Читать книгу Der Wüstensklave - J. D. Möckli - Страница 6
Kapitel 3: Der größte Schatz der Welt
ОглавлениеAm Sonntagmorgen betritt Ren mit einem frischen Kräutertee Yaris Zimmer. Als er den Krug und die neue Tasse auf den Stuhl neben dem Bett gestellt hat, sieht lächelnd auf die beiden Schlafenden. Es ist ein richtig schönes Bild, das sich ihm bietet: Yari kuschelt sich an Kai, der auf dem Rücken liegt und gar nicht zu bemerken scheint, dass er den Arm um ihn gelegt hat.
Als Yari die Augen aufschlägt und ihn verschlafen ansieht, sagt Ren lächelnd: »Guten Morgen. Entschuldige, ich wollte dich nicht wecken. Ich habe frischen Tee gebracht. Wie geht es dir?«
»Geht so, besser als gestern.« Nur mit Mühe kriegt Yari die Worte aus seinem schmerzenden Hals, der durch die andauernden Hustenattacken ziemlich mitgenommen ist. Erst jetzt, als er versucht, sich etwas aufzurichten, merkt er, dass Kai den Arm um ihn gelegt hat und sieht ihn verwirrt an.
Ren grinst. »Wenn du dich so an ihn kuschelst, musst du dich nicht wundern, wenn im Laufe der Nacht sein Arm auf deine Schulter wandert.« Aufmerksam mustert er Yaris Gesicht. »Ich lege dir mal die Hand auf die Stirn und dann auf deinen Hals, damit ich abschätzen kann, wie es mit deinem Fieber aussieht«, warnt er ihn leise vor, ehe er es tut. Dennoch spannen sich die Muskeln unter seinen Fingern reflexartig an, als er die Hand leicht auf den Hals des Kranken legt. »Das Fieber ist deutlich gesunken. Wenn du Glück hast, ist das Schlimmste schon überstanden«, versucht er Yari etwas aufzumuntern. »Ich mache dir zum Frühstück wieder einen Haferbrei und diesmal wird alles aufgegessen.«
Yari verzieht das Gesicht.
»Ich weiß, dass du kein Freund davon bist, aber etwas anderes wirst du bei deinen Halsschmerzen noch nicht runterkriegen und dein Körper braucht die Energie. Dafür gibt’s dann zum Mittagessen und am Abend noch einmal Hühnersuppe.«
Yari nickt ergeben, ehe er herzhaft gähnen muss. Kaum zu glauben, da schläft er seit zwei Tagen beinahe ununterbrochen und ist trotzdem immer noch müde.
»Versuch noch ein wenig zu schlafen. Das ist sowieso die beste Medizin, die es gibt.« Lächelnd lässt Ren die beiden wieder allein.
Seinen Kopf wieder auf Kais Schulter ablegend, versucht Yari, dem Rat des alten Mannes nachzukommen. Irgendwo in seinem Unterbewusstsein formt sich die Erkenntnis, dass es eigentlich ganz schön ist, wie er gerade von Kais Arm umfasst daliegt.
Kaum ist er eingeschlafen, befindet er sich plötzlich auf einer großen Sanddüne. Verwirrt dreht er sich um seine eigene Achse, als er plötzlich am Rand der Düne eine Person erkennt, die ihn ansieht, kann aber nicht erkennen, wer es ist.
»Hast du endlich verstanden, was ich dir die ganze Zeit sagen wollte, Jamon?«
Verwirrt blickt er zu der Person.
»Was meinst du?« Er möchte zu der Person gehen, aber je mehr er sich auf sie zubewegt, desto weiter geht sie weg.
»Jamon, lerne wieder zu vertrauen. Nur dann kannst du dich und auch mich wiederfinden.«
Plötzlich ist die Person verschwunden und Yari wird aus seinem Traum gerissen.
Schwer atmend liegt Yari mit weit aufgerissenen Augen da. Deutlich kann er die Worte immer noch in seinem Verstand hören, beinahe so, als hätte er nicht geträumt, sondern im wachen Zustand mit jemandem geredet.
»Vertrauen … nur wie?«, murmelt er, sein Gesicht dabei an Kais Schulter schmiegend, spürt er doch nun wieder deutlich den Wunsch in sich, sich zurückzuziehen und zu verkriechen. Doch da ist auch die Seite in ihm, der er in den letzten beiden Tagen aufgrund seiner Schwäche nachgegeben hat und die sagt laut und deutlich, dass Kai keine Gefahr, sondern Schutz darstellt.
Könnte es sein, dass diese Seite von ihm vielleicht recht hat? Angestrengt versucht er, sich an die letzten beiden Tage zu erinnern: Es gab so viele Situationen, in denen ihn Kai einfach hätte überwältigen können, aber er hat es nicht getan. – Warum nicht? Sein letzter Besitzer hat ihm auch immer gesagt, dass er ihn liebt, bevor er ihn in seinen sogenannten Spielkeller geschleift hat.
Während Yari versucht, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen, übermannen ihn wieder Müdigkeit und Fieber, sodass er schließlich ohne Antwort wieder einschläft.
Ein unangenehmes Kribbeln in seiner Schulter lässt Kai aufwachen. Noch im Halbschlaf will er sich umdrehen, was aber nicht funktioniert. Er stellt nach einem Moment der Verwirrung fest, dass sich Yari so an ihn rangekuschelt hat, dass er sich kaum noch bewegen kann, sodass sein Arm eingeschlafen ist.
Vorsichtig befreit er sich etwas, und lässt dann versonnen seine Finger leicht auf Yaris Schulter hin und her wandern. Er wird das Vertrauen von ihm zurückgewinnen. Egal, was es ihn kosten wird.
Da kommt Ren mit einer dampfenden Schüssel ins Zimmer. »Guten Morgen, mein Junge.« Er stellt die Schüssel mit Yaris Haferbrei auf den Stuhl. »Willst du hier oben essen oder kommst du mit runter?«
Kai sieht Yari an, der sich gerade von ihm wegdreht und jetzt mit dem Rücken zu ihm daliegt. »Ich komme mit runter. Ich muss sowieso ins Bad.«
Vorsichtig, um den Schlafenden nicht zu wecken, steht Kai auf und folgt seinem Großvater leise aus dem Zimmer.
Als er frisch geduscht in die Küche kommt, nimmt er sich als Erstes seinen heiß geliebten Schwarztee. Die Tasse in den Händen haltend, setzt er sich an den bereits gedeckten Frühstückstisch.
Wie immer hat der Tee eine belebende Wirkung auf ihn, weshalb er schon deutlich besser gelaunt ist, als er sich sein Brötchen schmiert. »Hast du schon gegessen?«, fragt er nach ein paar Bissen, da sein Großvater gar nicht mitisst.
Über die Frage lachend putzt Ren weiter Karotten. »Ich bin schon seit Sonnenaufgang wach. Natürlich habe ich schon gegessen.«
»Ups. Habe ich denn so lange geschlafen?« Verwirrt blickt Kai aus dem Fenster. »Wie spät ist es denn?« Manchmal wünscht er sich die Möglichkeit herbei, einfach mal auf die Uhr sehen zu können. Dies war damals eines der wenigen Dinge, die er bei den Takeshis gut gefunden hat.
»Vor Kurzem hat die Kirchenglocke achtmal geläutet. Ja, du hast lange geschlafen. Was aber nicht verwunderlich ist, schließlich kümmerst du dich seit zwei Tagen rund um die Uhr um Yari und dann auch noch um die Pferde, die ich übrigens schon gefüttert habe, also iss in Ruhe dein Brötchen.«
Kai, der gerade aufstehen und in den Stall gehen wollte, lässt sich erleichtert wieder auf seinen Stuhl sinken. »Danke, aber das nächste Mal weck mich bitte auf. Schließlich sollst du mit deinem Rücken nicht so schwer heben und der Heustaub ist auch nicht gerade das Beste für dein Asthma.«
Der Aufforderung seines Großvaters nachkommend, nimmt Kai ein weiteres Brötchen in die Hand und genießt sein Frühstück. Danach räumt er den Tisch ab und spült auch das Geschirr. Bevor er die Küche verlässt, wendet er sich noch einmal zu seinem Großvater um. »Also, wenn was ist, ich bin dann im Stall.« Bevor er jedoch in den Stall geht, sieht er noch einmal nach Yari, der immer noch friedlich schläft.
Im Stall füllt Kai zuerst die leeren Netze und legt sie für später bereit, dann füllt er die Wassertröge, bevor er die beiden Schlawiner ausgiebig striegelt, was Blacky und Rocky genießen und dabei ihre Köpfe vor lauter Wohlgefallen nach oben recken.
Schließlich räumt er die Putzsachen wieder weg und gibt den beiden noch je eine Karotte. Dabei hört er, dass die Kirchenglocken neunmal schlagen. Seufzend verabschiedet er sich von den Pferden und geht wieder hoch zu Yari.
Oben im Zimmer trifft er Yari zu seiner Überraschung im Bett sitzend an.
»Yari!« Nur mit Mühe kann er sich zurückhalten, nicht zu ihm zu rennen und die Arme um ihn zu schlingen. »Geht’s dir etwas besser?«
Fix und fertig, weil er vorhin aufgestanden ist, um den Nachttopf zu benutzen, nickt Yari. »Ja, es geht. Ich bin nur etwas erschöpft und mir ist ein wenig kalt.« Aufmerksam beobachtet er Kais Gesicht, weil er versucht einzuschätzen, was dieser nun vorhat.
Da ihn Yari schon häufiger so betrachtet hat, reagiert Kai nicht wirklich darauf. Zwar wüsste er schon gern, was in seinem Freund vorgeht, wenn dieser ihn so ansieht, aber er möchte ihn nicht mehr als nötig ausfragen.
Nun fällt sein Blick auf den Haferbrei, der noch vollkommen unberührt auf dem Stuhl steht. »Yari, du solltest den Haferbrei wirklich essen.« Mit ernstem Gesicht nimmt er die Schüssel und hält sie Yari vors Gesicht.
Angewidert, dreht Yari den Kopf zur Seite. »Ich will aber nicht.« Zusätzlich zieht er jetzt sogar noch die Beine an und schlingt seine Arme darum.
»Yari, bitte.« Beschwörend sieht Kai ihm in die Augen. »Oder soll ich dich etwa wieder füttern?« Grinsend hält er ihm den gefüllten Löffel vor die Nase. »Na los. Aufmachen.«
Empört will Yari etwas erwidern, da schiebt ihm Kai grinsend den Löffel in den Mund. »War das jetzt so schlimm?«, fragt er, als er den leeren Löffel wieder herauszieht.
Am liebsten würde Yari den Haferbrei sofort wieder ausspucken, aber das ginge dann doch zu weit, weshalb er den verhassten Brei mühsam runterschluckt. »Das war nicht fair«, beschwert er sich mit heiserer Stimme durch die Zähne hindurch.
»Entschuldige, Yari, aber entweder isst du selbst oder ich füttere dich, denn essen musst du. Also?« Auffordernd hält er ihm wieder die Schüssel hin.
Widerwillig nimmt Yari sie entgegen, beginnt jedoch nur lustlos, in dem Brei herumzustochern.
»Yari. Das ist nicht essen.« So langsam weiß Kai wirklich nicht mehr, was er noch machen soll, um den Patienten zum Essen zu bewegen.
Doch dann kommt ihm eine Idee. »Wenn du die Schüssel leer isst, erfülle ich dir einen Wunsch.«
Überrascht sieht Yari auf. »Egal welchen?« Mit klopfendem Herzen sitzt er da.
Kai nickt mit einem erleichterten Lächeln. »Egal welchen – solange er in meiner Macht liegt.«
»Okay, dann wünsche ich mir …« Nicht wissend, was er jetzt sagen soll, bricht Yari bedrückt ab. Was soll er sich nur wünschen? Er weiß es beim besten Willen nicht.
Kai spürt, dass Yari im Moment überfordert ist, weshalb er seine Hand leicht auf dessen Unterarm legt und sanft zudrückt, um ihn ein wenig aufzumuntern. »Du kannst es mir auch noch später sagen – wenn du weißt, was du willst. Nur iss jetzt bitte den Haferbrei.« Er hätte sofort gewusst, was er sich von Yari wünschen würde.
Yari nickt erleichtert und beginnt dann tatsächlich im Zeitlupentempo den Brei zu essen – auch wenn sein Gesichtsausdruck deutlich sagt, dass er ihn am liebsten wieder ausspucken würde.
Schließlich hat er auch den letzten Bissen runtergewürgt und legt den Löffel mit einem erleichterten Seufzen in die Schüssel.
»Na, war das jetzt so schlimm?« Grinsend nimmt Kai die leere Schüssel und drückt Yari dafür eine Tasse Tee in die Hand. »Um den Geschmack runterzuspülen.«
Yari trinkt beinahe die ganze Tasse leer, um den ekligen Geschmack loszuwerden. »Danke.« Aufmerksam sieht er zu, wie Kai aufsteht.
»Ich bringe die Schüssel in die Küche und leere den Nachttopf. Soll ich dir etwas mitbringen?« Fragend sieht er Yari an.
»Gilt das dann als mein Wunsch?«
Von dem plötzlichen Misstrauen erstaunt, schüttelt Kai den Kopf. »Nein. Dein Wunsch sollte etwas Besonderes für dich sein und du kannst dir so viel Zeit dafür lassen, wie du willst.« Geduldig bleibt er im Türrahmen stehen und wartet ab, ob Yari noch etwas sagt.
Mit sich ringend sitzt Yari da und knetet seine Decke durch. »Kann ich … kann ich dann ein Buch haben?« Unsicher blickt er von der Decke auf. Er hat es bis jetzt bis auf das eine Mal noch nicht gewagt, sich eines der Bücher aus dem Regal im Wohnzimmer zu nehmen.
Lächelnd nickt Kai. »Natürlich. Ich bringe dir nachher gleich eins. Aber leg du dich jetzt erst mal wieder hin und ruh dich aus.« Irgendwie verwundert ihn die Bitte schon, hätte er doch mit allem gerechnet, aber nicht, dass Yari ein Buch haben möchte.
Unten geht Kai als Erstes ins Bad, um den Nachttopf zu leeren. Er hofft, dass er das nicht mehr allzu lange machen muss. Danach geht er in die Küche, wo er die Schüssel und den Löffel sorgfältig abspült und schon mal neugierig zu den Töpfen auf dem noch kalten Herd schielt. Was es heute wohl zum Mittagessen geben wird?
Dann geht er ins Wohnzimmer, um ein Buch für Yari auszusuchen. Was soll er ihm bloß bringen? Als er in den Raum kommt, sieht er Ren lesend auf dem Sofa sitzen.
»Großvater, Yari möchte gern ein Buch haben. Hast du vielleicht eine Idee, was ich ihm geben könnte?« Suchend lässt er seinen Blick über die verschiedenen Buchrücken wandern, die teilweise schon sehr stark abgenutzt sind, da sie sich schon seit Jahrzehnten im Besitz der Mutsuos befinden.
Ren sieht zu, wie sein Enkel ein Buch nach dem anderen in die Hand nimmt, nur um es dann wieder zurück ins Regal zu stellen. »Also bevor du ihm Stolz und Vorurteil gibst, würde ich dir die Unendliche Geschichte empfehlen.«
Nachdenklich liest sich Kai den Klappentext durch. »Warum ausgerechnet die Unendliche Geschichte?«
»Ganz einfach. In Stolz und Vorurteil geht es zwar um Liebe, aber damit kann Yari im Moment noch gar nichts anfangen. Im Gegenteil, es könnte ihn nur noch mehr verwirren oder sogar verunsichern.« Ernst erwidert er den Blick seines Enkels. »Dafür geht es in der Unendlichen Geschichte um Mut, Freundschaft und Vertrauen. Darum glaube ich, dass das Buch das richtige für Yari sein könnte.«
Im ersten Moment ergeben die Worte seines Großvaters für ihn keinen Sinn, aber dann fällt Kai ein, was Rashid ihm am Freitag erzählt hat. Mit großen Augen sieht er nun wieder zu seinem Großvater: »Yari muss lernen, was Freundschaft und Vertrauen wirklich bedeuten und das Buch soll ihm dabei helfen! Ist es das, was du sagen willst?«
Stolz auf seinen Enkel nickt Ren. »Ja genau. Wir zeigen es ihm zwar jeden Tag, indem wir ihn wie ein Familienmitglied behandeln, aber so eine Geschichte wie diese kann den, sagen wir mal Lernprozess noch zusätzlich unterstützen.«
Dankbar für den Tipp umarmt Kai seinen Großvater kurz. »Danke, Großvater. Ich hab dich lieb.«
Glücklich erwidert Ren die Umarmung. »Ich habe dich auch lieb, mein Junge und nun geh schon zu Yari und bring ihm das Buch. Dann hat er morgen wenigstens was zu lesen, wenn du wieder im Laden stehen musst.«
Lachend wendet sich Ren wieder seinem Buch zu. Schließlich will er endlich wissen, ob er mit seiner Vermutung, dass der Graf der Mörder ist, richtig liegt.
Als Kai in Yaris Zimmer kommt, wartet dieser schon auf ihn.
»Entschuldige, ich konnte mich nicht entscheiden, was ich dir bringen soll.« Er stellt den Nachttopf wieder ans Fußende und hält Yari das Buch hin. »Ich hoffe, du magst es.«
Neugierig mustert Yari den Einband, auf dem die Abbildung von zwei ineinander verschlungenen Schlangen zu sehen ist, die sich gegenseitig in den Schwanz beißen. »Keine Ahnung, ich weiß nicht, ob ich die Geschichte von Atreyu und Fuchur kenne.« Müde legt er das Buch beiseite. »Danke, ich werde es später lesen, jetzt bin ich einfach noch zu erledigt.«
Kaum hat er sich hingelegt, zieht ihm Kai die Decke fürsorglich bis zum Kinn hoch. »Damit du nicht frierst.« Zärtlich streicht er ihm, wie so oft in den letzten Tagen, die hartnäckige Strähne aus dem Gesicht. »Ich bleibe noch eine Weile hier bei dir, aber dann muss ich leider wieder in den Stall.«
Mit seinem eigenen Buch macht er es sich nun wieder so auf dem Bett gemütlich, dass sich Yari an ihn kuscheln kann. Allerdings schlägt er das Buch nicht auf, sondern hält es einfach nur in der Hand. Dabei überlegt er, ob er Yari darauf ansprechen soll, dass er die Geschichte wohl schon kennt, da er die beiden wichtigsten Charaktere einfach so beim Namen genannt hat.
Schweigend sitzen beziehungsweise liegen die beiden eine ganze Weile einfach nur da.
»Bis wann muss ich dir meinen Wunsch sagen?«, wagt es Yari nach einer Weile unsicher zu fragen. Dabei mustert er Kai ganz genau. Nicht dass ihm noch etwas Wichtiges in dessen Mimik oder Körpersprache entgeht.
Sich immer wieder sagend, dass diese Vorsicht von Yaris Seite aus nur natürlich ist, lächelt Kai ihn so ehrlich und herzlich an, wie er nur kann. »Du hast alle Zeit der Welt, Yari. Wenn du willst, gebe ich es dir sogar schriftlich, dass du bei mir einen Wunsch frei hast.«
Erleichtert und überrascht sieht er, wie sich die Augen Yaris weiten und ein Glanz in ihnen auftaucht, den er bisher bei ihm so noch nie gesehen hat.
Yari weiß nicht, was es ist, aber plötzlich hat er das Gefühl, als würde sich etwas in ihm verändern. Kurz will ihn das bekannte Misstrauen übermannen, doch dann wird dieses von etwas vollkommen anderem zurückgedrängt, das er allerdings nicht benennen kann. »Das würdest du wirklich machen?«
Ungläubig sieht er zu, wie Kai ohne ein Wort zu sagen aufsteht, aus dem Zimmer geht und mit Papier und Bleistift zurückkommt. Neugierig setzt Yari sich vorsichtig auf, um einen Blick auf das Blatt erhaschen zu können.
Todernst stellt sich Kai an den Tisch und beginnt zu schreiben. Noch immer hat er kein Wort gesagt und das mit Absicht. Erst als er das Geschriebene noch einmal durchgelesen hat, setzt er sich wieder zu Yari auf die Matratze und hält ihm das Blatt hin.
Neugierig nimmt Yari es und liest:
Ich, Kai Mutsuo, halte hiermit schriftlich fest, dass Yari einen Wunsch frei hat, wenn er bis zu seiner Genesung von der Sommergrippe seinen Haferbrei isst. Den Wunsch kann er jederzeit einfordern.
Izusan, 12.06.2016, Kai Mutsuo
»Wenn ich noch etwas ergänzen soll, dann sag es ruhig.«
Immer wieder liest Yari die geschriebenen Worte und kann es einfach nicht glauben. Vollkommen überfordert lässt er das Papier schließlich sinken. »Nein … ich … ich … Es ist gut so«, schafft er mit Müh und Not heiser zu antworten.
Dem Blick von Kai ausweichend fixiert er eine Falte auf seiner Bettdecke. »Würdest du mich bitte allein lassen?«
Enttäuscht, dass ihm Yari nun plötzlich wieder ausweicht, steht Kai auf. »Natürlich. Ich muss sowieso in den Stall.« Das Brennen in seinen Augen ignorierend, dreht sich Kai an der Tür jedoch noch einmal um. »Wenn was ist: Großvater sitzt im Wohnzimmer. Bis nachher.«
Kai flüchtet geradezu aus Yaris Nähe und bleibt erst stehen, als er unten an der Hintertür seine Schuhe anziehen muss.
Bedrückt beobachtet Ren Kais Flucht. Zwar hat er nicht mitbekommen, was zwischen den beiden Jungs vorgefallen ist, aber er kann es sich denken. Wahrscheinlich ist Yari wieder ein wenig in sein bekanntes Verhaltensmuster zurückgefallen, weil ihn etwas verunsichert oder überfordert hat. Im ersten Moment will Ren Kai folgen, doch dann entscheidet er sich dazu, zuerst nach seinem zweiten Enkel zu sehen.
Vor der offenen Tür bleibt er stehen und klopft an den Türrahmen.
Erstaunt hebt Yari den Blick von dem Text, den er in den letzten Minuten immer wieder durchgelesen hat und inzwischen schon beinahe auswendig aufsagen kann. »Ja?« Aufmerksam beobachtet er, wie Ren lächelnd ins Zimmer kommt.
»Wie geht’s dir Ju… Yari?« Die Hände deutlich sichtbar hängen lassend, bleibt Ren neben dem Sitzenden stehen.
Verwirrt über die Frage, braucht Yari eine Weile, um seine Gedanken zu ordnen. »Es geht mir gut.« Als er den Blick von Ren sieht, fügt er ergeben seufzend hinzu: »So gut es mir mit Fieber und Halsschmerzen gehen kann.«
Verständnisvoll nickt Ren. »Ja, Halsschmerzen sind fies, aber du scheinst mir zu den Menschen zu gehören, die zwar heftig aber dafür nur relativ kurz krank sind. Also hast du noch mal Glück gehabt, das hätte auch länger dauern können.«
Unauffällig versucht Ren zu lesen, was denn da auf dem Papier steht, aber er kann es beim besten Willen nicht erkennen und danach zu fragen lässt er lieber bleiben. Wenn er die Körpersprache von Yari richtig deutet, wird dieser ihm nämlich kaum eine Antwort darauf geben und den Zettel heftig verteidigen. Diesen Schatz wird er sicher nicht mehr hergeben.
Yari zuckt erschrocken zusammen, als Ren ihm eine Hand auf die Stirn legt.
Zufrieden zieht Ren seine Hand zurück und verzichtet darauf, sie auch auf den Hals zu legen. »Ich denke, morgen kannst du wieder aufstehen, wenn es mit deiner Genesung so weitergeht. Wenn du aber schon heute mal kurz aufstehen willst, dann gib mir oder Kai Bescheid, dann helfen wir dir.«
Er schickt sich an, den Raum zu verlassen. »Wir bringen dir nachher deine Hühnersuppe hoch.« Mit einem letzten Blick zum Bett geht er.
Unterdessen ist Kai dabei, die leeren Netze zu stopfen und seine Gedanken zu ordnen. Langsam wird ihm klar, dass er die Situation vorhin falsch eingeschätzt hat, denn Yari war gar nicht abweisend, sondern überfordert. Da ist es kein Wunder, dass er erst einmal allein sein wollte.
Nun deutlich ruhiger als zuvor, geht Kai wieder zurück ins Haus und wäscht sich die Hände, bevor er in die Küche geht, aus der es schon verlockend duftet.
»Reis und Reste, mehr gibt es heute nicht«, zwinkert Ren seinem Enkel schmunzelnd zu.
Während sie essen, mustert Ren seinen Enkel neugierig. »Sag mal, was hast du Yari da geschrieben?« Wenn er schon nicht Yari fragen kann, dann muss jetzt eben Kai Rede und Antwort stehen.
»Ich habe ihm schriftlich gegeben, dass er einen Wunsch frei hat, wenn er den Haferbrei isst.«
»Du hast es ihm schriftlich gegeben?«
Todernst nickt Kai. »Ja, denn er konnte es irgendwie gar nicht wirklich glauben. Er hat befürchtet, dass er verfallen würde, wenn er ihn nicht gleich einlöst.«
Nun wird Ren klar, warum sich Yari so sehr an das Blatt Papier geklammert hat. »Kai, das hast du super gemacht!« Lobend drückt er seinem Enkel die Schulter. »Yari hat das Blatt wie den größten Schatz der Welt festgehalten.«
Nun ist es Kai, der seinen Großvater ungläubig anstarrt. »Den größten Schatz der Welt?«, murmelt er ungläubig.
»Kai, er ist ein Sklave. Er hat sich vermutlich noch nie etwas wünschen dürfen, geschweige denn, dass er es schriftlich bekommen hat. Dieser Wunsch, den du ihm versprochen hast, ist für ihn unendlich wertvoll.«
»Oh Mann!« Kai schlägt sich mit der Hand an die Stirn. »Du hast vollkommen recht.« Nun beginnt er breit zu grinsen. »Ein Wunsch, der größte Schatz der Welt … hört sich wie ein Buchtitel an.«
Nach dem Essen drückt Ren seinem Enkel die große Tasse mit der Suppe für Yari in die Hand und schickt ihn nach oben.
Seltsamerweise ist Kai ziemlich nervös, als er in das Zimmer seines Freundes geht. »Yari, dein Mittagessen.« Vorsichtig, um nicht aus Versehen etwas von der Suppe zu verschütten, setzt er sich zu ihm aufs Bett und wartet geduldig, bis sich Yari so hingesetzt hat, dass er die große Tasse bequem halten kann.
Fröstelnd legt Yari seine Hände um das warme Gefäß. Obwohl er zuvor nicht wirklich hungrig gewesen ist, meldet sich sein Magen nun mit einem lauten Knurren zu Wort.
Er leert die ganze Tasse, ehe er Kai ansieht und nun auf einmal verlegen wird. »Du, Kai …«, druckst er herum.
»Was denn, Yari?« Geduldig wartet Kai ab, was sein Freund ihm sagen möchte.
Die Tasse in den Händen drehend, lässt Yari seinen Blick durch den Raum gleiten, bis er wieder bei Kai landet. »Könntest du mir die Treppe runterhelfen? Ich möchte gern ins Badezimmer.« Es ist ihm sehr unangenehm, dass er momentan auf die Hilfe von Kai angewiesen ist. Es ist sogar noch schlimmer als damals, an seinem ersten Tag bei den Mutsuos.
»Natürlich helfe ich dir.« Gelassen nimmt Kai die leere Tasse und stellt sie auf den Stuhl.
Danach wartet er geduldig ab, bis Yari die Decke zurückgeschlagen und seine Beine über die Bettkante geschwungen hat.
Mit Müh und Not schafft es Yari, mit der Hilfe von Kai aufzustehen. Sich nun schwer auf Kais Schulter abstützend, geht er langsam, Schritt für Schritt, bis zur Treppe. Nun kommt der schwerste Teil des Weges. Vorsichtig, sich am Treppengeländer und an Kai festhaltend, setzt er ganz langsam einen Fuß vor den anderen, bis er schließlich schwer atmend die letzte der dreizehn Stufen geschafft hat. Mit geschlossenen Augen holt Yari ein paar Mal tief Luft, ehe sie die letzten Meter in Angriff nehmen.
Als sie dann endlich bei der Badezimmertür angekommen sind, löst er sich vorsichtig von Kai. »Ich glaube, den Rest schaffe ich jetzt alleine.«
Kai nickt, bleibt aber sicherheitshalber neben der Tür stehen, damit er sofort hören kann, wenn es Probleme geben sollte.
Im Badezimmer genießt es Yari, dass er endlich wieder normal die Toilette benutzen kann, auch wenn der Weg für ihn gerade unglaublich anstrengend gewesen ist. Eigentlich würde er auch noch gern duschen, aber das muss mindestens noch bis morgen warten. Also begnügt er sich damit, sich am Waschbecken das Gesicht zu waschen und die Zähne zu putzen, wobei ihm mehr als einmal schwindlig wird. Sich zu rasieren schafft er nicht.
Schließlich fühlt sich Yari trotz allem wieder so halbwegs wie ein Mensch und öffnet die Tür. Er bemerkt erstaunt, dass Kai offensichtlich auf ihn gewartet hat und ihn jetzt lächelnd ansieht.
»Bist du fertig?« Als Yari nickt, legt er ihm den Arm um die Taille, sodass Yari wiederum ihm den Arm um die Schulter legen muss. »Dann würde ich sagen, wieder ab ins Bett mit dir. Nicht dass du dich noch vollkommen verausgabst.«
Dankbar nickt Yari und lässt es zu, dass ihm Kai wieder die Treppe hoch hilft und dann im Bett die Decke um seine Schultern feststeckt, nachdem er sich erschöpft hingelegt hat.
Fix und fertig schließt Yari die Augen, reißt sie aber sofort wieder auf, als er merkt, dass Kai ihn allein lassen will. »Bleibst du nicht?« Die Panik ist deutlich in seiner Stimme zu hören. Er kann sich kaum noch wach halten, aber ohne Kai kommen die Albträume.
Die leere Tasse und den Teekrug in Händen, bleibt Kai stehen. »Yari, ich … na gut. Ich bringe die Tasse nur schnell nach unten und komme dann mit der Buchhaltung und einer neuen Kanne Tee zurück.«
Deutlich kann er sehen, dass sich Yari gegen den Schlaf wehrt, aber er kann beim besten Willen nicht immer an dessen Bett sitzen und nichts tun. Spätestens morgen wird er wieder im Laden stehen müssen und Yari dadurch größtenteils allein sein.
Ergeben nickt Yari und sieht Kai nach. Er schafft es, so lange wach zu bleiben, bis Kai wieder zurück ist und es sich mit dem Stuhl aus seinem eigenen Zimmer am Tisch bequem gemacht hat.
Ein paar Minuten kann Yari ihm noch zuzusehen, wie er die Bücher aufschlägt und diverse Stoffbeutel daneben legt, dann ist er auch schon eingeschlafen.