Читать книгу Gesucht! Vater mit Herz - Isabella Defano - Страница 3
Prolog
ОглавлениеBereits zum dritten Mal innerhalb der letzten halben Stunde sah Larissa auf ihre Uhr, doch leider wollte die Zeit einfach nicht vergehen. Schon seit fast einer Stunde warteten die Mitarbeiter der Berliner Verkaufsfiliale von Victor de Luca auf ihren neuen Chef. Für seinen Empfang hatte der Filialleiter Anton Sieber extra beschlossen, eine kleine Willkommensparty zu geben.
„Schließlich soll der neue Chef gleich einen guten Eindruck von unserem Team bekommen!“
Inzwischen konnte Larissa diesen Satz nicht mehr hören. Es war schon traurig. Bereits kurz nach der Übernahme ihrer Filiale durch den de-Luca-Clan, hatte er ihren alten Chef völlig vergessen. Dabei hatte Finn Lange ihm trotz seiner schlechten Zeugnisse extra diesen Job gegeben. Schließlich war Anton Sieber der Ehemann seiner jüngeren Schwester Stephanie, und somit sein Schwager. Aber das Verhältnis änderte sich radikal, nachdem Herr Lange die Filiale nicht mehr hatte halten können. Immer größer wurden die Schulden, und schließlich wurde das Gebäude verkauft.
Für Victor de Luca, den Geschäftsführer und Besitzer des Modeunternehmens de Luca, war diese Tatsache ein Glücksgriff. Denn obwohl die Filiale pleiteging, hatte das Gebäude einen sehr guten Standort. Mitten in der Innenstadt, direkt an einer Einkaufsstraße fanden täglich viele Besucher ihren Weg in das Geschäft. Die de-Luca-Kleidungsstücke erfreuten sich großer Beliebtheit, sodass die Verkaufszahlen in den letzten Tagen deutlich angestiegen waren.
Alle Mitarbeiter waren von Victor de Luca übernommen worden. Trotzdem hätte Larissa auf diese Party gerne verzichtet. Die letzten Tage und Wochen waren sehr anstrengend gewesen. Immer wieder musste Larissa auch an den Wochenenden arbeiten. Jetzt wollte sie nur noch nach Hause und dort ein ruhiges Wochenende verbringen. Mit viel Schlaf, und ohne ans Geschäft zu denken. Aber Anton Sieber ließ dies nicht zu. Für ihn war es selbstverständlich, dass alle Angestellten ihren Freitagabend opferten. Ohne Rücksprache wurde am Abend eine Firmenveranstaltung angesetzt. Alle Mitarbeiter mussten erscheinen, sich einen Anzug oder ein Kleid anziehen und sich amüsieren.
Eine Woche lang hatten Anton Sieber und die Verkaufsleiterin Sonja Neumann diesen Tag geplant. Larissa musste in dieser Zeit den Verkauf fast alleine bewältigen. Kein Wunder also, dass sie gerade nicht in Partystimmung war. Doch ehrlich gesagt war diese Party nicht allein das Problem. Viel schlimmer war ihr Vorgesetzter selbst. Bereits zwei Mal wollte er sie heute Abend schon zum Tanz auffordern, nur um jedes Mal von Larissa einen Korb zu bekommen. Diese Tanzaufforderung war eigentlich nichts Ungewöhnliches, da er auch mit anderen weiblichen Mitarbeiterinnen tanzte. Doch Larissa fühlte sich in seiner Gegenwart einfach unwohl. Leider würde er sich mit ihrem „Nein“ bald nicht mehr zufrieden geben. Schon beim letzten Mal hatte er sie mit einem seltsamen Lächeln bedacht, als sie die Toilette als Ausrede benutzte. Einen Moment lang dachte Larissa sogar, er würde vor der Damentoilette warten. Sie war absichtlich erst nach fast 20 Minuten herausgekommen, aber zum Glück war ihr Vorgesetzter bereits wieder auf der Tanzfläche. Zur Sicherheit war sie dann in der Nähe der Toiletten geblieben. So konnte sie jedes Mal schnell hineingehen, wenn Anton Sieber seinen Tanz beendete.
Erneut sah Larissa auf ihre Uhr.
„Das gibt es doch nicht! Schon über eine Stunde zu spät. Irgendwann muss der Neue doch kommen. Wahrscheinlich hat er erfahren, welcher Zirkus hier auf ihn wartet, und beschlossen, einfach nicht zu kommen. Das kann man ihm auch nicht verdenken. Diese ganze Party ist sowieso ein einziger Witz.“
Larissa war frustriert und wollte nur noch nach Hause. Sie hatte es satt, immer in der Nähe der Toiletten zu bleiben, um im Notfall Anton Sieber auszuweichen. Langsam gingen ihr die Ausreden aus. Larissa konnte ihm ja schlecht sagen, dass sie ihn unheimlich fand. Schon als sie vor fast drei Jahren mit ihrer Ausbildung zur Verkäuferin angefangen hatte, verursachten seine kalten blau-grauen Augen Larissa eine Gänsehaut. Damals hatte sie es auf die Aufregung geschoben, schließlich war es sehr schwer gewesen, einen guten Ausbildungsplatz zu finden. Aber dieses Gefühl war bis heute nicht verschwunden. Und inzwischen konnte sie die Tatsache nicht mehr ignorieren - er wollte mehr von ihr als eine reine Geschäftsbeziehung.
Ganz in Gedanken bekam Larissa nicht mit, wie Sonja Neumann plötzlich in ihre Richtung kam. Erst als sie das typische kühle „Lara!“ hörte, sah sie erschrocken auf.
„Wieder mal am Träumen? Sie sollten aufmerksamer sein, Lara. Schließlich kann ich keine Mitarbeiterin gebrauchen, die sich lieber ihren Tagträumen hingibt, als etwas zu leisten!“
Wie immer waren die Behauptungen von Sonja Neumann völlig aus der Luft gegriffen. Bereits seit dem Beginn ihrer Ausbildung hatte die kleine rothaarige Frau kein gutes Wort für Larissa übrig gehabt. Stattdessen wäre sie wohl längst gekündigt worden, wenn es nach ihr gegangen wäre. Immer wieder versuchte sie durch Sticheleien und falschen Behauptungen, Finn Lange von ihrer Unfähigkeit zu überzeugen. Schließlich ging sie sogar so weit, ihr immer mehr Arbeit zu geben. Diese konnte sie während ihrer Arbeitszeit gar nicht mehr schaffen. Zum Glück war ihr alter Chef ein sehr guter Menschenkenner und hatte nicht viel auf diese Verleumdungen gegeben. Irgendwann wurde er sogar Zeuge von Sonjas Verhalten Larissa gegenüber und stellte sie zur Rede. Danach hörten die Sticheleien erst einmal auf, da Sonja es nicht mehr wagte, ihre Kollegin offen anzugreifen. Doch seit dem Verkauf war wieder alles beim Alten. Jetzt hielt sie sich mit ihren Lügen sogar vor den anderen Mitarbeitern nicht mehr zurück, sondern versuchte alles, um die junge Frau in den Augen der anderen schlecht zu machen. Jedoch wagte Larissa es nicht, sich zur Wehr zu setzen. Sie wollte ihren Arbeitsplatz nicht verlieren. Es hätte ihr eh nicht viel genutzt, da die Frau aus der Personalabteilung eng mit Sonja Neumann befreundet war. Und zu Anton Sieber wäre sie niemals gegangen.
„Frau Neumann!“
Ein kurzes Nicken in ihre Richtung und Larissa wollte sich sofort zurückziehen. Sie hatte nicht die geringste Lust, mit dieser Frau auch noch am Freitagabend zu reden. Doch Sonja Neumann ließ einen Rückzug nicht zu.
„Nicht so schnell, junge Dame. Wir sollten hier noch etwas klären! Zwar ist mir klar, dass Anton Sieber auf Mädchen wie Sie sehr anziehend wirkt. Aber er ist verheiratet und hat zwei kleine Kinder, also sollten Sie sich etwas zurückhalten.“
Larissa war sprachlos. Was soll das? Ich und Interesse an diesem arroganten Hund. Da würde ich mich lieber mit einem stinkenden Köter abgeben, als nur eine Minute in seiner Nähe zu sein. Welche Geschichte soll jetzt schon wieder kommen?
„Ich weiß nicht, was Sie meinen“, antwortete Larissa jedoch nur. „Ich habe nicht das geringste Interesse an Herrn Sieber!“
Trotzdem konnte sie sich einen kurzen Blick in seine Richtung nicht verkneifen, um sicherzugehen, dass dieser sich noch immer auf der Tanzfläche befand.
„Ah! Erzählen Sie mir doch nichts. Ich habe Sie genau beobachtet.“
Mit harten, kalten Worten schrie sie Larissa fast an.
„Schon den ganzen Abend stehen Sie hier, um ihn genau im Auge zu behalten. Wahrscheinlich warten Sie nur darauf, mit ihm in sein Büro zu verschwinden. Ich kenne doch Leute wie Sie. Junge Frauen, die sich verheirateten Männern an den Hals werfen, um so leicht an Geld zu kommen.“
Langsam wurde Larissa sauer. Was fällt dieser Frau eigentlich ein? Dies fehlte ihr heute wirklich noch. Fast eine Woche lang hatte sie wegen dieser Kuh kaum schlafen können. Musste immer wieder die abschätzenden Blicke ihrer Kollegen ertragen. Und jetzt auch noch dieser Mist.
„Sie wissen nicht das Geringste über mich! Und Ihre haltlosen Anschuldigungen muss ich mir nicht länger anhören.“
Ohne auf eine weitere Erwiderung zu warten, ging Larissa davon. Jetzt hatte sie wirklich genug und keine Lust mehr, ihrer Vorgesetzten gegenüber freundlich zu bleiben. Sie rechnete damit, dass Sonja Neumann ihr wütend folgen würde, doch sie hatte Glück. Schnell ging sie Richtung Ausgang, denn inzwischen war Larissa die Party völlig gleichgültig. Wahrscheinlich würde der neue Besitzer sowieso nicht mehr kommen. Die anderen würden ganz umsonst den ganzen Abend in der Filiale verbringen. Ohne das Tempo zu verringern, ging sie durch die Tür, nur um im selben Augenblick mit einem dunkelhaarigen Fremden zusammenzustoßen.
„Vorsicht! Wo geht’s denn so eilig hin?“, erklang eine dunkle Stimme.
Schnell ging Larissa ein paar Schritte zurück und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Es war ihr unglaublich peinlich und sie hoffte nur, dass niemand es gesehen hatte.
„Es tut mir wirklich leid! Ich habe Sie nicht gesehen.“
„Bei diesem Tempo war das wohl auch kein Wunder“, sagte der Fremde freundlich.
„Vielleicht sollten wir uns erst einmal vorstellen? Ich bin Ralph.“
Er streckte Larissa die Hand entgegen, welche sie, ohne nachzudenken, ergriff. Er sah nicht verärgert aus. Und er sah sie auch nicht so abschätzend an, wie es ihre Kollegen so gerne taten. Stattdessen war sein Blick freundlich, seine Hände warm und Larissa überlief bei der Berührung ein leichter, angenehmer Schauer.
„Lara. Ich meine, Larissa Krüger“, stammelte sie etwas verlegen. „Doch die meisten Leute nennen mich einfach nur Lara.“
„Okay. Einfach nur Lara“, sagte er mit einem amüsierten Ton in der Stimme. „Wieso wollen Sie denn schon gehen? Soweit ich sehen kann, spielt sich die Party drinnen ab.“
Kurz folgte Larissa seinem Blick hinein in das laute Treiben. Dann wandte sie sich wieder Ralph zu.
„Ich bin nicht so der Partytyp!“, erwiderte sie knapp. „Daher möchte ich langsam nach Hause.“
Neugierig beobachtete er sie und begann, leicht zu lächeln.
„Kann ich verstehen. Auch für mich sind solche geschäftlichen Partys nicht gerade reizvoll.“
Erstaunt sah Larissa ihn an.
„Woher wissen Sie, dass dies eine Firmenfeier ist?“, fragte sie plötzlich ganz ohne ihre typische Schüchternheit.
„Weil Victor de Luca mich gebeten hat, ihn hier zu vertreten!“
„Wirklich?“ Die Überraschung spiegelte sich in Larissas Gesicht wider. „Arbeiten Sie auch für den de-Luca-Clan?“
„Das kann man so sagen!“
Erneut begann er, leicht zu lächeln, während seine braunen Augen leicht aufblitzten. Noch nie hatte Larissa einen so attraktiven Mann gesehen. Ein paar seiner kurzen Locken fielen ihm leicht ins Gesicht und bildeten so einen angenehmen Kontrast zu seinem perfekt geschnittenen Anzug. Kurz sah sie auf ihr eigenes Kleid hinunter. Ein einfaches und langes braunes Kleid, mit dicken Trägern und einem hochgeschlossenen Ausschnitt. Dazu war ihr langes blondes Haar zu einem Zopf zusammengebunden. Insgesamt machte dies nicht wirklich etwas her. Im Gegenteil! In diesem Outfit sah sie eher wie eine Klosterschülerin aus und nicht wie eine erwachsene Frau. Jetzt bereute sie es, dass sie sich keins der eleganten Kleider ihrer Freundin Ronja geliehen hatte. Diese hatte es ihr angeboten, doch eine festliche Garderobe war Larissa nicht notwendig erschienen.
„Wollte Herr de Luca nicht persönlich kommen?“, fragte Larissa schnell, um das plötzliche Schweigen zu beenden.
„Das ist richtig! Doch er ist gerade ziemlich erkältet. Ich wollte sowieso nach Berlin, daher hat er mir diese Aufgabe übertragen. Ehrlich gesagt kann ich mir aber etwas Besseres vorstellen. Zum Beispiel könnten Sie mit mir essen gehen.“
Überrascht blickte sie ihn an. Essen gehen? Ist das sein Ernst? Noch nie war sie einfach so eingeladen worden. Gut! In der Regel war sie auch viel zu schüchtern, um überhaupt mit einem Mann zu sprechen. Bei Ralph hingegen fiel es ihr leicht. Sie wusste nicht, warum es so war, doch es fühlte sich richtig an. Schließlich entschied sich Larissa, mal etwas zu wagen und nickte leicht. Kurz darauf führte Ralph sie bereits die Einkaufsstraße entlang, direkt hinein in ein schönes und exklusives Restaurant.
„Wirklich wunderschön!“
Diesen Ausdruck konnte sich Larissa nicht verkneifen, als sie sich langsam in dem Restaurant umsah. Die Wände waren in einem sanften Gelbton gehalten und harmonierten perfekt mit dem etwas dunkleren Holzfußboden. Immer mit zwei Stühlen ausgestattet, standen Holztische im Raum verteilt. Gleichzeitig gab es noch vereinzelte Tische, die etwas abseits standen und von einer Trennwand umgeben waren. Diese boten eine gewisse Privatsphäre und schützten die Gäste vor den Blicken anderer.
Mit einem Lächeln reagierte Ralph auf ihre Worte, während er sie zu einem der abgelegeneren Tische führte.
„Alex, mein älterer Bruder, hat mir dieses Lokal empfohlen. Er hat damals in Berlin studiert und hier eine Zeit lang als Kellner gearbeitet.“
Mit einem geübten Griff zog er den Stuhl zurück, damit sich Larissa setzen konnte. Kurz darauf schob er den anderen Stuhl um den Tisch herum und setzte sich genau neben sie.
„Erzähl mir was von dir“, sagte er gleich darauf. „Es ist doch in Ordnung, wenn ich Du sage?“
Wieder nickte Larissa. Noch immer war sie von der Ausstattung und dem Ambiente völlig beeindruckt. Noch nie hatte sie in einem so luxuriösen Restaurant gegessen. Selbst die Kellnerinnen schienen aus einer anderen Welt zu kommen. Ausgestattet mit einer kurzärmligen, strahlend weißen Bluse, einem kurzen schwarzen Rock und schwarzen Schuhen sahen sie sehr elegant aus. Dazu hatten sie ein kleines elektronisches Handgerät, mit deren Hilfe die Bestellungen gleich an die Küche weitergegeben wurden. Jedoch blieb ihr nicht viel Zeit, weiter darüber nachzudenken, noch immer wartete er auf ihre Antwort.
„Eigentlich gibt es über mich nicht viel zu wissen!“, sagte sie schnell. „Ich bin nach dem Tod meiner Adoptiveltern im Heim und dann bei verschiedenen Pflegefamilien aufgewachsen. Mit 16 haben meine Freundin Ronja und ich gemeinsam eine Wohnung bezogen. Diese ist zwar nicht sehr groß, aber für unsere Bedürfnisse reicht sie aus. Wir wollten sogar gemeinsam eine Ausbildung zur Verkäuferin machen, doch Ronja wurde einige Monate später als Model entdeckt und fliegt jetzt ständig in der Welt herum. Seitdem habe ich die Wohnung meist für mich allein.“
Als Ralph daraufhin nichts sagte, blickte sie ihn an. Schweigend sah er sie an, während sein Blick gleichzeitig Anteilnahme und Stolz ausdrückte. Kurz darauf legte er seine Hand auf ihre, um ihr auf diesem Weg Trost zu geben. Obwohl sie die ganze Geschichte gerne herunterspielte und bereits viele Jahre vergangen waren, schmerzte es noch immer. Sie würde nie den Todestag ihrer Eltern vergessen, als ihre Großeltern und Tanten ihr sagten, dass es ab sofort keinen Platz mehr für sie in ihrer Familie gebe. Schließlich sei sie nur adoptiert und nicht das richtige Kind ihrer Eltern. Für sie war damals eine Welt zusammengebrochen. Sie hatte bis zu diesem Tag nichts von ihrer Adoption gewusst. Doch endlich ergab das Verhalten ihrer Großmutter einen Sinn. Schon als kleines Kind war ihr aufgefallen, dass ihre Cousinen und Cousins deutlich bevorzugt wurden. So erhielt sie beispielsweise zum Geburtstag oder zu Weihnachten nur billiges Spielzeug für Kleinkinder. Und bei ihren Großeltern durfte sie nie Urlaub machen.
„Wie alt warst du?“, fragte er sie mitfühlend.
„Ich war sieben Jahre alt, als meine Eltern starben. Fast zehn, als ich in meine letzte Pflegefamilie kam. Dazwischen war ich abwechselnd im Heim und bei zwei anderen Familien.“
„Wiese musstest du so oft wechseln?“, fragte Ralph bestürzt. Es ist doch wirklich eine Schande, ein junges Kind ständig hin und her zu reichen. Wie sollte es sich so geborgen und sicher fühlen?
Verlegen sah Larissa auf ihre Hände, die er noch immer umschlossen hielt.
„Ich bin mit dem Tod meiner Eltern nicht so gut klargekommen. Am Anfang habe ich überhaupt nicht mehr gesprochen und viel geweint. Das hat meine erste Pflegefamilie wahnsinnig gemacht und bereits nach einigen Wochen war ich wieder im Heim. Die nächste war ganz in Ordnung. Ich hatte mich langsam wieder gefangen und verbrachte fast zwei Jahre dort. Aber kurz nach meinem 9. Geburtstag wurde meine Pflegemutter selbst schwanger und ein fremdes Kind wurde ihr zu viel. Also musste ich ins Heim zurück.“
„Das tut mir leid. Es muss sehr schlimm für dich gewesen sein“, sagte Ralph und berührte sanft Larissas Gesicht.
Sie schüttelte jedoch leicht den Kopf und sah ihn an.
„Es war nie ein richtiges Zuhause. Nur ein Ort, wo ich geschlafen und gegessen habe. Richtig zu Hause habe ich mich erst bei Renate Schulz gefühlt. Mit ihrer freundlichen Art könnte sie jeden für sich einnehmen. Sie hat jedes Kind wie ihr eigenes behandelt. Dort habe ich Ronja kennengelernt, die für mich wie eine Schwester ist. Leider wohnt Renate inzwischen nicht mehr in Berlin. Nachdem ihre Tochter selbst ein Kind bekommen hat, ist sie nach Hamburg gezogen. Sie wollte in der Nähe ihrer Tochter sein. Damals war ich 17 Jahre alt und habe schon nicht mehr bei ihr gewohnt.“
„Hast du je versucht, deine leibliche Mutter zu finden?“
Noch völlig in der Vergangenheit gefangen dauerte es ein paar Sekunden, bis Larissa die Frage richtig realisierte.
„Nein! Ich weiß nur, dass ich in Österreich geboren wurde, in Judenburg. Aber sonst habe ich keine weiteren Informationen. Ich wurde anonym in einem Krankenhaus abgegeben, doch das ist jetzt über 18 Jahre her. Ich denke nicht, dass es eine Chance gibt, meine leibliche Mutter zu finden.“
Angestrengt dachte er nach.
„Vielleicht kann ich dir ja helfen. Meine Familie stammt aus Judenburg. Meine Großeltern Niclas und Charlotte haben dort jahrelang einen großen Bauernhof betrieben. Inzwischen hat mein Onkel die Farm geerbt.“
„Danke!“, winkte Larissa jedoch ab. „Meine Mutter hat mich nicht haben wollen. Ich möchte mich nicht aufdrängen. Vielleicht hat sie inzwischen eine Familie, da würde ich nur stören.“
Ralph blieb skeptisch, sagte aber nichts weiter. Sie konnte sehen, wie er wieder zu grübeln begann. Ich hätte lieber den Mund halten sollen, dachte sie. Schließlich hatte Larissa schon früh gelernt, sich nur auf sich selbst zu verlassen. Und natürlich auf Ronja.
Als kurz darauf die Bedienung ihre Bestellung aufnehmen wollte, ließen sie dieses heikle Thema ruhen. Stattdessen überblickten sie schnell die Speisekarte, um sich für eins der Gerichte zu entscheiden. Ralph, der durch seinen Bruder bereits einige Spezialitäten kannte, hatte sich schnell für das Scaloppine al Gorgonzola entschieden. Larissa, die noch unsicher war, schloss sich an, doch die Preise hatten ihr die Sprache verschlagen. Dass dies kein gewöhnliches Restaurant war, konnte sie natürlich sehen. Doch dieses Lokal war nicht nur äußerlich ein elegantes Nobelrestaurant, auch die Preise waren nicht gerade klein. Trotzdem wollte sie den Abend genießen und einmal nicht über Geld bzw. nicht vorhandenes Geld nachdenken. Schnell legte sie die Karte zur Seite und sah ihn wieder an. Jetzt war sie dran!
„Was ist mit dir? Wie ist es, einen Bruder zu haben?“
Ganz einfach, als würden sie sich schon ewig kennen, ging ihr das „Du“ über die Lippen. Diesmal lachte er nicht nur leicht, sondern erst belustigt, zuletzt etwas frustriert.
„Du kannst mir glauben, manchmal wäre ich froh, wenn ich nur einen Bruder hätte! Quatsch! Ist natürlich nicht wahr. Ich liebe alle meine Geschwister. Wir sind insgesamt acht Kinder und vor einem Jahr kam dann das erste Enkelkind.“
„ACHT?!“
Er nickte.
„Ja, ich habe drei Brüder und vier Schwestern. Ich bin der Zweitälteste. Dazu kommen noch drei Cousinen und vier Cousins.“
Larissa kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Eine so große Familie!
„Da muss bei euch ja ziemlich was los gewesen sein.“
Ralph antwortete mit einem kurzen Nicken.
„Das stimmt! Unsere Familie hält sehr eng zusammen. Obwohl die beiden Brüder meines Vaters in Österreich leben, sind wir Kinder ständig zusammen gewesen. Selbst jetzt, wo wir erwachsen sind, hat sich daran nicht viel geändert. Ich telefoniere regelmäßig mit meinen Verwandten und wir treffen uns, wann immer es möglich ist. Zum Glück ist dies mithilfe von Auto, Bahn oder Flugzeug kein Problem.“
„Das hört sich schön an. Ich habe mir immer Geschwister gewünscht. Ist das Kind von deinem älteren Bruder?“
„Nein“, antwortete er nach kurzem Zögern, „Hannah ist die Tochter von meiner kleinen Schwester Emilia. Sie ist mit 15 schwanger geworden.“
„Oh“, war alles, was Larissa sagen konnte. Mit 15 Jahren schon ein Baby. Das musste alles andere als leicht gewesen sein.
„Ist sie mit dem Vater noch zusammen?“, fragte Larissa neugierig.
Wieder ein Zögern, diesmal sogar noch etwas länger. „Nein, Timm ist noch vor der Geburt bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen.“
Diesmal war es Larissa, die Ralphs Hand nahm. Zwar hatte er es zu verbergen versucht, trotzdem konnte sie den leichten Schmerz in seinen Augen sehen. Es musste schwer für die Familie, besonders für seine Schwester, gewesen sein. Jedoch erkannte sie schnell, dass er darüber nicht reden wollte. Kurz darauf wurde das Essen serviert und Larissa beschloss, dieses Thema ruhen zu lassen.
Den Rest des Abends, während sie langsam ihre Kalbsschnitzel aßen, unterhielten sie sich über unverfängliche Themen. Sie erzählte ihm von ihren Lieblingsplätzen in Berlin, während er ihr München schmackhaft machte. Es war erstaunlich, wie schnell die Zeit verging. Denn als sie das Restaurant verließen, war es bereits 22 Uhr.
„Ich bring dich natürlich noch nach Hause“, meinte Ralph.
Kurz darauf führte er sie zu seinem schwarzen Wagen, der noch immer vor der Filiale stand. Inzwischen war es dunkel im Inneren des Ladens, die Party war also beendet. Zum Glück! Larissa hatte nämlich keine Lust, sich den schönen Abend mit Ralph von einem ihrer Kollegen ruinieren zu lassen. Wie ein Kavalier öffnete Ralph erst die Beifahrertür, damit Larissa einsteigen konnte. Kurz darauf saß er selbst am Steuer und fuhr los.
Es war nicht besonders weit bis zu ihrer Wohnung. Bereits zehn Minuten später parkten sie vor dem Haus. Wie selbstverständlich half er ihr beim Aussteigen und führte sie bis zur Eingangstür. Jetzt war die Zeit gekommen, sich zu verabschieden, doch beide wollten den gemeinsamen Abend noch nicht beenden. Lange sahen sie sich an. Schließlich machte Larissa den ersten Schritt.
„Willst du noch mit hochkommen und einen Kaffee trinken?“
Einen Kaffee? Sie wusste nicht, was in sie gefahren war. Normalerweise war es nicht ihre Art, Männer in ihre Wohnung mitzunehmen. Gleichzeitig versprachen seine Blicke und seine leuchtenden Augen etwas ganz anderes. Er war nicht wirklich an Kaffee interessiert. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als er sie kurz darauf küsste. Es war ein sanfter, leichter Kuss, der kurz darauf wieder vorbei war. Dann berührte er spielerisch eine blonde Haarsträhne, die sich aus dem Zopf gelöst hatte.
„Willst du wirklich, dass ich mit hochkomme? Du musst das nicht tun.“
Tief sah er ihr in die Augen, während er weiter mit ihrem Haar spielte. Langsam nahm sie seine Hand.
„Ich weiß. Aber ich möchte es.“
Kurz darauf schloss sie die Tür auf und Hand in Hand gingen sie nach oben.