Читать книгу Die Residentur - Iva Prochazkova - Страница 10

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Auch nach einem halben Jahr treten die Ermittlungen zum gewaltsamen Tod von Geworg Arojan auf der Stelle. Den vermuteten Auftragsmord hat die Polizei nach wie vor nicht ausgeschlossen. Morde an Journalisten sind überall auf der Welt zu einem Bestandteil einer Einschüchterungstaktik im Kampf um Einfluss, Macht und Geld geworden. Europa kann sich allein in den letzten zwei Jahrzehnten mit bereits 45 Fällen von ermordeten Journalistinnen und Journalisten „brüsten“, wobei es trotz Überführung der Täter bei den meisten nicht gelungen ist, die Personen zu enthüllen, die sich tatsächlich hinter den Verbrechen verbergen.

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Kommt gut mit Krisensituationen klar. Geht Problemen nicht aus dem Weg. Zielstrebig. Beharrlich. Von derartigen Charakterisierungen wimmelte es nur so in Štěpán Chytils Arbeitszeugnissen. Im Prinzip pflichtete er ihnen bei. Er besaß die Eigenschaften eines ausdauernden zweikeimblättrigen Unkrauts. Er war unverwüstlich wie Klee. Auch ein kalter Tag, der nach Auspuffgasen und dicht am Boden verharrendem Rauch stank, ein außerordentlich scheußlicher Märzmontag ohne die geringste Aussicht auf Sonne, konnte den stellvertretenden Direktor des Amts für Ein- und Ausfuhrkontrolle und EU-Parlamentskandidaten (verheiratet, Vater eines gerade volljährigen Sohnes, schütter werdendes Haupthaar, leicht erhöhter Cholesterinspiegel) nicht aus dem Gleichgewicht bringen. Seit dem Morgen hatte er Halsschmerzen und alles, was er berührte, wirkte provozierend schleimig, als wäre die Welt mit dem Sperma eines starken feindlichen Männchens bedeckt. Trotz alledem wurde er die Überzeugung nicht los, dass die irdische Existenz das Beste war, was der Kosmos zu bieten hatte. Die Existenz als privilegiertes menschliches Wesen. So ein Wesen war Štěpán, und mit seinen vierundfünfzig Jahren hatte er nicht den geringsten Grund anzunehmen, dass sich irgendetwas verändern würde.

Als Ökonom kannte er natürlich das Pareto-Prinzip und wandte es erfolgreich in seinem Beruf an. Er war in der Lage zu berechnen, welche Menge an Energie er in was investieren musste und welche Zinsen ihm das einbrächte. Nie hatte er sich die Frage gestellt, ob die 80-zu-20-Regel auch außerhalb der Arbeit galt. Die Behauptung, dass 80 % der Folgen auf 20 % der Ursachen beruhen, und zwar auf allen Ebenen menschlichen Handelns, hätte er als nicht verifizierbare Theorie abgelehnt. Sich mit solchen Gedankenkonstrukten zu befassen, hielt er für überflüssig. An der Vergangenheit ließ sich nichts mehr ändern. Man konnte sie nicht ungeschehen machen und auch nicht wieder in sie zurückkehren. Die Ursachen waren bereits entstanden. Sie waren fest in Štěpáns Schicksal verkeilt und er, versunken im Rücksitz eines Wahlkampf-Vans der ČMD, der Tschechisch-Mährischen Demokraten, rückte auf der Zeitachse in Richtung der logischen Folgen vor. Langsam, aber unaufhaltsam.

„Wohin?“, fragte der Chauffeur.

„In die Zentrale“, schlug Milada Pecková vor.

„Da wird keiner sein“, vermutete Libor Fára. „Fahr direkt zum Vereinshaus.“

Štěpán sah auf die Uhr: halb eins. Znojmo – Qualitätsstadt mit Prädikat, verkündete das schlammbespritzte Ortseingangsschild, das sie gerade passierten. Es fiel Schneeregen, auf der Fahrbahn hatte sich Glatteis gebildet. Nach dem warmen Februar war der Rückfall in den Winter ärgerlich, aber Štěpán hatte keine Zeit, darauf zu achten. Er konzentrierte sich voll auf seinen Wahlkampf. Die Tour durch Mähren war ein wichtiger Teil davon. Die morgendliche Veranstaltung am Gymnasium in Humpolec hatte in inspirierender Atmosphäre stattgefunden, das Schulorchester hatte die Ode an die Freude gespielt und die zahlreichen Fragen ließen vermuten, dass die Schüler um gute Noten in Gesellschaftskunde kämpften. Viele von ihnen – höchstwahrscheinlich aus dem Abschlussjahrgang – hatten die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Fokus, insbesondere die Meinungsfreiheit. Sie wollten wissen, woher Štěpán seine Informationen bezog, was er von Online-Medien und von Bloggern hielt. Sie testeten, ob er bestimmte Namen und Portale kannte. Natürlich kam die Sprache auch auf Geworg Arojan und sein tragisches Ende. Die Studenten verglichen ihn mit dem ein Jahr zuvor ermordeten slowakischen Journalisten Ján Kuciak und fragten Štěpán, ob die beiden seiner Meinung nach dafür zahlen mussten, dass sie keine Angst gehabt hatten, die Wahrheit zu schreiben. Auch Štěpáns Ansichten zur Selbstzensur interessierte sie.

Er antwortete wohlüberlegt. Wies sie auf die Fallstricke der Freiheit im Internet hin und auf die Wichtigkeit einer journalistischen Ethik. Erläuterte ihnen, dass die sogenannte Selbstzensur manchmal auch ein Bemühen um Objektivität sein konnte. Als sie ihn fragten, wie er sich mit seinem Sohn verstünde, versicherte er, dass sie ein gutes Verhältnis hätten. Er verriet ihnen, dass er mit Richard oft diskutiere und in regem Meinungsaustausch stehe. Dass sie vor ein paar Tagen ein paar Ohrfeigen ausgetauscht hatten, darüber schwieg er vernünftigerweise.

Die anschließende Versammlung in der Stadtbibliothek war vom Klub aktiver Senioren organisiert worden, der Altersdurchschnitt im Publikum bewegte sich um die achtzig Jahre und die Konzentrationsfähigkeit war dementsprechend. Viele Augenpaare, in die Štěpán von seinem Rednerpult aus schaute, schlossen sich im Verlauf seines Auftritts. Hier und da war auch ein Schnarchen zu hören. Das war auch an den vorausgegangenen Tagen in Jihlava, Třebíč und Kounice nicht anders gewesen. Der älteren Generation wurde bei Wahlen eminente Wichtigkeit beigemessen, sie machte ein Viertel aller Wahlberechtigten im Land aus. Pecková und Fára hatten vom ČMD-Wahlkampfmanager die Anweisung bekommen, sich bei den Veranstaltungen für die Silver Ager besonders große Mühe zu geben, aber Štěpán wurde den Eindruck nicht los, dass das EU-Parlament eine Institution war, die den Denkmustern mährischer Greisinnen und Greise zuwiderlief. Der Hauptgrund, aus dem sie die Wahlkampfveranstaltungen in großer Zahl besuchten, war der Imbiss, der zum Schluss gereicht wurde und ihren Schlummer wie von Zauberhand vertrieb.

Hier in Znojmo würde sich die Reihe schläfriger Kaffeekränzchen nicht fortsetzen, das war Štěpán klar. Der Vorsitzende des ČMD-Ortsvereins hatte am Telefon geprahlt, dass der große Saal im Vereinshaus nicht nur voll sein werde, sondern dass auch eine hitzige Debatte auf dem Programm stehe. „Das wird für Sie kein Kinderspiel, Herr Ingenieur. Es kommen ein paar Lokalgrößen, die kein Geheimnis aus ihren dezidierten Ansichten über die Politik aus Brüssel machen. Die treiben Sie in die Enge, damit müssen Sie rechnen“, hatte er ihn gewarnt.

Vor dezidierten Ansichten hatte Štěpán keine Angst, was ihm Sorgen bereitete, war der Zustand seiner Stimmbänder. Nach einer nicht auskurierten Entzündung und einem Dutzend Versammlungen spürte er ein schmerzhaftes Spannen im Rachen und erste Anzeichen von Heiserkeit. Sein Gegenmittel war, dass er bei seinen Auftritten die Mikrofone vom Tontechniker auf volle Lautstärke aussteuern ließ, aber das Kratzen im Hals wurde immer schlimmer, und sie hatten noch nicht einmal die Hälfte der Wahlkampftour absolviert. Ostrava, Zlín, Olomouc und weitere mährische Städte erwarteten sie erst noch. Štěpán hatte für jede Station eine maßgeschneiderte Rede ausgearbeitet. Er konnte noch nicht wissen, dass er die meisten seiner Ansprachen, die ihn viele Stunden Arbeit gekostet hatten, nie halten würde und dass die Gründe dafür viel gravierender wären als überanstrengte Stimmbänder.

„Vor einer Woche hat sie eine Versammlung im Großen Saal in der Lucerna gehabt.“ Fára zeigte auf eins der Konkurrenzplakate, die die Ortsumfahrung von Znojmo säumten. Zora Opasková – DIE STIMME, auf die Europa hört, verkündete ein Schriftzug unter dem Kinn einer jungen Frau. Die war nicht nur gutaussehend, sondern ihrem Gesicht war auch erkennbar Intelligenz eingeschrieben. Laut Wahlforschung fand sie vor allem in Städten Rückhalt, unter eher jungen Menschen mit höherer Bildung.

„Ich war sie mir anhören“, redete Fára weiter. „Eine Stimme hat sie, das muss man ihr lassen. Sie hat über den ganzen Saal hinweggeschrien. Ohne Mikro.“

„Sie kann ziemlich sarkastisch sein. Habt ihr gehört, was sie verkündet hat?“ Pecková drehte sich auf dem Vordersitz um, ein amüsiertes Funkeln in den Augen. „Wenn schon Genderquoten, dann für Männer. Von denen würden dadurch viele endlich eine Chance kriegen, dass sie auf dem Arbeitsmarkt auch mal zum Zug kommen. Hat die Opasková gesagt.“

„Wenn ich ’ne Frau wäre, würde ich mich von solchen Quoten beleidigt fühlen“, verkündete der Chauffeur.

„Biste aber nicht, also“, stauchte Pecková ihn zusammen. Sie pflegte zu ihm ein kameradschaftlich-unmittelbares Verhältnis, genauso wie Fára. Štěpán blieb lieber etwas auf Abstand. Er kandidierte fürs EU-Parlament mit Unterstützung der Tschechisch-Mährischen Demokraten, war aber kein Parteimitglied. Pecková und Fára hatten ihn zwar so weit gebracht, dass sie sich inzwischen duzten, aber damit war’s für ihn dann auch vorbei mit den Vertraulichkeiten. Während er die Karriereleiter hinaufgeklettert war, hatte er sich ein zuverlässiges Gespür für den Umgang mit Kollegen erarbeitet. Beim Amt für Ein- und Ausfuhrkontrolle duzte er lediglich diejenigen, die ihm das von sich aus angeboten hatten, und nur, wenn sie in der Firmenhierarchie auf dem gleichen Level waren wie er. Niemals trank er mit Leuten aus dem Büro Alkohol oder verbrachte mit ihnen seine Freizeit, und er vermied Gequatsche auf den Fluren. Dadurch wurde er als Mensch mit Noblesse verbucht, aber der wirkliche Grund seiner verbalen Diszipliniertheit war seine heimliche Furcht, dass ihm der Sinn für Humor fehlte und irgendjemand darauf kommen könnte. In einer Nation, die sich selbst voller Stolz als ein Volk von lauter Schwejks bezeichnete, war das ein schlimmeres Handicap als chronischer Mundgeruch.

„Opasková hat sich in die erste Liga hochgekämpft, und dazu hat sie keine Krücke gebraucht“, sagte er. „Die ist gut.“

Ihre Bewegung DIE STIMME befand sich im politischen Spektrum rechts von der ČMD, aber Štěpán spürte, dass Zora Opasková seine direkte Widersacherin war. Eine gefährliche obendrein. Sie hatte einen guten Draht zu Bevölkerungsgruppen, die anzusprechen ihm nicht gelang. Aufmerksam verfolgte er ihre Reden, kannte ihre Standpunkte, in ihrem Wortschatz fand er seine eigenen Ausdrücke wieder (die geistvolleren). Unablässig suchte er nach einer Möglichkeit, sich selber treu zu bleiben und sich dabei trotzdem von ihr abzugrenzen.

„Die hat Eier in der Hose“, verkündete Pecková.

„Gutes Wahlkampfmotto“, befand der Chauffeur. Štěpán sah im Rückspiegel sein Gesicht. Es war ernst, er schien über die Verwendbarkeit des Slogans tatsächlich nachzudenken. Zora Opasková – hat Eier, auf die Europa schaut. Štěpán wandelte den Schriftzug auf dem Plakat ab, das in diesem Moment an seinem Fenster vorbeiglitt und hinter der Heckscheibe verschwand.

„Wir legen unser Material aus und dann gehen wir was essen, oder?“, schlug Fára vor. Er war jünger als Štěpán, aber alles an ihm schien abgenutzter zu sein. In den immer leicht triefenden Glubschaugen sah man deutlich die Spuren von all den Rückziehern, die er in seinem Leben machen musste, und auch von all denen, die ihn erst noch erwarteten. Während der letzten beiden Monate, als sie im Zuge des Wahlkampfs miteinander gearbeitet hatten, hatte Štěpán oft Fáras Urteilsvermögen und seinen Überblick über die tschechische Politikszene zu schätzen gewusst, gleichzeitig waren ihm aber auch seine Bildungslücken nicht entgangen. Er war ein „lowbrow“, wie Bert van Boxen gesagt hätte, Štěpáns langjähriger holländischer Freund. Vielleicht hätte der sogar „domkop“ gesagt oder „partijfanaat“. Štěpán beneidete Bert um seinen Mut zur politischen Inkorrektheit, die er selbst sich nach allen Regeln der Kunst in seiner Funktion nicht erlauben durfte. Bert allerdings pfiff auf die Regeln, und gerade das hatte ihn möglicherweise bis auf den Ministerposten in Den Haag befördert. Falls Štěpán bei den Wahlen Erfolg hätte und einen Sitz im Europäischen Parlament einnehmen würde, könnte er mit Bert viel häufiger in Kontakt sein als bisher. Darauf freute er sich.

„Wo wird denn hier anständig gekocht?“ Pecková drehte sich zum Chauffeur um, der, wie sich in den letzten Tagen gezeigt hatte, reichhaltige Gastrokenntnisse quer durchs Land hatte und ihnen ein nützlicher Ratgeber war.

„Im Navarra“, sagte er, ohne zu zögern. „Da hab ich super gegrilltes Schweinemedaillon gegessen.“

„Ich hab keinen Hunger“, redete Štěpán sich raus. Er musste mal eine Weile allein sein. „Ich vertret mir ein bisschen die Beine.“

Er beschloss, auf die Post zu gehen und unterwegs in irgendeinem Bistro Station zu machen. Der Besuch auf der Post war nicht dringend, er hätte ihn auch verschieben können, aber sein schlechtes Gewissen nagte an ihm. Schon ein Vierteljahr hatte er kein Geld geschickt, und wie üblich, wenn er mit den Zahlungen nachlässig war, tauchte beim Einschlafen Eržikas Bild vor ihm auf. Seltsam war, dass es auch nach Jahren nichts von seiner Strahlkraft verloren hatte. Štěpán nahm es in diversen Aspekten präziser wahr als das Bild seiner Frau. Alle Muttermale waren an ihrem Platz, das mahagonifarbene Haar war nicht verblichen, und wenn sie mit ihren fein geschnittenen Lippen den linken Mundwinkel hob, verursachte das bei ihm nach wie vor das gleiche Stechen in der Brust. Es war ein minimalistisches Lächeln voller Vertrauen. Auf dem Foto in dem vergilbten Papprahmen lächelte sie allerdings nicht. Sie hatte es zu ihrem neunzehnten Geburtstag in einem Atelier in Košice anfertigen lassen und unten rechts in die Ecke geschrieben: Für meinen geliebten Štěpán – Eržika. Er hatte es in einer Schreibtischschublade zu Hause in seinem Arbeitszimmer aufbewahrt (ein abseits gelegener Raum neben der Garage, den er als sein Revier betrachtete, er machte selbst sauber und ging davon aus, dass er dort nichts hatte, was den anderen Haushaltsangehörigen einen Vorwand geboten hätte, hineinzugehen), bis er festgestellt hatte, dass nicht einmal dieses Territorium sicher war. Jetzt lag das Foto im Safe.

„Keine Angst, ich bin rechtzeitig wieder da“, versicherte er Fára und machte sich auf den Weg zur Post am Horní náměstí. Er schlug ein forsches Tempo an, das Alleinsein war befreiend. Gleichzeitig machte er sich Vorwürfe. Nicht einmal beim Flyer-Auslegen half er ihnen. Die werden sagen, dass ich kein Teamplayer bin, dachte er. Sein ganzes Leben lang hatte er im Team gearbeitet, zuerst für die Niederländisch-Tschechische Handelskammer, später in verschiedenen Bereichen des Industrie- und Handelsministeriums bis hin zu seiner jetzigen Position beim Amt für Ein- und Ausfuhrkontrolle, aber Teamgeist besaß er nicht. Im Prinzip war er elitär. Er glaubte, dass es zwischen Menschen angeborene Unterschiede gab, die man nicht vom Tisch wischen konnte und die dem Schlaueren, Fähigeren oder sonstwie Berufenen das natürliche Recht gaben, die Zügel in der Hand zu haben. Das war keine populäre Ansicht und er bemühte sich, sie zu verbergen, aber nicht immer gelang ihm das auch. Nicht einmal vor seinem Sohn konnte er sie geheim halten.

Als er an Richard dachte, griff er nach seinem Handy. Er war neugierig, ob er diesmal rangehen würde. In letzter Zeit knirschte es ordentlich zwischen ihnen; Auseinandersetzungen waren an der Tagesordnung und hatten ein zunehmend gröberes Kaliber. Vor Štěpáns Abreise aus Prag waren sie heftiger aneinandergeraten als üblich. Die Anschuldigung, die ihm Richard um die Ohren gehauen hatte, war so unverschämt gewesen, dass Štěpán in die Luft gegangen war. Er hatte seinem Sohn eine Ohrfeige verpasst, und der (energiegeladene neunzehn Jahre, ideales Verhältnis von Muskelmasse und Körperfett, gesundes Selbstbewusstsein, schlagfertige Reflexe) hatte sich, ohne zu zögern, revanchiert. Štěpán war froh, dass sie allein zu Hause gewesen waren, andererseits war ihm klar, dass er sich vor Ehefrau und Vater mehr zusammengerissen hätte und die Situation nicht so eskaliert wäre. Auch Richard hätte sich besser im Griff gehabt. Er liebte seine Mutter und seinen Großvater und benahm sich in ihrer Gegenwart Štěpán gegenüber weniger bockig. „Noch ’n Diskussionsbeitrag, Pa?“, hatte er mit einem verächtlichen Grinsen gesagt, die Antwort allerdings nicht mehr abgewartet. Er schloss sich in seinem Zimmer ein, fing an zu pfeifen und kam bis zu Štěpáns Abreise nicht mehr heraus. Alle folgenden Anrufe ließ er unbeachtet. Einschließlich des jetzigen. Es machte sogar den Eindruck, als hätte er sein Handy ausgeschaltet. Eine Stimme verkündete, der angerufene Teilnehmer sei momentan nicht erreichbar.

„Kasper dich ruhig aus, mein Lieber“, nuschelte Štěpán in seinen Schal. „Das wird dir schon noch vergehen.“

Er steckte das Telefon wieder ein und ging weiter. Wie die meisten Väter war er überzeugt davon, seinen Sohn gut zu kennen. Er hatte großen Wert auf seine Erziehung gelegt. Von klein auf hatte er ihm beigebracht, was er selbst als lebenswichtig erachtete: nicht dem Selbstmitleid zu verfallen und Ängste zu überwinden. Seinen Zielen kompromisslos, aber clever zu folgen. Nicht gegen den Wind zu pinkeln. Er liebte ihn, und auch wenn er es ihm nicht sagte, ging er davon aus, dass Richard von seinen Gefühlen wusste und sie erwiderte. Die momentane Rebellion bedeutete ganz sicher nichts anderes als den Versuch, sich selbst zu beweisen, dass er inzwischen erwachsen war. Physisch und intellektuell war das nicht zu leugnen, aber der emotionale Teil seines Wesens steckte noch mitten im Reifungsprozess. Bisher hatte er sich keinen Schutzpanzer zugelegt. Es bestand die Gefahr, dass ihn der erste Lebenskonflikt unheilbar verwunden würde.

Ich war neunzehn, als ich erfahren habe, was Liebe auf Leben und Tod bedeutet, wurde Štěpán bewusst, und wie üblich packte ihn die Verblüffung, wie viel Zeit seit damals verflossen war und wie wenig ihn diese Zeit verändert hatte. In gewisser Hinsicht kam er sich immer noch vor wie damals, als er auf dem Bahnhof in Moskau aus dem Waggon gesprungen war und zum ersten Mal die stickige Luft jener Stadt eingeatmet hatte, die sein Leben unwiderruflich beeinflussen sollte. Ein Leben, das ohne jenes ohrenbetäubende Bremsen des internationalen Schnellzugs vor fünfunddreißig Jahren völlig anders abgelaufen wäre. Es hätte darin Eržika nicht gegeben, aber auch nicht die Zerrissenheit, die sie ausgelöst hatte. Gerade die Erinnerungen daran, was er in Richards Alter selbst durchgemacht hatte, hielten Štěpán zu väterlicher Nachsicht an. Er versuchte, die konfrontative Haltung seines Sohnes gelassen zu nehmen. Sein neuester Auftritt allerdings hatte ihn kalt erwischt. Richards punktgenau platzierte Kränkungen zeigten, dass er etwas entdeckt hatte, was er nicht hätte entdecken sollen.

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Richard machte einen Schritt. Und noch einen. Konzentriert, mit maximaler Vorsicht. Das Wasser reichte ihm stellenweise bis zu den Knien, anderswo bis zur Hüfte. Der Grund bestand aus glatten Steinen, die unter den Füßen wegrutschten und das Gehen genauso erschwerten wie die reißende Strömung selbst. Es war März und er watete nackt und barfuß durch einen Gebirgsfluss, aber schon längst nahm er die Kälte von Wasser und Luft nicht mehr wahr. Nur den Krampf in den erhobenen Armen, die den Tornister mit der Kleidung und der Waffe umklammerten. Lewan war inzwischen am anderen Ufer, Richard hatte noch ein paar Meter.

Er schaute auf Martins trainierten Rücken vor sich und überlegte, ob dem genauso die Arme abstarben. Falls ja, ließ er sich nichts anmerken. Alles, was er sich hier zumutete, nahm er mit absoluter Selbstverständlichkeit hin. Es war Martin gewesen, der den Kontakt hierher in die Slowakei und zur Patrola aufgetan hatte, kurz nach Geworgs Tod. Dem Mord an Geworg, präzisierte Richard in Gedanken. Hauptsache nichts verschleiern, keine Euphemismen. Geworg Arojan war hinterhältig aus dem Weg geräumt worden, bei Lewan Manusch hatte dazu nicht viel gefehlt. Deswegen wateten sie gerade durchs eiskalte Wasser. Das war unerlässlicher Bestandteil der Entscheidung, die sie getroffen hatten. Einer Entscheidung, die ihre Leben von Grund auf verändern würde. Schon heute Nacht.

Ein Stück entfernt schrie ein Vogel und Martin blieb stehen. Mit einer Kopfbewegung deutete er an, dass irgendwas los war. Richard richtete seinen Blick aufs Ufer. Lewan kauerte hinter einer Gruppe von Kiefern und schaute mit dem Fernglas zum Fuß des Berges, der das Tal abschloss.

„Das Team von Karol“, verkündete er, als Richard bei ihm angekommen war, und reichte ihm das Fernglas. Richard hielt es sich vor die Augen. Es dauerte einen Moment, bis er die vier Gestalten in den Tarnanzügen ausmachen konnte. „Sie haben uns noch nicht entdeckt.“

Er sprach an der Grenze zum Flüstern, obwohl das angesichts der Umstände überflüssig war. Das Wasserrauschen übertönte alle Geräusche. Richard gab Martin das Fernglas zurück und zog sich hastig an. Mit Blicken schätzte er die Entfernung zur Ruine der Mühle.

„Das packen wir“, befand er. Aus dem eingestürzten Dach ragten zwei Schornsteine, an einem von ihnen würden sie ihre Standarte hissen. Von der gesamten Patrola waren sie in der kürzesten Zeit am dichtesten ans Ziel herangekommen. Den Hauptverdienst daran trug Lewan. Er hatte sie nicht geschont, aber auch sich selbst nicht. Seit dem brutalen Überfall letztes Jahr (eine gebrochene Rippe, Muskelfaserriss, Bluterguss im Knie) war er in seiner Beweglichkeit immer noch eingeschränkt und hatte sicher auch noch Schmerzen, aber er ließ sich nichts anmerken. Er war fünf Jahre älter als Richard, in Sachen Selbstbeherrschung allerdings trennten sie Jahrhunderte. Die tausendjährige kasmenische Geschichte von Überlebenskämpfen war für Lewan auf jedem Schritt eine Stütze, das kasmenische Blut in seinen Adern trieb ihn an wie Benzin mit hoher Oktanzahl. Richard erinnerte er an einen kantigen, unverwüstlichen Offroader.

„Hier lang.“ Er machte eine Kopfbewegung in Richtung Mühlgraben. „Martin sichert uns.“

Ideal wäre es, wenn sie Adam dabei hätten; sie würden ihn an den Kiefern postieren und er könnte das andere Ufer überwachen. Aber sie hatten ihn nicht dabei. Das Anwaltssöhnchen hatte sich ins Hemd gemacht. Nicht wegen der heutigen Aktion, sondern aus Angst davor, was danach käme. Sie hatten einen detailliert ausgearbeiteten Plan. Adam hatte ihn ein halbes Jahr lang mit ihnen vorbereitet, aber im letzten Moment war er auf die Bremse gestiegen. Ohne Vorwarnung. „Sorry, Jungs“, hatte er eine halbe Stunde vor ihrer Abreise aus Prag gesagt, sichtlich zerknirscht vom eigenen Verrat. „Seid nicht sauer, ich pack das nicht. Ich weiß, Geworg hätte sich’s verdient, aber ich bin ein Versager. Ich schätz mal, ich hab bis jetzt einfach nur mein Maul aufgerissen.“ Sie waren nicht sauer gewesen. Kein vorwurfsvolles Wort war gefallen. Vielleicht hatten sie alle nur ihr Maul aufgerissen, das würde sich noch rausstellen. Mut war keine messbare Größe und Versagertum schon gar nicht. Ein Schissometer gab es nicht. Jeder musste selber in den Spiegel schauen. Manch einem hob sich bei diesem Anblick der Magen, aber das gehörte dazu.

Richard kam unwillkürlich der Gedanke, was wohl sein Vater sagen würde, wenn er ihn jetzt sehen könnte. „Das hast du von mir“, verkündete er ab und zu über eine von Richards Eigenschaften (ausnahmslos ging es um Charakterzüge, die sein Vater schätzte) und klopfte seinem Sohn stolz auf die Schulter. „Du bist genau wie ich“, versicherte er ihm. Richard hoffte, dass das nicht so war. Sein Vater hatte keinen Schimmer von der Patrola. Von nichts, was in Richards Leben eine wichtige Rolle spielte. Als er letztes Jahr seinen achtzehnten Geburtstag gefeiert und verkündet hatte, dass er für die gesamten Sommerferien mit einer humanitären Mission nach Kambodscha gehen würde, hatte ihn sein Vater gefragt, wozu er dort nütze wäre. Das hatte er nicht bissig gemeint, sondern todernst. Er hielt Richard für einen ratlosen Grünschnabel, auf den er nach wie vor ein Auge haben sollte, dem er schlaue Ratschläge geben und die Welt erklären musste. Seine Welt. Ihm war nicht klar, dass sich ihre Welten immer weiter voneinander entfernten. Als Richard aus Kambodscha zurück war, konnte er dieses Auseinanderdriften nicht mehr aufhalten. Und wollte es auch nicht.

Geduckt ging er hinter Lewan her und checkte die Umgebung ab. Er bemühte sich, absolut geistesgegenwärtig zu sein. „Mindful“ hatte Geworg das immer genannt, und obwohl er diese Achtsamkeit intensiv trainiert hatte, konnte ihn das nicht vor der Hinrichtung bewahren. Wie immer, wenn er sich Geworgs Ende vorstellte, biss Richard unwillkürlich die Zähne zusammen und seine Halsmuskulatur spannte sich an.

Er schluckte, um die Spannung zu lösen, und konzentrierte sich darauf, durch das Bett des Grabens zu gehen. Allerdings konnte er seine Gedanken nicht im Zaum halten, schon bald landeten sie wieder bei seinem Vater. „Was willst du damit beweisen?“, hatte der Richard angewidert gefragt, als er vor einiger Zeit die Hanteln in seinem Zimmer entdeckt hatte. „Denkst du, dass Muskeln dich zu einem richtigen Kerl machen?“ Damals waren sie noch in der Lage gewesen, miteinander zu kommunizieren, und Richard hatte versucht, seinen Standpunkt zu erläutern. Vergeblich. Sein Vater hatte vor Stärke Respekt, aber nur vor so einer, die Macht, Einfluss und Karriere bedeutete. „Mach dein Abitur und den Eignungstest fürs Studium, das ist der Ausgangspunkt zum Erfolg“, predigte er. Sich körperlich in Schuss zu halten, hielt er für ein Anzeichen von Primitivität. Niemals hätte er freiwillig Sport gemacht. Die Rekruten aus der Patrola hätte er als Hohlköpfe abgestempelt. Er hätte gesagt, dass sie mit diesen Kriegsspielen nur irgendeinen Minderwertigkeitskomplex therapierten.

Richard schüttelte den Kopf. Sein Vater rümpfte über die Kriegsspiele zwar die Nase, hatte aber selber eine Pistole. Die hatte er in seiner Schreibtischschublade versteckt und Richard hatte sie sich heimlich ausgeborgt. Eine Makarov 9 mm. Wunderschön brüniert, hartverchromter Lauf, Magazinauswurf mit dem Daumen, für Richards Hand wie geschaffen. Präzise. Total verliebt war er in sie. Er hatte Munition aufgetrieben, und wann immer es möglich war, gingen er und Martin damit schießen. Jedes Mal reinigte er sie anschließend und legte sie zurück an Ort und Stelle. Er verhielt sich umsichtig, aber sein Vater war höchstwahrscheinlich hinter seine Ausleihaktionen gekommen, denn er hatte sich einen Safe zugelegt, und Richard hatte lange gebraucht, bis er wieder an die Pistole rangekommen war. Bei jeder passenden Gelegenheit spielte er mit der Ziffernfolge rum (ein paarmal musste er schleunigst durchs Fenster in den Garten verschwinden, damit ihn Opa oder Ma nicht erwischten), er dachte schon, dass er aufgeben müsste, doch schließlich hatte er den Code geknackt. Nach kurzer Freude stellte sich Zorn ein. Und Bedauern. Das, was er im Safe außer der Pistole noch fand, bestätigte seine frühere Vermutung: Sein Vater war ein Scheißkerl. Falls Scheißkerl sein zu den nötigen Qualifikationen für einen Kandidaten zum Europaparlament gehörte, dann hatte Ing. Štěpán Chytil eine reale Chance, gewählt zu werden.

Aus dem Augenwinkel sah er Martin. Der war auf seiner Position angekommen und machte ein Zeichen, dass er ihnen Deckung geben würde. Er war von ihnen allen der beste Schütze. Außerdem der schnellste Läufer. Und damit nicht genug, er konnte am besten Mädchen rumkriegen. Eigentlich brauchte er sich überhaupt nicht anzustrengen, sie rannten ihm auch ohne Rumkriegen nach, obwohl sie wussten, dass seine Mutter Lehrerin war, was ihn eindeutig hätte disqualifizieren müssen. Tat es aber nicht. Noch vor einem Jahr hatte Richard ihn um seinen Erfolg bei den Mädchen beneidet, jetzt nicht mehr. Jetzt hatte er selber die allerhübscheste Freundin: Veronika. An einer anderen hatte er kein Interesse. „Weißt du, dass es noch nie mit einem Jungen so war wie mit dir?“, hatte sie ihm letzten Sommer anvertraut (ein leicht heiserer Kontra-Alt, hinterm Ohr eine Margerite, ihre Augen so goldgrün wie das Gras, in dem sie lagen), und ehe er sich den Kopf zerbrechen konnte, wie viele von diesen Jungen es in ihrem Leben wohl gegeben hatte, fügte sie bedeutungsschwer hinzu: „In meinem Kämmerlein wirst du der Erste sein.“ Das Lachen blubberte zwischen ihren Schneidezähnen durch jene Lücke heraus, von der sie behauptete, dass sie total bescheuert aussehe und dass sie für sie als angehende Schauspielerin ein Nachteil sei. Richard fand das sexy. Beim Küssen ließ er seine Zunge dorthin gleiten, und immer, wenn er sich in Gedanken Veronikas Gesicht vorstellte, tauchte als Allererstes diese erregende Zahnlücke auf. Auch jetzt.

Sie erklommen den Sockel der Mühle, wo die Treppe losging. Der untere Teil fehlte. Lewan hängte sich die Flinte über die Schulter, schwang sich auf das Podest über seinem Kopf und stieg geduckt nach oben. Richard folgte ihm. An der Stelle, wo die Treppe abknickte, fiel sein Blick nach unten. Martin kauerte an dem Mäuerchen in Feuerposition und schaute durch eine Lücke, die durch herausgebröckelte Steine entstanden war. Als hätte er gespürt, dass Richard ihn ansah, hob er für einen Moment sein Gesicht und zog eine Grimasse. Er hatte davon ein endloses Arsenal, eine perverser als die andere.

Lewan griff nach der Schutzbrille, die ihm unterm Kinn hing, und setzte sie sich auf dem Weg nach oben auf. Richard tat dasselbe, obwohl er hoffte, dass er keinen Treffer abbekäme. Er war sich sicher, dass er sich auf Martins Deckung verlassen konnte. Sie kannten sich seit der sechsten Klasse und einer hatte den anderen noch nie im Stich gelassen. Sie waren auf derselben Wellenlänge. Nach dem Mord an Geworg hatte es keine Woche gedauert, und beide wussten, was ihnen bevorstand. Da gab es nichts zu diskutieren.

Richard fuhr mit der Hand in seine Innentasche, um sich zu überzeugen, dass er dort die zusammengefaltete Standarte hatte.

„Ich geb dir von da aus Deckung, Martin von unten. Deine einzige Aufgabe ist die Standarte. Halt dich nicht mit Schießen auf“, befahl Lewan und schaute nach unten. Martin machte mit Daumen und Zeigefinger ein Okay-Zeichen, legte aber die Hand sofort wieder an den Abzug.

„Lauf!“ Lewan gab das Signal und Richard rannte los. Vorsichtig balancierte er über die verwitterte Mauerkrone und versuchte, nicht abzurutschen. Dabei tauchte vor seinem inneren Auge Veronika auf. Sie ging vor ihm her, in ihrem Sommerkleid, unter dem sich deutlich die geigenförmigen Hüften abzeichneten, sie war barfuß und hatte die Haare auf dem Scheitel zusammengebunden, sodass man nicht nur ihr kleines Schwalben-Tattoo sah, sondern auch die feinen Härchen auf dem gebräunten Hals. Eine erregende Vision, die aber für diesen Moment absolut unpassend war. Schnell verscheuchte Richard sie wieder.

Er gelangte ans Ende der Mauer, ergriff einen verrosteten Träger und zog sich an ihm zum obersten Stockwerk hinauf, dem ehemaligen Dachboden. Praktisch war er am Ziel. Er hockte sich hin, hob den Blick – und erstarrte. Mit dem Rücken zu ihm kauerte dort jemand in einem nassen Tarnanzug, in der Hand hielt er eine Standarte und befestigte sie gerade am Schornstein. Von der anderen Seite bekam er vom Kommandeur der ersten Mannschaft Deckung. Adams Abwesenheit hatte also doch verhängnisvolle Folgen gehabt. Hätte er bei den Kiefern Wache geschoben, dann hätte er die erste Mannschaft nicht den Fluss überqueren lassen.

Richard durchströmte ein Gefühl von Bitterkeit. Es war so intensiv, dass ihm übel wurde. So ähnlich wie bei einem schlimmen Kater. Unwillkürlich schoss ihm durch den Kopf, dass die Niederlage in der simulierten Schlacht um die Mühle, die er mit Lewan und Martin gerade erlitten hatte, eine Warnung sein könnte. Vielleicht war das ein Vorzeichen dafür, wie es ihnen in den Schlachten ergehen würde, bei denen nicht mehr mit Plastikkugeln geschossen würde. Er zuckte weg, um aus dem Schussfeld zu kommen, aber zu spät. Er registrierte einen Treffer am Helm. Gleich danach noch einen, unterm Ohr. Trotz des Schutztuchs tat es höllisch weh.

„Adam, du Idiot“, zischte er wütend. In voller Lautstärke rief er dann: „Ich bin tot.“

Der heutige tschechische Nachwuchs ist verwöhnt, hat Angst vor harten Lebensbedingungen. „Ein Minimum an Anstrengung und Verantwortung, ein Maximum an Erlebnissen“, so das beunruhigende Ergebnis einer Umfrage unter Schülern der Oberstufe an Gymnasien und Sekundarschulen in 25 tschechischen Städten.

Aus einem Bericht des Meinungsforschungsinstituts Horizont

Alena hörte auf, den steifen Nacken ihres Schwiegervaters zu massieren, wischte sich die fettigen Hände an einer Serviette ab und ging ans Handy.

„Chytilová.“

Auch wenn sie sich ganz ruhig meldete, reagierte ihr Herz mit erhöhter Pulsfrequenz. Sie konnte nichts daran ändern. Schon seit achtzehn Jahren versuchte sie, diesen unangenehmen konditionierten Reflex loszuwerden, aber vergeblich. Eine unbekannte Telefonnummer löste jedes Mal die gleiche automatische Antwort ihres Organismus aus.

„Ich bin’s.“ Am anderen Ende war Hankas energische Stimme.

„Von wo rufst du denn an?“

„Aus dem Lehrerzimmer.“

„Schon zurück?“, wunderte sie sich. „Wann bist du wiedergekommen?“

„Vor ein paar Minuten.“

Hanka Formánková war eine langjährige Freundin von Alena und die Mutter von Richards bestem Freund. Sie unterrichtete an dem Gymnasium, das ihre beiden Söhne besuchten. Dass sie sofort nach der Rückkehr von ihrem Seminar anrief, geschah definitiv nicht nur aus Höflichkeit, da war sich Alena sicher.

„Ist was?“, fragte sie und ging mit dem Telefon ins Esszimmer nebenan.

„Das wüsst ich selber gerne. Richard und Martin sind heute nicht hier aufgetaucht.“

„Nicht? Aber Richard hat mich doch in der Pause angerufen …“

„Nicht von der Schule aus“, unterbrach Hanka sie.

„Das hat er aber behauptet.“

„Quatsch. Geschwänzt hat der. Genau wie Martin.“

„Warum sollten sie?“

„Wahrscheinlich haben sie was Interessanteres auf dem Programm“, tippte Hanka. Sie machte sich weder über ihren Sohn noch über irgendeinen anderen Angehörigen des männlichen Geschlechts die geringsten Illusionen.

„Richard hat heute früh vor zehn angerufen. Ich hab ihn gefragt, wie sein Englisch-Test ausgefallen ist, und er hat gesagt, gut.“

„Der hat überhaupt keinen geschrieben.“

Alena schaute auf den Wandkalender, der über dem Esstisch hing, und rekapitulierte in Gedanken: Heute war Montag. Am Freitag war Hanka nach Pilsen zu ihrem Methodikseminar gefahren und Richard hatte sich bei Martin einquartiert. Martins Vater war schon seit drei Wochen auf der Suche nach sich selbst, bei irgendeiner Zootechnikerin, und es sah nicht so aus, als ob er bald an den heimischen Herd zurückkehren würde. Die Jungs hatten beschlossen, die leere Wohnung der Formáneks zu nutzen, um sich in Ruhe auf die schriftlichen Abiprüfungen vorzubereiten.

„Ich hab bei Martin mehrere Nachrichten hinterlassen, aber er stellt sich tot. Ich hab den Verdacht …“ Hanka senkte ihre Stimme. Wahrscheinlich wollte sie nicht, dass irgendein anderer Lehrer sie hörte. „Vielleicht waren sie aus, sie haben’s übertrieben und jetzt müssen sie ausschlafen.“

Sie spielte auf die zurückliegende Phase übermäßigen Alkoholkonsums ihrer Söhne an (die zweite Hälfte der elften und fast die ganze zwölfte Klasse), als die beiden ausgetestet hatten, was sie vertrugen. Und sie vertrugen viel – danach zu urteilen, was Alena zu Ohren gelangte und was zweifellos nur einen kleinen Bruchteil der Wirklichkeit darstellte. Richard vertraute sich ihr nicht an, und sie hatte nicht den Mut, ihn auszufragen. Vor ungefähr anderthalb Jahren hatte sie beim Saubermachen in seinem Zimmer ein Tütchen Gras gefunden. Sie war entsetzt gewesen, eine Weile hatte sie überlegt, was sie tun sollte. Dann hatte sie sich einen Joint gebaut, ihn im Garten geraucht und auf die Wirkung gewartet. Und die kam schnell, es war super Qualität. Sie hatte beschlossen, mit Richard zu reden. Als sie das nächste Mal allein zu Hause waren (wichtige Dinge besprach sie mit ihm prinzipiell unter vier Augen), fragte sie ihn, wie lange er schon kiffte. „Ich hab’s ein paarmal ausprobiert“, sagte er in einem Tonfall, der die ganze Angelegenheit in ein triviales Licht rückte. „Ach Ma, Experimentieren ist ein notwendiger Bestandteil der Erkenntnis.“ Sie vermutete, dass er neben Hanf und Alkohol auch noch mit allem möglichen anderen herumexperimentierte, und immer war sie wie gelähmt vor Panik, wenn er zu einem Konzert oder einer „Party“ abdampfte. Er spürte ihre Befürchtungen und versuchte, sie zu zerstreuen. „Keine Angst, ich hab das unter Kontrolle“, versicherte er ihr jedes Mal. Auf diese Versicherungen gab sie nichts; es war eher ihr Instinkt, der ihr einflüsterte, dass sie ihm vertrauen konnte, dass das nur vorübergehende Ausschläge waren, die auch wieder abklingen würden. Von klein auf trug er eine Art Keimzelle von Ernst und Verantwortungsgefühl in sich. Die Reise nach Kambodscha letztes Jahr hatte das nur bestätigt.

„Ich glaub nicht, dass sie unterwegs waren. Damit sind sie doch durch.“

Vom anderen Ende drang ein nachsichtiges Lachen an Alenas Ohr.

„Ein Kerl ist niemals mit irgendwas durch. Der will immer alles wieder von vorn ausprobieren“, versicherte ihr Hanka, die gründlich vom Verlauf ihrer Ehe belehrt worden war (vier Krisen inklusive der, die sie gerade durchmachte). „Als Richard dich angerufen hat, wie hat er sich denn da angehört?“

„Normal.“

„Was hat er gesagt?“

„Dass sie gestern Abend Pizza essen waren, dann haben sie angeblich noch eine Weile gelernt und sind schlafen gegangen.“ Erst jetzt, als sie sich die Unterhaltung wieder ins Gedächtnis zurückrief, fiel ihr auf, dass sie so ganz normal nicht gewesen war. Richard war beim Telefonieren meist sachlich, kurz angebunden. Diesmal hingegen hatte er fast schon zu viel geredet.

„Er hat sich ganz normal angehört“, sagte sie noch einmal, in einem Ton, der keinen Zweifel zuließ. Hanka konnte sie damit vielleicht überzeugen, aber ihren eigenen Körper überlisten nicht. Auf einmal war es wieder da: das Kribbeln im Bauch. Es kam genauso wie vor achtzehn Jahren – scheinbar ohne Grund.

„Das hat keinen Sinn, jetzt hier rumzuspekulieren. Ich hab gleich eine Sitzung, die kann ich leider nicht sausen lassen. Ruf Richard an. Wenn er rangeht, soll er Martin ausrichten, dass er sich umgehend bei mir melden soll!“, sagte Hanka energisch und legte auf.

Alena rief sofort bei Richard an. Ausgeschaltet. Sie schrieb ihm eine SMS, er möge sich bei ihr melden, und setzte drei Ausrufezeichen, die sie nach kurzem Überlegen wieder löschte und durch einen Smiley ersetzte; so würde er das Maß ihrer Sorge nicht mitbekommen. Sie vor Štěpán zu verbergen, hatte sie nicht vor. Sie wählte seine Nummer und konnte in sich kaum die nervöse Furcht bändigen, dass er nicht ans Telefon gehen würde. Er hatte jeden Tag mehrere Wahlkampfveranstaltungen, auf ihre Anrufe und Nachrichten reagierte er manchmal erst Stunden später. Diesmal hob er zum Glück sofort ab. Ehe er losredete, musste er sich räuspern.

„Ich wollte dich gerade anrufen.“

Seine Stimme war heiser, aber wie üblich beruhigend. Durch sie erschienen alle Hindernisse ohne Ecken und Kanten, als würde sie sie unter Wasser in einem Schwimmbecken sehen. Sie verließ sich auf ihren Mann. Genauso hatte sie sich einst auf sich selbst verlassen, aber diese Zeiten waren längst vorbei. Sie wusste nicht einmal mehr, wie sich das anfühlte: innere Sicherheit. Stattdessen hatte sie Štěpán. Er war die Stütze ihres Lebens, sie konnte alles bei ihm abladen, es erschütterte ihn nicht. Auch wenn sie sich manchmal fragte, ob es in seinem Leben nicht noch eine andere Frau gab. Eržika Tatarková, dieser Name tauchte manchmal in ihren Gedanken auf. Schnell floh sie immer wieder vor ihm, aber vergessen konnte sie ihn nicht.

„Wo bist du gerade?“, fragte sie.

„In Znojmo. Ich geh gleich was essen. Zu Hause alles in Ordnung?“

„Hast du mit Richard gesprochen?“

„Ich hab ihn angerufen, aber er geht nicht ran. Warum?“

„Ich glaube, er hat sein Telefon ausgeschaltet. Ich mach mir Sorgen.“

„Wenn unser erwachsener Sohn sein Handy mal abschaltet, dann bricht doch die Welt nicht zusammen, oder?“, sagte er ironisch.

„Er ist nicht in der Schule gewesen. Martin auch nicht. Die zwei haben sich irgendwo verkrochen.“

„Hast du schon mit Veronika gesprochen?“

„Das hab ich als nächstes vor.“

„Bestimmt weiß sie was von ihm. Und wenn nicht, dann ruf seine Kumpels an. Ein paar Nummern hast du doch, oder?“

Sie hatte zig Nummern. Mit krankhafter Sorgfalt notierte sie sich die Kontaktdaten aller Freunde und Mitschüler von Richard. So benahm sie sich schon jahrelang. Genau genommen seit dem Moment, als ihr erster Mann auf einer Landstraße bei Harrachov aus der Kurve gekommen war und innerhalb von Sekunden sein Leben und das ihrer gemeinsamen Tochter beendet hatte. Entsprechend dem Beschluss des Scheidungsrichters durfte er Johanka jedes zweite Wochenende abholen, aber Alena hatte sie ihm diesmal außerplanmäßig mitgegeben. Es herrschte Tauwetter und es war klar, dass schon in ein paar Tagen auf den Pisten im Riesengebirge kein Schnee mehr liegen würde. Johanka hatte sich dieses letzte Skiwochenende mit ihrem Vater regelrecht erbettelt. Seit der Zeit kam Alena keine Maßnahme übertrieben vor, nichts, was ihre Liebsten vor dem hinterlistigen Schicksal beschützen könnte. Štěpán kannte ihre Angststörung und hatte anfangs versucht, sie zu bekämpfen, allmählich war ihm aber klargeworden, dass gegen die Logik ihrer Phobien vernünftige Argumente nicht ankamen.

„Ich ruf dich gleich an, wenn die Versammlung vorbei ist“, versprach er und fügte eindringlich hinzu: „Vor allem keine Panik. Alles gut.“

In Gedanken wiederholte sie die zwei Wörter wie eine beruhigende Beschwörungsformel, während sie Veronikas Nummer wählte. Štěpán hatte recht, über ihren Sohn konnte niemand besser informiert sein als seine Freundin. Seine erste richtige Beziehung. Die drei oder vier Mädchen, die vorher durch sein Leben gehuscht waren, hatten keine Spuren hinterlassen, er redete auch nicht über sie. Von Veronika hingegen sprach er gern und mit Begeisterung. „Ich muss mir überhaupt keine Mühe geben, damit ich ihr interessant vorkomme. Sie nimmt mich so, wie ich bin. Und ich sie auch. Wir wollen uns nicht gegenseitig ummodeln. Ist doch super, oder?“ Alena nickte lächelnd und verspürte eine Traurigkeit. Die euphorische Phase der Beziehung, die ihr Sohn gerade durchlebte, konnte nicht ewig dauern. Die Verliebtheit würde früher oder später verfliegen, die Gefühle würden sich vielleicht vertiefen, aber gleichzeitig auch verkomplizieren. Das war immer so, alle Paare mussten da durch. Auch Alena und Štěpán.

„Ahoj, Alena hier. Stör ich?“

„Ahoj! Brauchst du was?“ Obwohl sie sich erst vor Kurzem aufs Duzen geeinigt hatten, bereitete das Veronika nicht die geringsten Schwierigkeiten.

„Ich kann Richard nicht erreichen. Weißt du, wo er ist?“

„Keine Ahnung.“

„Habt ihr euch gestritten?“

„Nein.“

„Wirklich nicht?“

„Ich schwör’s.“

„Hat er dich heute angerufen?“ Ihr fiel auf, dass das wie ein Verhör klang, und sie entschuldigte sich schnell. „Tut mir leid, dass ich dich nerve.“

„Überhaupt nicht, aber wenn ich nicht in zwei Sekunden im Seminar bin, krieg ich Ärger. Und der wird noch größer, wenn ich mit dem Telefon am Ohr da reinmarschiere.“

„Sag nur noch schnell, wann du mit Richard das letzte Mal … Hallo? Veronika?“

Die Verbindung war abgebrochen, eine Antwort kam nicht mehr. Alena spürte, dass ihr Bauchkribbeln an Intensität zunahm. Vielleicht war Veronikas Hektik echt gewesen, aber wenn sie sie nur gespielt hatte? Vielleicht hatte sie das Gespräch nur so schnell wie möglich beenden wollen. Aber warum? Wusste sie vielleicht etwas, das sie nicht sagen wollte?

„Alena“, drang an ihr Ohr. „Kommst du mal bitte für einen Moment?“

Sie ging wieder aus dem Esszimmer. Ihr Schwiegervater stand im Flur gegen den Kleiderständer gelehnt, er hatte die alte Jacke an, die er immer im Garten trug, und versuchte mit Mühe, seine Ferse in einen Stiefel zu quetschen. Obwohl er mit einem Schuhanzieher nachhalf, bewältigte seine schwindende Muskulatur so eine Aufgabe nicht mehr.

„Papa, warum hast du mich denn nicht gleich gerufen“, fragte Alena vorwurfsvoll und ging in die Hocke, um ihm beim Schuhe Anziehen zu helfen. Es kostete sie keinerlei Überwindung, ihm bei körperlichen Verrichtungen zu assistieren, die er wegen seiner Erkrankung nicht mehr alleine schaffte. Es wurden immer mehr, einige davon relativ heikel. Vor einem Jahr hatte sie ohne Bedauern ihre Arbeit als Trainerin aufgegeben (seit sie selber nicht mehr zu Wettkämpfen fuhr, war sie vom Schwimmen längst nicht mehr so besessen wie früher) und stand nun ihrem Schwiegervater ganztägig zur Verfügung. Sie begleitete ihn zur Kirche, brachte ihn zu seinen Heilbädern, machte mit ihm Gymnastik. Dass sie sich um ihn kümmerte, akzeptierte er mit angenehmer Selbstverständlichkeit, fast fröhlich.

„Warum soll ich dich denn rufen? Ich muss in Form bleiben“, wischte er mit einem Lächeln ihren Vorwurf beiseite. „Falls Štěpán in dieses Europarlament kommt, erwarten uns anstrengende Reisen. Ich will nicht nur das Brüsseler Rathaus und das Manneken Pis mit eigenen Augen sehen, sondern auch das Straßburger Münster.“

Er sprach mit jugendlicher Begeisterung. Tatsächlich wollte er sich nicht eingestehen, dass sein fortschreitendes Leiden ihn an der Verwirklichung seiner Reisepläne hindern könnte.

„Nur bei Richard solltest du ein gutes Wort einlegen“, fügte er hinzu.

„Wieso?“

„Neulich hat er zu mir gesagt, dass er nicht mit uns mitfährt. Brüssel und Straßburg interessieren ihn angeblich nicht. So ein Quatsch! Er könnte dort studieren.“

„Papa, noch hat Štěpán die Wahl nicht gewonnen, und Richard hat sein Abi noch nicht gemacht …“ Sie beendete den Satz nicht. Verdutzt starrte sie hinter dem Rücken ihres Schwiegervaters auf den offenen Schuhschrank. Da fehlte was. Aufmerksam ließ sie ihren Blick über die einzelnen Regalbretter schweifen, bis sie’s hatte: Richards Bergschuhe waren weg. In Prag trug er sie nie. Sollte er sie also mit zu Martin genommen haben, hieße das, dass sie zu einer Tour aufgebrochen waren.

Sie holte einen Stuhl, stieg darauf und öffnete die Tür des oberen Stauraums. Sie erstarrte. Das Bauchkribbeln verwandelte sich in echten Schmerz. Jetzt konnte sie sich beim besten Willen nicht mehr einreden, dass alles gut war, es hatte keinen Zweck mehr, die Panik zu unterdrücken. Das Fach, wo das Zelt hätte sein sollen, war gähnend leer. Auch der große Rucksack fehlte. Und Richards Windjacke, die er sich für Kambodscha gekauft hatte. Das mit den Vermutungen hatte sich also erledigt. Die Jungs kurierten keinen Kater aus. Sie waren irgendwo hingefahren. Fragte sich nur, wohin. Die Geheimhaltungsstufe, die ausgeschalteten Telefone und die raffinierten Verschleierungsmanöver, mit denen sie ihre Abreise getarnt hatten, ließen nichts Gutes ahnen.

„Russland hat seine gegen die Interessen der Tschechischen Republik gerichteten Aktivitäten ausgeweitet. Die Tätigkeit der russischen Geheimdienste hat zugenommen, es liegen ebenfalls Beweise für Cyberspionage und eine Hybridkampagne vor, mit der der Kreml versucht, die Euroskepsis zu stärken“, warnt der BIS. Einige unserer Politiker haben Zweifel an diesen Rückschlüssen. Mit diversen Bonmots wies auch der Staatspräsident die Warnungen des Inlandsgeheimdienstes zurück: „Dass Russland der Beelzebub ist, der Feuer und Schwefel speit, kleine Kinder frisst und vorhat, auch uns zu schlucken, ist ein altes, oft wiederholtes Ammenmärchen. Ich selbst habe es schon so oft gehört, dass es mir inzwischen vorkommt wie das Summen einer Mücke. Wir wissen alle, wenn sich eine aufdringliche Mücke nicht verjagen lässt, gibt es wirksamere Methoden, wie man sie loswird …“

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Die Ermittlungsakte auf dem Tisch hatte abgewetzte Deckel und einen respektablen Umfang. Beide Kriminalpolizisten lenkten den Blick während ihrer Unterhaltung unbewusst dorthin.

„Wie geht’s dir?“, fragte Kriminaldirektor Zdeněk Karoch.

„Ach, lass das Theater.“

Die abgemagerte Gestalt von Kriminalrat Miroslav Vačkář, der kahle Kopf, die eingefallenen Wangen und die blauen Flecken auf der Haut sprachen für sich.

„Wann bist du dran?“

„In einer Woche.“

Es ging um die Immuntherapie. Nach den vorausgegangenen Behandlungsformen, die nur begrenzt angeschlagen hatten, sollte das ein weiterer Versuch sein, Vačkářs gestörte Blutbildung zu regenerieren.

„Zieh’s nicht so in die Länge. Spätestens im Juni rechne ich wieder mit dir.“ Zdeněk kannte Vačkář gut genug, um zu wissen, dass es ihm lieber war, die Krankheit zu bagatellisieren, als Mitgefühl gezeigt zu kriegen. „Mirek, ich will dich zurückhaben, bevor alle anfangen, ihren Urlaub zu nehmen, klar?“

„Du hast gut reden, du kennst die elende Mistsau nicht.“ Vačkář verzog das Gesicht. Den Namen „elende Mistsau“ hatte sich seine Leukämie zweifellos verdient, aber an der Verheerung, die sie anrichtete, änderte das nichts. Bei der letzten Untersuchung durch den Polizeiarzt war noch alles in bester Ordnung gewesen. Vačkář zog zuverlässig wie ein Packesel, man konnte ihm alles aufladen. Und das tat Zdeněk auch. Er schonte ihn nicht, denn er konnte ihn wirklich gut leiden. Denen, die er am liebsten mochte, verlangte er immer das Meiste ab.

„Schon zweimal hat sie das Feld geräumt und ich hab mir, blöd wie ich bin, eingeredet, dass ich gewonnen hab, aber sie ist wiedergekommen.“

„Diesmal vertreibst du sie.“

„Das hoff ich sehr.“ Vačkářs Blick blieb an der voluminösen Akte hängen. „Ich hab die ganze Zeit geglaubt, dass ich das noch abgeschlossen kriege, eh ich mich in die Klinik leg, aber ich hab mich überschätzt. Das ärgert mich.“

Dass es ihm seit letztem September nicht gelungen war, den Fall Arojan abzuschließen, war mehr als ein Grund zum Ärgern. Verursacht hatte das gar nicht so sehr seine Krankheit, sondern vielmehr seine Einstellung ihr gegenüber. Er log sich selbst und sein Umfeld an. Er gab vor, in besserer Verfassung zu sein, als er es tatsächlich war.

„Ich hab mich überschätzt“, wiederholte er. „Tut mir leid.“

Seine Zerknirschung und das Asche-aufs-Haupt-Streuen sorgten bei Zdeněk für ein schlechtes Gewissen. Er war sich sehr wohl bewusst, dass einen Teil der Schuld auch er trug. Das Morddezernat hatte über lange Zeit mit einem Mangel an Humankapital gekämpft; jedes Mal, wenn er mühsam wen ergattert hatte, verlor er sozusagen prompt jemand anderen, und der Leidensweg ging wieder von vorne los. Er wusste nicht, ob dies das Schicksal aller Chefs war oder ob es als sein persönlicher Fluch auf ihm lastete, aber er musste damit leben und unablässig nach neuen Auswegen suchen. Einige davon waren relativ unkonventionell. Den Einfall, mit dem Vačkář zu ihm gekommen war, fand Zdeněk anfangs an den Haaren herbeigezogen, aber nachdem er einige Tage darüber nachgedacht hatte, musste er zugeben, dass er keine bessere Alternative sah, und ließ sich darauf ein.

„Die Alte macht das fertig“, sagte er.

Hauptkommissarin Marta Alte war eine bewanderte Kriminalistin, aber bisher hatte sie fast ausschließlich in Fällen von häuslicher Gewalt ermittelt. Für diese sogenannten Hausschlachtungen hatte Zdeněk niemand Besseres. Der Mord an Arojan war allerdings ein anderes Kaliber und es war schwer zu sagen, wie sie damit zurande kommen würde. Sie war intelligent, außer an der Polizeiakademie hatte sie auch mal eine Zeitlang Psychologie an der Uni studiert, aber um ihr Wissen so richtig zur Geltung zu bringen, fehlte ihr das gewisse Etwas. Sie ließ Ambitionen vermissen, konnte nicht auf Risiko gehen, stach weder durch Entschlossenheit noch durch polizeilichen Instinkt hervor. Dagegen zeichnete sie sich durch Ausdauer, systematisches Vorgehen und einen Sinn fürs Detail aus. Und wenn das auch auf den ersten Blick keine so faszinierenden Eigenschaften zu sein schienen, waren gerade sie im gegenwärtigen Stadium des Arojan-Falls gefragt: das Material, das Vačkář mit seinem Team zusammengetragen hatte, gründlich sichten und sortieren, wenn nötig es um neue Beweise und Aussagen ergänzen, dafür sorgen, dass jemand Konkretes beschuldigt wird, und gleichzeitig mit Samthandschuhen vorgehen wie immer, wenn Angelegenheiten von nationalen oder ethnischen Minderheiten im Spiel waren. Das war keine leichte Aufgabe, aber Marta Alte wäre auch nicht alleine.

„Was ist mit der Verstärkung, die sie dir vom organisierten Verbrechen versprochen haben?“

„Irgendein Jukl.“

„Jukl?“ Vačkář runzelte beim Nachdenken die Stirn. „Kommt mir bekannt vor.“

Es klopfte und die Sekretärin schaute zur Tür herein.

„Die Frau Hauptkommissarin“, verkündete sie.

„Soll reinkommen.“

Kaum war sie da, wurde sich Zdeněk intensiver als sonst ihrer Farblosigkeit bewusst. Hässlich war sie definitiv nicht, aber ein Charisma hatte sie wie eine graue Maus. Eine alternde graue Maus. Im Winter, als er ihr zum Fünfundvierzigsten gratuliert und bei dieser Gelegenheit einen Kaffee mit ihr getrunken hatte, war ihm aufgefallen, dass in ihrem Haar hier und da eine weiße Strähne durchblitzte. Seit jener Zeit waren es sichtbar mehr geworden. Sie versteckte sie nicht. Im Dezernat munkelte man von einer gerade zerbrochenen Beziehung zu einem a) Maler, b) Musiker, c) Schriftsteller, d) Filmemacher. Obwohl der Flurfunk mit mehreren Versionen der Geschichte aufwarten konnte, stimmten diese aber in einem Punkt ausnahmsweise überein: Angeblich sei Marta Alte seit der Trennung recht verschlossen. Die hat die Flinte ins Korn geschmissen, befand Zdeněk, sonst würde sie ihrer äußeren Erscheinung definitiv mehr Aufmerksamkeit widmen.

„Ich bin ein bisschen eher gekommen, schlimm?“, fragte sie und drückte ihm die Hand, die er ihr hingestreckt hatte. Er war unfähig, sich zu merken, ob nun zuerst die Frau dem Mann die Hand gab oder der Vorgesetzte seiner Untergebenen, also richtete er sich nach seiner momentanen Stimmung.

„Du kommst genau richtig. Setz dich.“

Sie reichte auch Vačkář die Hand und nahm Platz. Ihr Blick landete fast umgehend auf der Akte.

„Arojan“, sagte Zdeněk. „Letzten September. Mitten in der Nacht zwischen Müllcontainern erschossen. Du bist im Bilde?“

„Natürlich weiß ich, was in dem Zusammenhang alles los war. Das ganze Tamtam und die Demos und der Journalistenstreik, aber im Detail hab ich das nicht verfolgt.“

„Das hier sind die Ergebnisse von Mireks sechsmonatiger Arbeit.“ Zdeněk klopfte mit den Fingern auf die Akte. „Wie du weißt, geht er sich jetzt für einige Zeit zu den Ärzten erholen.“

Sie schenkte Vačkář einen Blick voller Mitgefühl.

„Ich drück die Daumen“, sagte sie. „Dass das alles gutgeht.“

„Es muss“, antwortete der lakonisch. „Mir bleibt nix anderes übrig. Ich hab vom Chef die Anweisung gekriegt, wieder gesund zu sein, bevor die Urlaubszeit losgeht.“

„Ich überlege gerade, wem ich den Arojan-Fall übergeben soll.“ Zdeněk drehte sich zu Marta um.

„Und zu welchem Schluss bist du gekommen?“

Er schob die Akte in ihre Richtung. Sie ließ weder Überraschtsein noch irgendeine andere Reaktion erkennen, schaute nur nachdenklich auf das Konvolut. Sie sagte gar nichts und Zdeněk kam der beunruhigende Gedanke, dass sie ihm aus irgendeinem Grund, den zu respektieren er gezwungen wäre, den ganzen Packen über den Tisch zurückschieben könnte und er eine andere, noch weniger befriedigende Lösung finden müsste. Aber das waren verfrühte Befürchtungen. Sie legte die Hand auf die Akte (mit einer Geste, die sehr besitzergreifend wirkte) und blickte auf.

„Und wer arbeitet mit mir da dran?“

Es klopfte erneut, die Sekretärin kam wieder ins Büro.

„Kommissar Jukl“, verkündete sie.

Zdeněk sah auf die Uhr. Heute hatten alle den Hang, zu früh zu kommen.

„Bitten Sie ihn um ein paar Minuten Geduld“, sagte er und wartete, bis die Tür sich hinter der Sekretärin wieder geschlossen hatte. „Das Präsidium hat uns aufgefordert, dass wir mehr mit den anderen Abteilungen kooperieren sollen“, erläuterte er anschließend. „Jukl ist vom organisierten Verbrechen.“

Marta brauchte einen Moment, ehe sie seine Mitteilung für sich sortiert hatte.

„Willst du damit sagen, dass der mein Partner wird?“

„Der Mord an Arojan ist keine …“ Zdeněk verkniff sich den Ausdruck Hausschlachtung, den sie als Herabwürdigung ihrer bisherigen Arbeit hätte auffassen können, und wählte lieber eine andere Formulierung. „Du weißt ja, das ist ein heikler Fall – auch wenn die größte Aufregungswelle schon abgeklungen ist. Die Streiks und Demos haben Gott sei Dank an Anziehungskraft eingebüßt. Angesichts dessen, dass in der Zwischenzeit in der EU mindestens fünf andere Journalisten ermordet worden sind, ist Arojan nur noch eine vertrocknete Pizza. Die Medien sind scharf auf saftigere Brocken. Außerdem ist er Kasmenier gewesen.“

„Er hat seit seiner Kindheit hier gelebt. Und hatte die tschechische Staatsbürgerschaft“, warf Vačkář ein.

„Das ist den meisten von unseren Mitbürgern herzlich egal. Protest äußern, das ist denen wichtig, aber sich jetzt übertrieben wegen so einem Zuwanderer zu engagieren? Dazu haben alle genug eigene Probleme.“ Zdeněk fiel auf, dass er in einer Ecke gelandet war, wo er nicht hinwollte, und legte den Rückwärtsgang ein. „Wir brauchen einen konkreten Beschuldigten. Nicht wegen der Öffentlichkeit, nicht wegen den Medien, sondern weil das unser Job ist. Beim Präsidium fangen sie langsam an zu nerven.“

„Steckt hinter dem Mord was Politisches?“, fragte Marta. Sie hatte die Frage an niemanden direkt gerichtet. Vačkář übernahm das Antworten.

„Arojan war Investigativjournalist. Außer dass er bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf Russland eingedroschen hat, ist er mit den Bonzen hierzulande auch nicht gerade pfleglich umgegangen. Guck dir mal dem sein Portal an, dann begreifst du, dass die Riege an potenziellen Mördern ziemlich groß ist. Und das macht den ganzen Fall verflixt kompliziert. Ich muss zugeben, dass wir nicht weiterkommen. Wir haben einen Kreis von Verdächtigen, aber keine direkten Beweise.“

„Und Kommissar Jukl hat mit politisch angehauchten Fällen Erfahrungen?“, fragte sie.

„Ansonsten hätten sie ihn uns nicht geschickt.“ Zdeněk stand auf. Er hatte Marta ins kalte Wasser geschmissen, nun sollte sie auch schwimmen. Als er die Tür öffnete, erhob sich aus dem Sessel ihm gegenüber ein etwa fünfunddreißigjähriger Mann. Zdeněk erkannte ihn sofort wieder. Vor einer Weile war Jukls Foto in wohl allen tschechischen Medien aufgetaucht, im Zusammenhang mit verdächtigen öffentlichen Aufträgen, bei denen der Hejtman der Region Ústí nad Labem seine Finger im Spiel hatte. Um jenem Rieger auf die Schliche zu kommen, waren die Ermittler aus der Staatlichen Zentralstelle organisierte Kriminalität unter anderem über seine Ehefrau gegangen. Auf die hatten sie Jukl angesetzt, und der hatte sich dieser Aufgabe mit einem Eifer angenommen, der weit über seine Dienstpflichten hinausging. Während die seriösere Presse vorsichtig von „ausgefallenen Praktiken der SZOK“ geschrieben hatte, war in den Boulevardblättern Jukl mit James Bond verglichen worden und man hatte nicht mit Details gegeizt – über seine Affäre mit Riegers Ehefrau, über Riegers nächtliche Eifersuchtsszene vor dem Hotel Romantika, über die Flucht der halbnackten Frau Riegrová durch den Hinterausgang, über die anschließende Prügelei zwischen den beiden Männern und über Jukls ausgeschlagene Zähne. Welche es gewesen waren, hatten die Medien nicht erwähnt. Wahrscheinlich die oben in der Mitte, schätzte Zdeněk, als Jukl bei der Begrüßung lächelte und perfekte Schneidezähne vorzeigte.

„Jukl.“

„Karoch.“

„Entschuldigung, ich bin zu früh“, sagte Jukl so ähnlich wie zuvor Marta.

„Besser als zu spät“, befand Zdeněk. Er hatte keine Zweifel, dass sie ihm Jukl geschickt hatten, um ihn für eine Weile aus der Schusslinie zu nehmen. Gängige Praxis, um Pannen zu kaschieren.

Als Hauptkommissarin Alte und Kommissar Jukl sich die Hände schüttelten, machten beide ein verbindliches Gesicht. Es war sogar mustergültig verbindlich, wie Zdeněk nicht übersehen konnte. Ihm war klar, dass die Kombi aus alternder grauer Maus und jungem Deckhengst nicht ideal war, allerdings konnte er da nichts tun. Er leitete keine Partnervermittlung, sondern ein Morddezernat.

„Wir sind froh, dass wir Sie hier bei uns haben“, sagte er zu Jukl. „Ich hoffe auf eine für beide Seiten Gewinn bringende Zusammenarbeit.“

„Ich auch“, antwortete Jukl und lächelte wieder. Mochte seine gute Laune nun spontan sein oder antrainiert, sie wirkte jedenfalls ansteckend.

„Im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen den Abteilungen werden Sie in mein Dezernat versetzt“, sprach Zdeněk weiter. „Das ist natürlich nur eine vorübergehende Maßnahme. Sie gilt, solange Sie am Fall Arojan arbeiten. Pro forma.“

„Pro forma arbeiten? Also nur so tun, als ob? Sollen wir den Fall nicht aufklären?“, fragte Jukl und sein sympathisches Lächeln kippte ins Provokante. „Nur damit ich weiß, was von mir verlangt wird.“

Junge, wenn du dem Rieger so in die Visage gegrinst hast, als du ihm Hörner aufgesetzt hast, kannst du froh sein, dass es bloß bei ausgeschlagenen Zähnen geblieben ist, dachte Zdeněk.

„Sie sollen den Mörder von Geworg Arojan finden“, sagte er ruppig. „Das wird von Ihnen verlangt. Und schon im Voraus mache ich Sie darauf aufmerksam, dass bei uns nicht James Bond gespielt wird. Wir setzen andere Vorgehensweisen ein. Am Anfang müssen Sie sich vielleicht erst ein bisschen orientieren, aber Sie brauchen keine Angst zu haben, irgendwas zu fragen. Hauptkommissarin Alte ist eine hervorragende Kriminalistin. Sie genießt mein vollstes Vertrauen. Unter ihrer Führung werden Sie eine Menge lernen.“

Auf jeden Fall was anderes als im Hotel Romantika, ergänzte er in Gedanken. Die Genugtuung, die er beim Anblick von Jukls kleinlauter Miene empfand, zerstreute Zdeněks vorausgegangene Verdrießlichkeit restlos. Es ist doch nicht zu verachten, wenn man gleich am Anfang ein bisschen mit der Peitsche knallt, dachte er zufrieden. Er ist zur Strafe hier, also soll er’s auch schön auslöffeln, dieser Deckhengst!

„Forschung und moderne Technik haben das Potenzial, eine friedliche Entwicklung auf der ganzen Erde zu sichern“, erklärte Jiří Rak, Leiter einer tschechischen Unternehmerdelegation bei einem Treffen mit führenden Fachleuten und Spitzenkräften der elektronischen Industrie aus allen Teilen der Welt auf der internationalen High-Tech-Messe im chinesischen Shenzhen. „Seien wir aufgeschlossen, seien wir vorurteilsfrei, seien wir grenzenlos!“

Aus einer Sonderbeilage von Česká Ekonomika

Helga Apoštolová, Vorsitzende der Bewegung DIE STIMME, schaltete den Rechner aus und erhob ihre fünfundsiebzig Kilo aus dem Bürostuhl. Sie sah sich in einer Fensterscheibe und ließ den Blick erfreut auf sich ruhen. Ihr Gewicht war auf eine überdurchschnittliche Körpergröße verteilt, dadurch wirkte sie insgesamt nicht korpulent, sondern opulent. Sie sah aus wie eine edle Vollblut-Rennstute.

„Was machst du denn hier?“, fragte sie ihren Stellvertreter Viktor Duba, der gerade zur Tür hereinkam. Sie warf einen Blick auf die Wanduhr. „Hast du etwa vor, heute hier zu schlafen?“

„Da fragt die Richtige“, konterte er ihre Ironie. „Du Workaholikerin.“

Sie hatten einander nichts vorzuwerfen. Beide waren sie von ihrer Arbeit besessen, nur jeder anders. Helga glich mit dem hohen Arbeitspensum ihr ruhiges, harmonisches Familienleben aus, das ihr keine wirklichen Herausforderungen zu bieten hatte. Rennstuten brauchten aber Herausforderungen, das lag in ihrem Charakter. Helga liebte ihren Mann, unterstützte die erwachsene Tochter und hütete aufopferungsvoll die Enkeltochter, aber ihr Elan hätte gereicht, sich um ein Dutzend solcher Familien zu kümmern, bloß war das schlecht hinzukriegen – ihr blieb also nichts anderes übrig, als bei der Arbeit Höchstleistungen abzuliefern. Analog dazu agierte auch Viktor in Übereinstimmung mit seinem Naturell. Von seinem aschkenasischen Vater hatte er nicht nur die dunklen Locken geerbt, sondern auch die Ansicht, dass ein Jude am besten in einem Café aufgehoben war. Obwohl sein Jüdischsein nicht matrilinear war und er nach der Halacha nicht zum auserwählten Kaffeehausvolk gehörte, machte ihn nichts glücklicher, als an einem x-beliebigen Ort, wo es gesprächige Menschen gab, bei einem Espresso zu sitzen, ihnen zuzuhören und alles im Gedächtnis zu vermerken. Die gesammelten Informationen waren für ihn Kapital, Prestige und Arbeitsmittel gleichermaßen. Er benutzte sie mal mit Noblesse, mal mit rücksichtsloser Direktheit, immer aber objektiv, wie es ihm der ethische Kodex als Journalist gebot. Dass er von seinem eigentlichen Beruf in letzter Zeit auf Politik umgesattelt hatte, hatte seine Prinzipien nicht verändert, nur ihre Reihenfolge. Zweckgerichtete Rücksichtslosigkeit hatte jetzt Vorrang.

„Ich war auf ’ner Party“, berichtete er. „Dort ist nicht nur hervorragender Wein in Strömen geflossen, sondern ich hab auch eine außerordentlich wertvolle Information aufgetan.“

„Ist das nicht ein Widerspruch? Die Ströme von Wein und die wertvolle Information?“

„In vino veritas.“

„Um was geht’s denn?“

„Um eine mögliche Diskreditierung der Tschechisch-Mährischen Demokraten.“

„Erzähl.“

Helga schenkte Viktor einen Blick voller Erwartung und Respekt. Er war zehn Jahre jünger als sie, aber sie wusste ganz genau, was für ein Juwel sie an ihm hatte. Seit er zum Vizevorsitzenden gewählt worden war, hatte sich DIE STIMME aus dem politischen Bodensatz freigestrampelt und ein Steigflug hatte eingesetzt. Nach außen hin gab es dafür keinen anderen Grund als die systematische Arbeit und die Energie, die Helga Apoštolová als Vorsitzende investierte. In Wirklichkeit stand hinter dem Aufstieg der Bewegung Viktor Duba. Drei unschätzbare Vorzüge zeichneten ihn aus: Er hatte keine Ambitionen auf die Führungsrolle, er war fähig, die Erfolge von DIE STIMME und auch die Fehlgriffe der Konkurrenz medial in Szene zu setzen, und er konnte genau die Punkte aufspüren, die den Nerv der kommenden Generation trafen. Er formulierte sie in klaren Schlagworten: Freiheit und Diversität, Recht auf Individualität, Umweltschutz. Er ließ eine große Meinungsumfrage unter Achtzehn- bis Dreißigjährigen durchführen, aus der hervorging: 85 Prozent der jungen Menschen wollten anderen helfen und die Welt zum Besseren verändern, aber ohne die alten Rezepte. Sie waren besessen von ihren eigenen Erfahrungen. Die Welt, in der sie aufgewachsen waren, sahen sie nicht mehr vom Říp aus, diesem Hügel mitten im böhmischen Kessel, von dem herab einst der sagenhafte Urvater Čech sein künftiges Land gesehen und für gut befunden hatte. Der Horizont der jungen Generation war weit, und Naivität lag ihr fern.

Beim Ausformulieren des politischen Programms hatte Viktor alle rein männlich konnotierten Elemente vermieden. Er wusste, warum, denn er stimmte dem Satz von Lenin zu: „Wenn wir für die Politik nicht die Frauen gewinnen können, gewinnen wir für sie auch nicht die Massen“, und ohne den Fehler zu begehen, den Bolschewikenführer zu zitieren, skizzierte er neben dem Profil des modernen selbstbewussten Mannes auch das Bild der selbstbewussten, intelligenten, wirtschaftlich erfolgreichen Frau. Er hatte es bis in so begehrenswerte Details ausgearbeitet, dass sich die Tschechinnen – zumindest diejenigen, die begehrenswert erscheinen wollten – damit identifizierten. DIE STIMME gab ihnen den Mut zur Selbstverwirklichung, bahnte neue Wege, und an der Spitze lief eine edle Stute, die es wert war, dass man sie bewunderte und ihr folgte. Viktor ließ Helga die Führungsrolle, aber hinter ihrem Rücken hatte er bei all dem die Zügel fest in der Hand. Er gab die Richtung vor, hatte jedoch nicht das Bedürfnis, sich zu zeigen.

„Wie stehen wir momentan da?“, fragte er und setzte sich auf eine Ecke ihres Schreibtischs. Ein anderes Thema als den Wahlkampf zum Europaparlament hatte es in den letzten Wochen für sie nicht gegeben.

„Bei Factum liegen wir knapp hinter den Tschechisch-Mährischen Demokraten. Unser großer Trumpf ist Zora Opasková, denen ihrer ist Štěpán Chytil. Die Leute schätzen an ihm, dass er unabhängig ist.“

„Das kann aber auch sein Schwachpunkt sein. Wenn irgendwas über ihn ans Licht kommen sollte, wäscht sich die ČMD die Hände in Unschuld und serviert ihn ratzfatz ab. Einen neuen Kandidaten zu profilieren, schaffen sie nicht mehr, und wir können Vorteile draus ziehen.“

„Was soll denn über ihn ans Licht kommen?“, fragte Helga skeptisch. „Das ist ein langweiliger Spießer. Er hat eine Frau geheiratet, von der bekannt ist, dass ihre erste Ehe unglücklich war, er hat sie unterstützt, als sie kollabiert ist, er ist ein anerkannter Ökonom, stellt sich weder in der Boulevardpresse noch bei Instagram zur Schau, und soweit ich weiß, hat er seinen Posten beim Amt für Ein- und Ausfuhrkontrolle auf dem üblichen Dienstweg erreicht. Wo siehst du da Raum für irgendwelche unsauberen Geschichten?“

„Er war nur ein Jahr bei der Fahne“, sagte Viktor. „Statt zwei, wie’s damals eigentlich Pflicht war.“

„Alle, die studiert haben, waren nur ein Jahr bei der Armee. Schon vergessen?“

„Aber Chytil hat seinen Wehrdienst abgerissen, bevor er sein Wirtschaftsstudium angefangen hat. Und das war eher unüblich. Willst du wissen warum?“ Sein Blick deutete an, dass sie es wissen wollen sollte.

„Warum?“, fragte sie.

„Er hatte schon ein Studium hinter sich. Anfang der Achtziger hat er am MGIMO studiert.“

„Am Moskauer Institut für internationale Beziehungen?“

„1987 hat er dort seinen Abschluss gemacht. Damit geht er nirgendwo hausieren.“

„Er geht nirgendwo damit hausieren, aber du hast das ‚rein zufällig‘ auf der Party erfahren“, sagte sie schnippisch. „Wer hat’s dir gesagt?“

„Ach, so ’n Typ. Wir kennen uns von einer Norwegen-Reise, vor ein paar Jahren waren wir dort zusammen Lachse fischen. Besser gesagt, er hat gefischt, ich hab’s nur probiert. Wahnsinnig kalt isses gewesen.“

„Und wie heißt dein Typ?“

„Der Name spielt keine Rolle.“ Er ließ die Frage ins Leere laufen, genau wie sie es erwartet hatte. Immer schützte er seine Quellen. „Wichtig ist, dass er am MGIMO zu der Zeit seinen Abschluss gemacht hat, als Chytil dort angefangen hat zu studieren.“

„Dass ihr nicht schon in Norwegen auf das Thema gekommen seid?“

„In Norwegen haben wir nicht zusammen Wein getrunken. Außerdem hat’s Chytil damals für mich noch gar nicht gegeben. Hast du den etwa gekannt, bevor er sich ins Politgeschehen reingedrängelt hat?“

Helga schüttelte den Kopf. Je mehr sie darüber nachdachte, desto besser gefiel ihr Viktors Information.

„Zu kommunistischen Zeiten in der Sowjetunion studiert … Auf einer Eliteschule für die zukünftige Nomenklatura … Das ist, glaube ich, nicht die allerbeste Reklame für einen EU-Parlamentskandidaten“, spekulierte sie laut.

„Er ist definitiv nicht der Einzige, der dort studiert hat. Manche prahlen sogar damit rum.“

„Aber Chytil hält sich bedeckt. Wie wohl seine Anhänger damit klarkommen, wenn sie’s rausfinden? Was meinst du?“

„Ich geh davon aus, dass sie nicht erfreut sind, dass sie’s aber auch nicht abschreckt“, urteilte Viktor nüchtern.

„Mich würde das definitiv abschrecken.“ Helga versetzte sich in Gedanken zurück in die Zeit ihrer Jugend in der ČSSR. Die Atmosphäre von Angst, Widerwillen und allgemeiner Frustration tauchte wieder vor ihr auf. Sie erinnerte sich an die Ohnmacht, die obligatorischen politischen Einstellungen und den Verlust der Selbstachtung bei praktisch jedem, den sie kannte. Sich selbst eingeschlossen. Sie hatte sich damals als Heuchlerin empfunden, schon allein, weil sie sich nicht offen auf die Seite einiger ehrenhafter Menschen gestellt oder vor vielen himmelschreienden Ungerechtigkeiten aus Furcht die Augen verschlossen hatte.

„Wenn ich potenzielle Chytil-Wählerin wäre, würde mich vor allem stören, dass er mir die Wahrheit verheimlicht hat. Zweitens fänd ich’s bemerkenswert, dass er überhaupt ans MGIMO wollte – zu einer Zeit, als die Sowjets von der absoluten Mehrheit bei uns als Besatzer gesehen worden sind – und vor allem, dass er’s auch noch geschafft hat, dort hinzukommen. Jeden haben die nämlich nicht genommen.“

„Und Chytils ehemalige Kommilitonen würden dich als seine Wählerin nicht interessieren?“, fragte Viktor. Nach dem Funkeln in seinen Augen zu urteilen, waren sie bei des Pudels Kern angelangt.

„Spann mich nicht auf die Folter. Was weißt du über sie?“

„Im selben Jahrgang mit ihm hat Jiří Rak studiert“, sagte er beiläufig, und als er sah, dass sie in ihrem Gedächtnis kramte, fügte er noch eine Fußnote hinzu: „Erfolgreicher Unternehmer.“

„Welche Branche?“

„Nanotechnologie.“

„Die boomt gerade“, sagte Helga. „Angeblich ist das eins der lukrativsten Geschäftsfelder überhaupt. Ich würde mal behaupten, der braucht sich keinen Kopf um seine Rentenhöhe zu machen.“

„Denk ich auch. Aber das ist für uns bei Weitem nicht so interessant wie die Tatsache, dass er der Sohn von einem anderen Rak ist …“ Er machte eine Pause und forderte sie mit seinem Blick auf, den Satz zu vollenden. Als er sah, dass keine Antwort kam, zückte er seinen Trumpf: „Von Svatopluk Rak, damals tschechoslowakischer Konsul in Moskau. Štěpán Chytil und Jiří Rak waren angeblich die besten Freunde.“

Helga brauchte einen Moment, bis ihr die Bedeutung des Gehörten komplett klar wurde. „Das ist keine schlechte Info“, musste sie zugeben. „Wie gehen wir damit um?“

„Weiß noch nicht.“

„Wenn ich mich recht erinnere, ist der Herr Konsul a. D. seinerzeit wegen Steuerhinterziehung, Korruption und Gott weiß was noch in die Mangel genommen worden. Angeblich hat er damals beim Anlagebetrug in Sachen Harvardské fondy mitgemischt.“

„Beweisen konnten sie ihm nie was.“

„Wenn du dir über deine ehemaligen Journalistenkollegen mal irgendein meinetwegen unbewiesenes krummes Ding von Rak senior vornimmst und gleichzeitig ganz ‚zufällig‘ Chytils Studium in Moskau und die Freundschaft zu Rak junior rauskommt, dann bleibt an ihm was hängen, und wenn er rein ist wie eine Lilie.“

„Ich glaub nicht, dass er rein ist wie eine Lilie. Keiner, der an dem Institut studiert hat, konnte absolut sauber bleiben. Auch Chytil nicht. Der weiß schon, warum er das mit dem Studium nicht rumposaunt. Ich kann bestimmt was über ihn ausgraben.“

„Bis zur Wahl sind’s nur noch ein paar Tage“, erinnerte ihn Helga.

„Die Nächte gibt’s auch noch“, wischte Viktor ihren Einwand beiseite. „Und wir haben die Freiwilligen. Die sollen Chytils Sponsoring mal gründlich unter die Lupe nehmen. Und ich guck mir das Geschäftsgebaren von Rak junior an, vor allem seine Exportaktivitäten.“

„Du denkst an Berührungspunkte mit dem Amt für Ein- und Ausfuhrkontrolle?“ Wieder einmal spürte sie Ehrfurcht vor Viktors Kombinationsfähigkeiten. „Du hast recht. Ein aufstrebender Geschäftsmann und ein einflussreicher Ministerialbeamter, das ergänzt sich super. Vor allem, wenn sie seit vielen Jahren befreundet sind.“

„Ist nur eine Vermutung, aber sie bietet sich an. Ich fang mal damit an, dass ich nach Liberec fahre. Dort an der Uni kenn ich einen, der sich mit Nanotechnologie beschäftigt. Von dem lass ich mich mal auf den neuesten Stand bringen.“

„Und ich nehm mir den Exkonsul vor. Ich treib alles auf, was sich finden lässt.“

„Ein Interview mit ihm ist, glaube ich, in der Politika erschienen. Ich weiß aber nicht mehr genau, wann das war. Das kann man sicher raussuchen. Falls nicht, dann ruf dort an und frag nach. Aber Vorsicht …“

„Na klar, ich erzähl denen einen vom Pferd.“

„Und lass Zora außen vor. Die soll sich auf konstruktive Themen konzentrieren.“

„Bis jetzt ist sie super, oder?“

„Spitze.“ Er nickte. „Und sie wird noch mehr brillieren, wenn über ihren Gegenspieler plötzlich ein Kübel mit seinem eigenen Dreck ausgekippt wird.“

Sie schwiegen, schauten sich an, bemühten sich, ihre Erregung im Zaum zu halten. Ihnen war klar, dass der Wahlkampf gerade seinen vorausgeplanten Ablauf verlassen und in eine weniger vorhersehbare, improvisiertere, emotionalere Phase eingetreten war. Sie beide hatten genug Erfahrung, um zu wissen, dass es gerade die Emotionen waren, die über das Wahlergebnis entschieden. Helga erforschte ihr Gewissen, ob das, was sie hier gerade in Gang setzten, noch korrekt war, und Viktor überlegte, ob er jemand Passenden bei den so genannten seriösen Medien kannte, der den angerührten Informationsteig durchkneten, pikant würzen und etwas richtig Großes daraus backen könnte. Beide antworteten sich mit Ja.

Das Moskauer Staatliche Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO) hat schon lange den Ruf einer renommierten, aber kontroversen Bildungseinrichtung. Im Kalten Krieg war es die einzige Diplomatenschule im Ostblock. Hier studierte eine Reihe von späteren Politikern, Journalisten und Außenhandelsexperten. Das Institut lockte die Nachkommen der kommunistischen Bonzen an und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die Kinder der Neureichen. Heute legen eher die Absolventen der Sankt Petersburger Universität eine steile Karriere hin, allen voran Dmitri Medwedew und Wladimir Putin.

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Marta Alte legte die Ermittlungsakte zu Geworg Arojan auf ihren Schreibtisch. Abgesehen vom Computer war er leer. Das ganze Büro wirkte auf Brian Jukl leer. So gut er das jedenfalls im Halbdunkel, das hier herrschte, beurteilen konnte. Der Himmel war bedeckt, in den meisten Büros auf der gegenüberliegenden Seite des Innenhofs brannte schon Licht. Brian drückte auf den Schalter. Die Neonröhre übergoss den Raum wie eine kalte Dusche. Absolute Basisausstattung, der eingerahmte Flucht- und Evakuierungsplan neben der Tür, in der Ecke ein Blumentopf mit irgendeinem Schilfgras. Mehr brauchte Frau Hauptkommissarin offenbar nicht.

„Am Ende vom Gang steht ein Automat“, sagte sie. „Falls Sie Appetit auf Kaffee haben, Kommissar Jukl.“

„Brian.“

„Wie bitte?“ Sie schaute ihn verdutzt an.

„Ich heiße Brian. Angeblich nach Brian May, dem Gitarristen von Queen. Meine Eltern haben den gern gehört“, erläuterte er wie schon tausendmal in seinem Leben die Herkunft seines untschechischen Vornamens. Dass er vermutlich, während Brian May auf CD lief, gezeugt worden war, behielt er für sich. Manchmal gab er das bei informellen Gelegenheiten zum Besten, aber jetzt fand er es unpassend. „Und Sie sind …?“

Schon wieder das verdutzte Gesicht. Sie hatte seine Frage nicht kapiert.

„Ich soll Sie ja wohl nicht Alte nennen.“ Er lachte auf, wurde aber gleich wieder ernst, weil er sah, dass ihr Gesicht keinen Anflug von Belustigung zeigte.

„Marta“, sagte sie und schlug die Arojan-Akte auf. „Dann mal los.“

Er überlegte, ob er sich einen Kaffee holen und damit den Zeitpunkt hinauszögern sollte, an dem er sich in die Arbeit vertiefen müsste, als es plötzlich klopfte und Kriminalrat Vačkář ins Büro hereinschaute.

„Stör ich?“

„Wir haben noch nicht angefangen, komm rein“, sagte Marta.

„Mir ist noch eingefallen, dass ich euch in aller Kürze unsere Anabasis im Arojan-Fall erklären könnte.“

„Ist der Vergleich mit Schwejks langem und beschwerlichem Fußmarsch von Tábor nach Budweis denn angebracht?“, fragte sie und bot ihm mit einer Geste einen Stuhl an.

Vačkář ließ sich schwer darauf fallen. Er sah müde aus, im Neonlicht, das von oben auf ihn fiel, wirkte sein Gesicht grau und leichenblass. Beim Reden wandte er sich an Marta; Brian schenkte er keine größere Aufmerksamkeit als dem Evakuierungsplan an der Wand. „Wir haben uns den Fall durchgereicht wie einen Staffelstab. Gestartet ist Holina. Er hat da dran gearbeitet, bis ich aus dem Urlaub zurück war. Damals wusste ich noch nicht, was mit mir los ist, aber …“ Vačkář schickte einen kurzen Blick zu Brian. Ihm widerstrebte es sichtlich, sich vor dem jungen Kollegen über seinen Gesundheitszustand auszubreiten. Letztendlich beschränkte er sich auf eine ausweichende Mitteilung: „Ich hab mich müde gefühlt – nach dem Urlaub genauso wie davor. Ich hätte es am liebsten gehabt, wenn Holina dabei geblieben wäre, aber der hatte gerade mit was anderem angefangen, also musste ich’s übernehmen.“

„Wer hat noch mit dir gearbeitet?“

„Am Anfang, als das die Öffentlichkeit noch interessiert hat, waren wir ein ordentlicher Trupp. Wir haben zig Zeugen verhört, Tschechen, Kasmenier, Russen, Ukrainer … Einige von denen sind uns komisch vorgekommen, zwei haben wir festgesetzt, aber für eine Anklage hat’s nicht gereicht und Gründe für ’ne U-Haft gab’s auch nicht, also haben wir sie wieder gehen lassen. Um Weihnachten rum ist in Prag auf Teufel komm raus gemordet worden, Karoch hat Leute gebraucht, und weil nach Arojan kein Hahn mehr gekräht hat, bin ich am Ende mit Lába allein geblieben. Und du weißt ja, wie das mit dem läuft, oder?“

Marta nickte, beide wechselten einen bedeutungsvollen Blick.

„Aber ich weiß das nicht. Wer ist Lába?“, mischte sich Brian in das Gespräch ein, und als er Vačkářs Zögern bemerkte, erinnerte er ihn nachdrücklich: „Mir ist gesagt worden, dass ich keine Angst zu haben brauche, irgendwas zu fragen.“

„Er geht demnächst in Rente“, sagte Marta.

„Er hat den Fuß vom Gaspedal genommen“, erläuterte Vačkář. „Das kann Ihnen mit sechzig auch passieren.“

Es klang spitzzüngig. Lába geht also hier alles am Arsch vorbei, dachte Brian, Vačkář weiß das ganz genau, aber er hat das Bedürfnis, ihn vor mir zu verteidigen. Als wäre die Zugehörigkeit zu einem Polizeidezernat so was wie Blutsbande. Er überlegte, ob auch er eine übertrieben loyale Bindung an die Leute in seiner Abteilung hatte, und er musste zugeben, dass ihm die meisten gestohlen bleiben konnten – außer Bob und Bobek, aber das waren Weggefährten aus einer viel weiter zurückliegenden Vergangenheit, der gemeinsame Dienst bei der SZOK hatte ihre Freundschaft nicht zusätzlich gefestigt. Das hätte er auch nicht gekonnt, denn sie war längst unerschütterlich gewesen.

„Um also unsere … ja, das trifft’s schon – unsere Anabasis zusammenzufassen: Wir haben einen Haufen Material gesammelt, aber nicht alles ist fertig bearbeitet und es gibt ein paar Leerstellen.“ Vačkář breitete die Hände aus. „Das ist die Strafe, dass wir uns dauernd abgewechselt haben.“

„Du hast gesagt, dass es für ein politisches Mordmotiv nicht genug direkte Beweise gibt. Hast du eine andere Hypothese?“, fragte Marta.

„Ich weiß nicht, ob es viel Sinn hat, jetzt darüber zu reden, wo ihr euch mit dem Fall noch nicht so richtig auskennt. Ich sag zumindest so viel: Ich war die ganze Zeit überzeugt, dass das Motiv nur Fanatismus, Nationalismus, Extremismus oder irgendein anderer Ismus sein kann. Aber nach und nach ist mir klar geworden, dass der Mörder vielleicht genau diesen Eindruck wecken wollte. In Wirklichkeit könnte das Ganze viel primitiver sein. Geht die Sache zuerst mal durch, damit ihr halbwegs eine Vorstellung davon kriegt“, sagte er und stand auf. „Dann reden wir noch mal. Zeit haben wir noch.“

Er ging zur Tür, aber bevor er sie öffnete, drehte er sich zu Brian um. „Waren Sie vielleicht mal beim Geheimdienst?“

Die Frage verblüffte ihn. Ja schon, vor einiger Zeit hatte er beim Inlandsgeheimdienst BIS gearbeitet, Informationsgewinnung aus offenen Quellen – kein strategischer Posten, dafür eine unbezahlbare Lehrstunde. Wenn er vorher gedacht hatte, sich im Informationssmog orientieren zu können, war ihm erst beim Nachrichtendienst klar geworden, wie man Information und Desinformation zweckmäßig nutzte. Es waren Berge von Material gewesen, die er täglich las, sichtete, sortierte und weiterreichte. Er hatte verborgene Perlen entdeckt, wertlos für sich alleine, aber wenn man sie mit anderen unauffälligen Perlen auf eine Schnur fädelte, strahlten sie plötzlich überraschend auf. Er war sich vorgekommen wie ein Schatzsucher; je länger er suchte, desto leichter fand er auch etwas und desto mehr war er von seiner Tätigkeit besessen. Er hatte sich ein ausgezeichnetes Gedächtnis antrainiert und sich in seiner Überzeugung bestärkt, dass jegliches Geschehen auf Zusammenhängen beruhte. Die Welt war ein einziger großer Zusammenhang. Nichts geschah einfach nur so, jede Ursache brachte eine unendliche Menge an Folgen mit sich, Ereignisse fielen nicht vom Himmel, Wendungen kamen nicht ohne Vorwarnung, alles ließ sich mit einem erheblichen Maß an Gewissheit voraussagen. Dazu bedurfte es lediglich der Konsequenz und der Konzentration. Weder das eine noch das andere bereitete Brian Schwierigkeiten; was ihn gestört hatte, war, dass die aufgewendete Energie keine faktischen Ergebnisse gebracht hatte. Die Regierung arbeitete nicht mit den Informationen des BIS, es hatte eher den Anschein gehabt, sie wären der Exekutive sogar zur Last gefallen. ‚Spart euch eure Verschwörungstheorien‘, hatte Brian aus der herablassenden Haltung einiger Politiker herausgelesen. ‚Alles in bester Ordnung, kein Grund, so einen Wind zu machen.‘

„Wo haben Sie das denn her?“, fragte er Vačkář.

„Ich hab verfolgt, was sich beim BIS getan hat, als Oberst Bednář dort weggegangen ist. Sie sind mit ihm mit, oder? Irgendwo haben Sie sich mal dazu geäußert, ich weiß nicht mehr, wo. Ich kann mich noch erinnern, das klang so … prinzipientreu.“

„Ist schon ziemlich lange her.“

„Wollen Sie damit sagen, dass Sie heute keine Prinzipien mehr haben?“

„Ich will sagen, dass ich mich zu Dingen, an denen ich nichts ändern kann, nicht mehr äußere“, erläuterte Brian und spürte einen Stich. Der Austausch der BIS-Führung, die Abberufung von Oberst Bednář und der demonstrative Weggang seiner Getreuen, zu denen sich Brian selbst auch zählte, waren für ihn nach wie vor ein schmerzliches Thema. Bis heute hatte er das nicht verdaut. Dass ihm Bob und Bobek ein Rettungsseil zugeworfen und ihn bei der Polizei in eine Abteilung hineingezogen hatten, wo er sich definitiv auch nicht langweilte, hatte an der Sache nichts geändert. Das Gefühl, dass er damals hitzköpfig gehandelt und einen Job aufgegeben hatte, für den er wie geschaffen war, steckte immer noch tief in ihm.

„Bei mir ist das so, dass ich mich zu Dingen, an denen ich nichts ändern kann, nicht nur nicht mehr äußere, sondern die verabschiede ich aus meinem Blickfeld“, verkündete Vačkář und ging hinaus auf den Flur. „Ich konzentriere mich nur auf die Hauptsache.“

„Und was ist die Hauptsache?“, fragte Brian.

Vačkář ließ gedankenverloren den Blick an ihm hinabgleiten. „Wissen Sie, was der Häuptling der Sioux den Männern aus seinem Stamm vor der Schlacht gesagt hat? Richtet das Hauptaugenmerk auf die direkte Bedrohung. Wenn ihr euren Skalp nicht einbüßen wollt, zielt immer auf den allernächsten Gegner …“

Er ließ das Satzende in der Luft schweben und Brian wartete auf die Pointe, aber zu seiner Überraschung nickte Vačkář nur kurz – es wirkte wie ein „Howgh!“ – und schloss die Tür hinter sich. Die sich entfernenden Schritte im Flur waren leise, es schien, als gehe ein Geist davon.

„Haben Sie eine Ahnung, wovon er geredet hat?“ Brian drehte sich zu Marta um. Sie war über den Tisch gebeugt, vor sich eine Liste, die sie aus der Akte gezogen hatte.

„Ich glaub, von seiner Krankheit“, sagte sie, ohne den Kopf zu heben. „Das ist für ihn die allernächste Bedrohung.“

„Hat er Krebs?“

„Leukämie.“

„Und was steht ihm jetzt bevor?“ Brian dachte an Vačkářs kahlen Schädel. „Die Chemo hat er ja offensichtlich schon hinter sich.“

„Ich will nicht über ihn sprechen.“

„Warum nicht?“

„Weil er nicht anwesend ist. Kommen Sie, beschäftigen wir uns mit Arojan.“

„Der ist auch nicht anwesend.“

„Finden Sie sich witzig?“ Sie hob den Kopf. In ihrem Gesicht war nichts Überflüssiges. Einfache Züge, wie sie ein Kind zeichnen würde. Eine gewölbte Stirn, um die Augen kleine Fächer aus Fältchen, dichtes dunkles Haar, durchwirkt von silbernen Strähnchen. Eine natürlich reine Haut, keine Spur von Make-up. Eine wunderschöne reife Frau. Brian verspürte Unruhe und wandte den Blick ab. Er musste einen kühlen Kopf bewahren. Aus Fehlern wird man und so weiter.

„Haben Sie hier eine Kantine?“, fragte er.

„Um die Uhrzeit ist die schon zu.“

„Und der Kaffeeautomat? Wo ist der gleich noch mal?“

„Einmal um die Ecke.“

„Rechts rum oder links rum?“

„Rechts.“

„Soll ich Ihnen auch einen mitbringen?“

„Ach … nein, danke.“

Sie antwortete zerstreut, hatte sich bereits in die Arbeit versenkt. Ihm wurde bewusst, dass sie zusammen Stunden in diesem Büro verbringen würden. Sie würden sich gegenüber sitzen (wenn er seinen Stuhl an die schmale Tischseite rückte, wäre er ihr näher, könnte ihr aber wiederum nicht so gut ins Gesicht schauen – nein, frontal wäre definitiv besser), würden Materialien aus der Akte studieren, gemeinsam darüber diskutieren, Zeugen vernehmen, raus ins Terrain fahren, sich während der Fahrt im Auto unterhalten, gemeinsam den verkorksten Fall lösen. Karoch wollte, dass Arojans Mörder gefasst wird, also würden sie ihm den servieren. Brian hatte daran keinen Zweifel; Beweise gegen Rieger zu besorgen, hatten sie auch geschafft. Natürlich nicht sofort. Eine verborgene Perle zu finden, war nicht wie ein Fingerschnippen, für Ergebnisse brauchte man Zeit und Geduld. Er sollte rausfinden, ob sie verheiratet war.

„Marta, wie wär’s mit einer heißen Schokolade?“

Štěpán Chytil hat versprochen, als Abgeordneter im Europaparlament die Bemühungen um eine größere Souveränität der Mitgliedsstaaten zu unterstützen. „Wir haben das Recht, uns spezifische Dinge zu bewahren, die wir über Jahrhunderte herausgebildet haben. Wir haben das Recht, eine Beteiligung an bewaffneten Konflikten abzulehnen, die uns nicht betreffen. Wir haben das heilige Recht, keine Flüchtlinge aufzunehmen. Das liegt nicht in unserer Tradition, und wir sind dazu auch nicht ausreichend ausgestattet“, äußerte der Kandidat der ČMD gegenüber unserer Nachrichtenredaktion.

TeleČesko, „Guten Morgen Mähren!“

Der Saal leerte sich, die Besucher der Wahlkampfveranstaltung strömten nach draußen. Im Flur stand auf einem langen Tisch ein Büffet bereit; der ČMD-Ortsvorsitzende hatte dafür gesorgt, dass es ausschließlich aus regionalen Spezialitäten bestand. Er wusste, dass die Menschen hier in Znojmo das begrüßten, genauso wie sie regionale Ausdrücke zu schätzen wussten, mit denen er im Verlauf der Podiumsdiskussion nicht gegeizt hatte. Er war jovial gewesen und hatte auch Štěpán Chytil zu einer volksnahen Sprechweise angestachelt. „Übertreiben Sie’s nicht mit Ihrer Korrektheit, reden Sie frei von der Leber weg. Sie können zwar nicht mit einem mährischen Großvater auftrumpfen, aber die Leute müssen spüren, dass Sie einer von ihnen sind“, hatte er ihn vor Beginn der Versammlung gebrieft. „Wenn Sie wollen, dass die da Ihnen ihre Stimme geben, dann zeigen Sie denen, dass Sie sich für ihre Interessen ins Zeug legen werden. Und das sind nicht nur Weinberge und Gurken, sondern auch das Recht darauf, seine regionale Identität zu behalten.“

Štěpán war auf das Frei-von-der-Leber-weg-Sprechen allergisch, aber er tat, was in seinen Kräften stand. Nach etwa zwanzig Minuten Debatte, in der alle Themen angeschnitten worden waren, von Abgeordnetengehältern über die Kritik an der Waffenrichtlinie bis zu Ausfällen gegen die Schließung von Bergwerken und gegen die Flüchtlingspolitik, wurde die Stimmung im Publikum langsam gelöster, ein paarmal belohnte es den Kandidaten sogar mit Beifall. In der folgenden halben Stunde konnte er mit einem originellen Kommentar zur Entwicklung der europäischen Wirtschaft punkten, wobei mehrere Bonmots (die er zu Hause sorgfältig vorbereitet hatte und nun benutzte, als seien sie ihm gerade eingefallen) Gelächter hervorriefen. Er hatte den Eindruck, den überwiegenden Teil des Saals langsam auf seiner Seite zu haben. Es gab ein kleines Grüppchen Querulanten, aber die meisten Anwesenden gehörten offensichtlich zum Wählerstamm der ČMD. Es interessierte sie, ob seine Standpunkte mit dem Parteiprogramm korrespondierten, und sie testeten aus, ob er schlagfertig genug war, um unter den gewieften europäischen Füchsen für ihre Interessen einzustehen. Die Querulanten hingegen wollten herausfinden, ob er ausreichend unabhängig war. Der Schlussapplaus deutete an, dass zumindest einige aus beiden Lagern vorhatten, ihm ihr Vertrauen zu schenken.

Als er die Stufen von der Bühne hinunterging, fiel ihm auf, dass in der Brusttasche sein Handy vibrierte. Er schaute aufs Display, es war Alena.

„Wir sind gerade fertig“, sagte er statt einer Begrüßung und meinte es als Entschuldigung, dass er nicht von sich aus angerufen hatte. „Und? Ist er inzwischen aufgetaucht?“

„Er wird nicht auftauchen.“

„Wie meinst du das?“

„Er ist weggefahren.“

„Wohin?“

„Weiß nicht.“ Es klang, als hätte sie aufgehört zu atmen.

„Warum glaubst du, dass er weggefahren ist?“

„Er hat seine Sachen mitgenommen.“

Štěpán blieb stehen. Diese atemlose Art zu reden kannte er genau. So hatte sie nach dem Tod von Johanka gesprochen – wenn sie überhaupt etwas gesagt hatte.

„Was hat er alles mitgenommen?“

„Das Zelt, die Bergschuhe, den Schlafsack“, zählte sie auf. „Den Rucksack, ein paar Pullover, die Isomatte …“

„Hast du mit Veronika gesprochen?“

„Sie schwört, dass sie nichts von ihm weiß. Ich fahr zu ihr. Wenn die mich an der Nase rumführt, dann krieg ich das schon aus ihr raus.“ Es war der erste längere Satz, den sie geäußert hatte. Im nächsten Moment, als hätte sich ein Schleusentor geöffnet, sprudelte es so überstürzt aus ihr heraus, dass Štěpán sie kaum verstehen konnte. „Hanka Formánková hat angerufen, Martin hat das ganze Geld abgehoben, das auf seinem Konto war, ungefähr zwanzigtausend Kronen, also hab ich gleich auf Richards Konto nachgeguckt, das ist auch auf Null. Sie haben die Pässe mitgenommen. Keine Zeile zur Erklärung haben sie geschrieben, und die Telefone sind die ganze Zeit ausgeschaltet. Die Nachbarin von den Formáneks hat angeblich am Freitag Nachmittag gesehen, wie sie bei ihnen vorm Haus in ein Auto gestiegen sind. Am Freitag! Das heißt, vor vier Tagen!“

„In was für ein Auto?“

„Sie weiß nur, dass es grau war, sonst nichts.“

Die monotone Geräuschkulisse in Alenas Hintergrund wurde von einer Lautsprecherdurchsage und dem Zischen aufgehender Türen übertönt. Danach war noch ein Hupen zu hören, worauf er sich zusammenreimte, dass sie gerade auf ihrem Vorstadtbahnhof in den Zug gestiegen war. Obwohl sie eine ausgezeichnete Autofahrerin war, musste sie sich nach Johankas Tod immer sehr überwinden, um sich hinters Lenkrad zu setzen, und auch auf dem Beifahrersitz war sie immer nervös. Für den tragischen Verkehrsunfall hatte sie natürlich nicht die geringste Verantwortung gehabt, sondern ihr Exmann, Alena hatte allerdings dank eines verworrenen Denkprozesses die Schuld schließlich bei sich verortet. Gegen das Autofahren hatte sie eine Phobie entwickelt, die sie auch nach so vielen Jahren nicht geschafft hatte zu überwinden.

„Ich kann einfach nicht glauben, dass er Gott weiß wohin aufgebrochen ist und uns nichts gesagt hat. Warum hätte er das tun sollen?“

„Weil er weiß, dass er auf seinem Hintern sitzen und büffeln sollte“, bot ihr Štěpán eine logische Erklärung an. In seinem Kopf spulte er noch einmal die Ohrfeigenetüde zwischen sich und seinem Sohn ab. In ihm keimte der Verdacht auf, dass es da einen Zusammenhang zu Richards Verschwinden gab. Ins Hirn konnte er ihm nicht schauen, aber seine Bemerkung über Eržika (sinnlos, außerdem vulgär) hatte bewiesen, dass er heimlich in Štěpáns Sachen herumwühlte. Er musste Eržikas Briefe gelesen haben. Sie hatte sich darin zu ihren Gefühlen bekannt und zu der Angst, die sie nicht unter Kontrolle bekam. Sie hatte immer am Abend geschrieben, und wenn sie sich dann mit Štěpán traf, schob sie die Zettel heimlich in seine Tasche, damit er sie erst lesen würde, wenn er wieder alleine wäre. Es waren wunderschöne, zart erotische Briefe und für Štěpán hatten sie eine so tiefe Bedeutung, dass er sich nicht von ihnen trennen konnte. Die Vorstellung, dass sein Sohn sie gelesen hatte, war ihm im tiefsten Innern unangenehm. Außerdem gab es dort Anspielungen auf Dinge, von denen er niemandem erzählt hatte, und dazu hatte er auch seine Gründe.

„Und wenn ich aus Veronika nichts rauskriege, was machen wir dann?“

„Könnte nicht Hankas Mann was von ihnen wissen?“ Štěpán kannte Jakub Formánek nur flüchtig, aber er wusste, dass Martin und Richard ihn bewunderten. Er besaß einen großen Fitnessklub (davor hatte er eine große Lasergame-Arena und noch früher ein großes Kampfsportzentrum besessen) und benahm sich so, als kenne er große Geheimnisse. Geheimnisse von echten Kerlen. Štěpán ging das umso mehr auf die Nerven, als er hinter Richards Bewunderung den Respekt gegenüber primitiver physischer Kraft spürte, für die er selbst nach außen hin nur Geringschätzung übrig hatte, vor der er aber tief in seiner Seele panische Angst hatte – unter anderem auch, weil er von eher fragiler Konstitution war, seit einem weit zurückliegenden Bruch auf dem rechten Bein leicht hinkte und weder die Motivation noch die Ausdauer gefunden hatte, sich Muskeln anzutrainieren. Zu Zeiten, als Alena noch Wettkampfschwimmerin gewesen war und hart trainiert hatte, hätte sie ihn physisch ohne Mühe in die Knie gezwungen.

„Hankas Mann weiß momentan überhaupt nichts. Der hat ein hormonelles Blackout. Und kann sich nicht mal daran erinnern, wann er seinen Sohn zum letzten Mal gesehen hat.“ Alena verstummte und Štěpán stellte sich vor, wie sie zusammengesunken auf einem Sitz des halbleeren Vorortzugs hockte, das Gesicht zum Fenster gedreht, die Stirn unglücklich in Falten gelegt, die Sehnen am Hals angespannt, im hartnäckigen Versuch, keinen Nervenzusammenbruch zu kriegen.

„Ich komme“, sagte er. Er konnte sie jetzt nicht damit alleine lassen. Außerdem beunruhigte ihn, dass Richard seinen Pass mitgenommen hatte. Und sämtliches Geld vom Konto abgehoben. Das rückte seine Eskapade, die bis jetzt nach keiner großen Sache ausgesehen hatte, in ein neues Licht. Wer weiß, wo er hingefahren ist, und wer weiß, was er alles mitgenommen hat. Štěpán sah den Inhalt seines Safes vor sich und wurde noch unruhiger. Gab es denn nicht eine Stelle auf der Welt, die er als privat betrachten konnte? Er ließ seinen inneren Panoramablick über die Koordinaten seines Lebens gleiten und konnte keine solche Stelle finden. Auf einmal kam er sich vor wie ein Gejagter.

„Wann?“, hörte er Alenas leise Stimme.

„Wie – wann?“

„Wann du kommst.“

„Sofort. Ich muss hier nur noch kurz mit ein paar Leuten reden.“

Er hatte keine Zweifel, dass ihn Libor Fára, wenn er ihn darum bitten würde, mit dem Wahlkampf-Van nach Prag bringen lassen würde. Verständlicherweise müsste er sich einen vorgeschobenen Grund einfallen lassen. Richard erwähnen wollte er nicht. Noch größere Unlust verspürte er bei der Vorstellung, dass er mit dem Chauffeur Smalltalk machen müsste. Und das auch auf dem Rückweg, weil sie wegen der Veranstaltung in Uherský Brod am nächsten Morgen gemeinsam wieder zurückfahren müssten. Štěpán fand das alles auf einmal völlig sinnlos.

„Ich überlege gerade“, pirschte er sich langsam heran, „ob es nicht totaler Schwachsinn ist, dass ich …“

Aufgewühlt unterbrach sie ihn: „Ich hab so eine Ahnung, dass ihm was passiert ist. Hat er dir vielleicht was anvertraut? Nicht jetzt, ich meine, schon früher.“

„Was denn?“

„Er muss irgendwas erlebt haben … was für ihn irgendwie wesentlich war … Vielleicht hat er uns Signale gegeben …“ Sie seufzte tief. „Lieb von dir, dass du kommst.“

Štěpán begriff, dass er keine Wahl hatte. Vielleicht gab es zwischen Znojmo und Prag eine gute Busverbindung. Er könnte unterwegs arbeiten und Mails beantworten. Und morgen früh würde er mit seinem eigenen Auto nach Mähren zurückfahren.

„Entschuldige, ich muss Schluss machen“, sagte er. Am Büffet sah er den Ortsvorsitzenden und Fára. Sie standen da mit ein paar Leuten, die aussahen wie die örtlichen VIPs. Fára gab Štěpán ein Zeichen, dass er sich zu ihnen gesellen möge. Einem Treffen mit Lokalgrößen aus dem Weg zu gehen, gehörte zu den Fehlern, die sich rächen könnten – dass hatten sie am Anfang ihrer Mähren-Tour klar definiert.

„Also ahoj, bis später“, verabschiedete er sich von Alena. „Und falls du von Veronika was erfahren solltest, ruf mich an.“

Er steckte das Handy in die Tasche, und während er sich der kleinen Gruppe näherte, justierte er seinen Gesichtsausdruck auf freudige Erwartung.

„Alles in Ordnung?“, fragte Fára.

„Kleine Problemchen.“

„Was mit deinem Vater?“ Diese Frage war unnötig; Fára hatte sie gestellt, um Štěpán als besorgten Sohn zu präsentieren.

„Die üblichen Lappalien“, antwortete er und ärgerte sich, dass er ihm das mit Vaters Krankheit anvertraut hatte. Ihm hätte klar sein müssen, dass ein ambitionierter Parteifunktionär jede Information einsetzen würde, die geeignet wäre, „seinen Mann“ zu unterstützen. Falls sich morgen aus irgendeinem unvorhersehbaren Grund die Lage umkehren und Štěpán zum Kandidaten einer konkurrierenden Partei werden sollte, also ein Rivale, der verunglimpft werden müsste, würde Fára dieselbe Information nutzen, bloß in einem anderen Kontext, nämlich um ihn zu disqualifizieren. So lief’s in der nationalen Politik. Bert van Boxen hatte Štěpán einmal bei einem Glas Bier erklärt, dass Parteiensysteme überall so funktionierten, vor allem in kleinen Ländern, wo die Zahl aktiver Player begrenzt war, sodass jeder mit jedem verbandelt war und es wohl oder übel zu andauerndem innenpolitischen Inzest kommen musste. Zweifellos hatte er recht, aber der tschechische Inzest kam Štěpán aus irgendeinem Grund schmuddeliger und unappetitlicher vor als der niederländische. Wahrscheinlich, weil er ihn aus der Nähe betrachten konnte.

Er wandte seine Aufmerksamkeit den Menschen zu, die ihm der Ortsvorsitzende nun vorstellte. Es dauerte nicht lange, und er hatte sich auf den Tonfall ihrer Konversation eingepegelt. In kleinen Schlucken trank er mährischen Gewürztraminer und verscheuchte die Gedanken daran, was ihn zu Hause erwartete. Dass Richard vor einiger Zeit angefangen hatte, Interesse an seiner Pistole zu zeigen, war ihm natürlich nicht entgangen, aber er hatte nicht gewusst, wie er darauf reagieren sollte. Ein striktes Verbot hätte die Neugier seines Sohnes nur noch vergrößert, das war klar. Das hätte auch ihrer Beziehung nicht gut getan, die sowieso schon angespannt war. Um einem Konflikt auszuweichen, hatte Štěpán schließlich das Bequemstmögliche getan: Er hatte sich einen Safe zugelegt, die Waffe dort verstaut und die ganze Sache unkommentiert gelassen. Jetzt wurmte ihn das. Es war ein Fehler gewesen, dass er nicht mit Richard gesprochen, ihm keine klaren Grenzen gesetzt hatte, es war ein Fehler gewesen, dass er sich die Waffe überhaupt besorgt hatte. Trotz der beruhigenden Wirkung des Weins spürte er, wie er immer nervöser wurde. Eins nahm er sich vor: Falls sich seine Befürchtungen als nichtig herausstellen sollten und er bei seiner Rückkehr nach Prag die Pistole an Ort und Stelle vorfände, würde er sie aus dem Haus schaffen.

„Ich weiß Ihre klare Haltung zu unserer Außenpolitik sehr zu schätzen, Herr Ingenieur“, sagte ein Mann, der neben ihm stand, und beugte sich näher zu ihm. „Wir wissen doch alle, was diese sogenannten Flüchtlinge schon in Deutschland und anderswo angerichtet haben. Das müssen wir hier unbedingt verhindern. Das Rezept ist klar: Keinen aufnehmen!“

„Die andere Seite dieses Rezepts ist die Nichteinmischung“, sagte Štěpán. „Unser Prinzip sollte sein, uns nicht einzumischen.“

„Richtig. Und was Sie über die Sanktionen gegen Russland gesagt haben, das kann ich ebenfalls unterschreiben. Nicht nur Tschechien, ganz Europa soll sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, statt andauernd irgendwelche unwirksamen Strafen zu verhängen. Das gehört überhaupt nicht zu unseren Aufgaben. Die Leute wollen Ruhe. Was wir richtig gut können, ist arbeiten und Geschäfte machen, und daran sollten wir uns halten, oder?“

„So ist es. Wenn Europa Bedeutung haben will, muss es eine offene Wirtschafts- und Handelsgroßmacht bleiben und darf sich nicht in fremde Angelegenheiten einmischen“, gab Štěpán ihm recht. Dass das ein Paradox war, weil ein gewaltiger Teil der europäischen Einnahmen (die tschechischen nicht ausgenommen) aus dem Waffenhandel mit Ländern herrührte, deren Politik durch die Aufrüstung direkt beeinflusst wurde, ließ er unerwähnt. Auch die Tatsache, dass tschechische Waffen und das legendäre Semtex diversen Terroristen bei einer ganzen Reihe von Anschlägen nachweislich gute Dienste geleistet hatten, war kein dankbares Thema und bei Diskussionsveranstaltungen versuchte er es zu vermeiden.

„Wie geht’s Ihrer Frau?“, fragte ihn eine Teilnehmerin auf der gegenüberliegenden Tischseite.

„Gut, danke.“

„Ich war in meiner Jugend auch Leistungsschwimmerin. Aber bis zur Olympiade hab ich’s nicht geschafft“, sagte sie. „Wir haben großes Mitgefühl mit ihr gehabt … Damals, als diese Katastrophe passiert ist.“

Die Nachricht von dem Autounfall, bei dem Johanka ums Leben gekommen war, hatte seinerzeit hohe Wellen geschlagen; Alena war bei den Menschen außerordentlich beliebt gewesen. Sie hatte Selbstvertrauen und unbeugsamen Optimismus ausgestrahlt – vor der Tragödie. Nach ihr war sie durch die allerschwärzeste Hölle gegangen. Und Štěpán war die ganze Zeit an ihrer Seite gewesen und hatte ihr die Hand gehalten. Fast zwei Jahre hatte es gedauert, ehe am Ende des Dunkels Licht auftauchte. Zwei Jahre, in denen sie sich in Apathie und Verzweiflung gewälzt hatte, und wäre der kleine Richard nicht gewesen, hätte sie sich wohl etwas angetan. Für ihre Beziehung war das eine Belastungsprobe gewesen, sie waren weit zum Grund hinabgestiegen. Seit der Zeit wussten sie, wo dieser Grund war, und waren peinlich bemüht, einen großen Bogen darum zu machen.

„Und Ihr Sohn? Er will Arzt werden, richtig? Welche Fachrichtung schwebt ihm denn vor?“

„Das weiß er noch nicht. Und falls er’s doch schon weiß, dann wäre ich der Letzte, dem er’s auf die Nase bindet.“

Seine Worte hatten sie amüsiert, aber er selbst fand an ihnen nichts zum Lachen. Er überlegte, wann Richard sich ihm zum letzten Mal mit seinen Plänen anvertraut hatte. Tage und Wochen reichten nicht. Möglicherweise habe ich tatsächlich ein wichtiges Signal nicht wahrgenommen, das er in meine Richtung ausgesandt hat, ging ihm durch den Kopf. Vielleicht ist sein Verschwinden nur die Spitze eines Eisbergs, der schon lange neben mir hergetrieben ist und den ich nicht bemerkt habe. Aber was ist in diesem Fall unter der Wasseroberfläche?

Freunde sind im Leben von Jugendlichen wichtiger als die Eltern. Das hat eine Studie führender europäischer Soziologen bestätigt. Den Wissenschaftlern ist es gelungen zu zeigen, dass junge Menschen zwischen 14 und 21 Jahren eine starke freundschaftliche Beziehung als höchsten Wert im Leben betrachten. Dafür sind sie bereit, nicht nur von den Prinzipien abzuweichen, die ihre Familien ihnen mitgegeben haben, sondern auch Vorteile aufzugeben, die ihnen ihre familiären Bindungen gewährleisten. 42 % der Befragten haben eingeräumt, dass sie nicht zögern würden, für ihren besten Freund ihr Leben einzusetzen.

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Die Residentur

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