Читать книгу Die Schlucht - Иван Гончаров, Иван Александрович Гончаров - Страница 15
Erster Teil
Fünfzehntes Kapitel
ОглавлениеRaiski kehrte wie berauscht nach Hause zurück, er achtete kaum auf den Weg, das Treiben der Straße, die Passanten, die vorüberfahrenden Wagen. Er sah nur Sophie – sah sie im Bilde, in einem Rahmen von Samt und Spitzen, ganz in Seide und im Schmuck der Brillanten, doch war es nicht mehr die ruhige, allen Gefühlen unzugängliche Sophie von früher.
Er hatte in ihrem Gesicht die ersten schüchternen Strahlen des Lebens bemerkt, flüchtige Blitze der Ungeduld, dann der Unruhe und Furcht, und zuletzt war es ihm gelungen, eine gewisse Erregtheit, vielleicht ein unbewußtes Bedürfnis nach Liebe in ihr hervorzurufen.
Er hatte den Zweifel in ihre Seele geworfen, vielleicht Fragen in ihr geweckt, vielleicht auch das Bedauern über ein verlorenes Leben, mit einem Wort: er hatte sie in Wallung gebracht. Und in weiter Ferne sah er dann die Leidenschaft von ihrer Seele Besitz nehmen, sah er das Drama sich entwickeln, die Statue sich zum Weibe wandeln.
Vorläufig war er auch schon mit diesem winzigen Erfolge seiner Propaganda zufrieden; er hoffte, daß nun die Ahnen in ihren Augen von dem hohen Piedestal herabsteigen würden.
Noch zwei-, dreimal, dachte er, würde er den Zipfel des Vorhangs vor ihren Augen lüften und sie einen Blick in die strahlende Ferne tun lassen – dann wird ihr plötzlich das Verständnis für das Leben, das Glück aufgehen. Ihr Blick wird verwundert auf jemandem ruhen und sich wieder heben, um starr in die Ferne zu schauen— und wie im Handumdrehen wird sie umgewandelt sein.
»Wer aber wird dieser Jemand sein?« fragte er sich eifersüchtig. »Wird es nicht der sein, der zuerst in ihr den Funken angefacht, das Gefühl geweckt hat? Hatte er nicht ein Anrecht darauf, daß ihr Gefühl sich nun auch ihm zuwandte?«
Er blickte in den Spiegel und versank in Nachsinnen, trat dann ans Fenster, öffnete das Luftpförtchen und atmete die frische Luft ein. Die Klänge eines Violoncells drangen an sein Ohr.
»Ach, da beginnt dieser Kerl wieder auf seinem Instrument herumzusägen!« sagte er ärgerlich, während sein Blick das gegenüberliegende Fenster des Seitenflügels streifte. »Und immer dieselben Passagen!« fügte er hinzu und schloß das Luftpförtchen heftig.
Aber die Töne drangen noch immer, wenn auch nur gedämpft, an sein Ohr. Jeden Morgen und jeden Abend sah er diesen Menschen dort am Fenster, über sein Instrument gebeugt, hörte er die ewigen Wiederholungen dieser fast unmöglichen Passagen, fünfzigmal, hundertmal, ganze Wochen und Monate lang.
»Dieser Esel!« sagte Raiski, legte sich auf den Diwan und versuchte einzuschlafen, aber die Töne verstummten nicht, so tief er auch sein Ohr in das Kissen hineinwühlte. Immer und immer wieder, unaufhörlich klang dieses Sägen und Kratzen durch die Luft.
»Ein richtiger Esel, weiß Gott!« wiederholte er, setzte sich selbst ans Klavier und begann kräftig in die Tasten zu greifen, um das Violoncell zu übertönen. Dann schlug er paar lustige Triller an und spielte einige Motive aus verschiedenen Opern, um das Wimmern dort drüben nicht zu hören, und schließlich vergaß er es über seinen eigenen Improvisationen.
Vor seinem Geiste schwebte Sophie: während des Spiels sah er nur immer sie, schon war ihre Leidenschaft geweckt, schon liebte und litt sie – doch als er dann fragte: »Wer ist’s, den sie liebt?« – da brach sein Spiel plötzlich wie von selbst ab. Er erhob sich vom Klavier und öffnete das Pförtchen.
»Er spielt immer noch!« murmelte er ganz verwundert und wollte das Pförtchen sogleich wieder zuwerfen, als er plötzlich wie gebannt stehenblieb.
Das waren nicht dieselben Töne: nicht jenes Wimmern, jenes ewige Wiederholen der schwierigen Passagen vernahm er. Eine kräftige Hand führte den Bogen; er hatte das Gefühl, als strichen sie unmittelbar über seine Nerven hin. Die Töne weinten und lachten wie auf Geheiß, und es war, als ob sie den Zuhörer in ein wogendes Meer versetzten, ihn jetzt tief in den Abgrund schleuderten, dann plötzlich in die Höhe emporschnellten und durch die Lüfte forttrügen.
Welten öffneten sich vor ihm, Visionen tauchten auf, zauberische Gefilde weiteten sich. Mit Augen und Ohren lauschte Raiski dem Spiel: er sah nur die Gestalt dort in der bloßen Weste und in Hemdärmeln; eine Kerze beleuchtete die feuchte Stirn, die Augen waren nicht sichtbar. Boris schaute starr und unbeweglich nach ihm hin, wie dereinst nach Waßjukow.
»O, was ist das?« dachte er, während er erschauernd, fast erschreckt, diesen harmonisch hinflutenden Tonwellen lauschte.
»Was ist das?« wiederholte er seine Frage – »woher kommen ihm diese Töne? Wer hat sie ihm eingegeben? Verdankt er sie seiner monate- und jahrelangen Eselsarbeit, seiner Geduld und Ausdauer? Jahrelang Gipsköpfe zeichnen, jahrelang auf den Saiten herumsägen – ist’s das, was dem Bilde Feuer und Leben leiht, was die Kraft gibt, den magischen Punkt oder Strich hinzusetzen, was dem Spiel die Leidenschaft, den nervös vibrierenden Fingern die Zauberkraft einflößt? Alles das ist mir doch nicht fremd: der magische Punkt, und das nervöse Vibrieren, und die flammende Leidenschaft – sie sind hier, in meiner Brust!« Er schlug sich bei diesen Worten selbst gegen die Brust. »Nur eins vermag ich nicht: sie in einer anderen Brust aufflammen zu lassen! Ich bringe es nicht fertig, mit meinem Feuer das Blut des Zuschauers zu entzünden! Das heilige Feuer geht bei mir nicht über in die Töne, läßt sich nicht bannen in meine Bilder. Die Gestalten meiner Gedichte, meiner Romane gruppieren sich nicht harmonisch – wie geht das nur zu?«
Und wiederum lauschte er und war ganz Ohr: er hörte weder den Bogen noch die Saiten; das Instrument war nicht vorhanden, frei und begeistert schien die Brust des Künstlers selbst zu tönen.
Tränen der Rührung traten Raiski in die Augen, und er schloß leise das Pförtchen.
Geduld und Ausdauer – besaß er selbst sie denn nicht, diese wundertätigen Eigenschaften? Welche Anstrengungen machte er nicht, um . . . seine Pläne bei der Cousine durchzusetzen, wieviel Geist, Phantasie und Anstrengung verwandte er darauf, um in ihr das Feuer, das Leben, die Leidenschaft zu wecken! . . . Das war das Ziel, das seine Kräfte in Anspruch nahm!
»Du darfst nicht die Kunst ins Leben hinaustragen wollen,« flüsterte ihm jemand zu, »sondern mußt vielmehr Leben bringen in die Kunst! Hüte die Kunst, hüte deine Kräfte!«
Er trat an die Staffelei und zog den grünen Taft zurück: ein Porträt Sophies wurde sichtbar – ihre Augen, ihre Schultern, ihre Ruhe.
»Jetzt aber ist sie eine andere,« flüsterte er. »Anzeichen des Lebens sind in ihr erwacht, und ich sehe sie – da, da sind sie, vor meinen Augen! Wie soll ich sie nur festhalten?« Er nahm den Pinsel und die Palette, änderte ein wenig an den Augen und an der Linie der Lippen, legte dann mit einem Seufzer den Pinsel wieder hin und trat von dem Bilde weg. Das Kleid, die Spitzen, der Samt waren nur oberflächlich hingeworfen. Und die Hände waren nicht richtig.
Er betrachtete noch ein paar verstaubte Bilder: alles begonnene und flüchtig entworfene Skizzen; dann besah er einige Gemälde in Rahmen und verweilte da und dort länger am längsten bei dem Kopfe des Hektor.
Endlich nahm er ein kleines Ölgemälde in die Hand, es war eine rasch hingeworfene Porträtstudie, die ein blondes junges Weib darstellte. Er stellte das Bild auf die Staffelei, setzte sich an den Tisch und saß, den Kopf auf den Ellbogen gestützt, mit den Fingern in seinem Haar wühlend und den gramerfüllten Blick unbeweglich auf den Kopf gerichtet, eine ganze Zeit lang da.
Ganz in sich gekehrt, wie geistesabwesend, saß und saß er da. Dann erwachte er plötzlich aus seinem Brüten, setzte sich an den Schreibtisch und begann unter seinen Manuskripten zu suchen. Einige davon durchblätterte er kopfschüttelnd, zerriß sie und warf sie in den Papierkorb unter dem Schreibtisch; andere legte er auf die Seite. Unter den Stößen literarischer Versuche, die da aufgehäuft waren, fand er ein Heft mit der Aufschrift: »Natascha«.
Er hatte darin ein Episode aus seiner Vergangenheit geschildert, aus der Zeit, als er eben zum Leben erwacht war, als er liebte und geliebt wurde. Vor langer Zeit schon hatte er das geschrieben, unter dem Einfluß eines Gefühls, das ihn ganz erfüllte. Er wußte damals selbst nicht, warum er es niederschrieb – vielleicht war es in der sentimentalen Absicht geschehen, diese Blätter dem Gedächtnis seiner armen kleinen Freundin zu weihen, oder sie als Andenken an seine Jugendliebe für das Alter zu bewahren; vielleicht lebte aber auch schon damals in ihm die Idee des Romans, von dem er Ajanow gesprochen hatte, in dem er diese rührende Episode aus seinem eigenen Leben als Sujet verwenden wollte. Er sprach darin von sich in der dritten Person, und die Gestalt des zärtlich liebenden Weibes war ihm die Hauptsache in dieser leicht hingeworfenen Skizze.
». . . Als er vom Mittagessen in seinem Künstlerkreise nach Hause kam,« las Raiski halblaut in seinem Heft, »fand er auf dem Tische einen Zettel mit den Worten: ›Besuche mich, lieber Boris, ich liege im Sterben! Deine Natascha.‹
»O Gott, Natascha!« schrie er ganz außer sich und eilte die Treppe hinunter. Er stürzte auf die Straße, jagte in einer Droschke nach dem engen Seitengäßchen an der Erscheinungskirche, betrat hastig das Haus und eilte in das dritte Stockwerk hinauf. Zwei Wochen lang war er nicht dagewesen, zwei ganze Wochen lang – eine Ewigkeit! Wie ging es ihr?
Er blieb atemlos vor der Tür stehen. In seiner Aufregung griff er bald nach dem Klingelzug, bald ließ er ihn wieder los. Endlich zog er doch die Klingel und trat ein.
Die Wirtin – eine ältere Frau, die Gattin eines Beamten – trat ihm entgegen. Schweigend, mit einem Blick, in dem er deutlich den Vorwurf lesen konnte, nahm sie seine Verbeugung entgegen, und auf die im Flüsterton vorgebrachte Frage: ›Wie geht es ihr?‹ antwortete sie nichts, sondern ließ ihn an sich vorübergehen, schloß leise die Tür hinter ihm und entfernte sich.
Er trat auf den Zehenspitzen in das Zimmer und sah sich voll Unruhe nach Natascha um.
Im Zimmer stand ein mit Rips überzogener Diwan aus Mahagoniholz und davor ein runder Tisch; auf dem Tische erblickte er ein Arbeitskörbchen und eine angefangene Handarbeit.
In einer Ecke glomm vor einem Heiligenbilde ein Öllämpchen; an den Wänden standen Stühle mit dem gleichen Überzug wie der Diwan, auf dem Fenster zwei Blumentöpfe mit welkgewordenen Blumen und zwei kleine Vogelbauer, in denen die Kanarienvögel schliefen.
Er blickte nach dem Bettschirm und fürchtete sich, weiterzugehen.
›Wer ist da?‹ ließ eine leise Stimme hinter dem Schirm sich vernehmen.
Er trat hinter den Schirm. Dort lag im Bett zwischen den Kissen, vom trüben Licht einer kleinen Nachtlampe beleuchtet, eine blonde junge Frau. Ihr Gesicht war ganz bleich, wie wächsern, ihr Blick heiß und glühend, und die Lippen waren blaß und trocken. Sie wollte sich nach ihm umwenden; als sie ihn erblickte, machte sie eine lebhafte Bewegung und faßte mit der Hand nach ihrer Brust.
›Du bist es, Boris, du!‹ rief sie zärtlich mit matter Freude, reichte ihm ihre beiden abgemagerten, bleichen Hände und sah ihn immer wieder an, als wollte sie ihren Augen nicht trauen.
Er beugte sich über sie und küßte ihre Hände.
›Du bist bettlägerig – und hast mich bis heut nichts davon wissen lassen!‹ sagte er im Tone des Vorwurfs.
Sie versuchte mit ihrer schwachen Hand seine Hand zu drücken, vermochte es jedoch nicht und ließ den Kopf wieder in die Kissen sinken.
›Verzeih, daß ich dich herbemüht habe,‹ brachte sie mit Mühe hervor —›ich sehnte mich so, dich zu sehen! Seit einer Woche liege ich im Bett: ich hatte solche Schmerzen in der Brust . . .‹
Sie seufzte. Er hörte nicht, was sie sagte, sondern blickte nur voll Entsetzen in ihr Gesicht, das ihm noch jüngst so heiter zugelächelt hatte. Was war aus ihr geworden? ›Was ist mit dir? . . .‹ wollte er fragen, doch blieben ihm die Worte in der Kehle stecken, und in plötzlicher Aufwallung barg er sein Gesicht neben dem ihrigen in den Kissen und brach in lautes Schluchzen aus.
›Was denn? Was ist denn?‹ fragte sie und streichelte zärtlich seinen Kopf: sie machten sie so glücklich, diese Tränen. ›Es ist nichts von Bedeutung, sagte der Doktor, es wird vorübergehen . . .‹
Aber er hörte nicht auf zu schluchzen: er begriff, daß es nicht vorübergehen würde.
›Ich dachte, du würdest mich aufheitern. Ich hatte solche Langeweile und solche Angst, als ich hier so allein lag . . .‹ Sie fuhr zusammen und blickte um sich. ›Deine Bücher habe ich alle gelesen, sie liegen dort auf dem Stuhle,‹ fügte sie hinzu. ›Wenn du sie durchblätterst, wirst du am Rande meine Bemerkungen finden; ich habe mit dem Bleistift alle Stellen unterstrichen, die mich . . . an unsere Liebe . . . erinnerten . . . Ach, ich bin so matt, ich kann nicht sprechen . . .‹ Sie hielt in ihrer Rede ein und netzte mit der Zunge ihre heißen Lippen. ›Gib mir zu trinken . . . dort . . . auf dem Tische . . . ist Wasser!‹
Sie trank ein paar Tropfen und zeigte dann auf eine Stelle des Kissens – dahin möchte er seinen Kopf legen, gab sie ihm durch ein Zeichen zu verstehen. Sie legte ihre Hand auf seinen Kopf, und er trocknete heimlich seine Tränen. ›Du wirst dich hier langweilen,‹ flüsterte sie leise. ›Verzeih, daß ich dich hergebeten habe . . . Wie wohl mir jetzt ist – wenn du wüßtest!‹ sprach sie selbstvergessen, halb wie im Traume, und fuhr mit der Hand durch sein Haar. Dann legte sie ihren Arm um seinen Hals, blickte ihm in die Augen und versuchte zu lächeln. Er erwiderte schweigend, mit Zärtlichkeit, ihre Liebkosungen und hielt gewaltsam die Tränen zurück, die sich ihm in die Augen drängten.
›Wirst du heut bei mir bleiben?‹ fragte sie und blickte ihm dabei in die Augen.
›Den ganzen Abend, die ganze Nacht! Ich verlasse dich nicht, bis . . .‹
Mit Gewalt drängten sich ihm die Tränen in die Augen.
›Nein, nein, warum? Ich will nicht, daß du dich grämst . . . Beruhige dich, leg’ dich schlafen – mir fehlt nichts, wirklich nichts . . .‹
Sie versuchte zu lächeln, vermochte es jedoch nicht.
›Ich will dir etwas sagen – aber du darfst nicht böse werden . . .‹
Er drückte ihre feuchte Hand.
›Ich habe nämlich eine List gebraucht . . .‹ flüsterte sie, ihre Wange an die seine legend. ›Seit vorgestern fühle ich mich weit besser, und ich schrieb dir, daß ich im Sterben liege . . . Aber ich wollte dich nur hierher locken . . . verzeih mir!‹
Sie lächelte, er aber ward starr vor Entsetzen: er sah und hörte, wie es mit dieser Besserung stand. Doch er versuchte zu lächeln, drückte krampfhaft ihre Hände und ließ den ängstlichen Blick bald über ihre Gestalt, bald durchs Zimmer schweifen.
Ganz plötzlich war er aus dem hellerleuchteten Saal, aus dem fröhlichen Kreise seiner Freunde, junger Künstler und schöner Frauen, in dieses schlichte Zimmer gekommen. Er setzte sich auf den Stuhl neben ihrem Bett und vertiefte sich in die Bilder seiner Phantasie: in schneidendem Kontrast erschien ihm sein ungebundenes, lustiges Leben zu diesem Schmerz, der sich plötzlich in seine Seele gesenkt hatte. Dort der große, hell und heiter erleuchtete Raum, die fröhlichen Genossen, in schwellender Jugendkraft und Gesundheit, heitere Lieder singend, angeregt plaudernd, beim üppigen Mahle, schäumende Becher auf der Prunktafel und duftende Blumen. Und zwischen ihnen, den Freunden, die fröhlichen Gesichter junger Frauen, in Lebenslust und Schönheit erstrahlend: Schauspielerinnen, Sängerinnen, Tänzerinnen, neben den Künstlern die goldene Jugend – Schönheit, Geist, Talent, Humor, kurz alles, was die Sonnenseite des Lebens bietet, in berauschender Harmonie beisammen! Und nun waren ihm plötzlich hier, in diesem ärmlichen, kleinen Zimmer, angesichts dieses früh vernichteten, vor seinen Augen verlöschenden Lebens die dunkelsten Schatten des Daseins entgegengetreten.
Dort hatte er die in jugendlicher Frische strahlende Stirn, die herrlichen Augen, das in üppigen Flechten über Nacken und Schultern herabwallende Haar und die volle Büste der Königin des Festes bewundert. Und hier sahen ihn die eingefallenen, kaum noch flackernden Augen der Sterbenden an, ihr Haar erschien trocken und farblos, und der Körper war zum Skelett abgemagert . . . Der furchtbare Gegensatz der beiden Bilder schnitt ihm tief ins Herz; ein unüberbrückbarer Abgrund schien zwischen ihnen zu liegen – und doch waren sie beide wahr und wirklich. In einer Galerie hätte man sie nicht nebeneinander hängen dürfen, das Leben aber stellte grausam das eine neben das andere – und er stand da und starrte darauf mit verstörtem, stierem Blicke.
Ein Schauer des Entsetzens, der tiefsten Seelenqual überlief ihn. Unwillkürlich gruppierte er die Gestalten, gab er jeder von ihnen, auch sich selbst, die Haltung, die die Komposition des Ganzen zu verlangen schien, fügte er Fehlendes hinzu, beseitigte er das Überflüssige. Und während die Phantasie so in seinem Innern erbarmungslos arbeitete, erschrak er zugleich über diesen seelischen Prozeß, faßte mit der Hand nach seinem Herzen, um den Schmerz zurückzudämmen, das erstarrte Blut zu erwärmen und die furchtbare Pein seiner Seele zu beschwichtigen, die sich bei jedem schmerzlichen Aufseufzen der Kranken in einem gellenden Aufschrei Luft zu machen suchte.
Diese Liebe auf dem Sterbebett sengte sein Herz wie glühendes Eisen; jede Liebkosung nahm er mit einem Schluchzen entgegen, wie eine Blume, die von einem Grabe gepflückt war.
Als sein Schmerz ein wenig zur Ruhe gekommen war und er nur noch die schweren Atemzüge Nataschas vernahm, rollte sich vor seinem Auge die Geschichte dieses jungen Menschenlebens auf, das da vor seinen Augen erlosch. Er sah sie als ganz junges Mädchen, mit offenem, leicht verschämtem Blick, unter der schwachen Aufsicht einer armen, kranken Mutter heranwachsend.
Er hatte sie in einem gefährlichen Augenblick kennengelernt, als ihrer jugendlichen Unwissenheit und Unschuld schlimme Fallstricke bereitet wurden. Unter der Maske der Teilnahme und alter Freundschaft hatte ein vermeintlicher Freund der Mutter eine Pension erwirkt und ihr auch den Arzt geschickt. Jeden Abend erschien der alte, bereits ergraute Wüstling, um unter dem Vorwande, die Mutter zu besuchen und sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, seine Verführungskünste bei der Tochter zu versuchen. Die Mutter erlag damals langsam derselben Krankheit, der jetzt, nur wenige Jahre später, auch die sie überlebende Tochter zum Opfer fallen sollte. Raiski hatte damals sogleich die Sachlage durchschaut und war entschlossen, die Tochter zu retten.
Er meinte es aufrichtig mit seinem Rettungswerk, öffnete der Mutter wie der Tochter die Augen über die wahren Absichten des »Wohltäters« und verliebte sich dabei selbst in Natascha. Er fand Gegenliebe bei ihr, sie wurden glücklich miteinander und empfingen den Segen der sterbenden Mutter für ihren Herzensbund.
Sie meinten es beide so gut, so ehrlich miteinander. Er achtete ihre Unschuld, sie schätzte sein treues, aufrichtiges Herz – beide sahen im ehelichen Bunde den natürlichen Abschluß ihrer Liebe, und beide waren zu schwach, um auszuharren . . .
Ein halbes Jahr brachte die Mutter auf dem Krankenlager zu, dann starb sie. Ihr Grab stand zwischen ihnen und dem Traualtar— die tiefe Trauer, die sich plötzlich auf Nataschas junges Leben gesenkt hatte, griff den zarten, von der ererbten Krankheit bedrohten Organismus schwer an, während zugleich, noch stärker als die Krankheit, die Liebe mit ihrer Ungeduld und ihrem Hunger nach Glück an ihm zehrte.
Die Ärzte setzten den heißen Wünschen der beiden Liebenden ihr Machtwort entgegen: sie müßten, hieß es, drei bis vier Monate warten, ehe sie vor den Altar träten. Aber die Liebe wartet nicht – sie riß sie mit sich fort.
Er hatte sie wohl vor dem alten Wüstling und vor der Not gerettet, nicht aber vor sich selbst. Sie liebte ihn nicht mit verzehrender, flammender Leidenschaft, sondern mit einer furchtlosen, unerschütterlichen Hingebung, ohne Tränen, ohne Qualen, ohne Opfer, weil sie nicht begriff, was ein Opfer ist, wie man lieben und doch wieder nicht lieben könne.
Für sie hieß lieben so viel wie atmen, leben – nicht lieben dagegen erschien ihr gleichbedeutend mit nicht atmen, nicht leben. Wenn er sie fragte: ›Liebst du mich? Wie?‹ – dann umschlang sie seinen Nacken, preßte ihn ganz fest an sich und sagte nach Kinderart: ›So liebe ich dich, siehst du!‹ Und fragte er sie: ›Wirst du je aufhören, mich zu lieben?‹ – dann sagte sie nachdenklich: ›Ja, wenn ich sterbe!‹
Sie liebte, ohne etwas zu verlangen, ohne einen Wunsch zu äußern, sie nahm den Freund so hin, wie er war, und kam nie auch nur auf den Gedanken, daß er vielleicht anders sein könnte oder sollte. Niemals fiel es ihr ein, zu fragen, ob es nicht noch eine andere Art zu lieben gebe, oder ob alle so liebten wie sie.
Er aber träumte von einer Leidenschaft, die sich in endlos wechselnden Formen offenbarte, von funkelnden Blitzen, von einer heißen Glut, einer starken, lodernden, eifersüchtigen Liebe, der die Zeit nichts anhaben konnte, die mit der Dauer nicht an Kraft verlor.
Natascha war voller, schöner geworden, sie war heiter und froh – niemals jedoch erschien auf ihrem Gesichte jener geheimnisvolle Strahl verhaltenen, stillen Entzückens, nie zuckte in ihrem Auge jener süße Wahnsinn, in dem die flammende Leidenschaft aus der heiß durchloderten Seele emporschlägt.
Und doch war alles da, was zu dauerndem Glücke gehörtet ein stiller, behaglicher Winkel, in dem das Herz sich heimisch fühlen konnte, und eine lohnende, schöne Lebensaufgabe für den Geist: an der eigenen Vervollkommnung zu arbeiten und zugleich diese junge, empfängliche Frauenseele zu entwickeln und zu leiten. Auch das war ja schöpferische Arbeit: so auf ergiebigem Boden für sich selbst zu schaffen und das lebendige Ideal des eigenen Glückes zu gestalten.
Aber seine Phantasie hatte ein Verlangen nach dem Mannigfaltigen, dem Wechsel, der Unruhe. Rastete sie, so schlief sie ein, sein Leben kam gleichsam zum Stillstand. Sie aber wußte nichts davon, hatte nicht den geringsten Argwohn, welche böse Schlange neben der Liebe in seinem Herzen lauerte.
Von dem Augenblick an, da sie ihn liebgewonnen hatte, war in ihren Augen und ihrem Lächeln ein stilles Paradies aufgeleuchtet: zwei Jahre lang hatte es darin gelebt, und noch jetzt strahlte es aus den sterbenden Augen. Die erkaltenden Lippen flüsterten unverändert, wie im Anfang: ›Ich liebe‹ – und die Hände wiederholten die zärtlichen Liebkosungen, die sie gewöhnt waren.
Von ihrer Liebe ermüdet, war er zuweilen für ganze Wochen und Monate verschwunden, und als er dann wiederkam, hieß ihn dasselbe Lächeln, derselbe stille Glanz der Augen, dasselbe zärtliche Liebesgeflüster willkommen.
Er war überzeugt, daß das immer so sein würde, und er freute sich anfangs dieses sicheren Besitzes; bald aber fand er in dieser Sicherheit ein Körnchen Langeweile, und damit begann der Zerfall seines Glückes.
Niemals ein Vorwurf, eine Träne, ein erstaunter oder beleidigter Blick, weil er nicht mehr so war wie früher, weil er morgen wieder ein anderer sein würde als heute, weil sie ihre Tage allein und verlassen, in quälender Einsamkeit zubringen mußte.
Ihr Herz, ihr Sinn wußte nichts von Klagen und Tränen, kein unwilliges Wort kam von ihren Lippen. Sie ahnte nicht, daß es Leid und Tränen gab für ein liebendes Herz, daß man eifersüchtig sein, Wünsche haben, ja sogar fordern dürfe auf Grund der Rechte, welche die Liebe verlieh.
Sie kannte nur ein Recht, hatte nur einen Wunsch: zu lieben. Sie war davon überzeugt, daß man nur so lieben, nur so geliebt werden könne, und daß alle Welt so liebe und so geliebt werde.
Seine Abwesenheit empfand sie wohl als eine unangenehme Zufälligkeit, doch nicht anders, als etwa seine zufällige Erkrankung. Und kehrte er dann zurück, so schwelgte sie in stiller, demütiger Glückseligkeit und war vollkommen überzeugt davon, daß, wenn er fortblieb, es eben nicht anders sein konnte.
Wohl war ihr im Leben auch von anderer Seite schon Böses zugefügt worden: sie war erblaßt vor Schmerz, vor Bestürzung, war in die Knie gesunken vor Schreck und hatte unbewußt gelitten – aber voll Demut hatte sie das alles hingenommen, ohne zu wissen, daß man eine Beleidigung erwidern, daß man Böses mit Bösem vergelten könne.
Sie hing sich gleichsam an das, was ihrem Herzen sympathisch war, und starb aus lauter Anhänglichkeit, immer in dem Glauben, daß es nur so und nicht anders sein könne.
Sie war wie ein reines, leuchtendes Bild, wie eine der Greuzeschen Gestalten, voll einfältiger, unbewußter Lieblichkeit und Liebessehnsucht, liebend in die Welt gekommen und liebend, mit einem stillen, demütigen Gebet auf den Lippen aus der Welt scheidend.
Das Leben und die Liebe hatten ihr ihre Hymnen gesungen, und sie hatte ihnen nachdenklich, in süßem Sinnen gelauscht, und mit Tränen der Rührung und des Glaubens, ohne Vorwurf, daß ihr ein Schmerz, ein Leid angetan worden, schied sie aus dem Dasein.
Sie starb als ein Opfer mangelhafter Erziehung und Aussicht, als ein Opfer der dumpfen Enge, in der sie ihre Kindheit verbracht hatte, und des ererbten Krankheitskeimes, der sich in ihrem Organismus weiter entwickelt hatte – starb, weil dieses ewige ›Es muß so sein‹, ob sie gleich keinen Widerstand leistete, sich doch schwerer und schwerer auf ihre schwache, junge Brust legte und sie erdrückte.
Sie hätte, selbst wenn sie alt geworden wäre, niemals das Leben oder den Freund angeklagt, hätte ihm wegen seiner unbeständigen Liebe nie Vorwürfe gemacht noch überhaupt jemandem an ihrem Schicksal Schuld gegeben, wie sie auch jetzt niemandem die Schuld an ihrem Tode zuschrieb. Für ihr ganzes schmerzensreiches, martervolles Leben wie für ihren vorzeitigen Tod hatte sie nur das eine Wort: ›Es muß so sein.‹
Sie fragte niemals, was diese Apathie, diese Langeweile, dieses Schweigen bedeute, das im Wesen des Freundes oft zutage trat, wenn er bei ihr weilte. Sie ahnte nicht, daß seine Liebe sich überlebt hatte, und was der Grund davon war.
Er aber dachte oft, wenn er so mürrisch und schweigend neben ihr saß, ohne auf ihr harmloses Liebesgestammel zu hören oder ihre zärtlichen Liebkosungen zu beachten: ›Nein – das ist nicht das Weib, das wie ein kräftiger Strom in mein Leben einbricht und, alle Hindernisse hinwegreißend, sich breit über die Fluren ergießt. Oder das wie eine Feuersäule meinen Weg erhellt, meine Kräfte hervorlockt, ihre Energie entflammt und jeden Augenblick, jeden Gedanken mit zitternder Glut, mit Schönheit und Leidenschaft erfüllt . . . Nein, das ist nicht jene, die mein Leben zu lenken vermöchte, die mir helfen könnte, seinen Sinn und sein Ziel zu ergründen und die Aufgabe, die es mir stellt, zu erfüllen. Wo finde ich eine solche Löwin? Denn dieses Lämmchen da ist zufrieden, wenn es sein Gras zupfen, sich mit dem Schwanze die Fliegen jagen und sich an mich wie an eine Mutter anschmiegen kann . . . Das ist das Vegetieren einer Pflanze – das ist kein Leben mehr, sondern ein Träumen . . .
Er beantwortete ihr verliebtes Geflüster und ihre Zärtlichkeiten mit einem breiten Gähnen, nahm den Hut und verschwand für Wochen und Monate, um sich entweder in seine Kunststudien zu vertiefen oder an den geräuschvollen Schmausereien im Freundeskreise zu betäuben.
Jetzt saß er an ihrem Sterbebett – die Geschichte Nataschas und seiner Liebe zu ihr zog an seinem Geiste vorüber, und als nun das Bild der Sterbenden mit stummem Vorwurf vor sein geistiges Auge trat, da erbleichte er.
Er erinnerte sich der schweren Vernachlässigung, deren er sich ihr gegenüber schuldig gemacht hatte. Es war ja die einzige Art von Kränkung, die er ihr zugefügt hatte; aber selbst der Teufel wäre in die Knie gesunken vor dem stillen, sanften Blick dieser blauen Augen. Er hätte sich selbst verfluchen mögen, weil er als Entgelt für dieses junge Leben, das sich ihm – nur ihm allein – ganz und gar hingegeben, nicht einen ganzen Ozean von Liebe dargeboten hatte, daß er sie nicht mit aller Zärtlichkeit eines Vaters, eines Bruders, eines Gatten umgeben, nicht alle Widerwärtigkeiten, jeden Windhauch und vollends den Tod von ihr ferngehalten hatte.
›Den Tod! O Gott, gib ihr das Leben und das Glück und nimm dafür alles hin, was ich habe!‹ tönte es in ihm wie ein verzweiflungsvolles Gebet. Er sah sich in Gedanken zum Schafott emporsteigen und den Kopf auf den Richtblock legen, und er schrie:
›Ich bin ein Verbrecher! . . . Wenn ich sie auch nicht getötet habe, so ließ ich es doch zu, daß sie getötet ward. Ich wollte sie nicht verstehen – ich suchte Höllenflammen und Blitze dort, wo nur das stille, holde Leuchten eines Lämpchens war. Wer bin ich denn nur, o mein Gott? Bin ich wirklich ein Bösewicht? Habe ich wirklich? . . .‹
Er barg sein Gesicht wieder in dem Kissen, betete im stillen, sie möchte doch nur nicht sterben, und gelobte, mit allen Mitteln, bis zur Selbstaufopferung, fortan nur ihr Glück erstreben zu wollen.
›Zu spät! Zu spät!‹ rief ihm die Verzweiflung ins Ohr, und ihr schwerer Atem bestätigte das Wort.
Er stellte sich vor, wie er damals, als sie noch das einzige Ziel seines Lebens war und er sein eigenes Glück in Gedanken ganz mit ihrer Erscheinung verwob, gleich der Schlange, die sich der Farbe ihrer Umgebung anpaßt, sich ganz nach ihr gerichtet, gleichsam selbst ihr still leuchtendes Wesen angenommen hatte; die Aufrichtigkeit und Zärtlichkeit, die ihr sittliches Ich ausmachte, schien auch auf ihn übergegangen, ihr Lächeln war auch das seinige, er konnte mit ihr entzückt sein beim Anblick eines Vogels, einer Blume, er freute sich kindlich mit ihr über ihr neues Kleid, weinte am Grabe ihrer Mutter und ihrer Freundin, weil sie weinte, pflanzte mit ihr zusammen Blumen auf die Grabhügel der Toten . . .
In alledem, in seiner Freude über den Vogel, seinem Lächeln, seiner Trauer war er ebenso aufrichtig gewesen wie sie selbst. Wo waren diese Tränen, dieses Lächeln, diese naive Freude geblieben, warum erschienen sie ihm jetzt abgeschmackt, warum bedurfte er ihrer nicht mehr? . . .
›Worüber sinnst du nach?‹ ließ ihre schwache Stimme sich an seinem Ohr vernehmen. ›Gib mir zu trinken . . . Nicht doch, sieh mich nicht an!‹ fuhr sie fort, als sie getrunken hatte – ›ich bin so häßlich geworden! Gib mir den Kamm. . . und das Häubchen, ich will es mir aufsetzen. Sonst hörst du am Ende noch auf, mich zu lieben . . . weil ich so gar nicht mehr hübsch bin!«
Sie glaubte immer noch, daß er sie liebe! Er reichte ihr den Kamm und das kleine Häubchen; sie wollte sich kämmen, aber die Hand mit dem Kamme fiel ihr in den Schoß zurück.
›Es geht nicht, ich bin zu schwach!‹ sagte sie und verfiel in schwermütiges Sinnen.
Ihm aber ward zumute, als schnitte man ihm mit Messern ins Fleisch. Der Kopf brannte ihm heiß, er sprang auf und schritt, von den Bildern seiner Phantasie gejagt, hastig im Zimmer auf und ab. Wie nicht bei Sinnen, stürzte er bald in diese, bald in jene Ecke und wußte nicht, was er tat. Er ging zur Wirtin hinaus und fragte, ob der Arzt, den er Natascha geschickt hatte, sie auch wirklich besucht habe. Die Wirtin berichtete ihm, er sei dagewesen und habe auch noch andere Ärzte mitgebracht, und sie habe ihnen soundsoviel bezahlt: ›Ich habe alles aufgeschrieben,‹ fügte sie hinzu.
›Und was taten sie?‹ fragte er.
›Was sie immer tun: sie beguckten sie, behorchten ihre Brust, gingen ins andere Zimmer, zuckten schweigend die Achseln, nahmen den Geldschein, den ich ihnen in die Hand drückte, knöpften den Überrock zu und gingen eilig davon.‹
Raiski hörte mit innerem Erschauern diesen kurzen Bericht und trat wieder an das Bett. Das lustige Gelage mit den Freunden, der fröhliche Kreis der Künstler und Sängerinnen – alles das schwand mit der Hoffnung, ihr Leben zu verlängern, ganz aus seiner Vorstellung.
Er sah nur noch dieses verlöschende Antlitz, das da litt, ohne anzuklagen, das da lächelte voll Liebe und Demut; dieses hinschwindende Wesen, das um nichts bat, nicht einmal um ein wenig Hilfe, um ein wenig Kraft!
Und er stand da, voll Gesundheit und strotzender Kraft – dieser Kraft, die er noch heute so unnütz verschwendet, die er nicht dazu verwandt hatte, dieses Vögelchen vor Sturm und Unwetter zu behüten!
Warum hatte er sich nicht mit aller Gewalt hier festgekettet, warum war er fortgegangen, nachdem ihre Schönheit ihm etwas Alltägliches geworden, nachdem das Bild dieses ihm einst so lieben, süßen Köpfchens in seiner Phantasie verblaßt war? Warum war er, als andere Bilder sich dazwischendrängten, nicht standhaft und fest geblieben, nicht in stiller Treue bei ihr, der Treuen, verharrt?
Das wäre kein Opfer gewesen, sondern einfach eine Pflicht. Ohne Opfer, ohne Entbehrungen und Verzicht geht es nun einmal nicht ab im Leben: das Leben ist kein Garten, in dem nur lauter Blumen wachsen, dachte er unwillkürlich, während das Rubenssche Gemälde ›Der Liebesgarten‹ ihm vor die Seele trat. Glückliche, schöne Paare, von Amoretten umflattert, hat der Künstler dort unter den Bäumen abgemalt.
›Er ist ein Lügner!‹ schalt Raiski den flämischen Meister in Gedanken. ›Warum hat er in seinem Garten neben den Liebespärchen nicht auch armes Bettelvolk in Lumpen und sterbende Kranke dargestellt? Das würde der Wahrheit entsprechen! . . . Aber wäre ich denn imstande gewesen, dieses Opfer zu bringen?‹ fragte er sich selbst. Wie wäre es gekommen, wenn er wirklich sein Leben an das ihre gekettet hätte? Wäre solch ein Dasein nicht gleichbedeutend gewesen mit Schlaf, mit Apathie? Wäre der schlimmste Feind, die Langeweile, nicht sogleich bei ihm zu Gaste erschienen? In seiner Phantasie tauchte die ganze Perspektive dieses Lebens auf, das Bild dieses Schlafes, dieser Apathie, dieser Langenweile: er sah sich selbst, finster, rauh, unfreundlich – würde er sie durch solch ein Wesen nicht noch eher ins Grab gebracht haben? Verzweifelt wehrte er die Vorstellung dieser Möglichkeit ab.
›Die Wut, die Raserei kann man beherrschen,‹ so begann er sich vor sich selbst zu rechtfertigen, ›nicht aber die Apathie und die Langeweile! Die lassen sich nicht verbergen, beim besten Willen nicht! Mit der Zeit würde sie es erraten haben, wie es um mich steht, und das hätte sie getötet . . . Mit der Zeit? . . . Ja, nach Jahren vielleicht – und dann hätte sie sich damit ausgesöhnt, sich gewöhnt und getröstet— und hätte doch gelebt! Jetzt aber stirbt sie!‹ – Und sogleich wieder schwebte seinem Geiste ein ganzer Roman vor, eine ganze Tragödie, mit tiefen psychologischen Verwicklungen und dramatischen Effekten.
›Komm, setz’ dich hierher, zu mir!‹ ließ Nataschas Stimme sich vernehmen, und er ward aus seinen Gedanken gerissen . . .
. . . Acht Tage später ging er mit gesenktem Haupte hinter Nataschas Sarge einher; er war ganz verzweifelt darüber, daß er sie so vernachlässigt, so wenig sorgsam behütet hatte, tröstete sich jedoch andererseits damit, daß er sein Herz nicht habe zwingen können, daß er sie nie bewußt gekränkt habe, daß er immer, wenn er in ihrer Gesellschaft war, aufmerksam und zärtlich gegen sie gewesen, und daß nicht in seinem, sondern in ihrem Wesen jenes Element gefehlt habe, das ihren Herzensbund zu einem dauernd glücklichen hätte machen können. Und schließlich sei sie doch im Gefühle ihrer Liebe gestorben, sei nie erwacht aus ihrem stillen Traum, habe nie erfahren, daß er die Leidenschaft in ihr vermißte, diese Peitsche, die das Leben vorwärts treibt und die schöpferische Kraft, die produktive Arbeit in ihm auslöst . . .
›Nein, nein – sie ist nicht die, welche ich suchte: ein Täubchen ist sie gewesen, nicht ein Weib!‹ dachte er, während sein tränengefülltes Auge auf dem Sarge ruhte.
In stillem Sinnen stand er in der Kirche und sah, wie die erwärmte Luft um die Flammen der Kerzen vibrierte; nur wenige Leidtragende waren anwesend: allen voran stand ein dicker, hochgewachsener Herr, ein Verwandter der Toten, der gleichgültig eine Prise nahm. Neben ihm sah er das rote, ganz in Tränen aufgelöste Gesicht einer Tante, dann waren noch etliche Kinder und ein paar arme alte Frauen da.
Neben dem Sarge kniete eine Freundin Nataschas; sie war nach den anderen gekommen, schien aber mehr als sonst jemand durch den Todesfall ergriffen: ihr Haar war zerzaust, sie blickte in wildem Schmerz um sich, heftete dann den Blick auf das Gesicht der Toten, neigte die Stirn wieder tief bis zum Boden, daß sie diesen berührte, und brach in krampfhaftes Schluchzen aus . . .
Er schritt langsam nach Hause und ging nun zwei Wochen lang wie vor den Kopf geschlagen umher, ließ sich im Studiensaal nicht sehen, mied den Freundeskreis und durchirrte die einsamen Straßen der Vorstadt. Allmählich legte sich sein Schmerz, die Tränen versiegten, die herbe Qual verging, und in seiner Vorstellung blieb nur das Bild der vibrierenden Luft um die Kerzenflammen, der leise Grabgesang, das tränenfeuchte Gesicht der Tante und das wortlose, krampfhafte Schluchzen der Freundin . . .«
Hier endete das Manuskript.
Als Raiski es durchgelesen hatte, saß er eine Zeitlang in düsterem Nachsinnen da.
»Eine recht blasse Skizze!« sagte er für sich. »Jetzt schreibt man anders. Das ist ganz im Stil der ›Armen Lisa‹ gehalten. Auch ihr Porträt« – er trat an die Staffelei heran— »ist kein Porträt, sondern eine ganz flüchtige Studie.«
»Arme Natascha!« sagte er, gleichsam mit einem Seufzer ihr Andenken ehrend, und betrachtete das Bild. »Auch im Leben warst du nur sozusagen eine Studie, eine Skizze, kaum untermalt mit den Farben des Lebens – ganz wie auf meiner Leinwand hier und in meinem Manuskript! Ich muß beides umarbeiten, das Bild wie die Skizze!« Dann legte er mit einem Seufzer das Heft in den Schreibtisch zurück, nahm eine Anzahl weißer Blätter und begann den Plan seines neuen Romans zu entwerfen.
Die Episode, die er selbst erlebt hatte, erschien ihm jetzt als eine bloße Erinnerung, ja als ein fremdes Erlebnis. Er betrachtete sie ganz objektiv und stellte sie in den Vordergrund seines Programms.
Er schrieb bis zum Tagesanbruch, kehrte im Laufe des Tages mehrmals zu seinen Heften zurück, setzte sich, als er des Abends nach Hause kam, wieder an den Schreibtisch und notierte alles, was in seiner Vorstellung bereits festere Gestalt angenommen hatte.
Szenen und Charaktere, Porträts von Verwandten und Bekannten, die Gestalten der Freunde, der Frauen, die er gekannt, wurden ihm zu typischen Gebilden, und er füllte ein ganzes Heft mit ihrer Schilderung an. Er trug stets ein Notizbuch bei sich, zog oft mitten auf der Straße, in einer Gesellschaft, beim Mittagessen ein Blatt Papier und einen Bleistift heraus, schrieb ein paar Worte hin, steckte das Blatt weg, nahm es wieder vor und schrieb wieder, ging sinnend, wie selbstvergessen, umher, blieb mitten in der Rede stecken und lief plötzlich aus der Gesellschaft fort, um die Einsamkeit zu suchen.
Aber das Leben weckte ihn immer wieder aus seiner Träumerei, rief ihn hinweg von der schöpferischen Arbeit, von der Freude und der Qual, die die Kunst ihm gab, zu seinen wirklichen Freuden und wirklichen Qualen, unter denen ihm die Langeweile als die schlimmste erschien. Er eilte von Eindruck zu Eindruck, suchte die Erscheinungen zu erfassen, hielt ihre Bilder fast mit Gewalt in seinem Innern fest, und während er einerseits Nahrung für seine Phantasie verlangte, suchte und ersehnte er andererseits etwas, das seinem inneren Wesen einen festen Halt geben könnte.
Augenblicklich hatte er gewisse ihm selbst noch unklare Hoffnungen auf seine Cousine Bjelowodowa gesetzt und schwelgte in dem eigenartigen Reiz, den ihm die Annäherung an sie gewährte. Er wollte zunächst nichts weiter, als sie so oft wie möglich sehen und mit ihr sprechen, um in ihr das Leben und, wenn möglich, auch die Leidenschaft zu wecken.
Aber sie war unnahbar. Er begann bereits zu ermüden und Langeweile zu empfinden . . .