Читать книгу Die Residentur - Iva Prochazkova - Страница 8
Оглавление… windig war sie, der Himmel strotzte vor Sternen. Geworg Arojan hob den Kopf nicht, ohne Brille konnte er nicht einmal die Kassiopeia direkt über sich erkennen. Die Hände in den Taschen, den Blick vor sich auf den Boden gerichtet, nahm er wie üblich die Abkürzung zwischen den dunklen Wohnblocks. Er ging schnell, nur seine Schritte und der Wind in den Bäumen störten die Ruhe des schlafenden Plattenbauviertels. Auch deshalb registrierte er das leise Motorgeräusch, noch bevor das Auto um die Ecke kam. Sofort begriff er, dass es seinetwegen hier war. Was er sich viele Male in Gedanken vorgestellt und wovor er Angst gehabt hatte, geschah nun. Die Stelle war gut gewählt, verstecken konnte er sich hier nirgends. Geworg verlor trotzdem die Hoffnung nicht; er ging in den Laufschritt über. Schockierendes Ende eines Journalisten, schoss ihm eine passende Schlagzeile durch den Kopf. Sofort verwarf er sie wieder. Genau so und genau hier sein Ende zu finden, war nicht schockierend. Diese Stadt hatte ihn schon seit seiner Kindheit darauf vorbereitet. Systematisch, Tag für Tag.
Im Atem, in den Bewegungen und im Puls der tschechischen Metropole ließ sich eine Art zielloses toxisches Stereotyp erkennen. Eine Stadt der herumirrenden Seelen, kam es Geworg in den Sinn, als er zum ersten Mal zum Sockel des ehemaligen Stalin-Denkmals hoch über der Moldau hinaufgestiegen war und den Menschen unter sich zugesehen hatte. In einem der ältesten kasmenischen Schriftzeugnisse ging es um eine Welt, wo die Seelen derjenigen Verstorbenen Zuflucht fanden, die in ihrem Leben nichts besonders Gutes, aber auch nichts extrem Schlechtes getan hatten, womit sie sich ein Anrecht auf einen Platz im Himmel oder in der Hölle erworben hätten. Ihre Verdienste und ihre Sünden wogen sich auf, und dem unbekannten Autor zufolge, der den vorchristlichen Mythos niedergeschrieben hatte, waren diese Seelen nach dem Tod zu einem Dasein in Dormahor verdammt, wo sie endlos im Kreis herumirrten, ohne entkommen zu können. Prag war Dormahor.
Hätte Geworg sich vor Jahren aussuchen können, wo er leben wollte, hätte er sich für London, Paris, Madrid oder auch Tel Aviv entschieden. Dort überall gab es aktive kasmenische Communitys. Hätte seine Mutter noch gelebt, hätte sie die Auswanderung nach Amerika durchgesetzt, die USA waren in ihren Träumen das Land, wo Wünsche in Erfüllung gingen. Hätte. „Hätte, könnte, wär, macht dir’s Leben schwer“, sagten die Kasmenier. Und auch die Tschechen wussten: „Mit ‚hätte‘ kommst’ nicht weit.“ Geworgs Vater hatte nicht geträumt, und sollte er jemals irgendwelche Wünsche gehabt haben, dann hatte er sie niemandem anvertraut. Nach dem Zerfall der Sowjetunion hatte er seinen Sohn mit nach Prag genommen, denn just hier hatte er eine Arbeit gefunden. Nichts bedrohte sie in Tschechien, keine feindseligen Stimmungen waren zu spüren. Die Preise stiegen wie überall in den Ländern des ehemaligen sozialistischen Lagers, aber das Leben war noch erschwinglich genug, sodass der Spross des fleißigen Gastarbeiters einen anständigen Bildungsabschluss erlangen konnte. Geworgs Schicksal, die Geschicke seiner Familie, seines Volkes, der Menschen hinter dem sogenannten Eisernen Vorhang, aber auch auf dessen anderer Seite wurden seit jeher von der Politik geformt. Sie war überall, griff in alle Lebensbereiche ein, Geworg war von ihr angewidert und fasziniert. Er studierte Politikwissenschaften.
Auch nach seinem Abschluss fand er keine triftigen Gründe wegzugehen. Und auch als sein Vater gestorben war, blieb er in Prag. Die Urne brachte er nach Kasmenien, wo er die Asche in den Bergen hinter seinem Heimatdorf verstreute. Obwohl sie nie darüber gesprochen hatten, hatte er das Gefühl, das sei für seinen Vater die annehmbarste posthume Alternative. Eine Alternative zum Leben stellte Kasmenien nicht dar. Russlands Schatten fiel auf das Land, die gemeinsame Grenze ähnelte einer tickenden Zeitbombe. Keiner bezweifelte, dass sie hochgehen würde, die Frage war nur, wann es dazu käme. Geworg veranstaltete zum Gedenken an seinen Vater einen üppigen Leichenschmaus für das gesamte Dorf, und nach einem kurzen Aufenthalt bei seinen Verwandten reiste er zurück nach Prag. Er hatte sich an die ziellose Hast der Stadt gewöhnt, den Status einer herumirrenden Seele angenommen.
Der Zeitpunkt, an dem die Sprengladung in die Luft flog und an der russisch-kasmenischen Grenze ein bewaffneter Konflikt entbrannte, hätte für Kasmenien nicht ungünstiger sein können. Die Welt war von Chaos gebeutelt, blutige Auseinandersetzungen nahmen zu, terroristische Anschläge waren zu etwas Alltäglichem geworden. Europa machte eine Existenzkrise durch, hervorgerufen von äußeren und inneren Problemen. Die Europäische Union war weder inspiriert noch couragiert genug, nach Lösungen zu suchen, und ihre Kräfte reichten schon gar nicht, um sich in einem Krieg auf einem weit entfernten, von Brüssel aus gesehen bedeutungslosen Hinterhof im Osten zu engagieren. Einem Krieg, in den nota bene Russland verstrickt war, zu dem Europa eher angespannte Beziehungen pflegte. Niemand war daran interessiert, sie noch weiter zuzuspitzen. Das hätte fatale Folgen haben können. Die traten kurze Zeit später dennoch ein. Die Zahl der Flüchtlinge aus anderen Weltgegenden vergrößerte sich um Tausende Kasmenier, die ihr Zuhause verloren hatten. Mit sinkenden Hoffnungen auf Frieden wurde ihr Zustrom immer stärker und löste einen wachsenden Gegendruck aus.
Auch in Geworgs Leben hatte der Krieg zu einer wesentlichen Änderung geführt: Sein Herumirren hatte jetzt ein Ziel. Die letzten Monate hatte er als Kriegsreporter direkt im Brennpunkt der Kämpfe und im kasmenischen Hinterland verbracht, in das sich der Krieg immer tiefer hineinfraß wie eine unerbittlich voranschreitende Krankheit. Er glaubte nicht an Wunder, machte sich keine Illusionen von einer plötzlichen Genesung des Landes. Er wusste, dass er aus allen Kräften dazu beitragen musste, das Leiden seiner Landsleute, von dem die restlichen Europäer nur eine nebulöse Vorstellung hatten, zumindest ein wenig abzumildern. Der Kasmenien-Krieg war für sie genauso fiktiv wie Star Wars, nur viel weniger faszinierend.
Bevor er und seine Freunde heute auseinandergegangen waren, hatten sie die aktuelle Lage besprochen. Sie wurde immer hoffnungsloser. Der friedlich schlafende Prager Außenbezirk hier schien von Jeremesch und Waparan (von dort hatte sich Geworg ein persönliches Souvenir mitgebracht, eine immer noch empfindliche Wunde nach einem Granatsplittertreffer unter einer Rippe), von Gregoripol und anderen Städten seines Heimatlandes unglaublich weit entfernt zu sein. Ganze Galaxien trennten sie voneinander. An der Bushaltestelle, wo sich zwei Straßen kreuzten, die von langen Reihen aus Plattenbauten gesäumt waren, hatten sich Geworg und seine Freunde verabschiedet und jeder war in seine Richtung davongegangen. Nach ein paar Schritten war ihm der Gedanke gekommen, dass er vorsichtiger sein und seine übliche Route ändern sollte. Das Nichteinhalten von eingefahrenen Gewohnheiten gehörte zu den selbstverständlichen Regeln, um sich selbst zu schützen, aber dann hatte er es doch nicht getan. Er war müde gewesen, der Wind hatte kalt durch sein leichtes Hemd geblasen. Er wollte so schnell wie möglich zu Hause sein.
Das erste Geschoss erwischte ihn am Oberarm, nach dem zweiten Treffer zwischen die Schulterblätter fiel er zu Boden. Die Schüsse waren dank Schalldämpfer kaum zu hören, die Straße war leer, aus keinem Fenster ertönte ein Laut. Nicht ein Bewohner des gigantischen Wohnkomplexes ließ sich durch die nächtliche Begebenheit im Schlaf stören. Geworg begriff, dass er keine Chance hatte – seine Zeit in Dormahor war zu Ende. Ein starker Selbsterhaltungstrieb, den er über zahlreiche Generationen grimmiger kasmenischer Vorfahren geerbt hatte, befahl ihm dennoch, jetzt nicht aufzugeben. Trotz Schmerzen und schwindendem Bewusstsein kroch er mit zusammengebissenen Zähnen auf einen nahegelegenen überdachten Müllplatz zu und wusste doch gleichzeitig, dass er, auch wenn er es bis dorthin schaffen würde, nicht in Sicherheit wäre.
Das Auto hielt an, er hörte hastige Schritte und begann das Abun Dbaschmajo aufzusagen. „Wenn du an Ihn glaubst, wird sich der Himmel für dich auftun“, hatte ihm seine Mutter früher immer versprochen. Zum letzten Mal hatte er gebetet, da hatte sie noch gelebt, seit jener Zeit war ihm das Vaterunser kein einziges Mal in den Sinn gekommen. Jetzt konnte er sich ohne die geringste Mühe daran erinnern. Er betete weiter, nach „nehwe sebjonoch“ folgte der dritte Schuss, der direkt auf sein Herz zielte. Und der Himmel tat sich auf.
Vor zwei Stunden ereignete sich am Stadtrand von Prag ein ernster Zwischenfall, bei dem ein nächtlicher Passant erschossen wurde. Nach bisher nicht bestätigten Informationen handelt es sich um den kasmenischstämmigen Journalisten und Blogger Geworg Arojan. Obwohl es die Polizei fürs Erste ablehnt, das Geschehene zu kommentieren, zeichnen sich in diesem Zusammenhang schon jetzt zahlreiche beunruhigende Momente ab. Eine detaillierte Analyse hören Sie nach unserem Frühnachrichtenblock.
Rádio Gejzír
Der Weg war schlammig, stellenweise aufgeschottert und führte zwischen abgeernteten Feldern hindurch. Noch wurde es nicht dunkel, aber ein dichter Regenschleier verhüllte die Konturen von Prag am Horizont. Milan hielt ein Stück vom Rand eines Wäldchens entfernt und ließ den Motor laufen. Er streckte die Hand zur Ablage unter dem Radio aus, wo er seine Zigaretten hatte, aber dann überlegte er sich’s anders. Erst hinterher.
„Da isser schon“, sagte er. Die Umrisse des Geländewagens, der unter den Bäumen parkte, waren gut zu erkennen. Er bezweifelte nicht, dass es der von Mister Monny war, genauer gesagt: dass der mit ihm hergekommen war. Genauso wenig Zweifel hatte er daran, dass keins von den Autos, mit denen der Typ rumfuhr, in Wirklichkeit ihm gehörte. Er benutzte sie einfach. Und weil es durch die Bank weg teure Autos waren, die er wechselte wie seine Socken, hatte Milan Respekt vor ihm. Er bewunderte Geld – und Menschen, die fähig waren, sich Zugang dazu zu verschaffen. Seine Vorsicht nahm dadurch in keiner Weise ab. Gerade solchen Leuten konnte man nicht trauen.
„Bleib sitzen“, fuhr er Denis an, der schon aussteigen wollte.
„Wieso, kommt dir was verdächtig vor?“
„Wenn du dir wegen jemand die Hände schmutzig machst, musst du dir nicht auch noch die Schuhe einsauen. Dafür bezahlt er dich nicht.“
„Stimmt.“ Denis ließ den Türgriff los und ließ sich gemütlich in den Sitz zurücksinken. „Wir haben unsern Job gemacht, jetzt ist er dran.“
„Bleibt nur zu hoffen, dass er das genauso sieht.“
„Glaubst du, der will uns verarschen?“
Milan schaute durch die pendelnden Scheibenwischer gedankenverloren zu dem Geländewagen. Falls Mister Monny sie verarschen wollte, hätte er das garantiert irgendwie eingefädelt gekriegt. Er sah zwar aus wie ein Riesenbaby, aber er war clever und hatte Erfahrung. Milan wusste nicht, für wen er arbeitete, aber er ging davon aus, dass es eher irgendein Schwergewicht war. Davon zeugte nicht nur das zur Schau gestellte Selbstbewusstsein, sondern vor allem auch die Belohnung, die er ihnen, ohne mit der Wimper zu zucken, angeboten hatte. So viel Großzügigkeit warf eine Menge Fragen auf. Die einzige und aus Milans Sicht einzig wichtige lautete: Hat er überhaupt vor zu zahlen? Ein Drittel hatten sie als Vorschuss bekommen, gleich nachdem sie sich einig geworden waren, jetzt sollten sie den Rest einstreichen.
„Ich würd dem jedenfalls nicht empfehlen, dass er mich austrickst“, murmelte Denis. „Das könnt ’n böses Ende nehmen.“
Milan kannte Denis’ Reizbarkeit und seine Brutalität schon seit seiner Zeit als Gefängnisaufseher, kurz nachdem er bei ihm in der Abteilung gelandet war. Als er zum ersten Mal Zeuge eines Vorfalls wurde, aus dem Denis trotz seines Größenhandicaps siegreich hervorgegangen war, wurde ihm klar, dass in diesem Gnom was steckte. Mit so ’nem Schrank, wie Szegedin einer war, zu Rande zu kommen, war eine respektable Leistung. Von da an achtete Milan ein bisschen mehr auf Denis. Schnell hatte er kapiert, dass das Geheimnis von seinem Erfolg gar nicht so sehr in seiner Muskulatur lag, sondern dass er gewaltig mit Wut aufgeladen war. Das Schicksal hatte ihn stiefmütterlich behandelt – außer mit einer schmachvollen Körpergröße war er auch noch mit einer Hasenscharte gesegnet (seine deformierte Oberlippe ließ an weibliche Genitalien denken, sodass er im Gefängnis von allen „Pussy“ genannt wurde) – und die einzige Möglichkeit, sich gegen die ganzen Ratten zur Wehr zu setzen, die auf der Welt rumrannten, hatte Denis in einem vorbehaltlosen Egoismus gefunden. Mit niemand machte er Kompromisse, vor niemand einen Rückzieher, auf niemand verließ er sich. Auch bei dem Pakt jetzt, zu dem er seinen ehemaligen Wächter dazugeholt hatte, ging’s nur darum, was am Ende dabei rauskam. Sobald sie das Geld kassiert hätten, würden sich ihre Wege trennen.
„Guck mal, was der macht!“ Denis beugte sich aufgeregt nach vorn und schaute durch die nasse Scheibe Richtung Wäldchen. Mister Monnys Auto, das ganz am Rand stand, setzte unvermittelt tiefer zwischen die Bäume zurück. „Fahr hinterher!“
Milan hatte nicht die geringste Lust, das offene Gelände zu verlassen und in den finsteren Wald reinzufahren.
„Mann, jetzt scheiß dir nicht ins Hemd.“
„Willst du, dass der abhaut?“
„Wenn der vorgehabt hätte abzuhauen, dann wär er gar nicht erst aufgetaucht“, hielt Milan dagegen. „Er ist hier, damit er mit uns reinen Tisch macht.“
Der Geländewagen kurvte zwischen den Bäumen durch und kam übers Feld auf sie zugefahren. Denis’ Hand verschwand in der Westentasche, wo er seine Waffe trug. „Ich glaub den tschetschenischen Drecksäcken nicht mal die Nase zwischen den Augen“, konstatierte er.
„Immer mit der Ruhe“, entgegnete Milan. Dabei hatte er selber nervös den Schaltknüppel umklammert. Er glaubte nicht, dass Mister Monny Tschetschene war, aber das war vermutlich das Einzige, worin er mit Denis nicht einer Meinung war. Dessen Misstrauen teilte er vollkommen. Schon immer hatten ihn Leute irritiert, die sich unlogisch verhielten, denen ging er lieber aus dem Weg. Bei Mister Monny hatte er beschlossen, eine Ausnahme zu machen. Schon lange war er mit seinem Leben unzufrieden gewesen und hatte den großen Wunsch nach einer Veränderung, aber ihm fehlte die passende Gelegenheit. Der Typ da hatte sie ihm geboten. Sie beinhaltete eine große Portion Unsicherheit, war aber außerordentlich verlockend. Milan hatte sich ausgerechnet, dass er mit der Summe, die er in einer Nacht verdienen würde, sein Leben komplett neu starten könnte.
Das Auto hielt in Reichweite an – ein fetter Audi. Mister Monny hatte das Fenster runtergelassen, den Unterarm aufs Lenkrad gestützt. Unter dem karierten Jackett guckte ein Hemd mit offenen Kragenknöpfen und der gelockerte Schlips raus. Er sah aus wie ein Beamter, der’s sich auf dem Heimweg von der Arbeit ein bisschen gemütlich gemacht hat. Außer ihm konnte Milan im Wageninnern niemanden sehen.
„Er ist alleine“, sagte er beiläufig Richtung Denis. Er machte sein Fenster auf und nickte. Mister Monny erwiderte den Gruß. Dabei verzog er keine Miene.
„Alles wie abgemacht? Keine Probleme?“, fragte er. In fließendem Tschechisch mit kaum hörbarem Akzent.
„Keine Probleme“, antwortete Denis.
„Sicher?“ Mister Monny schaute sie mit seinen rauchgrauen Augen durch die Brillengläser an, das Kinn, aus dem die Bartstoppeln nur lückenhaft sprossen, war leicht abgesackt, es sah so aus, als würde er ein Gähnen unterdrücken.
„Wenn ich Nein sag, dann mein ich das auch so“, verkündete Denis.
„Wir haben saubere Arbeit abgeliefert“, bestätigte Milan in einem Tonfall, der jegliche Zweifel ausschloss – bis auf die eigenen. Sich selbst konnte er nicht überzeugen, dass jemanden gegen seinen Willen ins Jenseits zu befördern, „saubere Arbeit“ war. Auf der Welt liefen Menschen rum, über die andere Menschen ein Urteil fällten, und jemand musste es vollstrecken, das war Milan klar, und das regte ihn auch kein bisschen auf, trotzdem hatte er beschlossen, so eine Art Auftrag nie wieder anzunehmen. Der jetzt war lukrativ gewesen, hatte aber unangenehme Nebenwirkungen. Die zeigten sich nicht gleich. Gestern Nacht, als Denis von den Müllcontainern zurückgekommen war und mit einem Kopfnicken klargestellt hatte, dass die Angelegenheit erledigt sei, hatte er überhaupt nichts gefühlt. Hauptsache weg hier, war das Einzige, was ihm durch den Kopf ging, während er die schnurgerade Straße zwischen den Wohnblocks entlangfuhr, den Blick auf den Rückspiegel geheftet. Der reglose Körper in dem orangen Hemd wurde schnell kleiner, aber er lag immer noch dort. Auch als Milan an der nächsten Kreuzung abbog und den Müllplatz aus dem Blick verlor, verschwand das Bild nicht völlig von seiner Netzhaut. Es war die ganze Zeit dort gewesen, während sie das Auto und die Waffe beseitigt hatten, er war mit dem Bild schlafen gegangen, und auch nach dem Aufwachen war es nicht weggewesen. Verschüttet, ausgeblichen, aber immer noch erkennbar war es auch jetzt noch da. Es machte ihn wahnsinnig wie ein unwillkürlicher Nerventick, den man nicht wieder loswurde.
„Bringen wir’s zu Ende, oder?“, sagte Denis ungeduldig.
„Ausgeglichene Rechnungen sorgen für ausgeglichene Freundschaften“, fügte Milan hinzu und tastete mit Blicken die Plastiktüte ab, die auf dem Armaturenbrett des Audis lag.
„Tun sie das? Tatsache?“ Durch Mister Monnys schläfriges Gesicht zuckte amüsiertes Interesse. In seiner Muttersprache gab es diese Redewendung offenbar nicht.
„Sagt man so.“ Milan ließ die Tüte nicht aus den Augen. Sie hatte die richtige Größe und war der einzige Grund, dass er zu diesem Treffen gekommen war. Auf eine Freundschaft zu dem Typen konnte er verzichten.
„Ein Bekannter von mir sagt übrigens: Bei ausgeglichenen Rechnungen spart man sich das Geld für Munition“, ergänzte Denis.
„Schlau, der Bekannte.“ Mister Monny nahm die Tüte und reichte sie Milan durchs Seitenfenster. „Es ist ein bisschen mehr drin, ich hatte kein Kleingeld. Ich hoffe, das stört nicht weiter.“
„Damit kommen wir schon klar“, versicherte Denis.
Milan hatte eigentlich vorgehabt nachzuzählen, aber Mister Monnys Bemerkung hatte ihm die Lust genommen. Sie deutete an, dass das, was er und Denis für einen Batzen Geld hielten, für den Typen nur Peanuts waren. Er warf einen Blick in die Tüte und stellte sie neben seinem Fuß ab. Er hatte erwartet, dass Denis sofort danach greifen würde, aber der rührte sich nicht. Die Hand immer noch in der Westentasche, überwachte er jedes Blinzeln von Mister Monny.
„Nur damit zwischen uns alles klar ist, wir kennen uns nicht“, sagte er warnend. „Wir haben uns nie gesehen. Und es wird besser sein, wenn wir uns nie wieder sehen. Es sei denn …“
Denis legte eine bedeutungsvolle Pause ein und Milan ahnte schon, was er im nächsten Moment sagen würde. Am liebsten hätte er ihn davon abgehalten, aber er wusste, dass das nicht ginge. Hier war er kein Wärter, hier hatte er nicht das Kommando. Denis war es gewesen, der Milan mit in die Geschichte reingezogen hatte, der die Regeln festgesetzt und den schwierigeren Teil des Jobs übernommen hatte. Denis war es gewesen, der den gedachten Taktstock gehalten und ihn geschwenkt hatte, wie er es für richtig hielt.
„… es sei denn, es bietet sich wieder was Interessantes“, vollendete Denis den Satz genau, wie Milan es erwartet hatte. „Klar?“
„Völlig klar“, pflichtete Mister Monny ihm bei, im Gesicht schon wieder diesen schläfrigen Ausdruck. „Hat mich gefreut, die Herren.“
Er winkte ihnen zum Abschied und fuhr langsam über das Feld davon. Milan sah dem sich entfernenden Heck des Wagens nach und ließ gleichzeitig seinen Blick schweifen.
Auch Denis war noch im Bereitschaftsmodus. „Guck mal nach, wie viel das ist“, forderte er Milan auf. „Eh der weg ist.“
Milan nahm die Tasche vom Boden, schüttete den Inhalt in seinen Schoß und zählte die Geldscheine in einem der Bündel. Schwer beeindruckt pfiff er. Mister Monny hatte mehr als ein Viertel der vereinbarten Summe draufgelegt. Das freute ihn, beunruhigte ihn aber auch. Normal war das nicht. Niemand, den Milan kannte, benahm sich so.
„Verstehst du das?“, fragte er.
„Was gibt’s denn an Kohle zu verstehen? Entweder hast du welche oder eben nicht.“ Denis verzog das Gesicht. „Mir ist die erste Variante lieber. Dir nicht? Willst du dem vielleicht wieder was zurückgeben?“
Milan hatte nichts in der Art vor, andererseits konnte er die Sache nicht einfach so sorglos abtun wie Denis. Während sie den aufgeweichten Weg zwischen den hohen Böschungen zurückfuhren, dachte er die ganze Zeit an Mister Monny. An die ganzen Widersprüche in dessen Benehmen. An das Bürohengst-Outfit und die teuren Autos, die er fuhr, an sein fehlerfreies Tschechisch und den undefinierbaren Akzent. An seinen schläfrigen Gesichtsausdruck und die aufmerksamen grauen Augen. Beim ersten Treffen hatte er sich als Johnny vorgestellt, was sie nicht ernst nehmen konnten, aber der Spitzname, den sie ihm gegeben hatten, war auch eher das Pfeifen im Wald. Indem sie ihn so nannten, machten sie ihn für sich zum Handlanger, zum Aktentaschenträger, und drängten andere Züge an ihm in den Hintergrund. Züge, die ganz und gar nicht lustig wirkten und schwer zu entschlüsseln waren. Milan kannte die unterschiedlichsten Typen von kleinen und großen Gangstern; die meisten hatten spezifische Kennzeichen, nach denen man sie klassifizieren konnte, aber Mister Monny passte in keine Schublade. Er blieb Milan ein Rätsel. Am meisten wunderte ihn, dass er sich für diese Aufgabe ausgerechnet sie zwei ausgesucht hatte. War es Zufall, oder erfüllte er die genauen Anweisungen von seinem Boss? Wer war dieser Boss? Und welchen Grund hatte er, einen Haufen Geld rauszuschmeißen, bloß um einen kleinen Kasmenier zu beseitigen?
„Wie hieß der Kasmenier noch mal?“, fragte er, als sie zurück auf die Landstraße gerumpelt waren und er sich endlich eine Zigarette anzünden konnte. Die ganze Zeit, die sie mit Mister Monny verhandelt hatten, war er standhaft geblieben, jetzt genoss er den Tabak als verdiente Belohnung. „Sarajan?“
„Arojan.“
„Und mit Vornamen?“
„Geworg. Wieso?“
„Nur so.“ Er beschloss, mehr über ihn herauszufinden. „Ich kann mir Namen nicht besonders gut merken.“
„Das kann man trainieren.“
„Wie denn?“
„Jeden Namen, den du hörst, musst du sechzehn Mal wiederholen. Dann kannst du ihn nicht wieder vergessen.“
„Echt? Hast du das ausprobiert?“
Denis schüttelte den Kopf. „Ich kann mir Namen gut merken. Dafür hab ich ein schlechtes Gedächtnis für das, was ich sehe. Wenn du mich fragen würdest, ob Arojan kurze oder lange Hosen angehabt hat, könnte ich dir das ums Verrecken nicht sagen.“
„Ich glaub, Jeans“, sagte Milan, aber beschwören könnte er’s nicht. Das leuchtende Orange von Arojans Hemd hatte alles in den Hintergrund gedrängt. Als er nach Denis’ zweitem Schuss auf die Knie gegangen war, war Milan der Gedanke gekommen, dass er aussah wie ein buddhistischer Mönch in frommer Kontemplation. Gerade Arojans Hemd, knallig und strahlend, trug die Hauptschuld daran, dass sich bei Milan dieses nächtliche Bild so deutlich in die Netzhaut eingebrannt hatte. Er schloss die Augen, riss sie wieder auf, blinzelte. Erreichen konnte er damit nichts. Die Erinnerungen machten, was sie wollten; einmal hatte er zu wenige, ein andermal unangenehm viele, sie ließen sich keine Befehle geben. Man konnte ihnen höchstens ein bisschen auf die Sprünge helfen.
„Arojan, hast du gesagt? Georg?“
„Geworg.“ Denis sprach den Namen langsam und deutlich aus.
„Geworg Arojan“, wiederholte Milan. Sechzehn Mal. Er war neugierig, ob er’s sich merken würde.
Er fuhr übers Feld Richtung Landstraße, den Blick auf den Rückspiegel geheftet. Ihm war klar, dass auch die beiden ihn beobachteten und überlegten, ob er etwas im Schilde führte. Durcheinander waren sie, er hatte sie reichlich irritiert. Sie hatten erwartet, dass er sie über den Tisch ziehen würde, stattdessen hatten sie ein Honorar kassiert, von dem sie nicht zu träumen gewagt hatten. Und nun zerbrachen sie sich den Kopf, was hinter der Aktion stecken mochte und was sie außerdem noch rausschlagen könnten. Bestimmt würden sie wild spekulieren, wer er selbst war. Johnny …
Unwillkürlich musste er lachen. Dass er diesmal ausgerechnet diesen Namen verwendete, lag allein in seiner Abneigung gegenüber Stereotypen begründet. Er liebte die Abwechslung. Es machte ihm keinen Spaß, allzu lange bei ein und derselben Persönlichkeit zu bleiben (die Entscheidung, unter welcher Identität er arbeiten würde, kam immer von oben, da hatte er gar keinen Einfluss), aber in Sachen Pseudonym, Maske, Kleidung, Körpersprache und verbales Arsenal hatte er freie Hand und nutzte dies auch weidlich aus. Alles musste miteinander harmonieren. Jedes kleinste Teilchen musste ins Gesamtbild passen. Es ging dabei um Stil. Nach dem richtigen Stil zu suchen und ihn dann sorgfältig auszufeilen, gehörte zu den Momenten seiner Arbeit, die er am liebsten mochte. Seit jeher war er kreativ und fleißig.
Er schob den Rückspiegel leicht nach oben und korrigierte seine Fahrtrichtung, um sie weiter im Auge zu behalten. Sie fuhren bereits wieder durch den Hohlweg zur Straße zurück. Er machte sich über die zwei nicht die geringsten Illusionen. Zu dem Zwerg hatte er zwar von seinem Knastbrüder-Netzwerk gute Referenzen bekommen, aber er war es gewohnt, sich vor allem nach seinem eigenen Verstand zu richten. Und der sagte ihm, dass er auf der Hut sein musste. Allen beiden fehlte es an gesundem Selbstvertrauen, sie taten raffinierter und erfahrener, als sie’s in Wirklichkeit waren. Bei diesem beschränkten Völkchen hier nichts Ungewöhnliches. Er lebte schon das dritte Jahr in Tschechien und die Kreise, in denen er sich bewegte, galten als erlesen, und doch traf er nur ausnahmsweise auf Menschen von wirklichem Format. Die meisten Tschechen waren Duckmäuser, Schwächlinge, Charakterschweine. Sie wussten nicht, was sie wollten, hielten ihr Wort nicht, auf sie war kein Verlass. Deswegen hatte er auch nicht vor Begeisterung gejubelt, als von oben die Anordnung gekommen war. Er hatte dafür kein Verständnis. Hätten sie Arojan gleich ihm überlassen, dann hätten sie die Garantie gehabt, dass alles laufen würde wie geschmiert. Hatten sie aber nicht, und er hatte sich an die Anweisungen halten müssen. Die waren absolut klar gewesen: Es wurde „tschechische Präzisionsarbeit“ erwartet.
Wieder lachte er vor sich hin, diesmal war es aber eher ein unschönes Grinsen. Er hoffte, dass bei dieser „tschechischen Präzisionsarbeit“ kein Fehler passiert war. Falls doch, müsste er es ausbaden, das kannte er schon von früher. (Zum Beispiel der Patzer mit Kirill Borodin, daran hatte er selber nicht die geringste Schuld gehabt, und trotzdem musst er deswegen bei ihnen antanzen.) Diesmal sah’s nicht nach einem Misserfolg aus. Die Belohnung war unverhältnismäßig hoch, für so viel Geld hätten die Tschetschenen fünf Arojans erledigt, aber es war nötig, sich den beiden gegenüber großzügig zu zeigen. Sie zu ködern. Sie würden ihnen noch zupasskommen. Mit Arojan war das Ganze noch nicht vorbei, er hatte ja nicht allein gearbeitet.
Als er am Feldrand ankam, hatte ihr Auto ungefähr die Hälfte des Hohlwegs zurückgelegt. Er klappte den Rückspiegel wieder in die Ausgangsposition zurück, überquerte vorsichtig den flachen Straßengraben, bog auf die Landstraße ein und fuhr dann Richtung Prag. Nach der ersten Kurve verließ er die Straße wieder. Das Feld war zu Ende, auf einem verwahrlosten Grundstück zeichneten sich zwischen Birken und anderer Spontanvegetation die Ruinen eines ehemaligen Bauernhofs ab. Nach kurzem Überlegen fand er eine Stelle hinter der halb eingestürzten Wand des Kuhstalls. Von hier konnte man bis zur nächsten Kreuzung sehen. Er schaltete den Motor aus und wartete. Allmählich wurde es dunkel, Regen trommelte auf die Motorhaube. Das klang wehmütig. Trübselig in des Wortes wahrem Sinn, vom Fuhrmann bis zum edelsten Poeten, ist unser Lied! – Gram drückt sich aus darin, als ob wir niemals Grund zur Freude hätten. Seine Lieblingspassage aus dem Häuschen in Kolomna fiel ihm ein. Wie immer entlockte sie ihm einen Seufzer. Er kam aus tiefstem Herzen und war nicht Ausdruck von Freudlosigkeit, sondern von Wertschätzung für die Schönheit, die ihm Poesie im Allgemeinen und die von Puschkin im Besonderen vermittelte. Gewaltsam riss er sich von ihrem Zauber los und konzentrierte sich wieder voll auf seine Umgebung. Er hatte beschlossen, den beiden nicht zu folgen, sondern sich nur abzusichern, dass sie nicht ihm folgten. Einen Moment später tauchten sie auf. Sie fuhren vorbei und bis zur Kreuzung weiter, wo sie auf den Zubringer zum Prager Autobahnring abbogen. Dort verschmolzen dann die Heckleuchten ihres Wagens mit der Kette aus Rücklichtern.
Er ließ den Motor wieder an. Ihm fiel ein, dass er immer noch die Brille aufhatte. Die benutzte er als Accessoire zu Johnnys Gesicht. Damit sie glaubwürdig wirkte, hatte sie optische Gläser, zwar schwach, aber über längere Zeit da durchzuschauen, machte müde. Er nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Noch ehe er auf die Landstraße zurückfuhr, überlegte er kurz, ob er auf dem Heimweg Musik hören oder lieber ein paar Telefonate erledigen sollte. Schließlich entschied er, dass es am nützlichsten wäre, mit seinem Konversationskurs weiterzumachen, den er sich aufs Handy geladen hatte. In letzter Zeit büffelte er bei jeder passenden Gelegenheit Deutsch und seiner Lehrerin zufolge machte er Fortschritte. Wenn er nicht nachließe, konnte er hoffen, dass sich ihm bald neue Möglichkeiten eröffnen würden. So viele Sprachen du sprichst, so oft bist du Mensch, hieß es doch.
Er griff nach seinem Telefon und ging in die Audiothek. „Gefällt es Ihnen in Berlin? Leben Sie hier?“, fragte eine Frauenstimme. „Berlin ist wunderbar“, antwortete er und achtete dabei peinlichst auf eine korrekte Aussprache. Akzentfreies Hochdeutsch. „Ich bin beruflich hier. Meine Arbeit führt mich immer wieder an neue, interessante Orte.“