Читать книгу Ketzerhaus - Ivonne Hübner - Страница 18
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ОглавлениеEhedem wurden die kanonischen Strafen nicht nach, sondern vor der Lossprechung auferlegt, gewissermaßen als Prüfstein der echten Reue.
Christian Vollhardt streckte seine Beine aus, damit er es bequemer hatte, das Mädchen zu betrachten. Sie musterte ihn nicht weniger, als er sie. Er wusste seit jeher sein vorteilhaftes Äußeres, seine große, schlanke Gestalt und sein helles Haar bei den Mädchen in die Waagschale zu werfen. Dass er gut aussehend war, hatte er früh begriffen und er wusste, dass weder seine Herkunft, noch sein Berufsstand ihm die vortreffliche Partie eingebracht und ihm zu bescheidenem Wohlstand verholfen hatte. Nun war seine Gemahlin aber längst bei den Seligen und was sie ihm an Geldmitteln vermacht hatte, war so gut wie aufgebraucht. Blieben ihm noch das Haus und ein paar bewegliche Güter, die er anzutasten noch nicht betrunken genug gewesen war. Seine Ehe war nicht von großen Gefühlen geprägt gewesen. Die Kinder, die sie ihm geschenkt hatte, waren allesamt nach wenigen Tagen gestorben. Bis das letzte sie mit sich genommen hatte. Aber das Andenken an sie bewahrte er so, wie sie es als rechtschaffene, brave Bürgerin verdient hatte. Ihr Ableben im Kindbett war Fluch und Segen gewesen. Das Trauerjahr war vorbei und Christians Bedürfnisse waren lebendig wie ehedem.
Die meisten Mädchen, die er zu sich einlud, waren verzagt. Mit den meisten war nichts anzufangen. Diese hier jedoch bewegte sich, kaum dass sie das Stadthaus des Schwertfegers betreten hatte, zielsicher und selbstbewusst durch die Räumlichkeiten, wie es nicht einmal Vollhardts Haushälterin tat. Das Mädchen stellte sich an den Tisch, auf dem eine Karaffe mit Erlesenem stand. Christian Vollhardt war weder reich noch adelig, aber wenn es um sein kleines Vergnügen ging, sparte er sich den edlen Tropfen gern vom täglich Brot ab. Er war betucht des Erbes halber, aber er wusste, er würde gut haushalten müssen, wollte er seinen angeheirateten Wohlstand noch eine Weile genießen. Christian Vollhardt war kein Kaufherr. Er verstand es nicht, seine finanziellen Mittel zu vermehren, aber er verstand es, genau das vorzugeben. In den Augen der Mädchen war er wohlhabend und allein darum ging es ihm. Das Bürgerrecht hatte er sich schon vor seiner Heirat erkauft und vielleicht war ihm das zu Kopfe gestiegen. Er war immerhin Mitglied des Städtischen Rates, auch wenn er seines seligen, längst verstorbenen Schwiegervaters wegen und der Quote wegen im Rat saß und man auf seinen Ratschlag keinen Wert legte.
„Wollen wir dann anfangen?“, fragte das Mädchen, nachdem es sich eingeschenkt hatte. Vollhardt wies in die Richtung, wo sich das Heimlichste befand. Das Mädchen ging voraus, nicht ohne die Karaffe mit sich zu nehmen. Ihr blondes Haar endete in verspielten Löckchen, die mit jedem Schritt auf ihren Hüften tanzten. „Zwei Heller und nicht ganz“, sagte sie und Vollhardt wusste, was sie meinte. Er hatte bislang jedes seiner Mädchen zum ganz Äußersten und zum vollendeten Genuss gebracht. Das brauchte seine Zeit.
Er wies sie an, sich langsam zu entkleiden. Um nicht einen Moment dieses Aktes zu versäumen, platzierte er sich auf das breite, von Atlassen bedeckte Bett. Die Schabracken um den Bettkasten, Vorhänge und Teppiche waren allesamt Erbstücke seines verstorbenen Weibes, ebenso die Gemälde derer, die Christian nicht kannte, und das böhmische Kristall natürlich.
„Nicht so schnell“, murmelte er in sein Weinglas und das Mädchen hielt inne, die Fibeln vom Überkleid zu lösen. Das hölzerne Schuhwerk und die vielfach gestopften, wollenen Strümpfe hatte sie abgestreift, auch der Überwurf war längst zu Boden gegangen. Langsam fädelte sie die Schnüre des tief ausgeschnittenen Überkleides auf. Es war ein schlichtes Gewand mit an den Schultern befestigten, weiten Ärmeln, das das Mädchen jetzt vom Körper gleiten ließ. Er übersah geflissentlich die Schmutzflecken an gewissen Stellen des Unterkleides. Er würde ihr für ihre Treffen die Kleider seiner Verflossenen zur Verfügung stellen, damit der Moment des Entkleidens perfekt würde. Auch hatte es einen besonderen Reiz, die Ärmel selbst vom Schulterstück zu nesteln. Fürs Erste diente diese Schau der Güteprüfung. Seine Wahl bestätigte sich als qualitätvoll.
Die Rundungen blieben auch nach dem Entkleiden genau dort, wofür das geschnürte Kleid geworben hatte. Festes Fleisch. Er nickte zufrieden und versenkte den Blick ins Weinglas. Sie entschied, was weiter geschah. So schaffte er es, sie irgendwann ins Bett zu bekommen. Er bezahlte nicht so gut, dass sie sich bereitwillig und voll und ganz hergeben würde. Das brauchte Zeit, wie gesagt. Unter den gesenkten Wimpernkranz hindurch sah er, wie sie abwartend neben ihm lag, nackt und unschlüssig. Auf die Seite gedreht, begann sie, seinen Hosenlatz aufzuknöpfen, nahm ihm sein Weinglas ab und machte, dass ihm das Blut heiß durch die Adern schoss. Sie fesselte seinen Blick und er ließ sich keuchend in die Kissen zurückfallen. Es war viel zu schnell vorüber, weil er seit Wochen kein Mädchen mehr gehabt hatte. Keine der Dirnen vom Hotertor hatte ihm gefallen. Die Jüngeren waren dreckig, verlaust, verfloht und überteuert. Die Älteren waren nicht nur schmutzig und von Ungeziefer besiedelt, sondern obendrein auch noch zahnlos und verfilzt, sodass man nicht wusste, wie der Weg hineingefunden werden sollte. Sie waren in ihrer Verzweiflung so billig, dass selbst Christian skeptisch geworden war. Nein, er wollte eine frische, die nur ihm zu Diensten war und sonst keinem. Sie war ja keine Dirne. Das hatte er klargestellt, als sie aufgetaucht war. Ja, Christians Mädchen kamen freiwillig zu ihm.
Lange bevor er sie angesprochen hatte, hatte er sie beobachtet: Auf dem Markt, beim Waschhaus, war er ihr bis zu ihrer Behausung gefolgt und hatte sich ihrer Armseligkeit vergewissert. In ihren Bemühungen, ein rechtschaffenes Leben zu führen, war ihm ihre Verzweiflung aufgefallen und der schmale Grad zwischen Recht und Unrecht, den sie täglich beschritt. Er hatte sie beobachtet, wie sie in der Fleischergasse ein etwa faustgroßes Stück von der Fleischbank geschnappt hatte. Sie war nicht hastig davongelaufen, sondern hatte die Fleischersfrau sogar noch in ein Gespräch verwickelt. Das hatte Christian beeindruckt. Auch, dass sie nach dem Diebstahl nicht gleich nach Hause, sondern erst einmal in die Kirche zum Beichten gegangen war. Ein schmaler Grad eben.
Als es kälter wurde, sie für Almosen auf dem Markt herumstrolchte und mit den Benediktinermönchen um den besten Bettelplatz stritt, hatte er sie angesprochen. Ob sie sich nicht bei ihm und einem Glas Wein aufwärmen wolle. Ein unverfängliches Angebot mit unmoralischem Hintergedanken. Das sah ein Blinder mit Krückstock.
Sie hatte ihn angeblafft, so eine sei sie nicht und sie würde ihn melden, wenn er sie noch einmal belästigte. Er hatte sein verführerischstes Lächeln gezeigt, sich entschuldigt und ihr gesagt, wo er wohne, falls sie es sich anders überlegen würde. Sein Angebot gelte uneingeschränkt, hatte er ihr zugeraunt, dann hatte er abgewartet. Als der erste Frost schon ein paar Nächte anhielt, hatte es an seiner Tür geklopft. „Ich bin keine Hure“, hatte sie zur Begrüßung gesagt. Sie erwiderte sein Lächeln, vorsichtig zwar, aber untrüglich. Dann nannte sie ihren Preis. Es hatte ihn überrascht, dass sie sich unter Wert verkaufte, oder vielleicht kannte sie die gängige Währung dieser Stadt nicht. Das hatte er ihr freilich nicht gesagt. Sie würde schon selbst dahinterkommen.
„Gut“, murmelte er, nachdem es vorüber war, wischte sich den Schweiß aus der Stirn und rieb seine Augen. Zuerst schälte sie sich aus dem Bett, wobei er sie beobachtete, wie sie sich in ihr Kleid schnürte. Dann rappelte er sich auf. Ächzend zog er seine Hose hoch. In der Kleidertruhe wühlte er nicht lange. „Hier“, förderte er ein blaues Überkleid zutage. „Das trägst du das nächste Mal.“
Das Mädchen beäugte das Stück Tuch in seiner Hand. „Von Eurer Verflossenen?“
Christians Zeigefinger schnellte vor. „Niemals erwähnst du mein verstorbenes Weib. Klar?“
Sie nickte und deutete auf das Stück: „Ich darf diese Farben nicht tragen. Ich bin keine Bürgerin.“
Er nickte. „Zieh es unters Cape. Es wird schon niemand darauf achten.“
Sie nickte abermals und nahm auch das blütenweiße Unterkleid entgegen, das er aus den Tiefen der Truhe barg. Sie vereinbarten einen festen Abend in der Woche, an dem er sie sehen wollte. Mehr als einmal wöchentlich konnte er sich nicht leisten. Das gestand er ihr freilich nicht. „Mehr Zeit hab ich nicht“, sagte er stattdessen, schob ein keckes Augenzwinkern hinterher, das dem Mädchen bedeuten sollte, dass er die übrigen Abende der Woche für verschiedene andere Vergnügungen reservierte. Und ganz gelogen war es ja auch nicht. Ein, zwei Mal traf er sich mit Kumpanen auf ein Bier im Ausschank, der eben an der Reihe war und Brautag hielt.
Nach einer wohligen Nacht kam Christian am folgenden Morgen der Einladung des ehrenwerten Hohen Rates nach und fand sich in der Ratsstube ein. Es war nicht weit von seinem Haus hinter dem Kloster bis zum Rathaus am Ring. Aber auch ein paar Schritte genügten, um sich an den Fäkalien zu beschmutzen, dem ganzen Dreck und Matsch, dem Gemüll in den engen Gassen, wo so große Unreinlichkeit herrschte. So war Christians schön bestickte Schaube schon nach wenigen Schritten besudelt, die Entenschnabelschuhe aus feinstem Leder durchweicht. Doch alle Scheiße dieser Welt hätte seine gute Laune nicht trüben können. Nicht einmal die langen Gesichter der Ratsherren.
Die besprachen sich bereits, da war die Versammlung noch nicht einmal durch den Bürgermeister eröffnet worden. Neben dem Bürgermeister Schwartze fanden sich die Räte und die Ältesten, ferner die Innungsvorstände und solche wie er, Christian, die Gassenrichter und Handwerker, die in ihrem Viertel nach dem Rechten sahen. Die elf Ratsmannen und sieben Schöppen tauschten die Ratsämter per Kooptation.
Christians Platz war hinten, nahe der Hallentür. Es war noch nicht lange her, da war neben den Brauern auch den Handwerkern genehmigt worden, den Rat zu besetzen, des Scheins wegen. Das Mitsprechen war aber eine andere Sache.
Das Sonderbare an der heutigen Sitzung war, dass auch die Kirche vertreten war. So bot der Pleban Martin Faber zur Rechten des Bürgermeisters eine von Sorgen tief gefurchte Miene, während er auf den Schwartze einredete und der wiederum seine Stirn in Falten legte. Faber war ein sonderbarer Kauz mit ganz eigenen klerikalen Vorstellungen und wartete immer wieder mit Überraschungen auf.
Bald hatte Christian dem Raunen der Menge entnommen, was den Rat der Stadt so in Aufruhr versetzte. Drei waren geächtet worden, keiner von ihnen auffindbar. Soweit die Kurzfassung. Christian wusste, er hatte eine gute Stunde Müßiggang vor sich, um an das Mädchen zu denken, mit dem er sich vergnügt hatte, während hier über die Suche nach den Geächteten verhandelt wurde. Zwei Männer und eine Frau, so hieß es, waren umtriebig geworden. Zumindest derer zwei Namen waren nicht unbekannt. Es handelte sich zum einen um den Stiefsohn des Braumeisters Tylike, dem Andres Hinterthur, zum anderen um des Druckermeister Weidners Erstgeborenen Matthes. Ein dritter Name allerdings war selbst den städtischen Lästermäulern unbekannt: Carolina Müllerin. Keine Tochter der Stadt Görlitz, sondern – wie es Schwartze versicherte – aus dem Anhaltischen stammend.
Diesen Dreien wurde zur Last gelegt, die ketzerischen Schriften eines gewissen Doktor Martin Luther verbreitet zu haben. „Nie gehört“, maulte der neben Christian sitzende und auf einem Strohhalm herumkauende Scharfrichter Alfons Sieder. Sein Geruch ging ihm voraus, denn sein Metier war nicht nur das Richten, sondern die Entsorgung der Kleidung der Toten und der Tierkadaver sowie die Häutung derselben, was dem Hoter, Häuter, den unschönen Beinamen verpasst hatte. Alfons Sieder hatte allemal Christians Respekt gepachtet, denn war nicht auch die Hygiene der Mädchen vom Hotertor des Hoters Aufgabe? Der schaute nicht Christian oder seinen Nachbarn zur anderen Seite an, sondern beobachtete die selbstherrlichen Herren vorn an der Tafel. „Zeitverschwendung.“ Er spuckte den Strohhalm zu Boden.
„Du ziehst es sicher vor, einen Dieb vor den Toren der Stadt zu hängen, als hier herumzusitzen“, versuchte es Christian mit einem Scherz, wurde aber von Sieder mit einem überdrüssigen Blick bedacht. Der Scharfrichter hatte kein Stimmrecht und keinen wirklichen Ratssitz hier. Ihn zu den Versammlungen einzuladen, ersparte den Gang in die Büttelei und das Wiederkäuen aller Beschlüsse. Die Büttelei lag nicht weit entfernt von Christians Haus, doch ein nachbarschaftliches Verhältnis war mit dem Hoter schwer herzustellen. Da war das Verhältnis zu den Ratten und Mäusen wärmer als zum Henker!
Weil Pleban Faber laut wurde, widmete sich Christian dem Schaustück da vorn. Faber echauffierte sich, er dulde auf keinen Fall die Verbreitung solcher Blasphemie in seinem feinen Städtchen. „Luthers Worte sind wie Gift!“, regte er sich auf, sodass er ein ganz rotes Gesicht bekam. „Und er vergiftet so viele. Die Jüngeren sind besonders gefährdet.“
„Aber ist die Reichsacht nicht ein bisschen zu hart …?“, mischte sich Bürgermeister Schwartze ein und erntete entschiedenen Widerspruch von Johannes Haß. Er war Schrift- und eigentlicher Wortführer in der Runde.
Haß erhob den Zeigefinger. „Wenn einer die Kurie und die römische Kirche anschwärzt, gehört er gehängt!“ Johannes Haß, Protonotarius aus Passion, suchte den Schulterschluss mit Scharfrichter Sieder. Und Christian sah aus dem Augenwinkel, wie jener geflissentlich, nicht aber eifrig, nickte.
„Nein! Zuerst die Zunge raus, die Luthers falsche Reden verbreiten, danach die Hände ab, die seine Schriften vervielfältigen und dann erst erhängt gehören die Drei!“, redete sich der Pleban in Rage und Sieder nickte auch dazu.
Als man das Kopfgeld auf Andres Hinterthur, Matthes Weidner und Carolina Müllerin aussetzte, ging ein Raunen durch die Menge. Zwei Gulden war eine Summe, die auch Christian gut gebrauchen konnte.
Dem Bürgermeister Schwartze vertrauten die Leute. Er hatte schon Schlimmeres durchgemacht, denn er war schon Ratsmann gewesen, als im Jahre des Herrn 1496 die Pest gewütet hatte. Er war es gewesen, der wusste, wie wandelbar der Tod und wie umtriebig das Sterben sein konnte. Aber anders als damals, da die Ratskür ausgefallen war, aus Angst vor jedem Atemzuge, mit dem man sich würde anstecken können, war jetzt die Streiteslust ungebrochen.
Ein Geächteter war immer eine angenehme Abwechslung, über die es sich zu sprechen lohnte. Seuchen gab es ja alle paar Jahre, aber Geächtete, die es wagten, vom einen in das andere Königreich zu fliehen? So wurde die Frage erörtert, unter welchem Gesetz die Drei jetzt eigentlich stünden und wie mit ihnen verfahren werden sollte, wenn man sie endlich gefasst haben würde? Darüber geriet man in Streit, dessen Ausgang Christian nicht nachvollzog.
Noch am selben Morgen wurde die Stadt auf dem Reißbrett in acht Winkel aufgeteilt und die Stadtbüttel ausgesandt, jedes Haus, jeden Stock, jede Grube, jeden Stall nach den drei Delinquenten zu durchsuchen. Christian, kraft seines Amtes als Gassenrichter, führte einen der Trupps an, die sich durch das südwestliche Tortenstück fraßen.
Hier inspizierten sie als Erstes das Haus des Druckermeisters Weidner, dessen Werkstatt sich nahe der doppelten Stadtmauer, dem Zwinger, in der Nikolaigasse befand. Meister Ignatius Weidner war insofern kooperativ, als dass er sich nicht den Stadtdienern in den Weg stellte, sondern sie lediglich als Ränkeschmiede und der Bürgerschaft untreu beschimpfte. Er behinderte also die Büttel zumindest nicht bei der Hausdurchsuchung. Der Druckermeister hatte neben seinem Erstgeborenen, dem Ketzer Matthes, noch zwei Töchter, die aber längst vermählt waren. Susanna, die älteste, bewohnte mit ihrem Mann und der Kinderschar die Dachstuben. Die andere Tochter war auswärts verheiratet worden.
Die stinkende Druckerei in den Kellergewölben bot nicht einmal einer Maus eine Ritze, einen Kasten oder eine Truhe, um sich zu verstecken. Im Gewölbelabyrinth befanden sich die Druckpressen und die Schränke mit den breiten Schubladen. Christian musterte die an Leinen aufgehängten Blätter mit den sauberen Reihen schwarzer Buchstaben. Er war bislang auch ohne sie durchs Leben gekommen.
„Hier ist kein Versteck für den Ketzer“, rief er, nachdem er alle Kellerräume durchstöbert, alle Schränke, die nur halbwegs einen erwachsenen Mann würden verbergen können, geöffnet hatte, und wandte sich zum Druckermeister um. Dem war die Puste ausgegangen, jetzt stand er mit puterrotem Gesicht und zu Fäusten geballten Händen da und taxierte den Gassenmeister. „Euch dürfte klar sein, was mit Euch passiert, wenn sich herausstellen sollte, dass Ihr Eurem Sohn Unterschlupf gewährt.“ Christian hatte sich vor dem untersetzten Drucker aufgebaut. Dessen Angstschweiß war hinter der versteinerten Miene trotzdem zu riechen. Er erwiderte nichts. „Ihr werdet allesamt gehängt: der Matthes, Ihr, Euer Weib, Eure Tochter und deren Mann, Eure Kindeskinder. Alle, die unter diesem Dach hausen.“ Noch einen Moment lang kostete Christian seine Macht aus. Ein überraschendes, ein gutes Gefühl, die Regungen seines Gegenübers lenken zu können.
„Hier ist er nicht“, stieß Meister Weidner aus, „und er wird sich hüten, hier aufzutauchen. So dumm ist er nicht. Im Gegenteil, er ist sehr schlau. Mein Sohn ist überaus gebil …“ Am Weitersprechen hinderte ihn Christians Faust, die er dem Älteren in die Magengrube rammte. Er sah zu, wie Weidner sich, nach Luft japsend, aufrichtete, aber an ihm vorbeiblickte. „Was glaubst du, wer du bist, Bürschchen“, knurrte der Weidner und seine hellen, blutunterlaufenen Augen fanden jetzt Christians Blick.
„Der Gassenrichter“, zuckte jener mit den Achseln. „Und Ratsmitglied.“
Der Weidner spuckte vor Christians Füße und der musste sich zusammenreißen, seine Fäuste nicht abermals spielen zu lassen. „Du bist kein Ratsmitglied“, grollte der Alte. „Du bist deren Lakai, ein Bückling, sonst nichts. Fällst weder Entscheidungen, noch wirst du um deine Meinung gefragt. Sie schicken dich los, wenn es was Schmutziges zu erledigen gibt. Zu was anderem brauchen die dich nicht.“
„Halt’s Maul“, verlor Christian den Kampf gegen seine Vernunftstimme. Er packte Weidner am Kragen und drückte ihn gegen die Felssteinwand des Gewölbes. Die Binse in der Halterung neben seinem Gesicht flackerte nervös. „Halt einfach die Klappe, hörst du?“ Er forschte im Gesicht des anderen, das keine Regung zeigte, und ließ Weidner los. In Christians Mund floss Speichel zusammen, sein Herz schlug erregt. So weit war er noch nie mit einem Unruhestifter gegangen. Es bereitete ihm Vergnügen, auszuspielen, was Weidner nicht hatte: Jugend, Kraft, Schönheit, Aufstiegsmöglichkeiten.
„Dein Vater, Gott sei ihm gnädig, der würde sich im Grab umdrehen, Bengel!“, raunte Weidner, scheute aber den Blick ins Gesicht des Jüngeren.
Christian, Zeit seines Lebens mit seinem Vater uneins, spuckte am Weidner vorbei an die Wand. Er wusste, dass sein Vater, der Schmied, seinerzeit mit dem Druckermeister gut bekannt war, aber sein Vater war tot und hatte gar nichts mehr zu melden.
Sollte der Druckermeister doch in seinem Gewölbe vermodern! Christian wandte sich ab und ging, zwei Stufen auf einmal nehmend, wieder hinauf.