Читать книгу Die Schlucht - Иван Гончаров, Иван Александрович Гончаров - Страница 17

Erster Teil
Siebzehntes Kapitel

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Seit dem frühen Morgen sitzt Raiski an Sophies Porträt, und es ist nicht der erste Morgen, den er davor verbringt. Er ist ermüdet von dieser Arbeit. Er wirft einen Blick auf das Porträt, zieht dann plötzlich ärgerlich den Vorhang darüber, beginnt im Zimmer auf und ab zu schreiten, bleibt am Fenster stehen, pfeift, trommelt mit den Fingern auf den Fensterscheiben, verläßt das Haus und irrt düster und unzufrieden durch die Straßen. Am nächsten Morgen wiederholt sich derselbe Vorgang, die gleiche Unzufriedenheit und Erbitterung befällt ihn. Bisweilen sitzt und sitzt er auf einer Stelle, ergreift plötzlich die Palette und beginnt hastig da und dort nachzuziehen und herumzutuschen, hält wieder ein, sieht hin und verfällt in tiefes Sinnen. Dann schüttelt er unzufrieden den Kopf, seufzt auf und wirft die Palette hin.

Das Porträt aber ist ihr so ähnlich, wie nur ein Wassertropfen dem anderen. Ganz genau so ist sie dort auf seiner Leinwand, wie alle sie sehen und kennen: unerschütterlich ruhig und strahlend. Dieselbe Harmonie in den Zügen, die hohe, weiße Stirn, der offene, unschuldige, mädchenhafte Blick, der stolze Nacken und die voll entwickelte, wie in ruhigem Schlafe atmende Brust.

Sie ist’s, wie sie leibt und lebt – und er ist unzufrieden, quält sich ab und windet sich in künstlerischen Zweifeln! Er hat in seinem Modell den Funken des Lebens geweckt, hat das Feuer ins Dunkel getragen, die Anzeichen eines neuen Gefühls, Erregung und Unruhe sind in ihrem Wesen sichtbar geworden – und von alledem weist sein Porträt nicht eine Spur auf.

»Warum kommt nur Kirilow nicht, um sich mein Bild anzusehen?« fragte er sich. »Er hat es mir doch versprochen! Vielleicht würde er mir einen Fingerzeig geben, wie ich es machen soll, um die Göttin in ein Weib zu verwandeln!«

Und wiederum begann er sinnend vor sich hinzuschauen, mit der Palette auf dem Daumen, den Kopf gesenkt und im Gesicht das qualvolle Bemühen, endlich jenem Geheimnis beizukommen, wie er gerade jene Sophie, die seinem Geiste jetzt vorschwebt, auf die Leinwand bannen solle.

Er rief sich ihre Erregung ins Gedächtnis zurück, er hörte das Flehen ihrer Stimme, sie allein zu lassen und fortzugehen; er sah sie, wie sie ihren Stolz zu Hilfe rufen wollte und es doch nicht vermochte, wie sie ihm ihre Hand entziehen wollte und sie ihm doch nicht entzog, wie sie so gar nicht ihrer selbst Herr werden konnte . . . Wie verschieden war diese Sophie von dem Porträt da auf der Staffelei!

Er sah, daß er die Zweifel des Hamlet in ihrer Brust geweckt hatte. Er hatte diese Zweifel in ihrem Blick gelesen: »Lebe ich denn auch wirklich so, wie ich leben sollte? Bringe ich nicht irgend etwas Lebendiges, Menschliches diesem toten Stolze meines Geschlechts und meines Kreises, diesen äußeren Schicklichkeitsregeln zum Opfer? Es ist ja wahr, daß ich zuweilen mich langweile mit den Tanten, mit Papa und mit Catherine . . . nur Cousin Raiski . . .«

Sein Herz begann zu klopfen, wenn er so im Geiste sich selbst als den Gegenstand ihrer Träume sah.

Er sah nicht mehr das Porträt, sondern etwas ganz anderes: seine Augen waren wie bei einem Mondsüchtigen weit geöffnet, starr, ohne zu blinzeln, sahen sie irgendwohin und erblickten dort die wirkliche, lebendige Sophie, wie sie allein in ihrem Zimmer saß und von ihm träumte, in Nachdenken versunken, ohne zu merken, wo sie sitzt; oder wie sie ziellos durchs Zimmer schreitet, dann plötzlich, wie von einem neuen Gedankenblitz erleuchtet, stehen bleibt, aufs Fenster zuschreitet, die Portiere öffnet und den neugierigen Blick auf die Straße richtet, in das wogende Getümmel der Gestalten und Köpfe, wie sie aufmerksam hinausspäht in diesen Menschenstrudel, ohne Scheu vor dem Lärm da draußen, ohne Widerwillen gegen die große Menge, als sei sie ein Teil von ihr geworden, als begriffe sie, wohin jener Mensch dort so hastig eilt, in Angst, daß er zu spät kommen könnte; sie scheint bereits zu wissen, daß es ein armer Beamter ist, der für drei-, vierhundert Rubel jährlich zwei Drittel seines Lebens, sein Blut, sein Hirn, seine Nerven verkauft.

Sie fühlt Mitleid mit dem Bauer dort, der den Sack auf seinem Rücken kaum zu schleppen vermag. Sie errät, daß jene Frau da in dem Bündel, das sie trägt, ihr letztes Stück, ihren Mantel, zum Pfandleiher trägt, um die Miete bezahlen zu können. Jede einzelne Gestalt dort draußen, ob Mann oder Frau, verfolgt diese neue Sophie mit nachdenklichem, mitleidvollem Blicke.

Lange schaut sie hinaus auf dieses Leben, das sie nun ganz zu begreifen scheint, nur ungern verläßt sie das Fenster und vergißt, den Vorhang herabzulassen. Sie nimmt ein Buch, schlägt es an der ersten besten Stelle auf, liest jedoch nicht, sondern vertieft sich wieder in stilles Nachdenken darüber, wie die Menschen dort draußen leben.

Ihre Schönheit bekommt einen sinnigen Ausdruck, die Augen blicken nicht mehr so sorglos und klar, sondern gedankenvoll und tief. Es liegt in ihnen etwas wie bange Sorge um jene »anderen«, die dort in Kummer und Not, von Arbeit und Elend erdrückt, durch die Straßen eilen.

Sie empfindet plötzlich, daß sie nicht gelebt hat, sondern nur gewachsen ist, in einer kühlen, frostigen Temperatur. Sie empfindet eine Begier nach diesem Leben, nach seinen lebendigen Sympathien, seinen Kümmernissen und Mühen – vor allem aber nach den Sympathien.

Das Buch fällt aus ihren Händen auf den Fußboden. Sophie gibt sich nicht die Mühe, es aufzuheben; sie nimmt zerstreut eine Blume aus der Vase, sie achtet nicht darauf, daß die übrigen Blumen in Unordnung geraten und einige sogar aus der Vase fallen.

Sie riecht an der Blume, zupft sinnend, in stiller Zerstreutheit, die Blütenblätter mit den Lippen heraus, geht dann leise, halb unbewußt, zum Flügel, setzt sich achtlos von der Seite auf das Taburett, greift mit der einen Hand ein paar schwermütige Akkorde und sinnt und sinnt . . .

Dann flüstert sie leise, wie vergeistert, einen Namen und erbebt – ängstlich schaut sie sich um, bedeckt das Gesicht mit den Händen und verbleibt in dieser Haltung.

Niemand ist im Zimmer; nur ein Sonnenstrahl stiehlt sich durch das Fenster, an dem der Vorhang zurückgeschlagen ist, spielt in den Spiegeln an der Wand und bricht sich in farbigen Tönen an dem geschliffenen Kristall. Auf dem Fußboden liegt unbeachtet das offene Buch, neben den abgezupften Blütenblättern . . .

Er ergriff den Pinsel, schaute lange mit weitgeöffneten, heißhungrigen Augen auf jene Sophie, die er in diesem Augenblick im Kopfe hatte, mischte sorgfältig, mit einem stillen Lächeln, die Farben auf der Palette, schickte sich mehrmals an, die Leinwand zu berühren, hielt jedoch immer wieder unentschlossen inne, fuhr dann endlich mit dem Pinsel über die Augen und übertuschte sie ein wenig, daß die Lider etwas mehr geöffnet schienen. Ihr Blick wurde dadurch weiter, doch war er immer noch zu ruhig.

Ganz leise, fast mechanisch, zog er noch einmal den Pinsel über die Augen hin: sie wurden lebendiger, sprechender, blieben jedoch kalt. Eine ganze Weile arbeitete er an den Augen herum, mischte wieder nachdenklich die Farben, fügte noch einen neuen Zug hinzu, setzte einen Punkt in jedes Auge, wie es damals der Lehrer in der Schule bei seiner Zeichnung getan, und brachte schließlich noch einen einzigen kleinen Zug, über den er sich selbst nicht Rechenschaft gab, in das eine Auge . . . Und plötzlich stockte ihm selbst der Atem: ein Funke blitzte ihm aus dem Bilde entgegen . . .

Er trat zurück, sah hin und ward starr vor Verblüffung: eine lichte Garbe von Strahlen fiel aus den Augen gerade auf ihn, doch war der Ausdruck des Gesichtes noch zu streng. Halb unbewußt, wie von ungefähr, veränderte er ganz wenig die Linie der Lippen, führte einen leichten Pinselstrich über die Oberlippe, milderte da und dort einen Schatten, trat wieder zurück und sah hin.

»Sie ist es, sie ist es!« rief er, und sein Atem stockte fast.

»Das ist Sophie, wie sie jetzt ist, die wirkliche, wahre Sophie!«

Er hörte Schritte in seinem Rücken und wandte sich um: Ajanow war soeben eingetreten.

»Iwan Iwanytsch!« rief Raiski ganz erregt – »wie froh bin ich, daß du gekommen bist! Sieh doch – da, ist sie’s oder nicht? So sprich doch!«

»Wart’ laß mal sehen!«

Iwan Iwanytsch betrachtete eine ganze Weile das Bild.

Voll Ungeduld wartete Raiski.

»Wer ist das?« fragte Ajanow phlegmatisch.

Raiski sah ihn ganz verdutzt an.

»Hast du Sophie nicht erkannt?« fragte er und konnte sich kaum fassen vor Erstaunen.

»Wie, Sophie Nikolajewna? Ist’s möglich?« sprach Ajanow und sah dabei mit weitgeöffneten Augen auf das Porträt. »Du hattest doch noch ein zweites Bild: ich glaube, das war besser; wo ist es?«

Ärgerlich, fast verächtlich, zuckte Raiski die Achseln.

»Es ist doch dasselbe Bild!« sagte er. »Ich habe es nur geändert; bemerktest du denn nicht,« fuhr er heftig auf Ajanow los, »daß jenes dort ganz ohne Leben, ohne Feuer war, so welk, so schläfrig – und dieses hier! . . .

»Mag sein – aber es hatte vorher mehr Ähnlichkeit!« versetzte Ajanow hartnäckig. »Und das da . . . sie sieht ja aus, als wäre sie betrunken! . . .«

»Du selbst bist betrunken! Pack’ ein mit deinem Urteil!«

»Ich verstehe ja nicht viel davon,« bemerkte Ajanow gleichgültig.

Raiski gab ihm keine Antwort und fuhr ärgerlich mit dem Pinsel über das Haar und das Samtkleid des Porträts. Eine Viertelstunde später kam der Maler Kirilow, den Raiski erwartete. Es war ein kleiner, hagerer Mann, der ganz in seinem riesigen Vollbart zu verschwinden schien. Von seinem Gesicht war fast nichts zu sehen, nur die tiefliegenden Augen strahlten in unnatürlichem Glanze, und die Nase trat wie ein schroffer Buckel aus dem Haarwald hervor, mit der Spitze wiederum an den Bartwuchs stoßend, in dem die Wangen, das Kinn, die Lippen gänzlich verschwanden. Auch der Hals war vom Bart verdeckt, und der Rumpf steckte in einem sackartigen, weiten, faltig herabhängenden Paletot, unter dem die Schöße eines zweiten Paletots oder Rockes, der ganz mit Farbenklecksen bedeckt war, sichtbar wurde. An den Füßen trug er ein Paar weite Schuhe, die beim Gehen ein weich schlurrendes Geräusch verursachten; sein Hut war abgegriffen und hatte einen fettigen Glanz und eine verbogene Krempe.

Wenn man diese nachdenklich in sich gekehrten, glühenden Blicke und dieses strenge, unbewegliche, gleichsam unter dem dichten Haarwuchs schlummernde Antlitz sah, wenn man diesen kleinen Menschen in seiner düsteren Künstlerzelle mit der Palette vor der Staffelei erblickte, wie er den wilden, durchdringenden Blick gleich einem Nagel in das Antlitz des Heiligen hineinbohrte, den er gerade malte, dann glaubte man nicht einen freien, nach den sonnigen Seiten des Lebens ausschauenden Künstler vor sich zu haben, sondern eher einen Märtyrer, einen Mönch der Kunst, der die Freuden des Daseins haßte und nur seine Leiden und Bitternisse begriff. Und von dieser Art schien Kirilow in der Tat zu sein.

Schweigend, ohne sich zu rühren, hatte er sich in Sophies Porträt vertieft. Voll Unruhe beobachtete Raiski den Ausdruck seines Gesichtes. Ganz erstaunt hatte Kirilow im ersten Moment seinen Blick auf dem Gesicht des Porträts ruhen lassen, und namentlich der Ausdruck der Augen schien seinen Beifall zu finden: die Falten auf seiner Stirn glätteten sich, als stände ein schönes Traumbild vor seiner Seele.

Dann aber schien er plötzlich zu erwachen; ein Erstaunen, das nicht mehr freudiger Art war, sondern eher etwas Betrübtes hatte, trat auf sein Gesicht, und die Stirn legte sich wieder in Falten. Er wandte sich ab, legte den Hut auf den Tisch, nahm eine Zigarette aus der Tasche und zündete sie an.

»Nun – wie lautet Ihr Urteil?« fragte Raiski.

»Haben Sie mich deswegen kommen lassen?« fragte Kirilow.

»Wie denn? Warum?«

»Ich muß nach Hause gehen – leben Sie wohl! . . .«

»So sagen Sie doch etwas.«

»Was soll ich sagen? Es verlohnt sich nicht . . .«

»Nun ja, euch könnte jemand die Schönheit selbst vom Himmel herunterholen – ihr würdet immer nur sagen: es lohnt nicht!« erwiderte Raiski gekränkt. »Ihr seid ja Tote, alle miteinander! . . . Sie sagten doch früher selbst, daß ich Talent habe, Semjon Semjonytsch . . .«

»Warum soll ich’s Ihnen also wiederholen, wenn ich’s Ihnen doch schon gesagt habe?« versetzte Kirilow mit einem Seufzer. »Wenn Sie auf diesem Wege weitergehen und sich an solche Modebilder wegwerfen . . .«

»Modebilder! Wissen Sie, wer das ist?«

»Wer mag’s sein?« entgegnete Kirilow, einen flüchtigen Blick auf das Porträt werfend. »Irgendeine Schauspielerin . . .«

»Was reden Sie da! . . . Als ob sie beide den Verstand verloren hätten: der eine hält sie für betrunken, der andere für eine Schauspielerin! Was soll ich da noch mit Ihnen reden!«

Raiski schickte sich an, das Porträt zu verhängen.

»Ich will’s ihr hinbringen: hoffentlich wird das Original selbst gerechter urteilen! . . . Von Ihnen, Semjon Semjonytsch, hätte ich wenigstens ein ermutigendes Wort erwartet – Sie haben früher in meinen Arbeiten stets etwas gefunden, einen lebendigen Funken . . .«

»Auch hier ist ein lebendiger Funke!« sagte Kirllow und zeigte nach den Augen, den Lippen, der hohen Stirn. »Das ist ganz vortrefflich gemacht . . . ich kenne das Original nicht, doch sehe ich, daß hierin viel Wahrheit liegt. Das würde sich herrlich machen bei einem ernsten, würdigen Sujet. Und Sie haben diese Augen, diese Leidenschaft, diese Wärme irgendeiner leichtfertigen Person, einer Puppe, einem koketten Dämchen gegeben!«

»Nein, Semjon Semjonytsch: ein würdigeres Sujet könnte ein Künstler wohl kaum wählen! Das ist keine leichtsinnige Person, keine Kokette: sie wäre würdig, durch Ihren Pinsel verewigt zu werden. Sie ist das Ideal strengen, keuschen Stolzes; sie ist eine Göttin, wenn auch eine vom heidnischen Olymp; ganz Ihr Genre ist sie: nicht von dieser Welt . . .!«

»Dieses Gesicht verlangt einen andachtsvollen, tief in Gebet versunkenen Blick, nicht diesen Ausdruck sinnlicher Leidenschaft! . . . Ich will Ihnen etwas sagen, Boris Pawlowitsch: machen Sie aus diesem Porträt ein Gemälde! Kehren Sie Ihrer Welt den Rücken, machen Sie sich los von diesen Torheiten, dieser Scherwenzelei . . . Verhängen Sie die Fenster, schließen Sie sich auf drei, vier Monate ein . . .«

»Warum?«

»Machen Sie eine Betende daraus!« sagte Kirilow und zog sein Gesicht so zusammen, daß auch die Nase verschwand und es ganz einer Bürste glich. »Fort mit diesem Samt, dieser Seide! Lassen Sie sie knien, auf der bloßen Erde, auf den nackten Steinen, legen Sie ihr einen groben Mantel um die Schultern, falten Sie ihre Hände auf der Brust. . . Hier, hier!« – Er fuhr mit dem Finger, als wollte er zeichnen, über den Wangen des Porträts hin und her. »Weniger Licht! Fort mit diesem Fleisch! Machen Sie den Ausdruck der Augen weicher, lassen Sie die Lider sich etwas mehr schließen – und Sie werden selbst in die Knie sinken und beten . . .«

»Nein, Semjon Semjonytsch, ich will nicht ins Kloster gehen und ein Mönch werden; ich will Leben, Licht und Freude! Ich kann die Menschen nicht entbehren, ich verehre die Schönheit und liebe die Schönheit« – er warf einen zärtlichen Blick auf das Porträt – »mit Leib und Seele liebe ich sie, und ich gestehe es offen . . .« er seufzte lächelnd – »vielleicht mehr mit dem Leibe . . .«

Kirilow machte eine unwillige Handbewegung und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.

»In Ihnen geht ein Talent zugrunde,« sagte er. »Sie werden sich nicht durchringen, werden Ihren großen Weg nicht finden. Sie haben nicht Widerstandskraft genug; wohl besitzen Sie Leidenschaften, aber keine Leidenschaft, keine Geduld! Auch hier sind die Hände wieder nur angedeutet, und sie sind obendrein nicht richtig; auch die Schultern haben kein Verhältnis; und Sie sind schon ganz weg vor lauter Stolz, Sie zeigen Ihr Bild, prahlen damit . . .«

»Nicht auf die Details der Ausführung kommt’s doch an, Semjon Semjonytsch!« entgegnete Raiski. »Sie sagten selbst, daß in den Augen, im Gesicht viel Wahrheit ist; und ich fühle, daß ich das Geheimnis erfaßt habe. Was hat das mit dem Haar, den Händen zu tun? . . .«

»Erlauben Sie, erlauben Sie, nur keine Winkelzüge!« unterbrach ihn Kirilow. »Sie verstehen einfach nicht, Hände zu malen, und haben nicht die Geduld, es zu lernen! Wenn dieser Arm hier ausgestreckt wird, ist er kürzer als der andere. Ihre Schönheit ist in Wirklichkeit ein Krüppel, Sie treiben Ihren Scherz mit ihr, man darf aber weder mit dem Leben noch mit der Kunst scherzen. Das eine ist so streng und ernst wie die andere: darum gibt’s auch so wenig echte Menschen im Leben, und so wenig wahre Könner in der Kunst . . .«

Er holte tief Atem, und sein Gesicht schien sich noch tiefer in dem Barte zu verstecken.

»Nach Ihrer Meinung soll man also fliehen vor dem Leben, und vor den Menschen soll man finster die Brauen runzeln und niemals lächeln . . .«

»Ja, wenn Sie nichts dagegen haben; ja, das soll man!« unterbrach ihn Kirilow. »Wenn Sie in der Kunst etwas Höheres anstreben, etwas anderes wollen als nur ein süßliches Lächeln und runde Schultern, etwas Reineres und Edleres als schmutzige Hinterhäuser und betrunkene Bauern, dann sagen Sie sich los von Ihren Schönheiten und Ihren Schmausereien, werden Sie nüchtern, arbeiten Sie, unermüdlich, bis Ihnen die Sinne vergehen! Man muß fallen und wieder aufstehen, muß sterben vor Verzweiflung und allmählich wieder zum Leben erwachen, muß mitten in der Nacht aufstehen . . .«

»Das tu’ ich . . . beinah . . .« sagte Raiski. »Ich springe vom Lager auf, weine zuweilen, bin dem Wahnsinn nahe . . .«

»Verrückt scheint ihr mir alle miteinander zu sein!« bemerkte Ajanow gleichmütig.

»Ja – Sie springen auf, um diese ›Wahrheit‹ hier hinzuschmieren« – er zeigte auf die nackte Schulter Sophies.

»Nein, Sie müssen vom Bett aufstehen, um diese Gestalt da fünfmal, zehnmal umzuzeichnen, bis sie richtig ist! Das wäre Ihre Aufgabe für die nächsten vierzehn Tage: ich komme dann wieder und sehe mir’s an. Und nun leben Sie wohl!«

»Bleiben Sie noch, Meister! Bleiben Sie!« bat Raiski.

»Nein, lassen Sie mich gehen! Sie haben noch nicht die rechte Hochachtung vor der Kunst, noch auch vor sich selbst! Die Künstlerschaft ist wie ein Orden von Brüdern, ähnlich wie der Freimaurerorden: sie sind zerstreut in der ganzen Welt und haben doch nur alle ein Ziel. Sie sind wie die Tempelbauer König Hirams, die ihr Geheimnis hüten. Ja, so ist’s! Es geht nicht an, daß man ein lustiges Leben führt, alle Gesellschaften, alle Torheiten mitmacht, in den Salons verkehrt, Bälle besucht und so nebenher dichtet, zeichnet, malt oder den Meißel führt. Nein!« schrie er fast leidenschaftlich, fast grob auf Raiski los – »lassen Sie all diesen Firlefanz, werden Sie ein Mönch, wie Sie selbst sich ganz richtig ausdrückten, opfern Sie alles der Kunst, beten und fasten Sie, seien Sie klug wie die Schlangen und unschuldig wie die Tauben, und was auch rings um Sie vorgehe, wohin auch das Leben Sie verschlage, in welche Abgründe Sie auch stürzen, tragen Sie immer das eine Bekenntnis auf den Lippen, wahren sie sich immer das eine Gefühl, hegen und hüten Sie immer das heilige Feuer der Leidenschaft für die Kunst! Mag man Sie verfluchen und verachten um ihretwillen – gehen Sie nur immer Ihren Weg! Nur dann werden Sie zu den Berufenen gehören, wird Ihnen reiche Vergeltung, das heißt die Unsterblichkeit, zuteil. Noch haben Sie nicht den Mut und die Kraft, die dazu gehört – noch sind Sie nicht arm genug, um diesen Weg zu gehen. Verteilen Sie alles, was Sie haben, unter die Armen, und folgen Sie dem erlösenden Lichte des Schaffensdranges! Doch wie sollten Sie das! Sie sind ja ein ›Herr‹, in Samt und Seide geboren, und nicht im Stall, in der Krippe. Die Kunst liebt sie nicht, die großen Herren . . . sie hält sich an die Niedriggeborenen . . . Verhängen Sie dieses unanständige Weib da, oder machen Sie aus ihr eine ›Buhlerin zu den Füßen Christi‹! Leben Sie wohl! In vierzehn Tagen komme ich her, um wieder nachzusehen.«

Er warf das Ende der Zigarette in den Spucknapf, nahm seinen Hut und eilte hinaus, ehe noch Raiski Zeit fand, ihn zurückzuhalten.

»Ein merkwürdiger Heiliger!« sagte Ajanow. »Es scheint beinahe, als wenn er wirklich die Absicht hätte, ein Mönch zu werden! Der zerknüllte Hut, und dieser Rock mit den Farbenflecken, der ganze verhungerte, zerlumpte Kerl . . . der richtige Märtyrer! Trinkt er vielleicht?«

»Er trinkt nur Wasser.«

»Nun, dann wird er verrückt, oder hängt sich auf.«

Raiski seufzte tief auf.

»Ja,« sagte er – »das ist einer der letzten Mohikaner: ein wahrer, ganzer Künstler, der seinen Wert kennt! Aber die Kunst ist herabgestiegen von ihrem hohen Piedestal, sie wandelt unter den Menschen, schreitet durchs lebendige Leben – und so muß es sein! Was er predigt, ist Fanatismus!«

Unwillkürlich jedoch führte er den Vergleich, den Kirilow gezogen hatte, in Gedanken fort: er sah in sich den reichen Jüngling, der gern ins Himmelreich gelangen wollte und es nicht vermochte. Nachdenklich ging er im Zimmer auf und ab.

Tiefe Mutlosigkeit bemächtigte sich seiner: er war den Tränen nahe. In diesem Augenblick war er allen Ernstes bereit, alles von sich zu werfen und in die Wüste zu gehen, den schlechtesten Rock zu tragen, nur einen Gang zu essen, wie Kirilow, sich abzusperren gegen die Außenwelt, wie Sophie, und zu malen, zu malen, bis er nicht mehr weiter könnte: bis aus Sophie die büßende Sünderin geworden wäre . . .

Er nahm eine neuaufgespannte Leinwand, stellte sie auf die Staffelei und begann, mit Kreide in großen Zügen die Figur eines betenden Weibes zu entwerfen. Er ließ sie den Arm vorstrecken und begann eifrig, fast wütend, an den Fingern zu arbeiten; er wischte aus, zeichnete wieder, wischte von neuem aus – es wollte nicht gelingen!

Eine nagende Ungeduld quälte ihn, die beim ersten Mißlingen in grimmigen Ärger überging. Er wischte alles fort und begann von neuem zu zeichnen, ganz langsam, mit starken Strichen, als wollte er die Leinwand durchdrücken. Schon begann jene Verzweiflung, von der Kirilow gesprochen, an Stelle seines Ärgers zu treten.

Er legte die Kreide hin, wischte die Finger an seinem Haar ab und trat vor das Porträt Sophies.

»Soll ich das Bild wirklich ganz und gar ändern?« dachte er. »Hat Kirilow wirklich recht? Mein letztes Ziel, meine Aufgabe, meine Idee ist doch die Schönheit! Ich bin ganz erfüllt von ihr und will dieses strahlende Bild, das mich beherrscht, um jeden Preis verkörpern: wenn ich die Schönheit in ihrem Wesen richtig erfaßt habe – was will ich dann noch mehr? Kirilow sucht die Schönheit im Himmel, er ist ein Asket: ich suche sie auf Erden . . . Ich will das Porträt Sophie zeigen: was sie wohl dazu sagen wird? Und dann will ich es ändern – doch keine büßende Sünderin daraus machen!«

Er lachte unwillkürlich bei dem Gedanken, was wohl Sophie sagen würde, wenn er ihr von diesem Einfall Kirilows erzählte. Er beruhigte sich nach und nach, freute sich der ›Wahrheit‹, die in dem Porträt lag, und überließ sich wieder ganz seiner alten, ungebundenen Träumerei, seinen Vorstellungen von freier Kunst und freier Arbeit. Er hüllte sein Bild sorgfältig ein und machte sich auf den Weg, um es Sophie zu zeigen.

Die Schlucht

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