Читать книгу Die Schlucht - Иван Гончаров, Иван Александрович Гончаров - Страница 1
Erster Teil
Erstes Kapitel
ОглавлениеIn einer nur oberflächlich aufgeräumten Wohnung einer der großen Straßen von Petersburg saßen zwei Herren, von denen der eine etwa fünfunddreißig, der andere fünfundvierzig Jahre alt sein mochte. Der erstere hieß Boris Pawlowitsch Raiski, der zweite Iwan Iwanowitsch Ajanow.
Boris Pawlowitsch hatte eine lebhafte, ungemein bewegliche Physiognomie. Auf den ersten Blick erschien er jünger, als er in Wirklichkeit war: die hohe weiße Stirn strahlte von Frische, und die Augen wechselten rasch ihren Ausdruck, blickten bald gedankentief, bald gefühlvoll, bald heiter, oder sie schauten träumerisch drein und erschienen dann jung, fast wie die eines Jünglings. Zuweilen jedoch lag etwas Reifes, Müdes, Gelangweiltes in ihnen, und dann verrieten sie das Alter ihres Besitzers. Drei leichte Falten, diese unverwischbaren Runenzeichen des Alters und der Erfahrung, hatten sich sogar bereits um die Augen gelegt. Das schwarze Haar fiel glatt in den Nacken und über die Ohren, an den Schläfen aber schimmerte es bereits ein klein wenig ins Weiße. Die Wangen hatten gleich der Stirn um Augen und Mund noch die jugendliche Tönung bewahrt, an den Schläfen jedoch und um das Kinn ging ihre Farbe ins Gelblichbraune.
Überhaupt ließ sich von dem ganzen Gesichte ohne Mühe jenes Lebensalter ablesen, in dem der Kampf zwischen Jugend und Reife bereits ausgetobt hat, in dem der Mensch in die zweite Lebenshälfte eingetreten ist und jedes Erlebnis, jede Gefühlserregung, jede Krankheit eine Spur zurückläßt. Nur der Mund hatte noch in dem feinen Spiel der edelgeformten Lippen und in seinem Lächeln den jugendlichen, frischen, bisweilen fast kindlichen Ausdruck bewahrt.
Raiski trug einen grauen Hausrock und saß, die Beine auf dem Diwan ausgestreckt, da.
Iwan Iwanowitsch dagegen war im schwarzen Frack. Die weißen Handschuhe und der Hut lagen neben ihm auf dem Tische. Sein Gesicht hatte den Ausdruck der Ruhe, oder vielmehr einer gleichgültigen Erwartung gegenüber allem, was um ihn geschehen konnte.
Ein intelligenter Blick, ein kluger Mund, gelblichbraune Gesichtsfarbe, sorgfältig frisiertes, bereits stark ergrautes Kopfhaar und ebensolcher Backenbart, gemessene Bewegungen, eine zurückhaltende Sprechweise und tadelloser Anzug – das ist das Bild seines äußeren Menschen.
Ruhiges Selbstvertrauen und Verständnis für andere sprach aus seinen Augen. Der Mann hat gelebt, er kennt das Leben und die Menschen, würde ein Beobachter von ihm gesagt haben, und wenn er ihn auch nicht unter die erlesenen, höheren Naturen eingereiht hätte, so würde er ihn doch noch weniger unter die naiven Gemüter gerechnet haben. Iwan Iwanowitsch war der typische Vertreter des geborenen Petersburgers und zugleich das, was man einen Mann von Welt nennt. Er gehörte zu Petersburg und zur Welt von Petersburg. Man konnte sich ihn nur schwer als das Produkt irgendeiner anderen Stadt, irgendeiner anderen Sphäre als dieser Petersburger Welt, unter der eine bestimmte höhere Schicht der Petersburger Gesellschaft zu verstehen ist, vorstellen. Er hatte sein Amt und seine Privatgeschäfte, doch traf man ihn zumeist in den Salons der Gesellschaft, wo er am Morgen seine Visite machte und später dann zum Mittagessen oder zum Abend erschien; in letzterem Falle war er dann zumeist am Kartentisch zu finden. Er war in jeder Hinsicht eine Durchschnittserscheinung: weder ein Charakter noch charakterlos, weder ein Mann von Wissen noch ein Ignorant, weder der Vertreter einer Überzeugung noch ein Skeptiker.
Sein Mangel an Wissen und Überzeugung verbarg sich hinter einer gewissen leichten, oberflächlichen Art von Verneinung: er sprach über alles geringschätzig, hatte für nichts eine aufrichtige Hochachtung, für nichts einen tieferen Glauben oder eine besondere Begeisterung. Er war ein wenig ironisch und ein wenig witzig, gleich höflich und gemessen im Verkehr mit allen, empfand für niemand eine dauernde, tiefere Freundschaft, war aber auch ebensowenig einer ernsteren Feindschaft fähig.
Er war in Petersburg geboren und groß geworden, hatte hier seine Ausbildung erhalten und sein ganzes Leben verbracht, ohne weiter hinauszukommen, als etwa bis Lachta oder Oranienbaum nach der einen und bis Toksowo oder Ssrednjaja-Rogatka nach der anderen Richtung. So spiegelte sich denn auch in ihm, wie die Sonne in einem Wassertropfen, einzig und allein die Petersburger Welt und Wirklichkeit mit ihren Sitten, ihrem gesellschaftlichen Ton, ihrem innersten Wesen, und im besonderen das Petersburger dienstliche Leben, das man als die zweite Natur dieser Stadt bezeichnen kann.
Von allem, was sonst in der Welt vorging, hatte Ajanow keine andere Vorstellung als jene, die ihm die in- und ausländischen Zeitungen vermittelten. Petersburgs Meinungen und Leidenschaften, Petersburgs Laster und Tugenden, die Jahresbilanz seines Denkens und Tuns, seiner Politik und seiner Literatur – das war der Bannkreis, in dem sein Leben sich abspielte, der seine geistigen Bedürfnisse vollauf befriedigte, und den er niemals durchbrach. Vollkommen gleichgültig hatte er vierzig Jahre lang zugeschaut, wie seine Petersburger Landsleute in jedem Frühling scharenweise in den vollgepfropften Dampfern nach dem Auslande reisten oder mit der Postkutsche und später mit der Eisenbahn nach dem Innern des Reiches fuhren, wie diese »naiv« empfindenden Menschenmassen der Newastadt entflohen, um eine andere Luft zu atmen, sich zu erfrischen und neue Eindrücke und Zerstreuung zu suchen. Er selbst hatte niemals ein Bedürfnis nach solcher Abwechslung empfunden, und er konnte es auch bei anderen durchaus nicht als berechtigt anerkennen; doch sah er ihrem Treiben ruhig und gelassen zu, ohne seine wahre Meinung auch nur mit einer Miene zu verraten. »Mögen sie tun, was sie wollen – ich fahre jedenfalls nicht!«
Er sprach einfach und ungezwungen, ging ungezwungen von einem Gegenstand auf den anderen über, war stets über alles unterrichtet, was draußen in der Welt, oder in der Gesellschaft, oder sonst in der Stadt vorging; er verfolgte, wenn irgendwo Krieg geführt wurde, alle Vorgänge auf dem Kriegsschauplatz, informierte sich in aller Gemütsruhe über jeden Wechsel im englischen oder französischen Ministerium, las die letzte Rede im Londoner Parlament und in der französischen Deputiertenkammer, wußte stets, welchen Inhalt das neueste Stück hatte, und wer in der Nacht im Wyborger Viertel ermordet worden war. Er kannte den Stammbaum, die Vermögensverhältnisse und die Chronique scandaleuse jedes einzelnen großen Hauses der Residenz; er wußte in jedem Augenblick, was in den verschiedenen Ressorts der Verwaltung vorging, war über alle Versetzungen, Gehaltserhöhungen und Gratifikationen informiert; er kannte auch alle Klatschgeschichten der Stadt, mit einem Wort: er war in seiner Welt nach jeder Richtung »zu Hause.«
Den Tag brachte er, wie gesagt, mit Besuchen, zum Teil wohl auch mit dienstlichen Verrichtungen und Privatangelegenheiten zu. Den Abend leitete er öfter mit einem Besuch des Theaters ein, den Abschluß aber bildete stets ein Spielchen im englischen Klub oder bei Bekannten, und bekannt war er eben mit aller Welt.
Im Kartenspiel war bei ihm jeder Fehler ausgeschlossen, und er hatte den Ruf eines angenehmen Spielers, weil er bei den Fehlern seiner Mitspieler sehr nachsichtig war, sich nie über sie ärgerte und bei der größten Dummheit nicht eine Miene verzog. Es war ihm gleichgültig, ob er hoch oder niedrig spielte, ob er renommierte Spieler oder kapriziöse Damen zu Partnern hatte.
Den üblichen Dienstgang hatte er glatt absolviert. Fünfzehn Jahre lang hatte er sich in den Kanzleien herumgedrückt und von Amts wegen die Projekte anderer zur Ausführung gebracht. Er wußte mit seinem Verständnis auf den Gedankengang seines Vorgesetzten einzugehen, teilte stets seine Auffassung von der Sache und war in der schriftlichen Ausarbeitung der in Frage kommenden Materie überaus gewandt. Wenn in der Person des Vorgesetzten – und damit oft auch in den zu bearbeitenden Projekten – ein Wechsel eintrat, arbeitete Ajanow mit dem neuen Vorgesetzten und an dem neuen Projekt ebenso verständnisvoll und gewandt wie früher, und seine Berichte fanden den Beifall aller Minister, unter denen er arbeitete.
Augenblicklich war er einem dieser Herren als Beamter für besondere Aufträge zugeteilt. Er erschien am Vormittag im Kabinett des Chefs, begab sich dann in den Salon seiner Gemahlin, nahm dort in der Tat einige »Aufträge« entgegen und arrangierte für den Abend eine Partie mit den Leuten, die man beim Chef gerade zu Gaste haben wollte. Er hatte einen ziemlich hohen Rang, ein ganz ansehnliches Gehalt und, bei Lichte besehen, so gut wie nichts zu tun. Wenn es gestattet ist, das Wesen einer fremden Seele zu enthüllen, so ist von Ajanows Seele nur zu sagen, daß sie keine Schatten, keine Heimlichkeiten und keine Zukunftsrätsel barg; auch Macbeths Hexen hätten es nicht fertig bekommen, ihn durch das Trugbild eines glänzenden Loses zu verlocken und von dem Wege abzulocken, auf dem er mit klarem Bewußtsein würdevoll dahinschritt. Vom Staatsrat wird er zum wirklichen Staatsrat und schließlich, in Anerkennung seiner langjährigen treuen Dienste und unermüdlichen Arbeit am Kanzlei- wie am Kartentisch, auch zum Geheimrat avancieren, um dann zuletzt in irgendeiner permanenten »Kommission«, unter Gewährung des vollen Gehalts, vor Anker zu gehen. Und ob der Ozean der Menschheit noch so bewegt auf und nieder flutet, ob die Zeiten dahinrauschen und Völker und Reiche vergehen – — an ihm geht alles spurlos vorüber, bis ein Schlaganfall oder sonst ein Altersleiden seinem Dasein ein Ziel setzt.
Ajanow war verheiratet gewesen, hatte jedoch früh seine Frau verloren und besaß eine zwölfjährige Tochter, die auf Staatskosten im Institut erzogen wurde; er selbst hatte seine Angelegenheiten wohl geordnet und führte nun das ruhige, sorglose Leben eines Hagestolzes.
Nur ein Umstand störte seine Ruhe: die Hämorrhoiden, die er sich durch seine sitzende Lebensweise zugezogen hatte. Ein unangenehmes Ereignis stand ihm in der Zukunft bevor: eine Badereise, die ihn aus seinem gleichförmigen Petersburger Leben herausreißen und irgendwohin entführen sollte. So wenigstens lautete die Ankündigung des Arztes.
»Ist’s nicht Zeit, daß du dich anziehst? Es ist ein Viertel nach vier!« sagte Ajanow zu Raiski.
»Ja, es ist Zeit,« versetzte Raiski, aus seinem Brüten erwachend.
»Worüber hast du eben nachgedacht?« fragte Ajanow.
»Du meinst: über wen?« verbesserte ihn Raiski. »Über wen sonst als über sie . . . über Sophie . . .«
»Schon wieder? Hm!« bemerkte Ajanow. Raiski begann sich anzukleiden.
»Du bist doch nicht böse, daß ich dich dahin mitschleppe?« fragte Raiski.
»Durchaus nicht. Ist’s nicht gleich, ob ich dort mein Spielchen mache oder bei Iwlews? Es ist mir zwar ein bißchen peinlich, den alten Damen das Geld abzunehmen: Anna Wassiljewna spielt gegen ihren eigenen Partner, und Nadjeschda Wassiljewna kündigt immer laut an, was sie ausspielen wird!«
»Mach’ dir keine Sorgen, euer Fünfkopekenspiel wird sie nicht zugrunde richten. Die beiden Alten haben jede ein Einkommen von sechzigtausend Rubeln.«
»Ich weiß es; und das soll Sophie Nikolajewna einmal alles erben?«
»Ja, sie ist ihre Nichte und einzige Erbin. Aber das kann noch lange dauern! Sie werden die Nichte noch überleben – und dazu sind sie so geizig!«
»Der Vater Sophies scheint nicht mehr viel zu besitzen? . . .«
»Nein, er hat alles durchgebracht.«
»Wie bringt er das eigentlich fertig? Am Kartentisch sieht man ihn doch fast gar nicht!«
»Und die Weiber – kosten die nichts? Dieses ewige Hin und Her, diese kleinen Soupers, dieser ganze Troß, den er immer mitschleppt? Im letzten Winter hat er der kleinen Armance ein Tafelservice für fünftausend Rubel geschenkt, und wie sie es zum erstenmal in Gebrauch nahm, hat sie ihm nicht einmal eine Einladung geschickt! . . .«
»Ja, ich hörte davon. Warum sollte sie ihn auch einladen? Was hat er bei ihr zu suchen? . . .«
Sie lachten beide.
»Auch von ihrem Manne hat Sophie Nikolajewna anscheinend nicht viel geerbt?«
»Nein, nur siebentausend Rubel jährlich werden es sein. Das braucht sie als Taschengeld, im übrigen ist sie ganz auf die Tanten angewiesen. Aber nun ist’s Zeit!« sagte Raiski. »Ich möchte vor Tisch noch ein wenig auf dem Newskij promenieren.«
Ajanow und Raiski gingen auf die Straße hinaus. Auf Schritt und Tritt begegneten sie Bekannten, das Nicken und Verneigen nahm kein Ende, nach rechts und links wurden Händedrücke ausgetauscht.
»Wie lange willst du bei der Bjelowodowa bleiben?«
»Bis ich hinausgeworfen werde – wie gewöhnlich. Du wirst dich langweilen?«
»Nein, ich überlegte nur, ob ich dann wohl noch zu Iwlews gehen kann. Ich kenne keine Langeweile . . .«
»Glücklicher Mensch!« sagte Raiski mit einer Anwandlung von Neid. »O, wenn es doch keine Langeweile auf der Welt gäbe! Kann es eine schrecklichere Geißel geben?«
»Schweig, bitte!« versetzte Ajanow mit abergläubischer Furcht. »Mal’ den Teufel nicht an die Wand! Ich habe genug mit meinen Hämorrhoiden zu tun. Die Ärzte schwatzen immer davon, daß ich fort soll: was sie eigentlich gegen diese sitzende Lebensweise haben, die an allem schuld sein soll? Und dann schimpfen sie immer auf die hiesige Luft – kann es eine bessere Luft geben?« Er schöpfte mit Behagen tief Atem. »Ich habe jetzt einen ganz besonders tüchtigen Äskulap, der will mich im nächsten Sommer mit saurer Milch kurieren. Du weißt, ich leide an Verstopfung . . . Du gehst also aus lauter Langerweile zu deiner Cousine?«
»Welche Frage: natürlich! Spielst du denn nicht auch Karten aus Langerweile? Alles flieht eben vor der Langenweile wie vor der Pest!«
»Ein recht fragwürdiges Mittel, das du da gegen die Langeweile anwendest: leeres Weibergeschwätz, alle Tage dasselbe!«
»Ist’s mit dem Kartenspiel nicht ebenso? Hast du da nicht auch alle Tage dasselbe!«
»Durchaus nicht! Ein Engländer hat berechnet, daß nur alle tausend Jahre einmal dieselbe Kartenverteilung sich wiederholt . . . Und die wechselnden Chancen! Und die Charaktere der verschiedenen Spieler, die Kniffe jedes einzelnen, die Fehler! . . . Das ist durchaus nicht dasselbe! Aber sich so den ganzen Winter, den ganzen Frühling an ein Weib hängen – heute, morgen, alle Tage . . . das kann ich nicht begreifen!«
»Du hast eben kein Verständnis für Schönheit! Das geht dir ganz und gar ab! Einem anderen fehlt wieder das Verständnis für Musik, einem dritten für die Malerei. Das sind eben besondere Mängel in der Entwicklung!«
»Allerdings, sehr besondere. In unserer Abteilung diente einmal ein gewisser Iwan Petrowitsch als Gehilfe – der ließ keine Beamtenfrau und kein Stubenmädchen in Ruhe, natürlich nur, wenn sie hübsch waren. Allen sagte er Liebenswürdigkeiten, brachte ihnen Konfekt und Blumen: was meinst du, war der entwickelt?«
»Lassen wir das Thema,« versetzte Raiski, »sonst klettern wir wieder beide an den Wänden hoch und fassen uns gar an den Köpfen. Ich besitze kein Verständnis für deine Karten und habe nichts dagegen, daß du mich in dieser Beziehung einen Ignoranten nennst. Versuche dann aber auch nicht, über Schönheit zu reden. Ein jeder schwelgt auf seine Weise in Schönheit: der eine hält sich an Gemälde, der andere an Statuen, der dritte an die lebendige Schönheit des Weibes: dein Iwan Petrowitsch liebt dies, ich das, und du überhaupt nichts! Abgemacht – Schluß!«
»Du spielst doch nur mit den Frauen, soweit ich sehe,« sagte Ajanow.
»So laß mich doch, was tut’s? Auch du spielst ja – aber während du fast immer im Gewinn bist, bin ich stets der Verlierer . . . Was hast du daran auszusetzen?«
»Sophie Nikolajewna ist schön, und dazu eine reiche Erbin: heirate sie, und damit basta!«
»So, damit basta – und die Langeweile fängt an!« versetzte Raiski nachdenklich. »Ich will aber von einem solchen Abschluß der Sache nichts wissen! Übrigens, beruhige dich: man würde sie mir gar nicht geben!«
»Dann hat es nach meiner Ansicht keinen Sinn, überhaupt hinzugehen. Du bist einfach ein Don Juan!«
»Ja, ein Don Juan – ein fader Geselle, ein eitler Geck; oder welchen Sinn legst du sonst dem Worte bei? Auf die Art wären auch Byron und Goethe und die ganze Schar der Maler und Bildhauer nichts als eitle Gecken . . .«
»Bist du vielleicht ein Byron oder ein Goethe – wie? . . .«
Raiski wandte sich ärgerlich von ihm ab.
»Der Donjuanismus,« sagte er, »liegt ebensogut im Wesen des Menschen wie die Donquixoterie; dieser Trieb wurzelt vielleicht noch tiefer in seiner Natur . . .«
»Du nennst es einen Trieb – dann heirate doch, sag’ ich dir . . .«
»Ach,« rief Raiski fast verzweifelt aus – »heiraten kann man einmal, zweimal, dreimal. Darf ich denn aber die Schönheit des Weibes nicht so genießen, wie etwa die Schönheit einer Statue? Don Juan suchte vor allem den ästhetischen Genuß, den dieser Trieb gewährt, wenn auch, als Sohn seiner rauher gearteten Zeit, auf eine gröbere Weise. Aber was rede ich mit dir erst darüber!«
»Wenn du nicht heiraten willst, dann hat es doch gar keinen Zweck, überhaupt hinzugehen,« wiederholte Ajanow apathisch.
»Du hast ja in gewissem Sinne recht. Vor allem muß ich dir aber sagen, daß meine Begeisterung durchaus aufrichtig und nicht etwa gemacht ist: es handelt sich nicht um eine bloße Courmacherei, das merk’ dir ein für allemal! Wenn der Gegenstand meiner Verehrung auch nur in einigen Zügen dem Ideal nahekommt, das meine Phantasie sich aus ihm erschafft, dann ergänzt sich das übrige gleichsam von selbst, und es ergibt sich ein Ideal des Glücks . . .«
»Na, siehst du, dann heirate doch! . . .« bemerkte Ajanow. »Immer abwarten, abwarten! Nicht eins meiner Ideale hat bis zur Hochzeit vorgehalten, es ist vor der Zeit verblaßt, und meine Begeisterung erkaltete . . . Was die Phantasie geschaffen hatte, das zerstörte die Analyse wieder – oder das Ideal war bereits entschwunden, ehe ich erkaltete . . .«
»Aber so Tag für Tag mit einer Frau zusammenzusitzen und zu schwatzen?!« wiederholte Ajanow hartnäckig und schüttelte dabei den Kopf. »Wovon wirst du zum Beispiel heut mit ihr reden? Was willst du von ihr, wenn man sie dir doch nicht zur Frau gibt?«
»Und ich frage dich: was willst du von ihren Tanten? Was für Karten wirst du heute bekommen? Wirst du gewinnen oder verlieren? Gehst du vielleicht in der Absicht hin, ihre ganzen sechzigtausend Rubel Rente zu gewinnen? Nein – du willst nur ein Stündchen spielen und vielleicht eine Kleinigkeit herausschlagen . . .«
»Ich habe gar keine bestimmte Absicht: ich gehe hin, um . . . um . . . nun, um mich zu unterhalten.«
»Um . . . dich vor der Langenweile zu retten, siehst du! Und auch ich gehe hin, um mich zu unterhalten und habe gar keine bestimmte Absicht. Und welchen Genuß mir ihre Schönheit gewährt – das kannst du so wenig begreifen wie dein Iwan Petrowitsch, worin übrigens für euch beide durchaus kein Vorwurf liegen soll. Es gibt doch auch Leute, die mit Leidenschaft beten, während andere dieses Bedürfnis durchaus nicht kennen . . .«
»Mit Leidenschaft! Die Leidenschaften sind dem, der das Leben genießen will, nur ein Hindernis. Die Arbeit, die Tätigkeit ist das einzige Heilmittel gegen die Leere des Daseins . . .« meinte Ajanow in belehrendem Tone.
Raiski blieb stehen, hielt auch Ajanow an und fragte mit spöttischem Lächeln: »Was für eine Tätigkeit meinst du? Ich bin wirklich neugierig!«
»Was für eine Tätigkeit? Nun – tritt in den Staatsdienst ein!«
»Das nennst du eine Tätigkeit? Zeig’ mir im Staatsdienst irgendeine Tätigkeit, die nicht entbehrlich wäre! Mit einigen Ausnahmen vielleicht . . .«
Ajanow ließ vor lauter Verwunderung einen Pfiff hören. »Nun seh’ einer!« sagte er und ließ seinen Blick in die Runde schweifen. »Sieh dir zum Beispiel den da an!« Er zeigte nach einem Polizisten, der mit gespannter Aufmerksamkeit nach einer Richtung blickte.
»Frag’ ihn einmal,« sagte Raiski, »weshalb er hier steht, und nach wem er so erwartungsvoll ausblickt? Nach dem General, wird er dir sagen! Uns beide aber sieht er nicht, so daß jeder beliebige Passant uns das Taschentuch stehlen kann. Hältst du deine Schreiberei wirklich für eine richtige, nützliche Tätigkeit? Wir wollen die Sache nicht zu eingehend erörtern: ich will dir nur sagen, daß ich nach meiner Meinung weit tätiger bin, wenn ich meine Bilder kleckse oder auf dem Flügel klimpere oder selbst meinem Schönheitskult huldige . . .«
»Was hast du denn nun eigentlich, von der Schönheit abgesehen, so Besonderes an deiner Cousine gefunden?«
»Von der Schönheit abgesehen! Die ist eben alles an ihr! Übrigens kenne ich sie nur wenig, und vielleicht zieht gerade das, außer ihrer Schönheit, mich zu ihr hin . . .«
»Wie – du bist jeden Tag mit ihr zusammen und kennst sie nur wenig? . . .«
»So ist’s. Ich weiß nicht, was sich hinter ihrer Ruhe verbirgt, ich kenne ihre Vergangenheit nicht und errate auch nicht ihre Zukunft. Ist sie ein Weib ober nur eine Puppe? Lebt sie wirklich, oder stellt sie sich nur so, als ob sie lebte? Alle diese Fragen quälen mich, siehst du . . . Da, guck’ dir einmal jene Frau dort an,« fuhr Raiski fort.
»Die Dicke, die eben mit ihrem Paket in die Droschke steigt?«
»Ja, oder jene dort, die aus dem Wagenfenster sieht! Oder diese hier, die eben um die Ecke biegt und auf uns zukommt!«
»Nun – was ist mit ihnen?«
»Du kannst, wenn du auch nur flüchtig hinsiehst, in ihrem Gesichte irgend etwas lesen: eine Sorge, einen Kummer oder eine Freude, einen Gedanken oder eine Willensäußerung, mit einem Wort – Bewegung, Leben. Es gehört nicht viel dazu, um zu erraten, daß jene dort Familie hat, einen Mann und Kinder, das heißt also eine Vergangenheit; daß die zweite, in deren Gesicht sich eine Leidenschaft, eine Spur lebendiger Empfindung ausdrückt, eine Gegenwart besitzt; daß hier in diesem jugendlichen Gesichte geheime Wünsche und Hoffnungen sich ausprägen, die auf eine unruhige Zukunft schließen lassen . . .«
»Nun – und?«
»Nun, überall ist etwas Lebendiges, Unternehmendes, etwas, das nach Leben verlangt und auf das Leben reagiert . . . Dort aber, bei Sophie, ist nichts von alledem, alles glatt und leer, wie abgefegt! Nicht einmal Apathie oder Langeweile, daß man sagen könnte: hier war einmal Leben, aber es ist totgeschlagen worden – einfach nichts! Sie strahlt und glänzt, sie heischt nichts und bietet nichts, und ich weiß nichts von ihr! Und da wunderst du dich noch, daß mir das so nahe geht!«
»Das hättest du mir längst sagen sollen – dann hätte ich nämlich aufgehört, mich zu wundern. Ich bin nämlich genau ebenso wie sie,« sagte Ajanow, während er plötzlich stehen blieb. »Komm doch zu mir, statt zu ihr zu laufen . . .«
»Zu dir?«
»Ja—a!«
»Aber besitzest du denn . . . auch diese göttliche Schönheit?«
»Ich besitze eine göttliche Ruhe und genieße diese; ganz so wie sie . . . was willst du noch mehr? . . .«
»Nichts will ich von dir; doch sie – ist eine Schönheit, eine Schönheit!«
»So heirate sie doch, und willst du das nicht, oder kannst du es nicht, dann laß sie laufen, such’ dir eine Tätigkeit . . .«
»Zeig’ mir erst eine Tätigkeit, die einem lebhaften, von allem Toten und Verwesenden angewiderten Geiste und einer leidenschaftlichen Seele genügen könnte! Sag’ mir, wo ich eine Aufgabe finde, die des Kampfes lohnt – mit deinen Karten aber, deinen Visiten, deinen Routs, deinem Staatsdienst scher’ dich zum Teufel!«
»Du hast ein unruhiges Naturell,« sagte Ajanow; »man merkt es gleich, daß du nicht in strengen Händen und harter Schule warst – darum sinnst du jetzt auf tolle Streiche . . . Weißt du noch, was du von deiner Natascha erzähltest, als die noch lebte? . . .«
Raiski blieb plötzlich stehen und faßte mit einem Ausdruck der Schwermut im Gesichte die Hand seines Begleiters.
»Natascha!« wiederholte er leise – »das ist der einzige schwere Stein, der meine Seele drückt! Laß die Erinnerung an sie ruhen, jetzt, da dieser bestrickend schöne Zauber mit seinen Reizen auf mich wirkt . . .«
Raiski seufzte. Sie gingen schweigend bis zur Wladimirkirche weiter, bogen dort in eine Seitengasse ein und betraten die Einfahrt eines herrschaftlichen Hauses.