Читать книгу Ketzerhaus - Ivonne Hübner - Страница 23
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ОглавлениеDen Seelen im Fegefeuer scheint ebenso eine Minderung des Grauens, wie eine Mehrung der Liebe notzutun.
Die arme Seele war nackt und musste entsetzlich frieren. Sie versuchte mit der einen Hand ihren Oberkörper, mit der anderen ihre Mitte zu bedecken. Elsa, die, anders als die übrigen Gaffenden, sich bemühte, wenn überhaupt, dann ins Gesicht der gedemütigten Frau zu sehen, spürte eine Wut tief im Innern gären, während ihre Taschen vom Torwächter durchsucht und die wenigen Rüben und die Handvoll Erbsen gezählt wurden.
Das Mädchen, das bloßgestellt wurde, war sehr hübsch. Sie war keine von hier. Das konnte Elsa gleich erkennen. Dem Mädchen fehlte die zweifelnd aufgeworfene Stirn oder zumindest das Fragende im Blick, was jedem hier anhaftete. Anstelle der Streiteslust der Lausitzer und dem losen Mundwerk der Schlesier war sie beseelt von Stolz und Aufrichtigkeit. Ihr Haar war flachsblond, wie es Elsa nur von ihrer Schwester Siegtraut kannte und wie es den Leuten hier eigentlich fremd war. Die Augen der meisten hier waren hell. Die Augen des Mädchens waren dunkel und wachsam.
Für einen Sekundenbruchteil glitt Elsas Blick in den der Fremden und dieser Augenblick fuhr ihr pfeilschnell und scharf ins Herz. Elsa versuchte sich an einem Lächeln für die Fremde, von der sie nicht wusste, was sie sich hatte zuschulden kommen lassen und ob die Strafe vielleicht sogar gerecht war. Ihr Lächeln verfehlte seine Wirkung, denn der starre Blick der Fremden glitt an ihr vorbei und Elsa wurde unsanft weitergeschoben; weiter voran, um den nächsten Passanten zu durchsuchen.
„Was hat sie angestellt?“, fragte Elsa einen gutmütig dreinschauenden Bauern, neben dem sie das Tor hinaus auf die Felder im Süden der Stadt passierte.
„Sie hat Papier dabei gehabt.“
„Papier?“ Elsa überlegte, seit wann Papier etwas Anrüchiges, Verbotenes war, wurde aber nicht schlau daraus und den Bauern konnte sie auch nicht weiter befragen, denn der suchte mit großen Schritten das Weite, froh, dem städtischen Mief entkommen zu sein, um sich wieder seiner Hufe zu widmen. Ein jeder Markttag musste eine Last für die Bauern sein, zumal sie so wenig vom Ertrag überhaupt zum Markte tragen durften. Das meiste wurde vom Lehnsherrn eingefordert. Der geringste Teil musste zum eigenen Überleben reichen.
Elsa nahm die Beine in die Hand, sprang über die Schlammrinnen im Feldweg und beeilte sich weiter in südliche Richtung, wo das ehemalige domus leprosum schon von Weitem zu sehen war. Jetzt, da die Lepra seltener wurde, hatte das Armenhaus die Aufgabe, die Mittellosen aufzufangen. Dabei handelte es sich um jene privilegierte Armen, die einen Bürgen hatten, der sich um Kost und Logis kümmerte. Wer keinen Bürgen vorwies, wurde nicht im Hause der Mildtätigkeit aufgenommen, sondern landete in der Gosse, bettelte, verhungerte oder verendete an einer dieser vielen Krankheiten, die sich schnell über einen geschwächten Körper hermachten. Doch so lange es einen Bürgen gab, nahm man die Armen gern auf. Die Versorgung der Hilfsbedürftigen mit dem Notwendigsten war gegeben, da die Besseren sich gern ein Stückchen Seelenheil sicherten, indem sie tatkräftig spendeten. Das Armenhaus konnte geheizt, instand gehalten und seine Bewohner verpflegt werden. Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel, sagte Siegtraut gern.
Im Jakobsstift war Elsa ein häufig begrüßter Gast. Besonders gern gesehen war sie in der Küche. Dort brachte sie die roten Rüben und die Handvoll Erbsen hin, erhaschte ein gutmütiges Lächeln der Vorsteherin und ging nach hinten zum Holzhaus, wo in kleinen Kammern die Mittellosen untergebracht waren.
Als Elsa mit ihrem Klopfen in die Stube trat, schlug ihr der Wohlgeruch von Lavendel, Ringelblumen und Melisse, gemischt mit allerlei Düften von Blüten, Wurzelteilen und Rindenspänen in die Nase, die in Leinensäckchen an Haken und in irdenen Gefäßen auf Wandborden lagerten. Zwar war Johannes Mälzers Hinterbliebenen der Zunftgroschen verwehrt, weil der Mann sich zu Lebzeiten den Zunftgeboten widersetzt hatte, doch durfte Katharina Mälzer ihre Kräuter und Steine, ihren Rat für kleine Wehwehchen feilbieten.
„Mutter, ich bin’s, die Els“, rief die Eintretende ausgesucht fröhlich, um sich nicht anmerken zu lassen, dass sie furchtbar fror und in Eile und eigentlich schon wieder auf dem Rückweg war. Ihre Mutter durchschaute sie mit dem dritten Auge, auch wenn sie mit dem Rücken zu ihr saß.
„Nimm am Feuer Platz, Els, wärm dich auf, erzähl vom Treiben in der Stadt.“
Elsa erkundigte sich zunächst nach den Schwestern. Anneruth und Irmel verdingten sich im Spital, erzählte die Mutter. „Doch der Herr allein weiß, wo sich Siegtraut herumtreibt!“ Katharina Mälzers Lächeln war unerschütterlich, obschon Elsa wusste, ihre Mutter sorgte sich um ihre Zweitälteste.
Siegtraut war zu alt, um tagein, tagaus im Armenhaus zu hocken und zu jung, um sich in der Stadt herumzutreiben. Eine Anstellung hatte sich bislang nicht gefunden. „Es sind schwere Zeiten, Mutter“, setzte sich Elsa neben sie. „Weil doch die Münze nichts taugt.“ Der Wertverfall der Münze war nicht schuld an Siegtrauts Lage. Das wusste sogar Elsa. Eine aus dem Armenhaus durfte nicht auf eine gute Partie hoffen. Elsa übrigens auch nicht. Elsa stand in Kost und Logis und hatte nicht damit zu rechnen, sich jemals eine Mitgift anzusparen. Sie hatte nichts. Eine Magd ohne Mitgift konnte froh sein, wenn sie von einem Gerber geheiratet wurde. Doch die Gerber trugen grobes, kratzendes Tuch am Leib und stanken bis zum Himmel. Ihre Hütten erst recht. Man fand sie stromabwärts am nördlichen Zipfel vor der Stadtmauer. Nein, Elsa wollte keinen Gerber. Dann lieber ein Leben als jungferliche Magd.
Sie knetete ihre Finger vor dem offenen Kaminfeuer und erzählte vom Markttag, von dem Münzenschmuggler vorhin am Tor, nicht aber von der Frau, die man wegen ein paar Papieren entblößt hatte. Gott allein wusste, ob die Ärmste ihren Tag am Schandpfahl würde verbringen müssen oder direkt in die Büttelei gebracht wurde. Elsa erzählte von den Preisen auf dem Markt, die in schwindelerregende Höhe gestiegen waren, von Reinhilde, „Die hat Kummer, aber hält sich tapfer“, und biss sich auf die Unterlippe. An der Regung auf dem Gesicht ihrer Mutter aber erkannte sie, dass diese längst Bescheid wusste. „Der Andres – vogelfrei.“
Katharina nickte versonnen, das Gesicht ihrer ältesten Tochter zugewandt, die Augen starrten an Elsa vorbei. Elsa wusste nicht, was sie weiter erzählen könnte und kam auf den eigentlichen Grund ihres Besuches. „Soso, einen Stein brauchst du“, murmelte ihre Mutter, nachdem Elsa mit ihren Anliegen herausgerückt war. „Einen Stein, der dich vor dem Beelzebub schützt?“ Elsa beobachtete, wie ihre Mutter einen Wimpernschlag lang die linke Augenbraue interessiert hochzog. Dann erhob sie sich von ihrem Schemel. Zielsicher ging sie in der engen Kammer hinüber zur Regalwand, wo in kleinen Körben jene Steine ruhten, die sie mit Sprüchen und Weihwasser zu dem machte, weswegen die Leute herkamen, um sie zu kaufen. Kraftsteine.
„Er ist wie ein Lebewesen, Els, behandle ihn gut.“
Elsa wartete, bis sich ihre Mutter wieder auf den Schemel gesetzt hatte. Katharina öffnete die Faust und auf dem fingerlosen, verschlissenen Handschuh glänzte weiß und hell ein etwa daumennagelgroßer Stein. Ein Bergmann brachte ihr den Bergkristall aus dem Zittauer Gebirge mit. „Es ist ein besonders schönes Stück.“ Elsa erkannte, was ihre Mutter meinte, und beobachtete, wie Katharinas Fingerspitzen die Kanten und kegelartigen Erhebungen der Herzform umrundeten.
„Es gibt keinen Stein, der dich vor dem Beelzebub bewahrt, das kann nur dein Glaube und dein tugendhaftes Leben“, sagte Katharina rau. „Dummkopf, der etwas anderes behauptet. Dieser Stein bestärkt dich in deinem Glauben, schützt deinen Leib und deine Seele vor dem Schlechten. Knüpfe ihn um ein Band, geflochten aus dem Haar einer reinen Seele – Anneruth!“
„Sie ist nicht hier, Mutter.“
Die Frau, die wohl vergessen hatte, dass die beiden Jüngsten Erledigungen nachgingen, nickte knapp. „Du kannst auch dein eigenes Haar nehmen. Trotz der Farbe. Trage den Stein über dem Herzen.“
Elsa nickte gehorsam: „Und das schützt mich vor dem Teufel?“ Und wenn es Andres Hinterthur war, so war er vom Leibhaftigen besessen und deshalb geächtet!
„Der Teufel!“, stieß Katharina aus und für einen Sekundenbruchteil verschwand ihr Lächeln vom Gesicht. Dann sagte sie mild. „Wenn der Teufel in Gestalt eines Menschen unter uns weilt, kann dich keine Macht vor ihm beschützen, wenn er etwas Schlechtes mit dir vorhat und dich zu seinem Werkzeug macht. Dann wird es so geschehen.“ Sie bekreuzigte sich und erhob sich abermals mit knackenden Knien und kaum vernehmbarem Ächzen. „Hier, nimm der Reinhildin etwas vom Mädesüß mit, weil sie immer unter diesem Kopf leidet.“ Elsa musste aufbrechen. Sie hatte viel zu lange verweilt.
Die Tür flog auf und herein wirbelte Siegtraut – „Am Frauentor, da …“ – in dem Moment, als Katharina ein kleines Säckchen mit dem süß-herb duftenden Kraut in Elsas Hand legte. „Was machst du denn hier?“, zog sie die Augenbrauen hoch, während sie mit dem Hinterteil die Tür zustieß.
Elsa erhob sich. „Es ist Zeit zu gehen, Mutter, auf bald.“
„Was ist am Frauentor?“, begehrte Katharina zu erfahren.
„Hat sie wieder was geholt, ohne zu zahlen?“, wich Siegtraut der Frage der Mutter aus und spitzte auf das Säckchen in Elsas Hand, wobei sie die Arme vor der Brust verschränkte.
„Sie gibt mehr, als uns zusteht“, sagte die Mutter und Elsa war froh, dass sie den kleinen Bergkristall längst verwahrt hatte.
„Wo kommst du so spät her? Es wird bald dunkel draußen!“ Elsa wusste, es ging sie nichts an. Sie war nicht Siegtrauts Vormund. Das Verhältnis zwischen ihr und ihrer Schwester war verseucht von Neid seit dem Tage, da Elsa eine Anstellung bei der Reinhildin gefunden hatte und Siegtraut mit sechzehn Jahren immer noch ohne Auskommen war.
Siegtraut löste ihre provokante Haltung. „Sprich aus, was du denkst.“ Ihre Augenbrauen zuckten angriffslustig.
„Hast du gebettelt?“
„Was denkst du denn? Zuerst habe ich gebettelt, dann habe ich mir von einem Reichen was zum Essen kaufen lassen und danach hab ich mich in sein Bett gel …“
„Das reicht“, schoss Katharina einen Pfeil zwischen die beiden Zankziegen. „Bei meinem Augendunkel! Vertragt euch.“ Die Mädchen schwiegen betroffen.
„Niemand unterstellt dir so etwas“, beschied Elsa ihrer Schwester. Sie schämte sich für Siegtrauts ungezügelte Niedertracht und schämte sich gleichzeitig für ihren eigenen Hochmut, der sich in solchen Momenten in ihrem Herzen breitmachte.
„Andres Hinterthur wird immer noch ausgerufen“, sagte Siegtraut jetzt in ruhigerem Ton.
Katharina Mälzer nickte. Und dann geschah, was selten der Fall war, dass Elsa das Gefühl hatte, ihre Mutter schaue ihr direkt ins Herz und beschwor sie, sich in Acht zu nehmen.
„Er ist ein Ketzer“, zuckte Siegtraut mit den Achseln und legte ihren Umhang ab.
Das Nicken, das Katharina jetzt zeigte, war weder für die eine noch für die andere Tochter bestimmt. „Wir sind alle Ketzer“, sagte sie gedankenverloren. „Jeder von uns auf seine Weise. Wir legen, bequem und lasterhaft, wie wir sind, unsere Geschicke in Gottes Hände.“
„Meinst du den Hunger oder das Armenhaus?“, murrte Siegtraut.
„Danket dem Herrn“, murmelte die Mutter von ihrem Platz aus und ihre Finger falteten sich. „Danket dem Herrn und der Heiligen Jungfrau, dass Elsa ihre Stelle beim Brauer riskiert, um uns was zu essen zu bringen.“ Ein jugendliches Lächeln huschte über Katharina Mälzers Lippen in Elsas Richtung.
Elsa wandte sich ab und drängte sich an der wie ein Bollwerk stehenden Schwester vorbei. Sie würde nach den jüngeren Mädchen Ausschau halten, um sich wenigstens von ihnen zu verabschieden. Sie fand Anneruth und die siebenjährige Irmel beim Saubermachen der Jakobskapelle; einem Dienst, der ihnen dereinst gutgeschrieben würde. Die Mädchen ließen die Besen fallen, rannten vor Freude quiekend auf die Schwester zu und fielen ihr in die Arme. Den Dreien blieb nicht viel Zeit, die neuesten Neuigkeiten auszutauschen. Es war Elsas ganze Freude, machte ihr aber auch das Herz ganz schwer, den beiden Mädchen dabei zuzusehen, wie sie den Wecken teilten und verspeisten. Elsa wollte sich pfleglich führen, damit sie die Stellung bei Reinhilde nicht verlor und den Mädchen ab und an Zuckerzeug bringen konnte.