
*
„Notruf, ich muss operieren, bitte OP 2 fertigmachen.“ Anita verständigte die Zentrale.
„Art des medizinischen Notfalls?“ Tönte es aus dem Lautsprecher.
„Impantatüberladung, schnell sonst stirbt der Proband.“ Die Tür öffnete sich zischend, zwei Sanitäter mit einer Trage kamen herein. Sie waren sehr schnell hier gewesen. Sie legten Nummer Acht darauf und verschwanden wieder. Anita rannte hinterher. Im OP 2 entfernte sie das Implantat und reinigte die Wunde, bevor sie sie mit zwei Stichen wieder verschloss. Anna wurde zurück in den Käfig gebracht. Noch schlief sie, aber in einer Stunde spätestens würde sie wieder erwachen.
Anita setzte sich hin, um ihren Bericht zu schreiben, jedes Wort wollte reiflich überlegt sein.
*
Mit Löschen war er jetzt schnell bei der Hand, allerdings nur die sehr privaten Dinge. Es ging den Staat einfach nichts an, wenn man mit seiner Frau Sex hatte oder vor Schmerzen weinte. Man hatte sowieso nur sehr wenig Privatsphäre. Auch wenn er jetzt hier saß und andere beobachten musste, es gefiel ihm nicht. Aber der Staat hatte ihn hier her gesetzt. Ihm verdankte er alles. Seine Gefühle waren zwiespältig, einerseits war er dankbar, dass sich jemand um ihn gekümmert hatte, als damals seine Eltern bei einem Unfall starben. Er war erst Neun zu diesem Zeitpunkt. Andererseits fand er es furchtbar, den Leuten so hinterher zu spionieren. Ben entschied sich also in vielen Fällen dafür, das Video einfach verschwinden zu lassen. Eigentlich meldete er seit Tagen überhaupt nichts mehr.
Seit ihm eingefallen war, wer die junge Frau ist. Anna Casset, eine Studienkollegin, er hatte sie als fröhlich und hübsch in Erinnerung, damals war er ein klein wenig verliebt in sie gewesen, hatte sich aber nie getraut sie anzusprechen. Wenn eine so lebendige und fröhliche Person als Versuchskaninchen in einem Käfig endet, was sagte das über den Staat aus?
Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Bildschirm. Entsetzt beobachtete er, wie Anna ohnmächtig auf eine Trage gelegt wurde. Zwei Sanitäter brachten sie weg, die Ärztin hastete hinterher. Was war da nur passiert? Er hatte das Video ohne Ton angeschaut, der störte manchmal nur. Jetzt spulte er zurück und schaltet den Ton an.
*
Ruckartig erwache ich, ich lebe, mein Nacken schmerzt ein wenig, aber nicht sehr. Ich taste nach hinten, ein Pflaster behindert mich.
„Nein, nicht anfassen!“ Anita schreit fast, dann kommt sie zu meinem Käfig herüber. „Du hattest eine Überladung Deines Implantats, ich musste es entfernen, die Wunde wird ein paar Tage brauchen, um zu heilen, also bitte nicht anfassen.“ Ich nicke und schaue ihr in die Augen, ihr Blick bedeutet mir, keine Fragen zu stellen. Ich lasse mich wieder zurückfallen. Erst jetzt realisiere ich es so richtig, obwohl ich es kaum glauben kann, mein Implantat ist weg! Ich muss unbedingt einen Weg finden, aus dem Labor zu fliehen. Anita schüttelt fast unmerklich den Kopf, sie hat es mir wohl angesehen. Ich lege mich zurück und lächle.
*
Anna ging es wieder gut. Ben war erleichtert, als er sie auf dem Bildschirm in wachem Zustand sah. Er wollte gerade zurückspulen, als der Aufseher sich ihm näherte. Schnell klickt er eine andere Datei an.
„Herr Samuel, Sie haben seit drei Tagen keine einzige Meldung gemacht, wie kann das sein?“
Ben zuckte mit den Schultern. „War nichts Wichtiges dabei.“
Seine Stimme wurde schneidend. „Sind Sie sicher?“
„Ja, wenn ich es doch sage.“ Ben wurde langsam etwas mulmig zumute, hatten sie bemerkt, dass er so viele Dateien löschte? Aber der Aufseher wendete sich wieder ab und ging weiter. Ben atmete schon erleichtert auf.
Da drehte der Mann sich noch einmal um. „Das sage ich jetzt für alle, wir entscheiden, was gelöscht wird. Im Zweifelsfall rufen sie mich oder einen meiner Kollegen. Aber sie entscheiden nicht selbstständig! Sollte jemand meinen, dennoch ohne vorheriges Nachfragen eine Datei zu löschen, wird er die Konsequenzen dafür zu tragen haben. Wir sind hier eine Regierungsstelle, kein Filmclub. Ihre Arbeit wird ab sofort stichprobenartig überprüft werden. Zuwiderhandlungen werden hart bestraft, merken Sie sich das, Sie alle hier!“ Die Gesichter der Anderen wirkten verschreckt und ängstlich, wahrscheinlich spiegelte sich das auch in seinem Gesicht. Er musste in Zukunft vorsichtiger sein.
*
„So, das Implantat ist weg, wann holen wir Anna jetzt da raus?“ Anita hatte Peter wieder im Rosengarten getroffen, aber es war Sonntagnachmittag, Aufenthalt im Park also erlaubt. Sie hoffte, er hatte einen Plan.
„Wir müssen uns das gemeinsam überlegen, ich kann jederzeit Nachtschicht machen, die Kollegen tauschen gerne. Also, welcher Tag wäre gut?“ Fragte er.
Sie überlegte kurz. „Freitag denke ich, am Wochenende ist nur halber Betrieb, da sind nur die Objektbetreuer da. Aber das ist auch der letzte Termin, sowie Annas Wunde verheilt ist, wird ihr ein neuer Chip eingesetzt. Und im Moment wird sie auch sehr streng bewacht, bei ihrer Vorgeschichte.“ Sie sah ihn an.
Er lächelte. „Ja, Frau Dr. Parell, ich weiß, es besteht Fluchtgefahr.“
Anita berührte Peter an Arm. „Sollen wir uns nicht vielleicht duzen? Wenn wir schon zusammen eine kriminelle Handlung planen, finde ich das angemessen. Also ich bin Anita.“ Peter lächelte sie an und nickte. Dann gab er ihr die Hand und hielt die ihre fest. „Gestatten Anita, ich bin Peter.“ Er sah sie ernst an.
Anita musste grinsen. „Also, Peter, hast Du Dir schon was ausgedacht? Wir müssen Anna ja trotzdem verstecken...“ Sie hatte Herzklopfen, er hielt ihre Hand.
Er nickte. „Ich kenne da eine Containersiedlung, da fragt keiner nach den Anderen. Meistens sind auch immer ein paar Container frei, ich schaue morgen mal nach, ok?“
Sie war fast enttäuscht, als er sie jetzt wieder los ließ. „Ja, mach das. So, ich überlege mir auch etwas, treffen wir uns morgen wieder?“ Anita stand auf, sie wollte unbedingt noch einmal ins Labor, um ihre Versuchsreihe zu überprüfen.
Peter neigte den Kopf und lächelte sie an. „Hier, in der Mittagspause?“
Sie verzog die Lippen. „Ok, Tschüss, Peter.“ Dann drehte sie sich um, ging ohne zurückzuschauen weg.
Peter blieb noch eine Weile in der Mittagssonne sitzen, für November war es richtig schön warm heute. Er machte sich Gedanken um Anita. Eine schöne Frau, sie könnte ihm gefallen. Aber für so etwas hatte er einfach keine Zeit. Der Widerstand und seine Arbeit hielten ihn auf Trab. Schade eigentlich.
*
Auf dem Weg ins Labor grübelte sie über ihre Gefühle nach. Dieser Peter gefiel ihr immer besser. Sie fühlte sich so beschwingt in seiner Gegenwart. Und wenn er sie ansah bekam sie Herzklopfen. Ich glaube, ich habe mich verliebt, dachte sie. Dann schüttelte sie den Kopf über sich selbst, das können wir jetzt nicht gebrauchen, Anna hat Vorrang.
Anita sah sich die Ergebnisse an, sie konnte es kaum glauben. Das Serum, dass sie aus Annas Blut gewonnen hatten, vernichtet das Virus aller drei Testreihen. Jetzt müsste sie nur noch eine Trägerflüssigkeit dazugeben und fertig wäre der Impfstoff. Die Industrielle Herstellung könnte demnach bald beginnen, getestet hatte man jetzt genug. Sie schrieb eine Notiz an Professor Heilmann und räumte auf, bevor sie sich auf den Nachhauseweg machte. Damit hat sich der Plan, Anna zu befreien, in Luft aufgelöst. Die Versuchsobjekte würden jetzt nicht mehr gebraucht.