Читать книгу Der Wüstensklave - J. D. Möckli - Страница 7
Kapitel 4: Wüstenfisch
ОглавлениеAls Yari am nächsten Morgen aufwacht, steht auf dem Tisch vor dem Fenster ein Teller mit einem Brötchen und einem Apfel sowie zwei neue Flaschen Wasser. Er bleibt noch einen Moment auf der Seite liegen und genießt es, allein in einem richtigen Bett zu sein.
Als sich sein Magen mit einem lauten Knurren zu Wort meldet, schlägt er die Decke zurück und steht vorsichtig auf, darauf bedacht, dass ihm nicht wieder schwindlig wird. Langsam geht er zum Tisch und setzt sich auf den alten Holzstuhl.
Erstaunt blickt er auf den gut gefüllten Teller. Vom Bett aus hatte er nicht sehen können, dass auch etwas Fleisch darauf liegt. Ungläubig blickt er zur Tür, erwartet schon beinahe, dass jemand reinkommt und ihm verbietet, sich etwas davon zu nehmen. Dann nimmt er das Brötchen, bricht es auseinander und legt das Fleisch zwischen die beiden Hälften. Hungrig beginnt er hastig zu essen, trotzdem genießt er jeden einzelnen Bissen. Er weiß, dass die Japaner vor langer Zeit die ursprünglich europäischen Speisen in ihre Kultur adaptiert haben, als die große kulturelle Vermischung begann, er weiß aber nicht, woher er diese Erkenntnis hat.
Nach einem Schluck Wasser greift er auch noch nach dem Apfel. Mit beiden Händen umfasst er ihn, fühlt die glatte Haut, die Festigkeit. Erst dann beißt er beherzt zu und wird von der Süße des Obstes überrascht. Den Geschmack auskostend isst er den Apfel auf.
Als er fertig ist, steht Yari auf und zieht sich eine frische Hose und das andere Hemd an. Ihm fällt ein, dass sein neuer Besitzer ihm gesagt, hat dass er sich frei im Haus bewegen darf, also nimmt er den Teller, um ihn in die Küche zu bringen. Seine Hand zittert, als er die Türklinke herunterdrückt und die Tür öffnet.
Langsam geht Yari durch das fremde Schlafzimmer auf die zweite Tür zu. Er ist darauf gefasst, dass diese verriegelt ist, doch sie lässt sich öffnen. Immer noch unsicher tritt er in den Flur, der nun durch das Tageslicht aus dem Wohnzimmer etwas erhellt wird. Nach einem tiefen Atemzug geht er zur Treppe.
Im Erdgeschoss angekommen, muss er sich kurz orientieren. Links ist das Badezimmer und rechts müsste die Küche sein.
Als er in den warmen Raum tritt, sieht er den alten Mann, der an einem großen Holztisch sitzt und Kartoffeln schält.
Überrascht lässt dieser das Messer sinken. »Hallo, Yari. Geht’s dir etwas besser? Komm doch rein.« Besorgt blickt er Yari an, der trotz seiner leicht gebräunten Haut immer noch blass wirkt und unschlüssig im Raum steht, den leeren Teller in den Händen haltend.
»Ich wollte nur den Teller herunterbringen.«
Unsicher, was er jetzt tun soll, blickt sich Yari in der Küche um und bemerkt dadurch nicht, dass der alte Mann aufsteht, bis er ihm den Teller abnimmt. Erschrocken zuckt Yari zusammen. So ein Fehler darf ihm nicht noch einmal passieren.
Natürlich bemerkt Ren, dass Yari zusammenzuckt, sagt aber nichts dazu. »Danke, das wäre nicht nötig gewesen. Aber da du schon mal da bist: Setz dich doch etwas zu mir.« Freundlich lächelnd deutet er auf einen der Stühle, bevor er zur Spüle geht, um den Teller abzuwaschen. Aus dem Augenwinkel sieht er, wie Yari sehnsüchtig zur Tür schielt. »Du musst nicht hierbleiben, wenn du nicht willst.«
Ertappt sieht Yari ihn an. »Das ist es nicht, ich wollte eigentlich nur …«
»Na los, geh schon«, unterbricht ihn der Ältere mit einem auffordernden Blick, was sich Yari nicht zweimal sagen lässt.
Schnell geht er aus der Küche zum Badezimmer. Mit einer Hand dreht er das Schild um, bevor er den kleinen Raum betritt und die Tür hinter sich schließt. Durch das Verhalten des alten Mannes etwas sicherer geworden, steuert er die Badewanne an und zieht sich aus. Er hat das dringende Bedürfnis, sich gründlich zu waschen.
Genießend lässt er das warme Wasser über seinen Körper laufen, bis ihm einfällt, dass er nicht nachgesehen hat, wo die Seife ist. Doch zum Glück liegt sie gut erreichbar auf einer kleinen Ablage.
Als er fertig ist, stellt er sich an das kleine Waschbecken. Dort sieht er sich einen Moment lang ratlos um, bis er einen Zettel entdeckt, der an der Wand lehnt: Hallo, Yari. Im Schrank über dem Waschbecken findest du, was du brauchst.
Neugierig öffnet er den Schrank. Darin befinden sich vier Ablagebretter. Drei sind mit ihren Namen beschriftet, das vierte scheint ein Gemeinschaftsfach zu sein. In dem Fach mit seinem Namen findet er einen Tonbecher, in dem eine Zahnbürste steht. Daneben liegen ein Kamm aus Holz und ein einfaches Rasiermesser sowie ein kleines Gefäß, das Zahnpasta enthält. Ungläubig blickt er auf die Sachen, die offensichtlich nur für ihn gedacht sind.
Sich so sauber wie schon lange nicht mehr fühlend, verlässt Yari das Badezimmer und dreht das Schild wieder auf grün. Einen Moment lang überlegt er, ob er wieder in sein Zimmer gehen soll, doch dann geht er zur Küche, aus der er leise Stimmen hört:
»Es ist unglaublich, aber Blacky hat es schon wieder geschafft, sich eine Schramme über dem Auge einzufangen.«
»Du weißt doch, wie er ist. Hast du sie denn schon versorgt? He, Yari, setz dich ruhig zu uns.« Ren sitzt immer noch der Tür zugewandt am Tisch.
Kai, der an der Anrichte lehnt und einen Becher in der Hand hält, dreht sich nun auch zu Yari um.
Fragend blickt Yari ihn an. Erst, als Kai ihm zunickt, setzt er sich unsicher auf einen der Stühle. Er erstarrt, als Ren ihm ohne Vorwarnung die Hand erst auf die Stirn, dann an den Hals legt.
»Gut, du scheinst kein Fieber mehr zu haben, wirkst aber noch ein wenig blass. Wie fühlst du dich denn?«
Aufmerksam wird er von dem alten Mann gemustert. Yari hat das Gefühl, Ren würde sofort merken, wenn er nicht die Wahrheit sagt. »Ich … noch etwas müde, aber sonst gut.«
»Dann solltest du dich heute noch schonen«, meldet sich Kai nun das erste Mal zu Wort, während er ihm einen Becher Wasser hinstellt. »Lass es ruhig angehen. Morgen kommt eine Lieferung und wir wären froh, wenn du uns dann helfen könntest.« Da Kai spürt, dass es Yari beunruhigt, wenn er ihn zu lange ansieht, wendet er sich wieder seinem Großvater zu. »Ja, ich habe die Schramme schon mit Heilsalbe behandelt und die Haut um die Wunde ist auch nicht heiß.«
Zufrieden nickt Ren, während er die geschälten Kartoffeln in Scheiben schneidet. »Dann sollte die Wunde ja bald wieder verheilt sein. Wann musst du denn Morgen am Hafen sein?«
Seufzend blickt Kai zu dem Topf auf dem Herd, in dem ein Gulasch vor sich hin kocht. Er rührt darin herum. »Ich muss gleich nach Sonnenaufgang los. Du wirst also den Laden aufmachen müssen. Ich hoffe nur, dass es nicht wieder den ganzen Morgen dauert, bis ich zurück bin.«
Schweigend hört Yari dem Gespräch der beiden Männer zu, die sich verhalten, als wäre er gar nicht da. Er beobachtet, wie Ren die geschnittenen Kartoffeln in die Bratpfanne fallen lässt, die er dann an Kai weiterreicht.
»Na ja, die Lieferung kommt doch aus China. Dann könnte es wirklich länger dauern. Bestimmt sprechen die wieder nur ein paar Brocken Japanisch oder ein bisschen die allgemeine Händlersprache – wenn überhaupt.« Grinsend sieht er seinen Enkel an, der die Pfanne auf eine der heißen Herdplatten stellt. »Vielleicht solltest du mal etwas mehr Chinesisch lernen. Dann würde es bestimmt schneller gehen.«
Seufzend blickt Kai an die Decke. »Ja. Oder ich suche mir einen Dolmetscher, der keinen Wucherpreis verlangt – und die sind ja bekanntlich so häufig wie ein Fisch in der Wüste.«
»Ich spreche Chinesisch«, meldet sich Yari leise zu Wort, senkt aber gleich den Blick, als er plötzlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht.
Überrascht blicken ihn Kai und Ren an. »Du sprichst Chinesisch? Also so richtig und nicht nur ein paar Brocken?«, fragt Kai nach und setzt sich Yari gegenüber an den Tisch.
»Ja, so richtig. Ich kann auch die Schrift lesen.« Unsicher hebt Yari wieder den Kopf und sieht in ein erfreutes Gesicht.
»Dann würde ich sagen, dass du heute früh schlafen gehst, sodass du morgen auch fit bist und mitkommen kannst.«
Lachend legt Ren die Hand auf Yaris Schulter, nimmt sie aber schnell wieder weg, als er spürt, wie sich der junge Mann verspannt. »Du hast Kai gerade eine riesige Freude gemacht, mein Junge.« Immer noch grinsend steht er auf und räumt die Sachen vom Tisch, die jetzt nicht mehr gebraucht werden.
Ratlos blickt Yari zwischen den beiden Männern hin und her.
»Die Chinesen sind der Meinung, dass wir alle ihre Sprache können müssen«, erklärt Kai, »deshalb machen sie sich nicht die Mühe, andere Sprachen zu lernen. Und das als Händler – diese Idioten! Ich kann leider nur ein paar Brocken Chinesisch, was die Preisverhandlungen immer extrem in die Länge zieht. Darum bin ich wirklich froh, dass du Chinesisch kannst.«
»Tja, dann hast du wohl deinen Wüstenfisch gefunden«, scherzt Ren, als er mit drei Tellern und Besteck wieder an den Tisch kommt.
Im ersten Moment wird er von Kai verwirrt angesehen. Doch dann fällt die Silbermünze und sein Enkel grinst breit.
Yari hingegen versucht irgendwie, das Gespräch einzuordnen. Er ist so in seinen Überlegungen vertieft, dass er gar nicht bemerkt, wie Kartoffeln und Gulasch auf den Tisch gestellt werden.
»Yari, willst du nichts essen?«, reißt ihn Kai aus seinen Gedanken.
Verwirrt blickt Yari vor sich auf den gedeckten Tisch, sieht die dampfenden Schüsseln und ist nun vollends überfordert. Wieso darf er hier sitzen?, fragt er sich. Warum sind die beiden so nett zu ihm? Ist das alles etwa nur ein Traum und wenn er aufwacht, liegt er wieder auf dem alten Strohsack in der kalten Kammer?
Als Kai bemerkt, dass Yari das Essen nur anstarrt, ohne sich etwas zu nehmen, steht er kurzerhand auf, schiebt seinen Stuhl rüber und setzt sich mit seinem gefüllten Teller neben Yari. »Magst du Kartoffeln und Gulasch? Oder willst du nur eins von beidem?« Fragend sieht er den Größeren an, der ihn jedoch nur verwirrt anstarrt. »Weißt du was? Ich gebe dir einfach mal von beidem und du isst, was du magst.« Kurzerhand nimmt Kai den leeren Teller und füllt ihn auf. »Hier, iss so viel du möchtest und wenn du noch mehr willst, dann nimm es dir einfach.«
Unsicher sieht Yari erst auf den gefüllten Teller, dann zu seinem Besitzer. »Warum? Warum seid ihr so nett zu mir? Ich bin doch nur ein Sklave, ein Nichts!«, bricht es plötzlich aus ihm heraus. Von sich selbst erschrocken springt er auf und rennt aus der Küche.
Überrascht über den Ausbruch sitzen die beiden Mutsuos am Tisch und sehen zur Tür, durch die Yari gerade verschwunden ist.
Erst nach einer ganzen Weile regt sich Kai und sieht fragend seinen Großvater an. »Was habe ich denn falsch gemacht?«
»Ich glaube nicht, dass du etwas falsch gemacht hast.« Nachdenklich spießt Ren eine der Kartoffelscheiben auf. »Vermutlich ist Yari mit der Situation einfach nur überfordert. Lass ihm etwas Zeit. Nach dem Essen kannst du ihm seinen Teller hochbringen, aber bedräng ihn nicht.« Ren stellt Yaris Teller auf eine der warmen Herdplatten, um das Essen warmzuhalten.
Schweigend essen die beiden weiter. Kai hofft, dass Yari zurückkommt, was aber leider nicht passiert.
Als Kai später mit Yaris Teller die Treppe hochgeht, sieht er, dass aus seinem Zimmer Tageslicht in den Flur fällt. Allerdings hat Yari die Tür zu seinem eigenen Zimmer geschlossen, weshalb Kai anklopft.
»Yari, darf ich reinkommen?«
Obwohl er keine Antwort bekommt, drückt er die Klinke herunter und betritt langsam und vorsichtig das Zimmer. Er stellt den Teller auf den Tisch und blickt zu dem schmalen Bett, auf dem Yari mit angezogenen Beinen sitzt, die er mit den Armen umschlungen hält, den Kopf auf die Knie gelegt.
In diesem Moment wirkt Yari so verloren, dass Kai am liebsten zu ihm gehen und ihn in den Arm nehmen würde, allerdings denkt er an die Worte seines Großvaters und unterdrückt den Impuls. Stattdessen bleibt er beim Tisch stehen.
»Hier ist dein Mittagessen. Großvater hat es warmgehalten.« Da Yari nicht reagiert, dreht er sich seufzend um und geht zur Tür.
Dort bleibt er noch einmal stehen und sieht wieder zu der zusammengekauerten Gestalt. »Du bist kein Nichts, Yari. Es stimmt, du bist ein Sklave, aber in erster Linie bist du ein Mensch.« Kurz zögert er, hadert mit sich, ob er weitersprechen soll. »Ich habe dich mit hierher genommen, weil ich auf dem Sklavenmarkt in deinen Augen etwas gesehen habe. Du glaubst vielleicht, dass du dich selbst verloren hast, aber ich weiß, dass irgendwo tief in dir drin noch die Person steckt, die du einst gewesen bist. Du hast einen starken Willen, das weiß ich.« Während er redet, fixiert Kai einen Punkt auf dem Türrahmen, sieht jetzt jedoch wieder zu Yari rüber. »Du gehörst jetzt zur Familie und wenn du willst, kannst du jederzeit zu mir oder auch zu Großvater kommen.« Mit diesen Worten verlässt Kai das Zimmer und gibt Yari den Raum, den dieser jetzt zu brauchen scheint.
Immer wieder hallen die Worte durch Yaris Kopf: Du bist kein Nichts. Du bist ein Mensch. Ein Mensch. Ein Mensch … Irgendwo tief in seinem Inneren regt sich etwas; ein Gefühl, nur ganz zart. Trotzdem verunsichert es ihn. Wenn er diesem Gefühl nachgibt, bricht auch noch der letzte Rest des Schildes zusammen, den er mühsam aufgebaut hat. Warum ist er jetzt nur so schwach?, fragt er sich.
Schließlich sieht er zu dem Tablett hinüber. Wann hat er das letzte Mal mehr als eine Mahlzeit am Tag bekommen? Und dann noch so gutes Essen? Er weiß es nicht, aber trotzdem ist da ein Hauch eines vertrauten Gefühls. Obwohl er nicht wirklich hungrig ist, steht er mit einem Blick zur geschlossenen Tür auf und setzt sich an den Tisch. Das Essen ist nur noch lauwarm, aber das ist ihm egal.
Satt legt Yari die Gabel auf den leeren Teller und blickt aus dem Fenster. Draußen scheint die Sonne. Plötzlich fühlt er sich in dem kleinen Zimmer eingesperrt, weshalb er sich seine Sandalen anzieht und den Teller mit dem Besteck nimmt.
Im Flur hört er die Stimmen seiner Besitzer, die im Wohnzimmer zu sitzen scheinen und sich über irgendwas unterhalten, aber er ignoriert sie und bringt das Tablett in die Küche. Dort spült er schnell das Geschirr ab und geht dann durch den Flur zur Hintertür.
Tief Luft holend tritt er zögernd ins Freie. Nach ein paar Schritten bleibt er stehen und hebt sein Gesicht mit geschlossenen Augen der Sonne entgegen, die seine Haut angenehm wärmt.
Kai, der das Knarren der Treppenstufen gehört hat, steht in der Tür und beobachtet Yari, der mitten im Hof steht und endlich mal entspannt wirkt. Mit einem leisen Lächeln zieht Kai sich nach einem Moment zurück und lässt den anderen allein.
Er geht wieder hoch ins Wohnzimmer, in welchem sein Großvater vor einem begonnenen Schachspiel auf ihn wartet. Da er mit seinen schwarzen Figuren dran ist, nimmt er seinen Läufer und bewegt ihn drei Felder vorwärts. »Yari steht im Hinterhof und genießt die Sonne«, sagt er.
Mit der weißen Dame schlägt Ren einen von Kais Springern. »Das ist doch gut.«
Nun zieht Kai einen seiner Türme nach vorn, um den Läufer zu schützen. »Das sehe ich auch so.«
Mit dem Springer wird ein schwarzer Bauer vom Feld befördert. »Willst du ihn morgen wirklich zum Hafen mitnehmen?«
Die schwarze Dame kommt dem weißen Springer gefährlich nahe. »Er wäre eine große Hilfe, aber wenn er sich bis morgen nicht erholt hat, gehe ich ohne ihn. Obwohl … vielleicht tut es ihm ja ganz gut, wenn er zeigen kann, was in ihm steckt.«
Ren bringt den Springer in Sicherheit. »Damit könntest du recht haben.«
Grinsend zieht Kai seinen Läufer weiter nach vorn. »Schach.«
Nun ist es an Ren zu grinsen. »Du hast einen Fehler gemacht. Schachmatt.« Kais Großvater gibt dem schwarzen König einen Stups, sodass dieser umfällt.
Geschlagen hebt Kai die Hände, bevor er aufsteht. »Du bist einfach zu gut. So, ich muss jetzt aber alles für Morgen vorbereiten und aufschreiben, welche Stoffe ich nachbestelle.«
»Ist gut. Ich räume das Spiel weg und schaue dann, ob ich eine Jacke für Yari finde, die ihm nicht viel zu groß ist. Wann willst du dich eigentlich um seine Garderobe kümmern?«
Nachdenklich bleibt Kai in der Tür stehen. »Ich dachte, wenn es sich ergibt, schauen wir morgen mal nach anständigen Schuhen. Oder am Dienstag. Mittwochs wollte ich mit ihm zu Aja, während Blacky und Rocky bei Yu sind. Dann kann sie mal seine Maße nehmen.«
Kaum ist er zur Tür raus, streckt er seinen Kopf noch mal ins Wohnzimmer. »Ich bin dann im Lager.« Schon ist er wieder weg.
Schnell hat Ren das Schachbrett aufgeräumt und geht dann auf den Dachboden, wo die Sachen von Kais verstorbenen Eltern in zwei Truhen verstaut sind. Die Truhe seiner Tochter bedenkt er mit einem traurigen Lächeln: »Weißt du, wenn du Kai jetzt sehen könntest, wärst du unglaublich stolz auf ihn. Er ist so ein guter Junge.« Mit einem letzten Blick auf die Truhe wendet er sich der zweiten zu, die einst Kais Vater gehört hatte. Die Scharniere quietschen leise, als er den Deckel anhebt und dieser den Blick auf sauber gestapelte Kleidung freigibt.
Nach kurzem Suchen findet Ren eine alte graue Jacke, die Kais Vater einst getragen hat, als er zu ihnen gekommen war. Der Stoff ist zwar alt, aber noch gut in Schuss und für den Moment wird sie ausreichen. Zusätzlich zu der Jacke nimmt Ren noch ein paar andere Kleidungsstücke aus der Truhe. Weil er die Treppe unten nicht wieder knarren gehört hat, geht er direkt in Yaris Zimmer und legt die Sachen auf dessen Bett, die Jacke hängt er jedoch über die Stuhllehne.
Schließlich geht er runter in die Küche, um sich schon mal um das Abendessen zu kümmern. In der Hoffnung, dass sie diesmal zu dritt am Tisch sitzen werden, legt er drei Teller auf.
Inzwischen hat Kai alles für den nächsten Morgen vorbereitet und verlässt das Lager. Auf dem Weg in den Stall schaut er kurz in der Küche vorbei, um seinem Großvater Bescheid zu geben. Als er dann durch die Hintertür tritt, sieht er Yari auf der Treppe sitzen. »He, hilfst du mir bei den Pferden?« Fragend blickt er auf den Sitzenden hinunter.
Yari bleibt äußerlich ruhig und erwidert den fragenden Blick. »Ja.«
Als er aufstehen will, hält ihm Kai die Hand hin. Zögernd nimmt Yari die angebotene Hilfe an und lässt sich hochziehen, ist aber erleichtert, als Kai seine Hand gleich wieder loslässt.
Nebeneinander gehen sie zum Stall, wo sie schon ungeduldig von den beiden Wallachen erwartet werden.
»Füll du bitte die Heunetze auf.« Kai deutet auf die leeren Netze, die in den Boxen hängen. »Das Heu findest du hinter der Tür da drüben. Du musst immer darauf achten, dass sie und die Boxen fest verschlossen sind, denn Rocky kann Türen aufmachen und es wäre nicht das erste Mal, dass er sich über Nacht im Heulager bedient.«
Aufmerksam zuhörend holt Yari schon mal die leeren Netze aus den Boxen.
Während Yari das Heu auffüllt, gibt Kai den beiden Pferden je eine Handvoll Hafer und beginnt dann die Boxen auszumisten.
Als Yari mit den gefüllten Netzen zurückkommt, ist Kai gerade mit der ersten Box fertig. »Super. Häng die Netze gleich wieder auf. Ich bin hier auch gleich soweit, dann kannst du mir mit dem frischen Stroh helfen.«
Zusammen verteilen sie die neue Einstreu in der Box, während die beiden Pferde genüsslich die ersten Halme aus den Netzen zupfen.
Mit vereinten Kräften schieben sie den vollen Mistkarren zum Tor. Dort stellt ihn Kai gut sichtbar hin und holt eine Kupfermünze aus seiner Tasche. Diese legt er in eine Ausbuchtung in der Wand.
»Die Kupferlinge findest du drinnen neben der Hintertür. Der Mistsammler kommt immer gegen Sonnenuntergang vorbei. Er nimmt sich dann die Münze und leert den Mistkarren. Wir müssen ihn dann nur wieder reinholen. Solltest du mal so spät dran sein, dass du ihm die Münze persönlich geben kannst, dann lass sie einfach in seine Hand fallen. Niemand fasst ihn auf seiner Runde an. Alles klar?«
Yari nickt. »Ja. Ist das Versorgen der Pferde denn in Zukunft meine Aufgabe?«
Zusammen gehen sie zurück zum Stall. Dort zeigt ihm Kai das Fass mit dem Hafer. »Ich wäre froh, wenn du das machen könntest. Am Sonntag geht es, aber wenn der Laden offen ist, bin ich besonders mit dem Ausmisten immer sehr spät dran und Großvater sollte nicht mehr so hart arbeiten.«
Sie bleiben vor den Boxen stehen und beobachten die beiden Pferde.
»Das da ist Rocky und das ist Blacky. Sie probieren gerne aus, wie weit sie gehen können, wenn du ihnen aber von Anfang an klarmachst, wer der Boss ist, hören sie gut.«
Schweigend stehen sie da. Nur das Kauen der Tiere ist zu hören.
»Ich werde dir am Anfang natürlich helfen und wenn du Zeit hast, ist Großvater sicher auch nicht böse, wenn du ihm im Haushalt helfen würdest. Besonders wenn wir Waschtag haben, ist es immer sehr stressig, aber er will sich von mir kaum helfen lassen.«
Von der Seite schielt Kai zu Yari hinüber. Er hat bemerkt, dass dieser deutlich ruhiger bleibt, wenn er ihn nicht zu einem direkten Blickkontakt zwingt.
Den Blick die ganze Zeit auf die Pferde gerichtet, hat Yari ihm zugehört und nickt jetzt etwas ruhiger. »Ist gut.«
Plötzlich hören sie das Knarren von altersschwachen Rädern und den Hufschlag von einem einzelnen Pferd.
»Das ist der Mistsammler. Ich stelle ihn dir kurz vor. Komm mit.« Auffordernd winkt Kai Yari zu, dass er ihm folgen soll.
Zusammen gehen sie wieder zu dem Tor, vor dem gerade der volle Mistkarren weggeschoben wird.
»Hallo, Kai. Na, wie geht’s? Wen hast du denn da?«, hören sie den Mistsammler rufen, noch bevor sie am Tor sind.
»Hallo, Monok. Hallo, Noah. Das ist Yari. Er hilft mir ab heute bei den Pferden. Wie geht’s euch so?« »Du weißt ja, Unkraut vergeht nicht«, grinst Monok die beiden jungen Männer breit an. »Hast du dir etwa doch endlich einen Sklaven zugelegt? Oder ist er ein Freier?« Natürlich fällt dem alten Mann auf, dass Yari kein Halsband trägt, was er nach Kais Meinung ja auch nicht muss, solange er auf dem Grundstück bleibt.
»Er ist mein Sklave«, sagt Kai. Wie er das Wort hasst!
Nun wird Yari neugierig gemustert.
»Also ich muss sagen, du hast Geschmack. Leihst du ihn mir mal?«, fragt Monok.
Innerlich muss Kai bis zehn zählen, um nicht auszuflippen, dabei kann Monok ja gar nichts dafür: Er hat nun mal einfach die gleiche Einstellung wie die meisten Leute.
Kai lässt sich nichts anmerken. »Nein. Du weißt doch, ich teile nicht gern.«
Yari muss schlucken. Er fragt sich, ob er sich nicht doch in seinem Besitzer getäuscht hat. Mit wachsendem Unbehagen verfolgt er das Gespräch.
»Schade, ich hätte ihn gern ausprobiert. Aber sag mal, warum trägt er denn kein Halsband?« Monok klingt wirklich enttäuscht, während sein Sohn die inzwischen leere Karre neben Yari stellt und neugierig zuhört.
»Ach, ich will nicht andauernd ein neues Halsband kaufen müssen, weil das alte im Stall kaputt gegangen ist. Darum habe ich ihm befohlen, das Halsband bei der Stallarbeit auszuziehen.«
Die Begründung ist glaubwürdig genug. Vor allem, weil viele Sklavenbesitzer es genau so handhaben, wenn ihre Sklaven in den Ställen arbeiten müssen.
Das scheint auch Monok so zu sehen, denn er nickt. »Ja, die Dinger sind ja nicht gerade billig, wenn sie nachgekauft werden müssen. So, wir müssen weiter. Wir sehen uns.«
»Ja, wir sehen uns.«
Sie winken einander zu.
Erst als Monok und Noah um die nächste Ecke verschwunden sind, dreht sich Kai zu Yari um. »Entschuldige. Monok ist etwas speziell und seine Meinung über Sklaven leider typisch. Am besten hältst du dich von ihm fern.« Er lächelt den Größeren an, der ihn mit einem misstrauischen Blick ansieht. Dies versetzt Kai einen leichten Stich. »Bitte glaub mir einfach, dass ich nichts von dir will. Was ich in der Anwesenheit von anderen sage, darfst du nicht wörtlich nehmen. Ich muss so reden, um nicht aufzufallen.«
Da die Worte aufrichtig klingen und sein Besitzer ihn mit offenem Blick ansieht, nickt Yari zögernd. »Okay.« Wieder stecken ganze Sätze in diesem einen Wort. Ruckartig wendet er sich ab, schnappt sich den leeren Mistkarren und schiebt ihn zurück.
Seufzend folgt Kai ihm in den Hinterhof. Wie konnte er nur vergessen, was Monok für eine Einstellung hat? Hoffentlich ist das bisschen Vertrauen, das Yari ihm inzwischen entgegenzubringen schien, nicht schon wieder verspielt.
Nachdem alles sicher verstaut ist, gehen sie wieder ins Haus, wo Kai Yari auf die Waschschale aufmerksam macht: »Bitte wasche dir immer gleich hier die Hände, wenn du aus dem Stall kommst. Unsere Stoffe sind sehr teuer und sollen nicht aus Versehen dreckig werden.« Dann fällt sein Blick auf eine kleine Holzschatulle. »Ach ja. Hier findest du die Kupferlinge. Wenn nur noch fünf Stück drin sind, gib bitte Bescheid.«
Schnell wäscht er sich die Hände, bevor er zur Seite tritt, um Yari Platz zu machen.
Als sich auch dieser gewaschen hat, schüttet Kai das Wasser einfach durch die noch offene Tür in den Hinterhof und geht ins Badezimmer. Dort füllt er den Krug neu auf.
Als er zurückkommt, sieht er den aufmerksamen Blick Yaris. »So ist das Risiko, dass aus Versehen Schmutz ins Haus kommt, am geringsten.«
Da es inzwischen Zeit fürs Abendessen ist, geht Kai, gefolgt von Yari, in die Küche.
Dort stellt Ren gerade geschnittenes Brot auf den Tisch. »Ah, da seid ihr ja. Los, setzt euch.«
Vorsichtig setzt sich Yari auf den gleichen Stuhl wie beim Mittagessen. Neben dem Brot stehen gekochte Eier, eingelegte Gurken und etwas geräuchertes Fleisch auf dem Tisch.
»Nimm dir einfach, was du magst«, fordert Ren den jungen Mann auf, während er sich selbst ein Ei schält.
»Sag mal, Kai, soll ich dich morgen wecken, wenn du nicht rechtzeitig wach wirst?«, wendet sich Ren seinem Enkel zu, nachdem er aus dem Augenwinkel gesehen hat, dass Yari sich eine Scheibe Brot genommen hat. Immerhin etwas. Auch wenn er es lieber gesehen hätte, dass sich Yari auch von den anderen Sachen etwas nimmt.
»Ja, das wäre super, Großvater.« Kai muss sich ein Grinsen verkneifen, als Yari nach einer eingelegten Gurke greift und sie erst kritisch mustert, bevor er sie isst. Es scheint ihm zu schmecken, denn er nimmt sich gleich noch eine.
Absichtlich ignorieren die beiden Yari und reden über dies und das. Yari hat inzwischen auch ein Ei und eine zweite Scheibe Brot gegessen. Sich etwas von dem Fleisch zu nehmen, wagt er jedoch nicht.
Erst als sie mit dem Essen fertig sind, wendet sich Ren wieder zu Yari um. »Ich habe dir noch ein paar Sachen in dein Zimmer gelegt. Ich habe sogar eine Jacke gefunden, die du morgen früh sicher gut gebrauchen kannst, wenn ihr zum Hafen fahrt.«
Überrascht sieht Yari seinen älteren Besitzer an. »Danke. Das wäre doch nicht nötig gewesen.«
»Ach was. Papperlapapp. Natürlich war das nötig. Morgens ist es immer noch sehr kalt und du hast dich gerade erst wieder etwas erholt.«
Ergeben senkt Yari daraufhin den Blick, was den beiden Mutsuos zwar nicht gefällt, aber sie sagen nichts dazu.
Schließlich steht Kai auf und beginnt den Tisch abzuräumen, was Yari dazu bringt, ebenfalls aufzustehen. Er geht zur Spüle und beginnt, das Geschirr abzuwaschen. Als er den ersten Teller dann aber zur Seite legen will, wird ihm dieser einfach abgenommen. Kai steht neben ihm und trocknet ab. Unterdessen bringt Ren die Reste zurück in die Vorratskammer, die durch eine Tür neben der Spüle betreten werden kann.
Nachdem sie alles aufgeräumt haben, kann sich Yari ein Gähnen nicht mehr verkneifen.
»Ich würde vorschlagen, dass du ins Bett gehst.« Kai lehnt sich grinsend an die Arbeitsplatte und sieht Yari nun direkt an. »Du musst nämlich morgen genauso früh aufstehen wie ich.«
Sich mit beiden Händen abstützend, lehnt Yari sich ein Stück nach vorn, um seinen inzwischen schmerzenden Rücken etwas zu entlasten. Dieser ist durch die Schläge inzwischen grün und blau geworden. »Ja, das werde ich.« Mit einer Entschlossenheit, die ihn selbst überrascht, löst er sich von dem kalten Stein und dreht sich um. »Gute Nacht.«
Mit schnellen Schritten geht er aus der Küche und kurz darauf hören die beiden Mutsuos, wie das Schild an der Badezimmertür umgedreht wird.
»Er ist ein Kämpfer. Das ist gut«, stellt Ren nach einer Weile fest.
»Ja, das ist er.«
Wieder Schweigen sie, bis sie hören, wie die Stufen der Treppe leise knarren.
»So, dann werde ich mich auch mal bettfein machen. Ich wünsche dir eine gute Nacht, Großvater, und lies nicht wieder so lange.«
Zwar ist Kai noch nicht sehr müde, aber da er nicht übertrieben hat, dass sie am Morgen früh raus müssen, geht auch er lieber jetzt schon zu Bett.
»Danke. Schlaf du auch gut, mein Junge.«
Als Kai in sein Zimmer kommt, ist die Tür zum angrenzenden Raum schon geschlossen. Allerdings bemerkt er, dass ein leichter Lichtschimmer den Boden erhellt. Vermutlich sieht sich Yari noch die rausgesuchten Sachen an. Da er ihn jedoch nicht stören will, widersteht Kai seiner Neugier. Stattdessen geht er ins Bett und versucht möglichst schnell einzuschlafen.