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Der Seewolf Erster Teil

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Ich weiß kaum, wo beginnen, wenn ich zuweilen auch im Scherz Charley Furuseth alle Schuld gebe. Er besaß ein Sommerhaus auf dem Lande, in Mill Valley, im Schatten des Tamalpais, bezog es aber nur, wenn er sich die Wintermonate vertreiben und, um auszuspannen, Nietzsche und Schopenhauer lesen wollte. Kam der Sommer, so gab er einem heißen, staubigen Dasein in der Stadt mit unablässiger Arbeit den Vorzug. Wäre es nicht meine Gewohnheit gewesen, ihn allwöchentlich von Sonnabend nachmittag bis Montag morgen zu besuchen, so hätte mich eben dieser Januar-Montagmorgen nicht auf der Bucht von San Francisco gesehen.

Das Schiff, auf dem ich mich befand, bot alle Sicherheit. Die ›Martinez‹ war eine neue Dampffähre, die ihre vierte oder fünfte Fahrt auf der Route Sausalito-San Francisco zurücklegte. Aber der dichte Nebel, der die Bucht wie mit einer Decke überzog, und von dem ich als Landratte keine rechte Vorstellung hatte, war gefahrdrohend. In der Tat erinnere ich mich noch der sanften Erregung, mit der ich meinen Platz vorn auf dem Oberdeck gerade unterhalb des Lotsenhauses eingenommen hatte, während die Geheimnisse des Nebels meine Phantasie umspannen. Es wehte eine frische Brise, und eine Zeitlang befand ich mich allein, in feuchte Finsternis gehüllt – allein und doch nicht allein, denn ich hatte das unbestimmte Gefühl, daß sich der Lotse und noch ein Wesen, das ich für den Kapitän hielt, oben im Glashause über meinem Kopfe befanden.

Ich dachte daran, wie bequem die Arbeitsteilung war, die mich der Mühe enthob, Nebel, Winde, Gezeiten und Schiffahrtskunde zu studieren, und mir doch erlaubte, meinen Freund jenseits der Bucht zu besuchen. Ich stellte Betrachtungen über den Vorteil der Spezialisierung des Menschen an. Das Sonderwissen eines Lotsen und eines Kapitäns genügte für viele Tausende, die ebensowenig von See und Schiffahrt verstanden wie ich. Und ich wiederum hatte es nicht nötig, meine Kräfte auf das Studium unzähliger Dinge zu verschwenden, sondern konnte mich auf einige wenige konzentrieren, wie augenblicklich auf eine Untersuchung der Stellung Poes zu der übrigen amerikanischen Literatur – worüber ich, nebenbei bemerkt, gerade einen Aufsatz in der Zeitschrift ›Atlantic‹ geschrieben hatte. Als ich an Bord gekommen war, hatte ich beim Durchschreiten der Kajüte einen starken Herrn mit den Augen verschlungen, der in die, ›Atlantic‹ und offenbar gerade in meinen Aufsatz vertieft war. Und auch hier wieder das System der Arbeitsteilung: Das Sonderwissen von Lotsen und Kapitän brachten den starken Herrn sicher von Sausalito nach San Francisco und erlaubten ihm dabei, sich an den Früchten meines Sonderwissens über Poe zu laben.

Ein Mann mit rotem Gesicht unterbrach meine Betrachtungen. Er warf geräuschvoll die Kajütentür hinter sich zu und stapfte schwerfällig aufs Deck hinaus. Er warf einen raschen Blick auf das Lotsenhaus, betrachtete den Nebel, stapfte hin und zurück über das Deck (es sah aus, als hätte er künstliche Beine) und blieb endlich spreizbeinig und mit einem Ausdruck herber Freude im Gesicht neben mir stehen. Ich ging wohl nicht fehl in meiner Vermutung, daß er seine Tage auf dem Meere verbracht hatte.

»Scheußliches Wetter! Ein Wetter, das einem vorzeitig graue Haare verschafft!« rief er und nickte in der Richtung des Lotsenhauses.

»Ich hätte nicht geglaubt, daß hier besondere Kunst nötig sei!« antwortete ich. »Es sieht so einfach aus wie das Abc. Der Kompaß gibt die Richtung an. Entfernung und Fahrgeschwindigkeit sind bekannt. Ich sollte meinen, daß alles mit mathematischer Genauigkeit zu berechnen wäre!«

»Kunst!« schnaubte er. »Einfach wie das Abc! Mathematische Genauigkeit!«

Er schien sich zu recken, stemmte sich nach hinten gegen den Wind und starrte mich an: »Wie steht es zum Beispiel mit Ebbe und Flut hier im ›Goldenen Tor‹?« fragte oder brüllte er vielmehr. »Welche Fahrt macht die Ebbe? Wie läuft die Strömung, he? Bitte, horchen Sie mal! Die Glocke einer Ankerboje. Wir sind gerade darüber! Merken Sie, wie wir den Kurs ändern?«

Aus dem Nebel erklang das klagende Stöhnen einer Schiffsglocke, und ich sah, wie der Lotse das Steuerrad mit großer Schnelligkeit drehte. Das Läuten, das eben noch vor uns zu tönen schien, kam jetzt von der Seite. Unsere eigene Schiffspfeife fauchte heiser, und von Zeit zu Zeit quollen die Töne anderer Pfeifen aus dem Nebel hervor.

»Das ist eine Fähre!« sagte der Fremde, als jetzt rechts Pfeifen ertönte. »Und da! Hören Sie? Da bläst einer mit dem Munde! Höchstwahrscheinlich ein kleiner Schoner. Aufpassen, Mr. Schoner! Ach, hab' ich's nicht gedacht! Jetzt ist bei denen die Hölle los!«

Die unsichtbare Fähre stieß ein Nebelhornsignal nach dem andern aus, und das kleine Horn tutete schreckenerregend.

»Und jetzt beweisen sie sich gegenseitig ihre Hochachtung und versuchen klarzukommen«, fuhr der Mann mit dem roten Gesicht fort, als das rasende Pfeifen aufhörte.

Sein Gesicht glänzte, seine Augen blitzten vor Aufregung, während er mir die Laute der Nebelhörner und Sirenen in die menschliche Sprache übersetzte. »Das da links ist eine Dampfsirene. Und hören Sie bloß diesen Burschen, der schreit, als säße ihm ein Frosch in der Kehle: meiner Meinung nach ein Motorschoner, der gegen die Ebbe ankämpft!«

Eine schrille kleine Pfeife, die wie verrückt pfiff, war gerade vor uns und anscheinend sehr nahe. Auf der ›Martinez‹ wurden Gongs angeschlagen.

Unsere Schaufelräder hielten an, ihr Pulsschlag starb, setzte dann wieder ein. Die schrille kleine Pfeife voraus klang wie das Zirpen einer Grille in dem Geschrei großer Tiere, schoß seitwärts durch den Nebel und wurde schnell schwach und immer schwächer. Durch einen Blick versuchte ich meinen Gefährten um Aufklärung.

»Den sticht der Haber«, sagte er. »Ich wünschte fast, wir hätten den kleinen Hammel in den Grund gebohrt! Diese Bengels machen die Verwirrung nur noch ärger. Und wozu sind sie nütze? Da ist Gott weiß was für ein Esel an Bord, fährt von Pontius zu Pilatus, macht mit seiner Pfeife einen Höllenlärm und erzählt der ganzen Welt: Paßt auf, hier komme ich! Und dabei kann er selber nicht aufpassen. Die Kerle haben auch nicht das geringste Anstandsgefühl!«

Sein unberechtigter Wutausbruch belustigte mich sehr, und während er in seiner Empörung auf und ab stapfte, überließ ich mich wieder der Romantik des Nebels. Und wahrlich: Romantisch war dieser Nebel, wie der graue Schatten unendlicher Mysterien, die über diesem dahingleitenden Fleckchen Erde brüteten, während die Menschen, winzige Sonnenstäubchen und -fünkchen, zu krankhaftem Wohlgefallen an der Arbeit verdammt, ihre Holz- und Stahlmechanismen durch das Herz dieses Mysteriums zu jagen suchten, sich blindlings ihren Weg durchs Unsichtbare bahnten und sich Worte der Zuversicht zuschrien, obgleich ihnen das Herz vor Ungewißheit und Furcht zitterte. Das Lachen meines Gefährten brachte mich wieder zu mir. Auch ich hatte getastet und gezappelt, während ich mir einbildete, scharfsichtig das Mysterium zu durchschauen.

»Holla! Da kommt uns jemand ins Gehege!« sagte er. »Hören Sie? Er kommt schnell. Gerade voraus! Ich wette, er hört uns noch nicht. Es weht in der falschen Richtung.«

Die frische Brise kam uns gerade entgegen, und ich hörte deutlich die Schiffspfeife ein wenig seitwärts und dabei dicht vor uns.

»Dampffähre?« fragte ich.

Er nickte und fügte dann hinzu: »Würde sonst nicht so wie nach der Richtschnur laufen!« Er lachte unterdrückt. »Da oben werden sie unruhig.«

Ich blickte hinauf. Der Kapitän hatte Kopf und Schultern zum Lotsenhaus herausgesteckt und starrte gespannt in den Nebel, als könnte er ihn durch bloße Willensanstrengung durchdringen. Sein Gesicht war unruhig, wie jetzt auch das meines Gefährten, der an die Reling gestapft war und ebenso gespannt in die Richtung starrte, aus der er die unmittelbare Gefahr vermutete.

Dann kam es. Es geschah mit unfaßbarer Schnelligkeit. Der Nebel wich, wie von einem Keil gespalten. Der Bug eines Dampfschiffes tauchte auf, zu beiden Seiten Nebelfetzen mitziehend wie Seegras auf der Schnauze des Leviathans. Ich konnte das Lotsenhaus sehen und bemerkte einen weißbärtigen Mann, der sich, auf die Ellbogen gestützt, weit herauslehnte. Er trug eine blaue Uniform, und ich entsinne mich noch, wie sauber und freundlich er aussah. Seine Ruhe wirkte unter diesen Umständen furchtbar. Er beugte sich dem Geschick, marschierte Schulter an Schulter mit ihm und berechnete kühl den Schlag. Wie er so dalehnte, warf er uns einen ruhigen und nachdenklichen Blick zu, als berechne er genau den Punkt des Zusammenstoßes, und nahm nicht die geringste Notiz von unserm Lotsen, der, blaß vor Wut, schrie: »Nun habt ihr's fertiggebracht!«

Als ich mich umsah, nahm ich wahr, daß die Bemerkung zu einleuchtend war, um noch einer Erläuterung zu bedürfen.

»Halten Sie sich an irgend etwas fest«, sagte der Mann mit dem roten Gesicht zu mir. Er polterte nicht mehr, es schien, als wäre er von der übernatürlichen Ruhe des andern angesteckt. »Hören Sie das Kreischen der Frauen«, sagte er grimmig – fast bitter. Mir kam es vor, als hätte er das alles schon einmal durchgemacht. Ehe ich noch seinen Rat befolgen konnte, war der Zusammenstoß schon erfolgt. Wir mußten wohl gerade mittschiffs getroffen worden sein, denn ich sah nichts, und der fremde Dampfer war schon aus meinem Gesichtskreis geglitten. Die ›Martinez‹ krengte stark, das Holzwerk krachte und splitterte. Ich wurde auf das feuchte Deck geschleudert, und bevor ich mich aufrichten konnte, hörte ich auch schon das Kreischen der Frauen. Es waren die unbeschreiblichsten, haarsträubendsten Töne, die ich je gehört, und mich packte panischer Schrecken. Mir fiel ein, daß in der Kajüte ein Haufen Rettungsgürtel lag, ich wurde aber von der wildstürmenden Menge Männer und Frauen an der Tür aufgehalten und zurückgedrängt. Ich weiß nicht mehr, was in den nächsten Minuten geschah, wenn ich auch die deutliche Vorstellung habe, daß ich von den Gestellen an Deck Rettungsgürtel herunterriß, die der Mann mit dem roten Gesicht den hysterischen Frauen umlegte. Dieses Bild ist meinem Gedächtnis so scharf und deutlich eingeprägt wie ein wirkliches Bild. Es ist ein Gemälde, das ich immer noch vor mir sehe: die zackigen Ränder des Loches in der Kajütenwand, durch das der graue Nebel hereinwirbelte und kreiste; die leeren Sitze, auf denen alles herumlag, was den Eindruck plötzlicher wilder Flucht erweckte: Pakete, Handtäschchen, Schirme, Überzieher; der starke Herr, der meinen Aufsatz studiert hatte und jetzt, in Kork und Segelleinen eingeschlossen, die Zeitschrift noch in der Hand hielt und mich mit eintöniger Dringlichkeit fragte, ob ich an eine Gefahr glaube; der Mann mit dem roten Gesicht, der schwerfällig auf seinen künstlichen Beinen stapfte und tapfer einer Frau nach der andern den Rettungsgürtel umschnallte, und schließlich das Tollhaus kreischender Weiber.

Dies Schreien der Weiber fiel mir am meisten auf die Nerven. Und dem Manne mit dem roten Gesicht muß es ebenso ergangen sein; denn noch ein anderes Bild haftet mir in der Erinnerung und wird nie daraus verschwinden: Der starke Herr stopft meine Zeitschrift in die Tasche seines Überziehers und blickt sich neugierig um. Eine wirre Masse von Frauen mit weißen, verzerrten Gesichtern und offenen Mündern kreischt wie ein Chor verlorener Seelen. Da wirft der Mann mit dem roten Gesicht – es ist jetzt purpurfarbig vor Zorn – die Arme hoch, als wäre er Donar, der Blitzschleuderer, und ruft: »Ruhe, ich bitte mir Ruhe aus!« Ich weiß noch, daß dieser Anblick mich plötzlich zum Lachen reizte. Ich fühlte im selben Augenblick, wie ich selbst hysterisch wurde, denn es waren Frauen von meinem Stamme, wie meine Mutter und meine Schwester, und die Todesfurcht lag über ihnen, und sie wollten nicht sterben. Die Töne, die sie ausstießen, gemahnten mich an das Quieken von Schweinen unter dem Schlächtermesser, und ich war entsetzt über diese Ähnlichkeit. Frauen, die der erhabensten Empfindungen, der zärtlichsten Gefühle fähig waren, standen mit offenen Mündern da und schrien wie die Schweine. Sie wollten leben, waren hilflos wie die Ratten in der Falle und schrien.

Das Entsetzen trieb mich an Deck hinaus. Ich fühlte mich krank, elend und voller Ekel. Ich setzte mich auf eine Bank. Schemenhaft sah und hörte ich, wie Männer umherliefen und versuchten, die Boote hinabzulassen. Die Szene war genau so, wie ich sie aus Beschreibungen in Büchern kannte. Das Tauwerk klemmte sich fest. Nichts klappte. Ein Boot mit Frauen und Kindern wurde an den Davits hinuntergefiert. Es füllte sich mit Wasser und kenterte. Ein anderes hing noch mit einem Ende oben, während das andere schon unten war, und so blieb es hängen. Der fremde Dampfer, der unser Unglück verschuldet hatte, ließ nichts von sich hören, obwohl man meinte, daß er uns zweifellos Boote zu Hilfe schicken würde.

Ich stieg zum unteren Deck hinunter. Anscheinend sank die ›Martinez‹ sehr schnell, denn ich sah das Wasser jetzt dicht unter mir. Viele Passagiere sprangen über Bord. Die im Wasser waren, schrien, man solle sie wieder an Bord holen. Aber kein Mensch kümmerte sich um sie. Ein Schrei ertönte: »Wir sinken!« Ich wurde von der jetzt eintretenden Panik angesteckt und stürzte mich in einer Flut von Körpern über Bord. Wie ich ins Wasser kam, weiß ich nicht mehr, was ich aber sofort begriff, war, warum alle, die drinnen schwammen, sich so sehnsüchtig auf den Dampfer zurückwünschten. Das Wasser war kalt – so kalt, daß es schmerzte. Als ich hineinsprang, hatte ich ein Gefühl, als wäre ich in Feuer geraten. Die Kälte drang bis ins Mark, sie war wie der Griff des Todes. Vor Angst und Schrecken schnappte ich nach Luft, versuchte zu atmen, bevor mich noch der Rettungsgürtel an die Oberfläche getrieben hatte. Der Salzgeschmack brannte mir im Munde, und ich erstickte fast an der beißenden Lauge, die mir Kehle und Lungen füllte. Aber das Furchtbarste war die Kälte. Ich fühlte, daß ich nur wenige Minuten aushalten konnte. Rings um mich im Wasser rangen und zappelten Menschen. Ich hörte, wie sie sich gegenseitig anriefen. Daneben hörte ich das Plätschern von Riemen; offenbar hatte der fremde Dampfer seine Rettungsboote herabgelassen. Die Sekunden flogen, und ich wunderte mich, daß ich immer noch lebte. Meine unteren Gliedmaßen waren ganz empfindungslos, eine eisige Starre krallte sich mir ums Herz und durchdrang es. Kleine Wellen brachen unausgesetzt mit boshaft schäumenden Kronen über meinen Kopf hinweg und in meinen Mund und drohten mich immer wieder zu ersticken.

Der Lärm wurde undeutlich. Das letzte, was ich hörte, war ein Chor von verzweifelten Schreien in der Ferne, der mir sagte, daß die ›Martinez‹ untergegangen war. Dann – wieviel Zeit verstrichen war, weiß ich nicht – kam ich in einem plötzlichen Anfall überwältigender Angst zu mir. Ich war allein. Ich hörte weder rufen noch schreien – nur das Plätschern der Wellen, gespensterhaft widerhallend von der Nebelwand. Eine allgemeine Massenpanik ist nicht so furchtbar wie die, die einen einzelnen Menschen packen kann, und die Beute einer solchen Panik war ich. Wo trieb ich hin? Der Mann mit dem roten Gesicht hatte gesagt, daß die Ebbe durch das ›Goldene Tor‹ hinausströmte. Dann wurde ich also auf die hohe See hinausgetrieben! Und der Rettungsgürtel, der mich trug? Konnte er nicht jeden Augenblick in Stücke gehen? Ich hatte gehört, daß diese Dinger oft aus Papier und Binsen gemacht waren, die sich schnell vollsogen und alle Tragfähigkeit verloren. Und dabei hatte ich nicht die geringste Ahnung vom Schwimmen! Ganz allein trieb ich, offenbar mit der Strömung, in die graue chaotische Unendlichkeit hinaus. Ich gestehe, daß ich mich wie ein Wahnsinniger benahm. Ich kreischte, wie die Frauen es getan, und schlug mit meinen starren Händen wild das Wasser.

Wie lange das dauerte, weiß ich nicht. Eine Ohnmacht überkam mich, aus der ich keine andere Erinnerung behielt, als daß sie einem langen, schmerzhaften Schlafe glich. Nach Jahrhunderten erwachte ich, und da erblickte ich, fast über meinem Kopfe, den Bug eines Fahrzeuges, das langsam aus dem Nebel auftauchte, und darüber dicht hintereinander drei dreieckige, prall vom Wind geblähte Segel. Wo der Bug das Wasser durchschnitt, schäumte und gurgelte es heftig, und es schien geradeswegs auf mich loszukommen. Plötzlich tauchte der Bug nieder und überschüttete mich klatschend mit einem mächtigen Wasserschwall. Dann glitt die lange schwarze Schiffswand so nahe vorbei, daß ich sie mit den Händen hätte greifen können. Ich versuchte es, mit einem wahnsinnigen Entschluß, meine Nägel ins Holz zu krallen, aber meine Arme waren schwer und leblos. Wieder wollte ich rufen, brachte aber keinen Ton heraus.

Das Heck des Schiffes schoß vorbei, sank in ein Wellental. Ich sah flüchtig den Mann am Ruder und einen andern, der nichts zu tun schien, als eine Zigarre zu rauchen. Ich sah den Rauch, der sich von seinen Lippen löste, als er langsam den Kopf wandte und in meiner Richtung über das Wasser blickte. Es war ein gleichgültiges, unüberlegtes Schauen, etwas ganz Zufälliges, Zielloses.

Für mich aber bedeutete dieser Blick Leben oder Tod. Ich sah, wie das Schiff vom Nebel verschlungen wurde, ich sah den Rücken des Rudergastes und sah, wie der Kopf des andern Mannes sich wandte, sich ganz langsam wandte, wie sein Blick das Wasser traf und zu mir hinschweifte. Er schien in tiefe Gedanken versunken, und mich packte die Furcht, daß seine Augen mich, selbst wenn sie mich träfen, nicht sehen würden. Aber sie sahen mich, blickten gerade in die meinen! Er sprang ans Ruder, schob den andern beiseite und drehte fieberhaft das Rad, während er gleichzeitig irgendwelche Befehle schrie. Aber das Schiff schien seinen Kurs fortzusetzen und war fast im selben Augenblick im Nebel verschwunden.

Ich fühlte, wie ich in eine Ohnmacht glitt, und versuchte mit aller Willenskraft gegen die erstickende Leere und Dunkelheit, die mich zu überwältigen drohte, anzukämpfen. Kurz darauf hörte ich Ruderschläge, die immer näher kamen, und die Stimme eines Mannes. Als er ganz nahe war, hörte ich ihn ärgerlich sagen: »Zum Donnerwetter, warum rufst du nicht.« »Er meinte mich.« Mit diesem Gedanken versank ich in Leere und Finsternis.

Ich schien in einem mächtigen Rhythmus durch ungeheure Räume zu schwingen. Flimmernde Funken sprühten und schössen an meinen Augen vorbei. Ich wußte, es waren Sterne und schimmernde Kometen, die mich auf meinem Fluge von Sonne zu Sonne umgaben. Als ich die äußerste Grenze meines Schwunges erreicht hatte und gerade zurückschwingen wollte, ertönte donnernd ein Riesengong. In einer unermeßlichen Zeitspanne hatte ich, eingelullt von dem Säuseln sanfter Jahrhunderte, ein Gefühl großer Freude und überdachte meinen ungeheuren Flug.

Aber mein Traum wandelte sich, denn daß es ein Traum war, sagte ich mir selber. Der Rhythmus meines Fluges wurde immer kürzer. Schwung und Rückschwung wechselten mit verwirrender Hast. Kaum konnte ich Atem schöpfen, so ungestüm wurde ich durch den Himmelsraum geschleudert. Immer häufiger und schrecklicher donnerte der Gong, auf dessen Klang ich jedesmal mit namenlosem Entsetzen wartete. Dann war mir, als würde ich über rauhe Sandflächen geschleift, die weiß in der Sonne glühten. Ein unerträgliches Angstgefühl packte mich. Meine Haut wurde ausgedörrt in der Pein des Feuers. Der Gong dröhnte und toste. Die flimmernden Lichtpunkte schössen in unendlichem Strom an meinen Augen vorbei, als ergösse sich das ganze Sternensystem in den leeren Raum. Ich rang nach Luft, atmete schmerzhaft und öffnete die Augen. Zwei Männer knieten neben mir und beschäftigten sich mit mir. Der mächtige Rhythmus, den ich empfunden hatte, war das Rollen des Schiffes im Seegang. Der entsetzliche Gong war eine Bratpfanne, die bei jeder Bewegung des Schiffes klirrte und rasselte. Der scheuernde, sengende Sand waren harte Männerhände, die meine bloße Brust rieben. Ich krümmte mich vor Schmerz und hob den Kopf ein wenig. Meine Brust war rot und wund, und ich konnte winzige Blutstropfen aus der zerrissenen, entzündeten Haut hervorquellen sehen.

»Jetzt ist's genug, Yonson«, sagte der eine der Männer. »Kannst du nicht sehen, wir schrubben ihm ja die ganze Haut ab!«

Der Yonson Angeredete, ein Mann von schwerem skandinavischen Typ, hörte auf, mich zu reiben, und erhob sich verlegen. Der Mann, der gesprochen hatte, war offenbar ein ›Cockney‹(geborener Londoner), zartgliedrig und mit hübschen, fast weiblichen Zügen, der sicher das Glockengeläut Londons mit der Muttermilch eingesogen hatte. Eine schmutzige Leinenmütze und ein ebenso schmutziger Leinenschurz um die Hüften verrieten, daß er der Koch in der entschieden sehr schmutzigen Kombüse des Schiffes war, auf dem ich mich befand.

»Na, wie fühlen Sie sich jetzt, Herr?« fragte er mit der gezierten Untertänigkeit, die auf Generationen trinkgeldbeflissener Ahnen schließen ließ.

Als Antwort versuchte ich mich zu erheben, Yonson half mir auf die Füße. Das Rasseln und Klirren der Bratpfanne zerrte entsetzlich an meinen Nerven. Ich konnte meine Gedanken nicht sammeln. Ich griff zur Stütze nach der Holzbekleidung–sie war so schmierig, daß sich mir die Eingeweide im Leibe umdrehten –, langte über den heißen Küchenherd hinweg nach dem scheußlichen Gegenstand, holte ihn vom Nagel herunter und verkeilte ihn sicher im Kohlenkasten.

Der Koch lächelte über meine Nervosität und drückte mir mit den Worten: »Das wird Ihnen gut tun« einen dampfenden Becher in die Hand. Es war ein widerliches Gesöff – Schiffskaffee –, aber die Wärme belebte mich doch. Während ich langsam das Getränk schlürfte, warf ich hin und wieder einen Blick auf meine wundgeriebene, blutende Brust. Dann wandte ich mich an den Skandinavier.

»Vielen Dank, Herr Yonson«, sagte ich, »aber meinen Sie nicht, daß Ihre Behandlung etwas gewaltsam war?«

Eher aus meiner Bewegung als aus meinen Worten fühlte er wohl den Vorwurf heraus. Er hielt mir die Hand hin. Sie war schrecklich rauh. Mit leichtem Schauer ließ ich die meine über die hornartigen Schwielen gleiten.

»Ich heiße Johnson, nicht Yonson«, sagte er in ausgezeichnetem, wenn auch etwas langsamem und eine Spur fremdländischen Englisch.

In seinen blaßblauen Augen erschien ein milder Protest, aber dazu eine schüchterne Offenheit und Männlichkeit, die mich ganz für ihn einnahmen.

»Vielen Dank, Herr Johnson«, verbesserte ich mich und streckte ihm meine Hand hin.

Scheu und schüchtern zögerte er, trat von einem Bein auf das andere, faßte schließlich linkisch meine Hand und schüttelte sie herzlich.

»Haben Sie etwas trockenes Zeug für mich?« fragte ich den Koch.

»Ja, Herr«, erwiderte er diensteifrig. »Ich werde in meinem Vorrat nachsehen, wenn Sie nichts dagegen haben, Herr, meine Sachen anzuziehen.«

Er schlüpfte oder glitt vielmehr zur Küchentür hinaus mit einer Schnelligkeit und Geschmeidigkeit, die mir weniger katzenartig als ölig erschienen. In der Tat, diese Schlüpfrigkeit war, wie ich später erfahren sollte, wahrscheinlich seine hervorstechendste Eigenschaft.

»Und wo bin ich?« fragte ich Johnson, den ich mit Recht für einen von den Matrosen hielt. »Was für ein Fahrzeug ist dies, und wo geht es hin?«

»Von den Farallonen nach Südwest«, erwiderte er langsam und planmäßig, als bemühte er sich, sein bestes Englisch zu sprechen, und strengte sich an, meine Fragen richtig der Reihenfolge nach zu beantworten. »Schoner ›Ghost‹ auf Robbenfang nach Japan.« »Und wo ist der Kapitän? Ich muß ihn sprechen, sobald ich mich umgekleidet habe.«

Johnson blickte verlegen und verwirrt drein. Zögernd suchte er in seinem Wortschatz nach einer treffenden Antwort. »Käptn Wolf Larsen, wie er genannt wird. Seinen andern Namen habe ich nie gehört. Aber es ist am besten, wenn Sie vorsichtig mit ihm reden. Er ist verrückt heut morgen. Der Steuermann – –«

Aber er vollendete den Satz nicht. Der Koch war wieder hereingeglitten.

»Es ist besser, du machst, daß du wegkommst, Yonson«, sagte er. »Der Alte sucht dich an Deck, und heut ist es am besten, ihm nicht in die Quere zu kommen.«

Johnson wandte sich gehorsam zur Tür, wobei er mir über die Schulter des Kochs hinweg in einer merkwürdig feierlichen, unheilverkündenden Weise zuwinkte, als wollte er die unterbrochene Bemerkung bekräftigen und mir ans Herz legen, ja recht vorsichtig mit dem Kapitän zu reden.

Über dem Arm des Kochs hingen einige zerknüllte, häßliche Kleidungsstücke, die einen säuerlichen Geruch ausströmten.

»Sie sind feucht gewesen, Herr,« erklärte er, »aber Sie werden sie schon tragen müssen, bis ich Ihre am Feuer getrocknet habe.«

Während ich mich am Holzwerk festhielt, gelang es mir mit Hilfe des Kochs, in ein rauhes, wollenes Hemd zu schlüpfen. Bei der Berührung überlief mich eine Gänsehaut. Er bemerkte mein unwillkürliches Zusammenzucken und Gesichterschneiden und grinste: »Ich will nur hoffen, daß Sie sich nie im Leben an so was gewöhnen müssen. Eine feine Haut, die Sie haben, fast wie von einer Dame! Ich hab' gleich, als ich Ihre Haut sah, gemerkt, daß Sie ein feiner Herr sind.«

War er mir schon auf den ersten Blick unsympathisch gewesen, so wuchs mein Unbehagen noch, als er mir jetzt beim Ankleiden half. Seine Berührung allein war mir widerlich. Ich wich vor seiner Hand zurück, mein Fleisch widersetzte sich. Dazu kam der nicht gerade angenehme Duft aus den verschiedenen Kochtöpfen auf dem Herde, so daß ich mich beeilte, an die frische Luft zu kommen. Überdies war es notwendig, daß ich mit dem Kapitän sprach, um zu hören, wie ich an Land kommen konnte.

Ein billiges Baumwollhemd mit ausgefranstem Kragen und verblichener Hemdbrust mit Flecken, die ich für Blutspritzer hielt, wurde mir unter einem Strom von Entschuldigungen übergezogen. Ein Paar schwerer Seestiefel umschloß meine Füße, und dazu wurde ich mit hellblauen, ausgewaschenen Überzughosen ausstaffiert, deren eines Bein ungefähr zehn Zoll kürzer als das andere war.

»Und wem habe ich für all diese Herrlichkeit zu danken?« fragte ich, als ich voll ausstaffiert dastand, eine winzige Knabenmütze auf dem Kopf und als Rock eine schmutzige gestreifte Baumwolljacke, die mir gerade bis ans Kreuz ging, und deren Ärmel mir bis zu den Ellbogen reichten.

Der Koch richtete sich in seiner kriecherischen Art auf, und sein geziertes Lächeln schien um Entschuldigung zu bitten. Nach den Erfahrungen, die ich auf Ozeanschiffen gegen Ende der Reise mit Stewards gemacht hatte, hätte ich darauf schwören mögen, daß er auf Trinkgeld wartete. Aber ich erkannte später, daß seine Haltung ganz unbewußt war: zweifellos ererbte Unterwürfigkeit.

»Mugridge, Herr«, sagte er kriecherisch, und über sein weibisches Gesicht legte sich ein fettiges Lächeln. »Thomas Mugridge, Herr, zu Diensten.«

»Schön, Thomas«, sagte ich. »Ich werde dich nicht vergessen, wenn meine Kleider wieder trocken sind.«

Ein sanfter Schimmer überzog sein Gesicht, und seine Augen leuchteten, als wären in der Tiefe seines Wesens seine Vorfahren lebendig geworden mit der dunklen Erinnerung an die Trinkgelder im vergangenen Leben.

»Danke, Herr«, sagte er wirklich sehr dankbar und demütig.

Genau wie eine Schiebetür glitt er beiseite, und ich trat aufs Deck. Ich war noch schwach von dem langen Aufenthalt im Wasser. Ein Windstoß packte mich, und ich wankte über das schlingernde Deck, einer Ecke der Kajüte zu, an der ich mich festhielt. Der Schoner krengte stark, hob und senkte sich in der langen Dünung des Ozeans. Wenn der Schoner, wie Johnson gesagt hatte, nach Südwest segelte, mußte der Wind meiner Berechnung nach fast genau von Süden her kommen. Der Nebel hatte sich verzogen, und jetzt spielten die Sonnenstrahlen auf dem Meeresspiegel. Ich wandte mich nach Osten, wo, wie ich wußte, Kalifornien liegen mußte, konnte aber nichts sehen als niedrige Nebelbänke – zweifellos derselbe Nebel, der das Unglück der ›Martinez‹ und meine jetzige Lage verschuldet hatte. Nach Norden, nicht weit fort, war eine Gruppe nackter Felsen über die See gestreut, und auf einem davon sah ich einen Leuchtturm. Nach Südwesten, fast genau in unserm Kurs, erblickte ich den pyramidenförmigen, noch dunklen Umriß eines Segels. Als ich meine Umschau am Horizont beendet hatte, wandte ich mich meiner näheren Umgebung zu. Mein erster Gedanke war, daß ein Mensch, der einen Schiffbruch überlebt und Auge in Auge mit dem Tode gestanden hatte, eigentlich mehr Aufmerksamkeit verdient hätte, als mir zuteil wurde. Außer einem Matrosen am Rad, der neugierig nach der Kajütenecke guckte, schenkte mir niemand irgendwelche Beachtung. Jedermann schien sich nur für das zu interessieren, was mittschiffs vorging. Dort lag ein großer Mann auf einem Lukendeckel. Er war ganz angekleidet, sein Hemd jedoch aufgerissen. Von seiner Brust war nichts zu sehen, denn sie war so von schwarzen Haaren bedeckt, daß es wie der Pelz eines Hundes aussah. Gesicht und Hals waren unter dem schwarzen, graumelierten Bart verborgen, der sonst struppig sein mochte, jetzt aber von Wasser troff; seine Augen waren geschlossen. Er schien bewußtlos zu sein, aber der Mund stand weit offen, und die Brust keuchte, als ob er am Ersticken war und heftig nach Atem rang. Ein Matrose, der daneben stand, hatte eine Segeltuchpütze an einer Leine festgemacht, ließ sie von Zeit zu Zeit ganz gewohnheitsmäßig ins Meer hinab, holte sie wieder herauf und goß den Inhalt über den Liegenden. Auf und nieder an Deck schritt ein anderer Mann und kaute wütend auf seinem Zigarrenstummel. Es war der, dessen zufälliger Blick mich vor dem Ertrinken bewahrt hatte. Er mochte wohl fünf Fuß und zehn oder zehneinhalb Zoll messen, aber mein erster Eindruck von ihm, oder vielmehr mein Gefühl, war nicht das der Größe, sondern der Stärke. Dabei konnte ich ihn jedoch, obgleich er gedrungen und breitschultrig war und eine mächtige Brust hatte, nicht ungewöhnlich schwer nennen. Er hatte etwas von der sehnigen, knorrigen Kraft magerer starker Menschen, sein Körperbau aber ließ an einen Gorilla denken. Nicht daß er in seinem Aussehen etwas Gorillaartiges gehabt hätte. Was ich auszudrücken suche, ist die Stärke selbst als etwas für sich, ganz abgesehen von ihrer körperlichen Erscheinung. Es war eine Stärke, wie wir sie gewohnt sind, in Gedanken mit primitiven Dingen, mit wilden Tieren, mit Geschöpfen zu verbinden, die wir uns in der Phantasie als unsere baumbewohnenden Vorfahren denken – die wilde, reißende, lebendige Stärke an sich, die letzte Essenz des Lebens, die Potenz der Bewegung, der Grundstoff selbst, aus dem die wilden Lebensformen gestaltet wurden.

Das war mein Eindruck von der Stärke dieses Mannes, der an Deck auf und nieder schritt. Fest stand er auf den Beinen, jede Muskelbewegung, ob er die Schultern hob oder die Lippen um die Zigarre preßte, zeugte von Entschlossenheit und schien ihren Ursprung in einer riesenhaften und überwältigenden Kraft zu haben. In der Tat: Obwohl diese Stärke jede seiner Bewegungen durchdrang, schien es mir, als wäre sie nur der Ausdruck einer noch größeren Stärke, die in seinem Innern schlummerte, die aber jeden Augenblick erwachen konnte, schrecklich und unwiderstehlich wie das Wüten des Löwen oder der Zorn des Sturmes.

Der Koch steckte den Kopf zur Kombüsentür heraus und grinste mir ermutigend zu, gleichzeitig wies er mit dem Daumen nach dem Manne, der an der Luke auf und nieder schritt. So gab er mir zu verstehen, daß dies der Kapitän war, der ›Alte‹, wie der Koch sagte, die Persönlichkeit, die ich bemühen mußte, daß sie mich an Land setzte. Ich war gerade im Begriff, zu ihm zu gehen, um gleich die sicher unangenehme Geschichte überstanden zu haben, als der Unglückliche, der auf dem Lukendeckel lag, einen noch stärkeren Erstickungsanfall bekam. Krampfartig verrenkte er sich. Das Kinn mit dem nassen schwarzen Bart streckte sich in die Luft, während die Rückenmuskeln steif wurden und die Brust mit einer instinktiven, unbewußten Anstrengung nach Luft rang.

Der Kapitän oder Wolf Larsen. wie die Leute ihn nannten, hielt auf seinem Wege inne und blickte auf den Sterbenden hinab. So furchtbar war dieser letzte Kampf, daß der Matrose die Segeltuchpütze sinken ließ und den Inhalt auf das Deck verschüttete. Der Sterbende trommelte mit den Fersen auf dem Lukendeckel, streckte die Beine aus, erstarrte in einer einzigen mächtigen Anstrengung und rollte den Kopf von einer Seite zur andern. Dann wurden die Muskeln schlaff, der Kopf still, und ein Seufzer, ein Seufzer tiefster Erleichterung entfloh seinen Lippen. Das Kinn fiel herab, die Oberlippe hob sich, und zwei Reihen tabakgebräunter Zähne wurde sichtbar. Seine Züge schienen in einem teuflischen Grinsen über die Welt, die er verlassen und überlistet hatte, erstarrt zu sein. Aber da geschah etwas ganz Überraschendes: Wie ein Donnerschlag fuhr der Kapitän über den Toten her. Flüche prasselten in unaufhaltsamem Strom von seinen Lippen, und es waren nicht etwa gewöhnliche Flüche oder unziemliche Redensarten. Jedes seiner Worte war eine Gotteslästerung, und der Worte waren viele. Sie knisterten und krachten wie elektrische Funken. Nie im Leben habe ich Ähnliches gehört oder auch nur für, möglich gehalten. Bei meinen literarischen Neigungen und meinem Ohr für kräftige Bilder genoß ich, das muß ich gestehen, wie kein anderer Zuhörer die prachtvolle Lebendigkeit und Kraft seiner gotteslästerlichen Ergüsse. Ihre Ursache war, wenn ich recht verstand, daß der Mann, der der Steuermann war, vor der Abreise aus San Francisco an einem Gelage teilgenommen und dann die Rücksichtslosigkeit besessen hatte, gleich zu Beginn der Reise zu sterben und Wolf Larsen kurzerhand zu verlassen.

Ich brauche, meinen Freunden wenigstens, nicht zu sagen, daß ich empört war. Fluchen und Schimpfen hatten mich stets abgestoßen. Ich fühlte Mattigkeit, Schwäche oder eher Schwindel. Für mich war immer etwas Feierliches, Würdevolles mit dem Tode verbunden gewesen, etwas Friedvolles, Heiliges. In dieser schrecklichen Gestalt war ich ihm noch nie begegnet. Wie gesagt: während ich die Kraft der erschreckenden Entladung aus Wolf Larsens Munde genoß, war ich gleichzeitig unsagbar abgestoßen. Der versengende Strom genügte, das Antlitz der Leiche welken zu lassen. Ich wäre nicht überrascht gewesen, wenn der schwarze Bart sich gekräuselt hätte und in hellen Flammen aufgegangen wäre. Aber der Tote blieb unangefochten. Er grinste weiter sein höhnisches Lächeln, zynisch und verächtlich. Er war Herr der Situation.

Ebenso plötzlich, wie er begonnen, hörte Wolf Larsen auf zu fluchen. Er zündete sich wieder seine Zigarre an und sah sich um. Seine Augen fielen auf den Koch. »Na, Köchlein?« fragte er mit einer merkwürdigen, kalten und stählernen Leutseligkeit

»Jawohl, Käptn«, schaltete der Koch beflissen und entschuldigend ein.

»Meinst du nicht, daß du jetzt lange genug den Kopf herausgesteckt hast? Das ist nicht gesund. Der Steuermann ist tot, und dich kann ich nicht auch noch entbehren. Sei vorsichtig mit deiner Gesundheit, Köchlein. Verstanden?«

Das letzte Wort traf im Gegensatz zu der früheren Freundlichkeit wie ein Peitschenhieb, und der Koch erzitterte.

»Jawohl, Käptn«, antwortete er schüchtern, und der beanstandete Kopf verschwand.

Nach dieser Abfuhr schien die Mannschaft das Interesse an den Vorgängen an Deck verloren zu haben und machte sich wieder an die Arbeit. Mehrere Leute jedoch, die zwischen der Kajüte und der Kombüse herumlungerten – sie schienen keine Seeleute zu sein –, sprachen leise weiter miteinander. Wie ich später erfuhr, waren es die Robbenjäger, die sich hoch erhaben über die gewöhnlichen Matrosen fühlten.

»Johansen!« rief Wolf Larsen. Ein Matrose gehorchte. »Hol' dir Platen und Nadel und näh' den Schuft ein. Altes Leinen findest du in der Schiffstruhe. Los!«

»Was sollen wir ihm an die Füße hängen, Käptn?« fragte der Mann gleichmütig.

»Wird sich schon finden«, sagte Wolf Larsen. Dann hob er die Stimme und rief: »Köchlein!«

Thomas Mugridge sprang wie ein Schachtelmännchen aus seiner Kombüse.

»Geh nach unten und füll' einen Sack mit Kohlen.«

»Hat einer von euch eine Bibel oder ein Gebetbuch, Jungens?« lautete die nächste Frage, die der Kapitän diesmal an die bei der Luke herumlungernden Jäger richtete.

Sie schüttelten die Köpfe, und einer von ihnen machte einen Witz, den ich nicht verstand, der aber allgemeines Gelächter hervorrief.

Wolf Larsen stellte die gleiche Frage an die Matrosen. Bibeln und Gebetbücher schienen ein seltener Artikel an Bord zu sein, aber einer der Leute erbot sich, die Frage an die Wache, die sich unten befand, weitergehen zu lassen. Nach einer Minute kam er jedoch mit der Nachricht zurück, daß keins von beiden vorhanden sei.

Der Kapitän zuckte die Achseln. »Dann lassen wir ihn ohne Geschwätz verschwinden, wenn unser schiffbrüchiger Pastor nicht das Seemannsritual auswendig weiß.«

Bei diesen Worten drehte er sich um und sah mich an. »Sie sind Pastor, nicht wahr?« fragte er.

Die Jäger drehten sich wie ein Mann um und betrachteten mich. Ich hatte das peinliche Gefühl, einer Vogelscheuche zu gleichen. Mein Aussehen verursachte ein schallendes Gelächter, das der Anblick des Toten, der grinsend an Deck ausgestreckt lag, in keiner Weise dämpfte, ein Gelächter, so rauh und barsch wie das Meer selber, aus der Kehle von Männern, die weder Schliff noch Zartgefühl kannten.

Wolf Larsen lachte nicht, wenn seine grauen Augen auch leicht aufleuchteten. Ich war dicht an ihn herangetreten, und jetzt erhielt ich, abgesehen von seiner äußeren Erscheinung und seinem Strom von Flüchen, den ersten Eindruck von dem Manne. Die bedeutenden, festen Züge verliehen seinem Gesicht trotz der Vierschrötigkeit gute Proportionen. Wirkte das Gesicht auf den ersten Blick ebenso massiv wie sein Körper, so gewann man doch bei näherer Betrachtung die Überzeugung, daß in der Tiefe seines Wesens eine ungeheure, entsetzliche Kraft schlummerte. Mund, Kinn, die hohe Stirn, die sich schwer über den Augen wölbte, alles dies, jedes für sich schon ungewöhnliche Stärke verratend, zeugte zusammen von einer unsagbaren Männlichkeit. Eine solche Seele ließ sich nicht ausloten, nicht ermessen; sie duldete keinen Vergleich.

Die Augen – sie betrachtete ich besonders eingehend– waren groß und schön, weit offen wie die eines wirklichen Künstlers und von dichten schwarzen Brauen überwölbt. Sie waren von jenem veränderlichen Grau, das nie gleichbleibt, wie changierende Seide in der Sonne spielt und zahllose Schattierungen annimmt, die dunkel- und hellgrau und graugrün und manchmal azurblau wie die Tiefsee sein können. Es waren Augen, die die Seele hinter tausend Verkleidungen bargen, und die sich nur selten öffneten, um sie unverschleiert auf wunderbare Abenteuer in die Welt fahren zu lassen – Augen, die mit der hoffnungslosen Düsterkeit eines bleiernen Himmels brüten und wieder Feuerfunken wie von einem geschwungenen Schwert sprühen, die frostig wie eine arktische Landschaft werden und wieder sanft wärmen konnten, und die, intensiv und männlich – lockend und bittend – in feuriger Liebe blitzend, Frauen bezaubern und zugleich beherrschen mochten, daß sie sich in einem Schauer von Freude und Erleichterung ergaben.

Doch zurück zu meinem Bericht: Ich erklärte, daß ich kein Geistlicher sei, also den Gottesdienst bei dem Begräbnis leider nicht übernehmen könne.

»Was für einen Beruf haben Sie denn?«

Ich gestehe, daß man noch nie eine solche Frage an mich gerichtet, und daß auch ich selbst noch nie darüber nachgedacht hatte. Ich war wie vor den Kopf geschlagen, und ehe ich mich besonnen hatte, stotterte ich: »Ich – ich bin Gentleman.«

Seine Lippen kräuselten sich zu einem verächtlichen Lächeln.

»Ich habe gearbeitet, ich arbeite wirklich«, rief ich eifrig, als wäre er mein Richter, der Rechenschaft von mir forderte, während ich mir gleichzeitig ganz klar darüber wurde, wie dumm ich war, überhaupt auf die Frage einzugehen.

»Leben Sie davon?«

So herrisch und gebieterisch wirkte er, daß ich ›klappernd‹ wie ein zitterndes Kind vor dem gestrengen Lehrer dastand.

»Wer unterhält Sie?« lautete seine nächste Frage.

»Ich bin vermögend«, antwortete ich keck und hätte mir im nächsten Augenblick die Zunge abbeißen mögen. »Aber das hat doch alles nichts mit der Angelegenheit zu tun, über die ich mit Ihnen zu sprechen habe.«

Er beachtete meinen Protest nicht.

»Wer hat das Vermögen verdient? Nun? Dacht' ich's doch. Ihr Vater. Sie stehen auf den Füßen eines toten Mannes. Sie selbst haben nie was gehabt. Sie wären nicht imstande, ihrem hungrigen Magen von einem Sonnenaufgang zum andern drei Mahlzeiten zu verschaffen. Zeigen Sie mal Ihre Hände!«

Seine entsetzliche schlummernde Kraft muß sich in diesem Augenblick geregt, oder ich muß geschlafen haben, denn ehe ich es wußte, war er zwei Schritt vorgetreten, hatte meine rechte Hand gepackt und untersuchte sie. Ich wollte sie zurückziehen, aber seine Finger umschlossen sie ohne sichtbare Anstrengung so fest, daß ich glaubte, er zermalme sie. Unter solchen Umständen ist es schwer, Würde zu bewahren. Ich konnte doch nicht wie ein Schuljunge mich winden und zappeln. Und ich konnte auch ein Geschöpf nicht angreifen, das meinen Arm mit einem einzigen Druck zu zerbrechen imstande war. So blieb mir nichts übrig, als stillzuhalten und die Schmach hinzunehmen. Ich hatte Zeit zu beobachten, daß die Taschen des Toten entleert und sein Körper und sein Grinsen dem Blick durch ein Stück Segeltuch entzogen worden waren, dessen Falten Johansen, der Matrose, mit grobem Bindfaden zusammennähte, indem er die Nadel mit einem in seiner Handfläche befestigten Lederwerkzeug durchtrieb.

Wolf Larsen schleuderte meine Hand verächtlich von sich: »Die Hände eines Toten haben die Ihren weich erhalten. Zu nichts nütze als zum Aufwaschen und Küchenjungendienst.«

»Ich wünsche an Land gesetzt zu werden«, sagte ich fest, denn ich hatte mich wieder in der Gewalt. »Ich werde Ihnen zahlen, was Sie für Ihre Verspätung und Ihre Mühe verlangen.«

Er sah mich mit einem seltsamen Blick an. Seine Augen leuchteten spöttisch.

»Ich habe Ihnen einen Gegenvorschlag zu machen. Mein Steuermann ist tot, und es ist daher eine ganze Reihe von Beförderungen vorzunehmen. Ein Matrose wird den Platz des Steuermanns einnehmen, der Kajütsjunge wird Matrose, und Sie rücken an seine Stelle, unterschreiben einen Kontrakt für die Fahrt und bekommen zwanzig Dollar monatlich und freie Verpflegung. Was meinen Sie dazu? Denken Sie daran, daß es zu Ihrem eigenen Besten ist. Es wird etwas aus Ihnen. Sie lernen vielleicht, auf eigenen Füßen zu stehen und sogar ein bißchen auf ihnen zu laufen.«

Aber ich achtete nicht auf seine Worte. Die Segel des Fahrzeuges, das ich in Südwest gesehen hatte, waren immer größer und deutlicher geworden. Es war dieselbe Schonertakelung, wie die ›Ghost‹ sie hatte, aber der Rumpf war kleiner. Es war ein schöner Anblick, wie es jetzt mit ausgebreiteten Flügeln auf uns zuflog und augenscheinlich seinen Kurs ganz dicht an uns vorbei nahm. Der Wind hatte plötzlich zugenommen, und die Sonne war nach ein paar ärgerlichen Blicken hinter den Wolken verschwunden. Die See hatte sich in ein düsteres Bleigrau verwandelt und ging schwerer, und die Wogenkämme wurden von weißem Schaum gekrönt. Wir fuhren schneller und krengten stärker über. Eine Bö tauchte die Reling ganz unter Wasser, so daß es das Deck überspülte und ein paar von den Jägern veranlaßte, schnell die Beine hochzuziehen.

»Das Schiff fährt bald an uns vorbei«, sagte ich nach einer kleinen Pause. »Da es uns entgegenkommt, ist anzunehmen, daß es nach San Francisco will.«

»Sehr wahrscheinlich«, lautete Wolf Larsens Antwort. Dann wandte er sich halb um und rief: »Köchlein, he, Köchlein!« Der Koch fuhr aus der Kombüse.

»Wo ist der Junge? Sag' ihm, daß ich ihn brauche.«

»Jawohl, Käptn«, und Thomas Mugridge eilte nach achtern und verschwand über eine Treppe in der Nähe des Rades. Gleich darauf tauchte er wieder auf, gefolgt von einem kräftigen, finsterblickenden Burschen von achtzehn bis neunzehn Jahren.

»Da ist er«, sagte der Koch.

Aber Wolf Larsen ignorierte den Ehrenmann und wandte sich sofort an den Kajütsjungen.

»Wie heißt du, Junge?«

»George Leach, Käptn«, lautete die verdrossene Antwort, und die Haltung des Jungen verriet deutlich, daß er wußte, warum er herbefohlen war.

»Das ist kein irischer Name«, schnappte der Kapitän scharf. »O'Toole oder McCarthy würden besser zu deiner Fratze passen. Sonst hat jedenfalls ein Ire bei deiner Mutter im Bett gelegen.«

Ich sah, wie sich die Hände des Burschen bei dieser Beleidigung ballten und das Blut ihm zu Kopfe stieg. »Aber lassen wir das!« fuhr Wolf Larsen fort. »Du wirst wohl deine Gründe haben, deinen Namen zu vergessen, und deshalb können wir doch Freunde bleiben, solange du deine Pflicht tust. Du stammst natürlich aus Telegraph Hill. Das verrät deine Fratze auf zehn Meilen. Richtige Raufbolde! Ich kenne die Sorte. Na, das wollen wir dir schon austreiben. Verstanden? Wer hat dich geheuert?«

»McCready & Swanson.«

»Käptn!« donnerte Wolf Larsen.

»McCready & Swanson, Käptn«, verbesserte sich der Junge, und seine Augen schossen Blitze.

»Wer hat den Vorschuß gekriegt?«

»Die Leute, Käptn.«

»Hab' ich mir gedacht. Und du hast dich verflucht gefreut darüber. Konntest gar nicht schnell genug machen, denn es waren wohl verschiedene Herren hinter dir her.«

Jetzt verlor der Junge die Besinnung. Sein Körper krümmte sich wie zum Sprunge, und sein Gesicht glich dem eines knurrenden wilden Tieres. »Das ist ...«

»Was?« fragte Wolf Larsen mit merkwürdig sanfter Stimme, als wäre er ungeheuer neugierig auf das nicht ausgesprochene Wort.

Der Junge schwieg und beherrschte sich. »Nichts, Käptn, ich nehme es zurück.«

»Ich wußte ja, daß ich recht hatte!« Dies mit belustigtem Lächeln. »Wie alt bist du?«

»Sechzehn, Käptn.«

»Du lügst. Du bist wenigstens achtzehn und noch dazu groß für dein Alter. Muskeln wie ein Pferd. Pack' dein Zeug zusammen und geh nach vorn in die Back. Du bist zum Jungmann befördert. Verstanden?«

Ohne eine Antwort des Jungen abzuwarten, wandte sich der Kapitän zu dem Matrosen, der gerade die schauerliche Aufgabe, die Leiche einzunähen, beendet hatte. »Johansen, verstehst du was vom Navigieren?«

»Nein, Käptn.«

»Na, schadet nichts, du bist zum Steuermann befördert. Bring' deine Siebensachen nach achtern in die Steuermannskabine.«

»Jawohl, Käptn«, lautete die frohe Antwort, und Johansen ging. Der Junge hatte sich unterdessen nicht vom Fleck gerührt.

»Worauf wartest du noch?« fragte Wolf Larsen.

»Ich hab' mich nicht als Jungmann eintragen lassen. Käptn«, lautete die Antwort. »Ich bin als Kajütsjunge geheuert und wünsche keine andere Beschäftigung.«

»Pack' deine Sachen zusammen und mach', daß du nach vorn kommst.«

Diesmal war Wolf Larsens Befehl herrisch und durchdringend. Der Junge blickte finster vor sich hin, gehorchte aber nicht.

Da erfolgte wieder ein Ausbruch von Wolf Larsens entsetzlicher Kraft. Ganz unerwartet und von nicht zwei Sekunden Dauer. Er sprang volle sechs Fuß weit über das Deck und jagte seine Faust dem andern in den Magen. Mir wurde übel, als wäre ich selbst in den Leib getroffen. Ich erwähne dies, um zu zeigen, in welchem Zustand sich meine Nerven damals befanden, und wie ungewohnt ich derartiger roher Auftritte war. Der Kajütsjunge – er wog mindestens hundertfünfzig Pfund – klappte zusammen. Sein Körper wurde hochgehoben, beschrieb eine kurze Kurve und fiel kopfüber neben der Leiche auf das Deck, wo er liegen blieb und sich in Schmerzen wand.

»Nun?« fragte Wolf Larsen mich. »Haben Sie sich's überlegt?«

Ich warf einen Blick nach dem sich nähernden Schoner, der jetzt, nur wenige hundert Meter entfernt, dicht vor uns war. Es war ein schmuckes kleines Fahrzeug. Auf einem der Segel konnte ich eine große schwarze Zahl erkennen, wie ich sie auf Bildern von Lotsenschiffen gesehen hatte.

»Was ist das für ein Schiff?« fragte ich.

»Lotsenschoner ›Lady Mine‹«, erwiderte Wolf Larsen mit grausamem Lächeln. »Hat den Lotsen abgesetzt und geht jetzt nach San Francisco. Wird bei diesem Wind in fünf bis sechs Stunden dort sein.«

»Wollen Sie ihn bitte anrufen, daß er mich an Land bringt?«

»Tut mir leid, aber mein Signalbuch ist über Bord gefallen«, meinte er, und die Jäger grinsten.

Ich blickte ihn scharf an, und die Gedanken wirbelten mir durch den Kopf. Ich hatte die schreckliche Behandlung des Kajütsjungen mit angesehen und wußte, daß mir höchstwahrscheinlich das Gleiche, wenn nicht Schrecklicheres blühte. Wie gesagt: die Gedanken wirbelten mir durch den Kopf, und dann tat ich, was ich heute noch für die tapferste Tat meines Lebens halte. Ich lief an die Reling, schwenkte die Arme und schrie:

»›Lady Mine‹, ahoi! Bringt mich an Land! Tausend Dollar, wenn ihr mich an Land bringt!«

Ich wartete und beobachtete am Rad zwei Männer, von denen der eine steuerte. Der andere hob ein Sprachrohr an die Lippen. Ich wandte nicht den Kopf, obgleich ich jeden Augenblick den tödlichen Schlag von der menschlichen Bestie hinter mir erwartete. Schließlich konnte ich die Spannung nicht länger ertragen. Ich sah mich um. Er hatte sich nicht vom Fleck gerührt. Er stand noch in derselben Stellung da, schwankte leicht im Rollen des Schiffes und zündete sich eine neue Zigarre an.

»Was gibt es? Ist etwas geschehen?« So rief der Mann auf der ›Lady Mine‹.

»Ja«, schrie ich mit der vollen Kraft meiner Lungen. »Leben oder Tod! Tausend Dollar, wenn ihr mich an Land bringt!«

»Die Gegend bekommt meiner Mannschaft nicht gut«, rief Wolf Larsen jetzt hinüber. »Der« – er wies mit dem Daumen auf mich – »glaubt überall Seeschlangen und Affen zu sehen.«

Der Mann auf der ›Lady Mine‹ lachte durchs Megaphon. Das Lotsenschiff setzte seinen Kurs fort.

»Schickt ihn zum Teufel!« ertönte der letzte Ruf, und die beiden Männer winkten zum Abschied.

Verzweifelt lehnte ich mich über die Reling und starrte dem kleinen Schoner nach; die wogende Wüste wuchs rasch zwischen ihm und uns. Er war in sechs Stunden vermutlich in San Francisco! Mir war, als sollte mir der Kopf springen. Der Hals schnürte sich mir zusammen. Eine Sturzsee schlug über die Reling und besprühte mir die Lippen mit Salzwasser. Der Wind war aufgefrischt, und die ›Ghost‹ krengte so stark, daß die Reling auf Lee ganz unter Wasser begraben war. Ich konnte hören, wie es über das Deck spülte.

Als ich mich kurz darauf umwandte, sah ich, wie der Junge schwankend wieder auf die Beine kam. Sein Gesicht war geisterhaft weiß und von unterdrücktem Schmerz verzerrt. Er sah sehr elend aus.

»Na, Leach, gehst du nun nach vorn?« fragte Wolf Larsen.

»Jawohl, Käptn«, antwortete die geduckte Seele.

»Und Sie?« fragte er mich.

»Ich gebe Ihnen tausend ...«

Aber er unterbrach mich: »Lassen wir das! Wollen Sie den Posten des Kajütsjungen übernehmen? Oder soll ich Sie erst in die Mache nehmen?«

Was sollte ich tun? Wenn ich mich brutal prügeln, vielleicht totschlagen ließ, nützte es mir auch nichts. Ich starrte in die grausamen Augen. Sie hätten aus Granit sein können, so wenig Lieht und Wärme einer menschlichen Seele leuchtete aus ihnen. In den Augen mancher Menschen kann man die Regungen ihrer Seele lesen, aber die seinen waren leer, kalt und grau wie das Meer selbst. »Nun?«

»Ja«, sagte ich.

»Sagen Sie: ›Jawohl, Käptn‹!«

»Jawohl, Käptn!« verbesserte ich mich.

»Wie heißen Sie?«

»Van Weyden, Käptn.«

»Vorname?«

»Humphrey, Käptn; Humphrey van Weyden.«

»Alter?«

»Fünfunddreißig, Käptn.«

»Das genügt. Gehen Sie zum Koch und lassen Sie sich in Ihren Pflichten unterweisen.«

Und so geschah es, daß ich in ein unfreiwilliges Dienstverhältnis zu Wolf Larsen trat. Er war stärker als ich, das war alles. Aber ich habe es weder damals noch später je begriffen. Es wird mir immer als etwas Ungeheuerliches, Unverständliches, als ein furchtbarer Alp erscheinen.

»Halt, warten Sie noch!«

Folgsam blieb ich stehen.

»Johansen, rufen Sie die ganze Mannschaft zusammen. Jetzt ist alles im reinen, und da ist es am besten, wenn wir gleich das Begräbnis vornehmen und das Deck von unnützem Unrat säubern.«

Während Johansen die Wache heraufrief, legten ein paar Matrosen die eingenähte Leiche nach Anweisung des Kapitäns auf einen Lukendeckel. Zu beiden Seiten des Decks hingen kleine Boote über die Reling. Einige Mann hoben den Lukendeckel mit seiner gräßlichen Last und trugen ihn nach Lee hinüber, wo sie die Leiche, die Beine außenbords, auf eines der Boote legten. Der Kohlensack, den der Koch geholt hatte, wurde ans Fußende gebunden.

Unter einem Begräbnis auf See hatte ich mir immer etwas sehr Feierliches vorgestellt, aber bei diesem Begräbnis schwanden meine Illusionen schnell und gründlich. Einer von den Jägern, ein kleiner schwarzäugiger Mann, den seine Kameraden Smoke nannten, erzählte stark mit Flüchen und Zoten gespickte Geschichten, und jeden Augenblick brach die ganze Jägergruppe in ein Gelächter aus, das in meinen Ohren wie ein Chor von Wölfen oder das Gekläff der Höllenhunde klang. Die Matrosen versammelten sich geräuschvoll achtern, einige von der Mannschaft rieben sich den Schlaf aus den Augen und unterhielten sich leise. Auf ihren Zügen lag ein unheilverkündender, mürrischer Ausdruck. Es war deutlich zu sehen, daß die Aussicht auf eine Fahrt unter diesem Kapitän, die dazu noch unter so üblen Vorbedeutungen begonnen hatte, sie nicht lockte. Hin und wieder warfen sie verstohlene Blicke auf Wolf Larson, und ich konnte merken, daß sie den Mann fürchteten.

Er schritt zum Lukendeckel, und alle Mützen wurden abgenommen. Ich ließ meinen Blick über sie schweifen – es waren zwanzig Mann, zweiundzwanzig mit dem Mann am Ruder und mir. Es ist wohl begreiflich, daß ich sie neugierig musterte, sollte es doch nun mein Schicksal sein, ihr Los, eingepfercht in diese schwimmende Miniaturwelt, wer weiß wie viele Wochen und Monate zu teilen. Die Matrosen bestanden hauptsächlich aus Engländern und Skandinaviern mit groben, ausdruckslosen Gesichtern. Die Jäger hingegen hatten scharfe, harte, von zügelloser Leidenschaft geprägte Züge. Merkwürdigerweise sah ich sofort, daß Wolf Larsens Gesicht nicht diesen Ausdruck von Verderbtheit hatte. Gewiß, es hatte auch scharfe Linien, aber nur Linien, die von Entschlossenheit und Festigkeit sprachen. Seine Miene war von einem Freimut und einer Offenheit, die durch seine Bartlosigkeit noch verstärkt wurden. Ich konnte – bis zum nächsten Zwischenfall – kaum glauben, daß dies derselbe Mann war, der den Kajütsjungen so behandelt hatte.

Er öffnete den Mund, um zu sprechen, aber in diesem Augenblick traf ein Windstoß nach dem andern den Schoner und preßte ihn auf die Seite. Der Wind heulte ein wildes Lied durch die Takelung. Einige von den Jägern warfen ängstliche Blicke nach oben. Die Reling auf Lee, wo der Tote lag, tauchte tief ins Wasser, und als der Schoner sich aufrichtete, wurden unsere Füße überspült. Ein Regenschauer ergoß sich über uns, und jeder Tropfen traf wie ein Hagelkorn. Als er vorüber war, begann Wolf Larsen zu sprechen, während die Leute im Takt des stampfenden Schiffes schwankten.

»Ich erinnere mich nur eines Teils des Rituals,« sagte er, »nämlich: ›Und der Leichnam soll ins Meer geworfen werden.‹ – Also hinein damit.«

Er schwieg. Die Leute, die den Lukendeckel hielten, waren verdutzt, verwirrt durch die Kürze der Zeremonie. Wütend fuhr er auf sie los:

»Hoch das Ende, zum Donnerwetter! Was ist in euch gefahren, zum Teufel?«

Sie hoben schleunigst den Lukendeckel am oberen Ende. Und wie ein über Bord geworfener Hund flog der Tote, die Füße voran, ins Meer. Der Kohlensack an seinen Füßen zog ihn hinunter. Er war fort.

»Johansen,« sagte Wolf Larsen kurz zu dem neuen Steuermann, »lassen Sie alle Mann, da sie gerade hier sind, an Deck bleiben. Holen Sie die Topsegel und den Klüver ein, aber ein bißchen schnell. Wir bekommen einen tüchtigen Südwest. Reffen Sie lieber auch das Großsegel, wenn Sie schon mal dabei sind.« In einem Augenblick war das ganze Deck in Bewegung. Johansen brüllte seine Befehle, und die Leute hahlten und fierten an allen möglichen Stricken und Tauen – für mich als Landratte natürlich ein wirres Chaos. Was mich aber besonders packte, war die Herzlosigkeit, die in seinem Tun lag. Der Tote war vergessen. Er war mit einem Kohlensack an den Füßen versenkt worden, das Schiff setzte seine Reise fort, und die Arbeit ging ihren Gang. Keiner war auch nur im geringsten ergriffen. Die Jäger lachten über eine neue Geschichte, die ›Smoke‹ erzählte, die Leute hahlten und fierten, und zwei von ihnen kletterten nach oben. Wolf Larsen musterte den sich überziehenden Himmel in Luv. Und der Tote, der so elend gestorben und so jämmerlich begraben war, sank immer tiefer – – – Da überwältigte mich die Grausamkeit des Meeres, seine Unbarmherzigkeit und Gewalt. Das Leben war billig, etwas Sinnloses und Tierisches, eine seelenlose Bewegung von Schlamm und Schleim. Ich stellte mich an die Reling in Luv, neben den Wanten, und starrte über die trostlosen, schäumenden Wogen hinweg auf die niedrigen Nebelbänke. Hin und wieder trieb eine Regenbö dazwischen und entzog den Nebel meinen Blicken. Und dieses seltsame Schiff zog mit seiner schrecklichen Besatzung vor prallen Segeln nach Südwest, über die weite Fläche des Stillen Ozeans.

Meine ersten Erlebnisse auf dem Robbenschoner ›Ghost‹ in der Zeit, während der ich mich meiner neuen Umgebung anzupassen suchte, waren eine Kette von Demütigungen und Leiden. Der Koch, von der Besatzung ›Doktor‹, von den Jägern ›Tommy‹ und von Wolf Larsen ›Köchlein‹ genannt, war wie ausgewechselt. Die Veränderung in meiner Stellung zog eine entsprechende Veränderung in seiner Art, mich zu behandeln, nach sich. So sklavisch und unterwürfig er vorher gewesen, so herrisch und streitsüchtig war er jetzt. War ich doch nicht mehr der feine Herr mit einer Haut wie der einer Dame, sondern ein ganz gewöhnlicher und sehr unbrauchbarer Kajütsjunge.

In seiner Dummheit bestand er darauf, daß ich ihn Herr Mugridge nennen sollte, und als er mich in meinen Pflichten unterwies, waren sein Benehmen und sein ganzes Getue unerträglich. Außer meiner Arbeit in der Kajüte mit den vier kleinen Kojen sollte ich ihm in der Kombüse helfen, und meine ungeheure Unwissenheit in bezug auf Kartoffelschälen und das Auswaschen fettiger Kochtöpfe bildete für ihn eine Quelle unaufhörlicher spöttischer Verwunderung. Er nahm nicht die geringste Rücksicht auf meine Lage oder vielmehr auf meine bisherigen Gewohnheiten. Ich gestehe, daß ich ihn, ehe der Tag zu Ende war, mehr haßte, als ich je im Leben einen Menschen gehaßt hatte.

Dieser erste Tag wurde mir noch dadurch erschwert, daß die ›Ghost‹ unter gerefften Segeln durch einen ›brüllenden Südost‹ stampfte, wie Herr Mugridge sich ausdrückte. Um halb fünf deckte ich unter seiner Anleitung den Tisch in der Kajüte. Ich befestigte das Schlingerbrett und holte dann Essen und Tee aus der Kombüse. Ich kann bei dieser Gelegenheit nicht umhin, mein erstes Abenteuer bei hohem Seegang zu berichten.

»Sieh dich vor, sonst kriegst du einen Guß ab«, schärfte Herr Mugridge mir ein, als ich die Kombüse verließ, in der Hand einen ungeheuren Teekessel und unter dem andern Arm mehrere frisch gebackene Brote. Einer der Jäger, ein großer gelenkiger Bursche namens Henderson, kam gerade in diesem Augenblick aus dem ›Zwischendeck‹ (mit diesem Namen bezeichneten die Jäger witzig ihre mittschiffs gelegenen Schlafquartiere). Wolf Larsen stand auf der Hütte und rauchte seine ewige Zigarre.

»Siehst du! Futsch ist er«, schrie der Koch.

Ich blieb stehen, denn ich wußte nicht, was geschah. Ich sah nur, wie die Kombüsentür mit einem Knall zuflog. Dann sah ich Henderson wie einen Verrückten zum Großmast springen und hoch über meinen Kopf in die Takelung klettern. Ich sah auch noch eine riesige Woge, die schäumend hoch über der Reling stand. Ich befand mich direkt unter ihr. Meine Gedanken arbeiteten nur langsam; alles war so neu und fremd für mich. Ich wußte nichts, als daß Gefahr drohte. Bestürzt stand ich still. Da schrie Wolf Larsen von der Hütte: »Festhalten, Sie – Hump!«

Aber es war zu spät. Ehe ich mich an die Takelung angeklammert hatte, wurde ich von dem stürzenden Wasserschwall getroffen. Was dann geschah, weiß ich nicht recht. Ich befand mich unter Wasser, erstickte, ertrank. Die Füße glitten unter mir fort, ich wurde herumgewirbelt und Gott weiß wohin gefegt. Ich schlug gegen verschiedene harte Gegenstände, und einmal stieß ich mir mein rechtes Knie schrecklich. Dann schien das Wasser plötzlich zu verschwinden, und ich atmete wieder frische Luft. Ich war gegen die Kombüse geschleudert und dann rings um die Ruff bis gegen die Speigatten in Lee geschwemmt worden. Der Schmerz in meinem Knie war furchtbar. Ich glaubte nicht auftreten zu können und war sicher, das Bein gebrochen zu haben. Aber der Koch hielt Umschau nach mir und schrie durch die Kombüsentür:

»Na du! Bleib nicht die ganze Nacht unterwegs! Wo ist der Teetopf? Über Bord? Dir wäre recht geschehen, wenn du dir den Hals gebrochen hättest!«

Ich versuchte auf die Füße zu kommen. Den großen Teetopf hielt ich noch in der Hand. Ich humpelte zur Kombüse und reichte ihn ihm. Aber er schäumte vor wirklicher und vorgeblicher Wut.

»Gott straf' mich, wenn du nicht ein elender Waschlappen bist. Wozu bist du überhaupt nütze? Wie? Wozu taugst du? Kannst nicht mal ein bißchen Tee tragen, ohne ihn zu verschütten. Nun kann ich noch mal aufgießen.

Und was greinst du?« fuhr er mich mit erneuter Wut an. »Hat seinem armen Beinchen wehgetan, Mamas armer Liebling.«

Ich greinte gar nicht, wenn mein Gesicht auch vor Schmerz zucken mochte. Aber ich bot meine ganze Energie auf, biß die Zähne zusammen und hinkte ohne weiteren Zwischenfall von der Kombüse nach der Kajüte und wieder zurück. Zweierlei aber hatte mir mein Unfall eingetragen: eine verletzte Kniescheibe, an der ich monatelang zu leiden hatte, und den Namen ›Hump‹, den Wolf Larsen mir von der Hütte aus zugerufen hatte. Von jetzt an wurde ich vorn und achtern nicht anders als Hump genannt, bis der Name so in mein Bewußtsein überging, daß ich selbst in meinen Gedanken Hump war, als ob ich nie anders geheißen hätte.

Es war keine leichte Aufgabe, am Kajütentisch zu bedienen, an dem Wolf Larsen, Johansen und die sechs Jäger aßen. Die Kajüte selbst war sehr eng, und es war nicht leicht, sich bei dem heftigen Rollen und Stampfen des Schoners darin zu bewegen. Was mich am meisten wurmte, war der vollkommene Mangel an Mitgefühl seitens der Männer, die ich bediente. Ich spürte durch die Kleidung hindurch, wie mein Knie immer mehr anschwoll, und ich war schwach und krank. Im Kajütenspiegel sah ich flüchtig mein Gesicht, das weiß, geisterhaft und vom Schmerz verzerrt war. Alle müssen meinen Zustand bemerkt haben, aber keiner verlor ein Wort darüber oder nahm auch nur die geringste Notiz von mir. Ich fühlte beinahe etwas wie Dankbarkeit, als Wolf Larsen später, als ich die Teller abwusch, zu mir sagte:

»Machen Sie sich nichts aus solcher Kleinigkeit. An so etwas werden sie sich schnell gewöhnen. Sie werden vielleicht ein bißchen weniger leichtfüßig sein, dafür aber auch gehen lernen. Das nennt man ja wohl ein Paradox, nicht wahr?« fügte er hinzu.

Er schien sich zu freuen, als ich mit einem mir schon zur Gewohnheit gewordenen »Jawohl, Käptn« nickte. »Ich nehme an, daß Sie ein bißchen Bescheid wissen über literarische Dinge. Was? Na, wir werden gelegentlich mal drüber reden.«

Und dann kehrte er mir, ohne weiter Notiz von mir zu nehmen, den Rücken und ging an Deck.

Als ich spät abends ein tüchtiges Stück Arbeit hinter mir hatte, wurde ich zum Schlafen ins Zwischendeck geschickt, wo ich eine einfache Koje erhielt. Ich war froh, von der verhaßten Gegenwart des Kochs befreit zu sein und mich endlich niederlegen zu können. Zu meiner Überraschung waren mir die Kleider am Körper getrocknet, ohne daß ich Anzeichen einer Erkältung von dem letzten Sturzbad oder dem langen Schwimmbad nach dem Sinken der ›Martinez‹ gespürt hätte. Unter gewöhnlichen Umständen wäre ich nach allem, was ich durchgemacht hatte, reif fürs Bett und eine Krankenschwester gewesen.

Aber mein Knie schmerzte furchtbar. Soweit ich feststellen konnte, hatte ich mir die Kniescheibe ausgesetzt. Als ich auf dem Rand meiner Koje saß und das Bein untersuchte (die Jäger befanden sich alle im Zwischendeck, rauchten und schwatzten), warf Henderson einen Blick auf mein Knie.

»Sieht bös aus«, bemerkte er. »Bind dir 'n Lappen rum, dann wird's besser.«

Das war alles. An Land würde ich schön auf dem Rücken gelegen haben unter der Pflege eines Arztes und mit der strengen Weisung, mich vollkommen ruhig zu verhalten. Aber ich muß diesen Männern Gerechtigkeit widerfahren lassen: ebenso gefühllos wie meinen Leiden waren sie auch ihren eigenen gegenüber; wenn ihnen einmal etwas zustieß. Erstens machte das die Gewohnheit, und zweitens waren sie von Natur aus weniger empfindlich. Ich glaube wirklich, daß ein feiner organisierter Mensch, wie ich, doppelt und dreifach soviel Schmerzen fühlte wie sie.

Bei aller Müdigkeit – ich war wirklich erschöpft – hinderte mich der Schmerz am Knie am Schlafen. Alles, was ich tun konnte, war, daß ich mich mit aller Gewalt beherrschte, um nicht laut zu stöhnen. Daheim würde ich zweifellos meinen Qualen Luft gemacht haben, aber diese mir neue, primitive Umgebung schien die Abhärtung eines Wilden von mir zu fordern. Diese Männer benahmen sich wie Naturvölker: stoisch in großen, kindlich reizbar in kleinen Dingen. Ich weiß noch, wie Kerfoot, einem der Jäger, später auf der Fahrt ein Finger zu Mus zerquetscht wurde, ohne daß er auch nur einen Laut von sich gab oder eine Miene verzog. Und derselbe Mann konnte bei der geringsten Kleinigkeit in zügellose Wut geraten.

Gerade jetzt war das der Fall. Er schrie und brüllte, schwenkte die Arme und fluchte wie der Teufel, und nur, weil er sich mit einem andern Jäger nicht über die Frage einigen konnte, ob ein Robbenjunges instinktiv schwimmen könne oder nicht. Seiner Ansicht nach schwamm es gleich nach der Geburt. Der andere Jäger, Latimer, ein magerer Bursche mit boshaften Schlitzaugen, der wie ein Yankee aussah, glaubte wiederum, die Robbenjungen würden lediglich auf dem Lande geboren, weil sie nicht schwimmen könnten, und ihre Mütter müßten es ihnen beibringen wie die Vögel ihren Nestlingen das Fliegen.

Unterdessen lagen die andern vier Jäger über dem Tisch oder saßen in ihren Kojen und überließen die beiden Widersacher ihrem Streit. Aber die Sache interessierte sie doch stark, hin und wieder ergriff einer von ihnen stürmisch Partei, und manchmal redeten sie alle durcheinander, bis die Worte wie Donnergrollen durch den Raum hallten. War der Gegenstand ihres Streits kindisch und lächerlich, so war es die Art ihrer Beweisführung noch mehr. Von Vernunftgründen war nicht die Rede, es gab nur Behauptungen und Schimpfen. Daß ein Robbenjunges bei der Geburt schwimmen konnte oder nicht, bewiesen sie durch kriegerische Behauptungen und Angriffe auf Urteilskraft, Verstand, Nationalität oder Vorleben des Gegners. Die Widerlegung war entsprechend. Ich erzähle dies nur, um die geistige Beschaffenheit der Männer zu zeigen, auf deren Umgang ich jetzt angewiesen war. In geistiger Beziehung waren sie Kinder, in körperlicher ausgewachsene Männer.

Und sie rauchten, rauchten unaufhörlich, und noch dazu einen billigen, stinkenden Tabak. Die Luft war dick und trübe vor Rauch. Das und die heftigen Bewegungen des Schiffes im Sturm würden mich sicher seekrank gemacht haben, wenn ich dazu geneigt hätte. So hatte ich nur eine Art Schwindelgefühl, das aber vielleicht auch von dem Schmerz in meinem Knie und meiner Erschöpfung herrührte.

Wie ich so dalag, machte ich mir natürlich Gedanken über meine Lage. Es war sicher einzig in seiner Art, kaum im Traum auszudenken, daß ich, Humphrey van Weyden, ein Mann von akademischer Bildung, ein Dilettant, wenn ich so sagen darf, in künstlerischen und literarischen Dingen, mich hier auf der Fahrt mit einem Robbenfänger zur Beringsee befand. Mein ganzes Leben lang hatte ich keine schwere körperliche Arbeit getan. Ich hatte ein ruhiges, ereignisloses Leben, das Dasein eines Einsiedlers geführt, mich mit Büchern beschäftigt und mein sicheres, behagliches Auskommen gehabt. Sport und Athletik hatten mich nie gereizt. Ich war stets ein Bücherwurm gewesen, so hatten Vater und Geschwister mich schon in meiner Kindheit genannt. Nur ein einziges Mal in meinem Leben hatte ich unter freiem Himmel kampiert, und da hätte ich beinahe die Gesellschaft zu Beginn des Ausfluges verlassen, um zu der Gemütlichkeit und Behaglichkeit eines Daches zurückzukehren. Und nun hatte ich die trostlose Aussicht auf endloses Tischdecken, Kartoffelschälen und Geschirraufwaschen. Und dabei war ich nicht sehr kräftig. Zwar hatten die Ärzte gesagt, daß ich eine vorzügliche Konstitution besäße, aber ich hatte sie nie durch Übung entwickelt. Meine Muskeln waren schlaff wie die eines Weibes, das hatten mir wenigstens die Ärzte immer wieder versichert bei dem Versuch, mich zur Ausübung eines Sports zu überreden. Aber ich hatte es vorgezogen, lieber den Kopf als den Körper zu gebrauchen, und nun saß ich hier in einer keineswegs geeigneten Verfassung für das rauhe Leben, das jetzt meiner harrte. Das waren einige der Gedanken, die mir durch den Kopf schossen und die ich hier gleich erzähle, um die Rolle von Schwäche und Hilflosigkeit, die ich spielen sollte, zu rechtfertigen. Daneben gedachte ich aber auch meiner Mutter und meiner Geschwister und malte mir ihren Schmerz aus. Ich gehörte zu den vermißten Toten der ›Martinez‹-Katastrophe, zu den nicht gefundenen Leichen. Ich sah die Überschriften in den Zeitungen vor mir, sah das Kopfschütteln der Kameraden im Klub und hörte sie sagen: »Armer Kerl!« Und ich sah Charley Furuseth vor mir, wie ich ihn beim Abschied gesehen, im Schlafrock auf dem Divan liegend und seine orakelhaften tiefsinnigen Epigramme schmiedend.

Inzwischen erkämpfte sich der Schoner ›Ghost‹ seinen Weg, rollend und stampfend, hinauf auf die wogenden Berge und hinab in die schäumenden Täler, immer weiter hinein ins Herz des Pazifik – und ich war auf ihm. Ich konnte den Wind dort oben hören. Wie ein gedämpftes Brausen drang er mir ans Ohr. Ab und zu stampften Füße über meinem Kopf. Von allen Seiten erklang ein unaufhörliches Knarren, das Holzwerk ächzte, quiekte und stöhnte in tausend Tonarten. Die Jäger stritten immer noch und brüllten wie eine halbmenschliche Amphibienbrut. Die Luft schwirrte von Flüchen und Zoten. Ich konnte ihre zornigen, erhitzten Gesichter sehen, ins Riesenhafte verzerrt durch das krankhafte Gelb der Schiffslampen, die mit dem Schiffe hin und her schwankten. In dem trüben Tabakdunst wirkten die Kojen wie die Käfige in einer Menagerie. Ölzeug und Seestiefel hingen an den Wänden, und hier und dort waren Gestelle mit Flinten und Büchsen angebracht. Es gemahnte an die Ausrüstung von Freibeutern und Piraten in vergangenen Zeiten. Ich ließ meiner Phantasie freien Lauf und konnte nicht schlafen. Es war eine lange, lange Nacht, ermüdend, unheimlich und endlos.

Aber meine erste Nacht im Zwischendeck war auch die letzte. Am nächsten Tage wurde Johansen, der neue Steuermann, von Wolf Larsen zum Schlafen ins Zwischendeck geschickt, während ich die Koje in der winzigen Kajüte, die schon am ersten Tage meiner Seereise von zwei Personen besetzt gewesen war, erhielt. Den Grund des Wechsels erfuhren die Jäger bald, und er weckte ziemlich viel Unbehagen unter ihnen. Johansen schien im Schlaf die Ereignisse des Tages jede Nacht noch einmal zu durchleben. Sein unaufhörliches Reden, Schreien und Kommandieren war Wolf Larsen zuviel gewesen, und er hatte den lästigen Schlafgenossen deshalb zu seinen Jägern abgeschoben.

Nach einer schlaflosen Nacht erhob ich mich, müde und leidend, um meinen zweiten Tag auf der ›Ghost‹ zu beginnen. Um halb sechs purrte Thomas Mugridge mich heraus, ungefähr so, wie Bill Sykes seinen Hund hinausgejagt haben würde; aber seine Roheit gegen mich wurde Herrn Mugridge in gleicher Münze zurückgezahlt. Der unnötige Lärm, den er schlug, mußte einen von den Jägern geweckt haben, denn ein schwerer Schuh sauste durchs Halbdunkel, und ich hörte, wie Herr Mugridge vor Schmerz aufheulte und demütig um Entschuldigung bat. Später bemerkte ich, daß sein eines Ohr gequetscht und angeschwollen war. Es bekam seine frühere Form nie ganz wieder und wurde von den Matrosen von jetzt an ›Blumenkohlohr‹ genannt.

Der Tag wurde eine Kette von Verdrießlichkeiten verschiedenster Art. Ich hatte am Abend meine getrockneten Kleider vom Kombüsendach heruntergeholt und wollte sie nun zunächst wieder mit dem Zeug des Kochs vertauschen. Ich sah nach meiner Börse. Außer einigem Kleingeld (ich habe ein gutes Gedächtnis für derlei) hatte sie 185 Dollar in Gold und Scheinen enthalten. Die Börse fand ich, aber bis auf das Kleingeld war sie leer. Ich fragte den Koch danach, und wenn ich auch eine schroffe Antwort erwartet hatte, so überstieg ihre Niedertracht doch alle Grenzen.

»Sag' mal, Hump,« begann er knurrend, und seine Augen leuchteten vor Bosheit, »willst du, daß ich dir die Nase einschlage? Wenn du meinst, daß ich ein Dieb bin, dann hast du dich geirrt. Ich will blind sein, wenn das nicht der schwärzeste Undank ist, den ich je erlebt habe. Da kommt so ein elendes Gestell von Mensch, ich nehme es in meine Kombüse auf und behandle es gut, und das hab' ich nun davon! Das nächste Mal kannst du meinetwegen zum Teufel gehen, ich werde schon dafür sorgen!«

Damit hob er die Fäuste und ging auf mich los. Zu meiner Schande sei gesagt, daß ich dem Schlage feige auswich und zur Kombüse hinauslief. Was hätte ich tun sollen? Gewalt, nichts als rohe Gewalt herrschte auf diesem Schiffe. Moralische Begriffe galten hier nicht. Stellt euch vor: ein Mann von Mittelgröße mit schwachen, ungeübten Muskeln, der ein friedliches, ruhiges Leben geführt und nie eine Gewalttat gekannt hatte – was konnte der wohl machen? Es mit dieser menschlichen Bestie aufzunehmen, wäre für mich dasselbe gewesen, wie dem Angriff eines wütenden Bullen standzuhalten.

So dachte ich jedenfalls damals aus dem Bedürfnis heraus, mein Gewissen zu beschwichtigen. Aber befriedigend war diese Rechtfertigung nicht. Noch heute leidet mein Mannesstolz schwer darunter, wenn ich an diese Dinge zurückdenke, und ich kann mich nicht freisprechen.

Aber das gehört nicht hierher. Mein schnelles Laufen aus der Kombüse verursachte qualvolle Schmerzen in meinem Knie, und hilflos sank ich neben der Kajütentür zu Boden. Aber der gewalttätige Koch hatte mich nicht verfolgt.

»Sieh mal, wie er laufen kann! Wie er laufen kann!« hörte ich ihn rufen. »Und mit dem Bein! Komm nur wieder her, Mamas Liebling. Ich schlage dich nicht, wirklich nicht.«

Ich kam zurück und nahm meine Arbeit wieder auf. Für diesmal war von der Sache nicht mehr die Rede, wenn sich auch später weitere Verwicklungen daraus ergeben sollten. Ich deckte den Frühstückstisch in der Kajüte, und um sieben Uhr wartete ich Jägern und Offizieren auf. Der Sturm hatte sich im Laufe der Nacht etwas gelegt, wenn die See auch noch hoch ging und immer noch ein steifer Wind wehte. Die Segel waren wieder gehißt worden, so daß die ›Ghost‹ jetzt unter voller Leinwand bis auf die beiden Toppsegel und den Außenklüver dahinschoß. Diese drei Segel sollten, wie ich der Unterhaltung entnahm, gleich nach dem Frühstück gesetzt werden. Ich erfuhr auch, daß Wolf Larsen bedacht war, soviel wie möglich aus dem Sturm herauszuholen, der ihn nach Südwest, der Gegend zutrieb, wo er erwarten konnte, in den Nordostpassat zukommen. Mit diesem stetigen Wind hoffte er den größten Teil der schnellen Fahrt nach Japan zurücklegen zu können, und deshalb schlug er jetzt einen Bogen nach Süden in die Tropen, um dann, wenn er sich der asiatischen Küste näherte, wieder nach Norden umzubiegen.

Nach dem Frühstück hatte ich wieder ein recht unangenehmes Erlebnis. Als ich das Geschirr abgewaschen und den Herd gereinigt hatte, trug ich die Asche an Deck, um sie über Bord zu schütten. Wolf Larsen und Henderson standen, in ein Gespräch vertieft, in der Nähe des Steuerrades. Johansen steuerte. Als ich nach Luv ging, sah ich, wie er eine Bewegung mit dem Kopfe machte, die ich aber mißverstand und für einen Gutenmorgengruß hielt. In Wirklichkeit war es ein Versuch, mich zu warnen, die Asche in Luv über Bord zu werfen. Ohne zu ahnen, was ich anrichtete, ging ich an Wolf Larsen und dem Jäger vorbei und warf die Asche gegen den Wind über Bord. Der Wind aber wehte sie zurück und überschüttete nicht nur mich, sondern auch Wolf Larsen und Henderson damit Im nächsten Augenblick hatte mir der Kapitän einen Stoß versetzt, als wäre ich ein Hund, einen Stoß, der so heftig war, daß ich gegen die Hütte taumelte, wo ich mich halb ohnmächtig gegen die Wand lehnte. Alles schwamm mir vor den Augen, und mir wurde übel. Mit Mühe gelang es mir, an die Reling zu kriechen. Wolf Larsen folgte mir nicht. Er klopfte sich die Asche von der Kleidung und nahm seine Unterhaltung mit Henderson wieder auf. Johansen, der den ganzen Auftritt mit angesehen hatte, schickte ein paar Matrosen nach achtern, um das Deck zu säubern.

Später am Morgen erlebte ich eine Überraschung ganz anderer Art. Nach Anweisung des Kochs war ich in Wolf Larsens Kajüte gegangen, um aufzuräumen. An der Wand, dicht neben dem Kopfende der Koje, befand sich ein volles Büchergestell. Ich warf einen Blick darauf und sah zu meinem Erstaunen Namen wie Shakespeare, Tennyson, Poe und De Quincey. Auch wissenschaftliche Werke gab es, darunter Bücher von Tyndall, Proctor und Darwin. Astronomie und Naturwissenschaften waren vertreten, und ich bemerkte Bulfinchs ›Zeitalter der Fabel‹, Shaws ›Geschichte der englischen und amerikanischen Literatur‹ und Johnsons Naturgeschichte in zwei dicken Bänden. Ferner eine Anzahl Grammatiken, wie die von Metcalf, Reed, Kellog und so weiter. Und ich mußte lächeln, als ich ein Exemplar von Deans ›Die englische Sprache‹ sah. Ich konnte diese Bücher nicht mit dem Manne, wie ich ihn bisher kennengelernt hatte, in Einklang bringen. Ob er sie wirklich las? Als ich aber das Bett machte, fand ich zwischen den Decken die vollkommene Cambridge-Ausgabe von Browning, die ihm offenbar beim Einschlafen aus der Hand geglitten war. In dem Buche war ›Auf einem Balkon‹ aufgeschlagen, und ich sah, daß er mehrere Stellen mit einem Bleistift angestrichen hatte. Als ich bei einer heftigen Bewegung des Schiffes den Band fallen ließ, fiel ein Blatt Papier heraus. Es war über und über mit geometrischen Figuren und Berechnungen bekritzelt.

Es war klar, daß dieser furchtbare Mensch nicht der unwissende Dummkopf sein konnte, für den man ihn nach seinen Ausbrüchen von Brutalität unweigerlich halten mußte. Er wurde mir plötzlich ein Rätsel. Ich hatte schon bemerkt, daß seine Sprache ausgezeichnet war, nur gelegentlich konnte sich ein kleiner Fehler einschleichen. In der Unterhaltung mit Seeleuten und Jägern strotzte sie natürlich von Slang-Ausdrücken, aber die wenigen Worte, die er bisher mit mir gewechselt hatte, waren klar und korrekt gewesen.

Der Schimmer, den ich von der andern Seite seines Wesens erblickt hatte, muß mich ermutigt haben, denn ich entschloß mich, über den Verlust meines Geldes mit ihm zu sprechen.

»Ich bin bestohlen worden«, sagte ich zu ihm, als ich ihn bald darauf traf, wie er allein auf dem Hinterdeck auf und ab schritt.

»Käptn«, verbesserte er mich, nicht rauh, aber ernst. »Ich bin bestohlen worden, Käptn«, machte ich meinen Fehler wieder gut.

»Wie ist das zugegangen?« fragte er.

Da erzählte ich ihm die ganze Geschichte, wie ich mein Zeug zum Trocknen in der Kombüse gelassen hatte und später, als ich dem Koch gegenüber etwas davon erwähnte, beinahe von ihm geschlagen worden war. Er lächelte bei meinem Bericht. »Nebeneinnahmen«, schloß er. »Köchleins Nebeneinnahmen. Finden Sie nicht, daß Ihr Leben den Preis wert war? – Nebenbei: Betrachten Sie es als eine Lehre. Lernen Sie, selbst auf Ihr Geld zu achten. Ich denke mir, daß das bis jetzt ein Rechtsanwalt oder Geschäftsmann für Sie besorgt hat.«

Ich konnte einen heimlichen Spott aus seinen Worten heraushören, fragte jedoch: »Was kann ich tun, um es wiederzubekommen?«

»Das ist Ihre Sache. Jetzt haben Sie keinen Rechtsanwalt oder geschäftlichen Berater, und da müssen Sie schon selbst für sieh sorgen. Wenn Sie einen Dollar bekommen, so halten Sie ihn fest. Wer Geld herumliegen läßt, wie Sie es getan, der verdient es nicht besser, als daß er es verliert. Überdies haben Sie gesündigt. Sie haben kein Recht, Ihre Mitmenschen solchen Versuchungen auszusetzen. Sie haben Köchlein in Versuchung geführt, und er fiel. Sie haben seine unsterbliche Seele in Gefahr gebracht. Nebenbei: Glauben Sie an die Unsterblichkeit der Seele?«

Seine Lider hoben sich langsam, als er die Fragestellte, und in der Tiefe seiner Augen, in die ich blickte, schien sich mir die Seele zu öffnen. Aber es war eine Täuschung. Kein Mensch hat je wirklich die Tiefe von Wolf Larsens Seele ergründet – davon bin ich überzeugt. Es war eine sehr einsame Seele, wie ich erfahren sollte, die sich nie ganz entschleierte, wenn sie es auch in seltenen Augenblicken zu tun vorgab.

»Ich lese Unsterblichkeit in Ihren Augen«, antwortete ich, indem ich das ›Käptn‹ unterließ – ein Wagnis, das ich mit Hinblick auf die vertrauliche Unterhaltung versuchte.

Er achtete nicht darauf. »Sie sehen also etwas, das lebt, aber es ist nicht gegeben, daß es ewig leben wird.«

»Ich sehe mehr als das«, sagte ich kühn.

»Dann sehen Sie Bewußtsein. Bewußtsein des Lebens, das jetzt ist – aber immer noch kein künftiges Leben, keine Endlosigkeit des Seins.«

Wie klar er dachte, und wie gut er seine Gedanken auszusprechen vermochte! Nach einem forschenden Blick auf mich wandte er den Kopf und schaute über das bleifarbene Meer in Luv. Kälte trat in seine Augen, und der Zug um seinen Mund wurde streng und herb. Offenbar war seine Stimmung pessimistisch geworden.

»Und zu welchem Zweck?« fragte er plötzlich und wandte sich mir wieder zu. »Wenn ich eine unsterbliche Seele hätte – wozu?«

Ich zögerte. Wie sollte ich diesem Manne meinen Idealismus verständlich machen? Wie sollte ich ein reines Gefühl ausdrücken, etwas wie im Schlafe gehörte Musik, etwas, das überzeugend und doch unaussprechlich war?

»Was glauben Sie denn?« lautete meine Gegenfrage. »Ich glaube, daß das Leben ein wirres Durcheinander ist«, erwiderte er. »Es ist wie Hefe, wie ein Ferment, etwas, das sich bewegt und sich vielleicht eine Minute, eine Stunde, ein Jahr oder hundert Jahre bewegen mag, das aber schließlich doch aufhören wird, sich zu bewegen. Die Großen fressen die Kleinen, um sich die Kraft zur Bewegung zu bewahren. Wer Glück hat, frißt am meisten und bewegt sich am längsten, das ist alles. Was halten Sie davon?«

Er machte eine ungeduldige Armbewegung in der Richtung der Matrosen, die mittschiffs an irgendwelchem Tauwerk arbeiteten.

»Die bewegen sich, aber das tut die Qualle auch. Sie bewegen sich, um essen und sich weiter bewegen zu können. Da haben Sie's. Sie leben um ihres Bauches willen, und ihr Bauch um ihretwillen. Es ist ein Kreislauf. Es gibt kein Ziel, weder für sie noch für die andern. Am Ende steht alles still. Alle Bewegung hört auf. Sie sind tot.«

»Sie haben Träume«, unterbrach ich ihn, »strahlende, lichte Träume – – –«

»Vom Essen«, erklärte er kurz und bündig.

»Und von ...«

»Mehr Essen. Von gutem Appetit und dem Glück, ihn zu befriedigen.« Seine Stimme klang rauh und schwer. »Denn, sehen Sie, die Leute träumen von glücklichen Reisen, die ihnen mehr Geld einbringen sollen, träumen davon, Steuermann zu werden und Reichtümer zu sammeln – kurz: besser imstande zu sein, ihre Mitgeschöpfe auszunutzen, gute Nachtruhe zu haben, gutes Essen zu bekommen und die andern die schmutzige Arbeit für sich tun zu lassen. Sie und ich, wir sind genau so. Der einzige Unterschied ist, daß wir mehr und besser gegessen haben. Jetzt bin ich es, der die andern verzehrt und Sie dazu. Aber bis jetzt haben Sie mehr gegessen als ich. Sie haben in weichen Betten geschlafen, feine Kleider getragen und gute Mahlzeiten gegessen. Wer hat diese Betten, diese Kleider und Mahlzeiten geschaffen? Sie nicht. Sie haben nie etwas im Schweiße Ihres Angesichts getan. Sie lebten von Einnahmen, die Ihr Vater Ihnen geschaffen hatte. Sie glichen dem Fregattvogel, der auf den Tölpel niederstößt und ihm den gefangenen Fisch entreißt. Sie gehören zu denen, die sich zu Herren über die andern aufgeworfen haben und die Nahrung verzehren, die andere erzeugen und selber essen möchten. Sie tragen warme Kleidung. Andere haben diese Kleidung gemacht, aber die zittern in Lumpen und bitten Sie, Ihren Rechtsanwalt oder Geschäftsführer, ihnen etwas zu verdienen zu geben.«

»Aber das hat doch nichts mit der Sache zu tun«, rief ich. »Aber sehr!« Er sprach jetzt sehr schnell, und seine Augen blitzten. »Das ist Gemeinheit, und das ist Leben. Welchen Nutzen hätte die Unsterblichkeit wohl von der Gemeinheit, und welchen Sinn hätte das? Wie endet es? Wozu ist das alles? Sie haben keine Nahrung erzeugt. Und doch hätte die Nahrung, die Sie verzehrt und vergeudet haben, zahlreiche Elende retten können, die sie erzeugen, aber nicht essen konnten. Welchem unsterblichen Ziel haben Sie gedient? Oder die andern? Sehen Sie uns beide. Was nützt Ihnen Ihre gepriesene Unsterblichkeit, wenn Ihr Leben mit dem meinen zusammenstößt? Sie möchten gern an Land zurück, um Ihren Gemeinheiten zu frönen. Ich habe den scherzhaften Einfall, Sie hier an Bord meines Schiffes zu behalten, wo meine Gemeinheit blüht. Und ich will Sie behalten. Ich will etwas aus Ihnen machen oder Sie zum Teufel gehen lassen. Sie könnten heute noch sterben, diese Woche, nächsten Monat. Ich könnte Sie auf der Stelle mit einem Faustschlag töten, denn Sie sind ein elender Schwächling. Sind wir aber unsterblich, wozu dann das alles? Gemein zu sein, wie Sie und ich unser ganzes Leben, scheint mir nicht recht zur Unsterblichkeit zu passen. Also sagen Sie: Wozu das alles? Warum habe ich Sie hierbehalten?« »Weil Sie stärker sind«, vermochte ich einzuschieben. »Aber warum stärker?« fragte er weiter. »Weil ich ein größeres Stück Ferment bin als Sie. Sagen Sie? Verstehen Sie das nicht?«

»Aber das wäre hoffnungslos«, protestierte ich.

»Da stimme ich Ihnen zu«, erwiderte er. »Warum sich überhaupt bewegen, wenn Bewegung Leben ist? Bewegte man sich nicht, wäre man nicht ein Teil der Hefe, so gäbe es keine Hoffnungslosigkeit. Aber wir wollen eben leben und uns bewegen, weil Leben und Sichbewegen zufällig das Wesen des Lebens ausmacht. Wäre dem nicht so, würde Leben Tod sein. Und dieses Leben in Ihnen gibt Ihnen den Traum von der Unsterblichkeit ein. Das Leben in Ihnen ist lebendig und wünscht in alle Ewigkeit weiterzuleben. Pah! Die verewigte Gemeinheit!«

Er drehte sich kurz um und entfernte sich. Bei der Kajütstreppe blieb er stehen und rief mich zu sich.

»Wieviel hat Köchlein Ihnen gemopst?« fragte er.

»Hundertfünfundachtzig Dollar, Käptn«, erwiderte ich. Er nickte. Als ich einen Augenblick später hinunterging, um zum Mittagessen zu decken, hörte ich ihn mittschiffs ein paar Leute laut ausschelten.

Am nächsten Morgen hatte sich der Sturm gelegt, und die ›Ghost‹ wiegte sich leicht ohne Wind auf einer ruhigen See. Nur hin und wieder war ein leichter Hauch zu spüren, und Wolf Larsen machte andauernd die Runde auf dem Achterdeck, während seine Augen unausgesetzt das Meer in Nordost absuchten, von wo der Passat wehen mußte.

Alle Mann sind auf Deck beschäftigt, die verschiedenen Boote für die Jagd instand zu setzen. Sieben Boote befinden sich an Bord, die kleine Jolle des Kapitäns und die sechs für die Jäger. Je drei Mann, ein Jäger, ein Ruderer und ein Steuermann bilden eine Bootsmannschaft. An Bord des Schoners gehören Ruderer und Steuermänner zur Besatzung. Auch die Jäger müssen sich an den Wachen beteiligen und unterstehen im übrigen immer den Befehlen Wolf Larsens. Alles dies und noch mehr habe ich gelernt. Die ›Ghost‹ gilt als der schnellste Schoner der Flotten von San Francisco und Victoria. Sie war ursprünglich eine Privatjacht und besonders als Schnellsegler gebaut. Ihre Linien und die ganze Einrichtung – wenn ich auch nichts davon verstehe–sprechen für sich selber. Johnson erzählte mir davon in einer kurzen Unterhaltung, die ich gestern während der zweiten Hundewache mit ihm hatte. Er sprach von dem schönen Fahrzeug mit derselben Liebe und Begeisterung, wie manche Menschen sie für Pferde haben. Er sieht sehr schwarz in die Zukunft und gibt mir zu verstehen, daß Wolf Larsen einen sehr schlechten Ruf unter den Robbenfängerkapitänen hat. Es war die ›Ghost‹, die Johnson verführte, sich für die Fahrt anheuern zu lassen, aber er fängt schon an, es zu bereuen.

Wie er mir erzählte, ist die ›Ghost‹ ein Achtzigtonnenschoner von einem besonders feinen Typ. Ihre größte Breite beträgt 23, ihre Länge etwas über 90 Fuß. Ein Bleikiel von unbekanntem, aber bedeutendem Gewicht macht sie sehr stabil, und sie trägt eine ungeheure Segelfläche. Von Deck bis zum Großmasttopp mißt sie reichlich 100 Fuß, während der Fockmast mit seiner Marsstange acht bis zehn Fuß kürzer ist. Ich berichte diese Einzelheiten, um einen Begriff von der Größe dieser kleinen schwimmenden Welt mit ihren 22 Seelen zu geben. Es ist eine Miniaturwelt, ein Splitterchen, ein Punkt, und immer wieder wundere ich mich, daß die Menschen es gewagt haben, die See mit einem so gebrechlichen kleinen Ding zu versuchen. Wolf Larsen gilt auch als ein verwegener Seemann. Ich hörte Henderson und Standish, einen kalifornischen Jäger, darüber reden. Vor zwei Jahren hatte er in einem Orkan in der Beringsee die Masten der ›Ghost‹ kappen lassen, worauf die jetzigen eingesetzt wurden, die in jeder Beziehung stärker und schwerer sind. Damals soll er gesagt haben, er wolle lieber kentern, als die neuen Hölzer verlieren.

Jedermann an Bord, mit Ausnahme Johansens, dem seine Beförderung zu Kopfe gestiegen ist, scheint eine Entschuldigung dafür zu haben, daß er sich an Bord der ›Ghost‹ befindet. Fast die Hälfte der Leute im Vorschiff sind Hochseematrosen, und sie entschuldigen sich damit, nichts von dem Schiff und seinem Kapitän gewußt zu haben. Von den Jägern wird gemunkelt, daß sie, so ausgezeichnete Schützen sie seien, wegen ihrer Streitsucht und verbrecherischen Neigungen keine Heuer auf einem anständigen Fahrzeug hätten finden können.

Ich habe die Bekanntschaft eines andern Mannes von der Besatzung gemacht – Louis', eines Iren aus Neuschottland, eines freundlichen, gutmütigen und sehr verträglichen Burschen, der stets zu einer Unterhaltung bereit ist, sobald er nur einen Zuhörer finden kann. Am Nachmittag, wenn der Koch unten sein Mittagsschläfchen hält und ich meine ewigen Kartoffeln schäle, kommt Louis zu einem langen Plausch in die Kombüse. Er entschuldigt seine Anwesenheit an Bord damit, daß er betrunken war, als er sich anheuern ließ. Immer wieder versichert er mir, daß er es nicht im Traum getan hätte, wenn er nüchtern gewesen wäre. Er scheint seit einem Dutzend Jahren regelmäßig mit auf die Robbenjagd zu gehen und gilt als bester oder zweitbester Bootssteuermann in beiden Flotten.

»Ach, mein Junge,« er schüttelte unheilverkündend den Kopf, »du hast dir gerade den schlimmsten Schoner ausgesucht, und dabei warst du nicht einmal besoffen wie ich. Auf jedem Schiff ist die Robbenjagd ein Fest für die Matrosen. Der Steuermann war der erste, aber denk' an mich: es wird noch mehr Tote geben, ehe die Fahrt zu Ende ist. Es bleibt zwischen uns: dieser Wolf Larsen ist der Teufel selber, und seit er die ›Ghost‹ bekommen hat, ist sie ein Höllenschiff. Das sollte ich nicht wissen? Ich? Ich weiß noch gut, wie er vor zwei Jahren in Hakodate einen Anfall kriegte und vier von seinen Leuten niederschoß. Ich war ja keine 300 Yards davon auf der ›Emma‹. Und im selben Jahre erschlug er einen Mann mit der bloßen Faust. Ja, schlug ihn tot, zerquetschte ihm den Kopf wie eine Eierschale. Und kamen nicht der Ingenieur der Insel Kura und der Polizeihauptmann, japanische Herren, Freundchen, als seine Gäste an Bord der ›Ghost‹ mit ihren Frauen – so zarten kleinen Dingerchen, wie sie auf Fächern gemalt sind –, und wurden nicht die beiden Ehemänner bei der Abfahrt, wie aus Versehen, in ihrem Sampan zurückgelassen? Und wurden die armen kleinen Damen nicht eine Woche später auf der andern Seite der Insel an Land gesetzt und mußten in ihren Strohsandalen, die keine Meile halten konnten, über die Berge wandern? Als ob ich das nicht wüßte! So ein Tier ist dieser Wolf Larsen–die große Bestie in der Offenbarung Johannis! Es wird ein Ende mit Schrecken nehmen! Aber ich habe nichts gesagt, denk' daran. Nicht einen Ton hab' ich geflüstert, denn der alte dicke Louis möchte gern die Reise überleben, und wenn der letzte von euch zu den Fischen geht. – Wolf Larsen«, sprudelte er einen Augenblick später heraus. »Beachte das Wort, hörst du: – Wolf – ein Wolf ist er. Er hat nicht ein schwarzes Herz wie manche Menschen. Er hat überhaupt kein Herz. Ein richtiger Wolf ist er. Er trägt seinen Namen mit Recht!«

»Aber wenn er so berüchtigt ist,« fragte ich, »wie ist es dann möglich, daß er immer noch Leute bekommt!« »Wie ist es möglich, daß man überhaupt Leute bekommt, um irgend etwas auf Gottes Welt zu tun?« fragte Louis mit keltischem Feuer. »Würde ich an Bord sein, wenn ich nicht viehisch besoffen gewesen wäre, als ich unterschrieb. Manche, wie die Jäger, können keinen bessern Schiffer finden, und manche, wie die armen Teufel vorn, wußten es nicht besser. Aber sie werden schon darauf kommen und werden den Tag verfluchen, an dem sie geboren sind. Ich könnte weinen über die armen Menschen, hätte ich nicht genug an den armen alten Louis und die Unannehmlichkeiten zu denken, die seiner noch warten. Aber ich habe keinen Ton gesagt, denk' daran, keinen Ton! – Die Jäger sind schlechte Kerle«, brach er wieder los, denn wenn er einmal im Reden war, konnte er so bald nicht aufhören. »Aber wart's nur ab! Wenn sie betrunken sind und aus reinem Vergnügen zu streiten anfangen – er wird mit ihnen fertig. Er wird sie schon Gottesfurcht lehren! Sieh mal meinen Jäger, Horner. ›Jock‹ Horner nennen sie ihn, und er sieht so ruhig und umgänglich aus und spricht so sanft wie ein Mädchen, daß man glaubt, die Butter könne ihm nicht im Munde schmelzen. Und hat er nicht letztes Jahr seinen Bootssteuermann getötet? Unglücksfall, sagte man, aber ich traf den Bootspuller in Jokohama, und der hat mir die Wahrheit erzählt. Und ›Smoke‹, der schwarze kleine Kerl – steckten ihn die Russen nicht drei Jahre in die sibirischen Salzminen, weil er auf Copper Island Fische gestochen hatte – ein Privileg der Russen? Mit Händen und Füßen war er an seinen Kameraden gefesselt. Und kamen sie nicht doch ins Raufen? Und kam der andere nicht stückweise im Eimer oder zur Mine heraus: heute ein Bein, morgen ein Arm, am nächsten Tage der Kopf und so weiter?« »Aber das ist doch nicht möglich!« schrie ich, von Entsetzen überwältigt.

»Nicht möglich?« fuhr er blitzschnell fort. »Ich habe nichts gesagt. Ich bin taub und stumm, und wenn du deine Mutter lieb hast, bist du's auch. Nie hab' ich den Mund aufgemacht, um etwas anderes als Gutes und Schönes über ihn und die andern zu sagen. Gott verdamm' seine Seele! Möge er zehntausend Jahre im Fegefeuer schmoren und dann in die allertiefste Hölle kommen.«

Johnson, der Mann, der mir die Haut abgerieben hatte, als ich an Bord kam, schien mir von allen Leuten, vorn und achtern, der am wenigsten zweifelhafte. Es war tatsächlich gar nichts Zweifelhaftes an ihm. Seine Offenheit und Männlichkeit war auf den ersten Blick überzeugend, und dazu kam eine Bescheidenheit, die man leicht für Schüchternheit halten konnte. Aber schüchtern war er nicht. Er hatte vielmehr den Mut der Überzeugung, die Sicherheit seiner Männlichkeit. Das war es, was ihn gleich zu Beginn unserer Bekanntschaft gegen die falsche Aussprache seines Namens hatte protestieren lassen. Louis sprach über ihn und prophezeite.

»Das ist ein Prachtkerl, dieser Johnson«, sagte er. »Unser bester Seemann und mein Puller. Aber er und Wolf Larsen werden aneinandergeraten, so sicher wie zwei mal zwei vier ist. Das weiß ich. Ich kann den Sturm schon aufziehen sehen. Ich habe mit ihm geredet wie mit meinem eigenen Bruder, aber er will kein falsches Signal zeigen. Er murrt, wenn nicht alles nach seinem Kopfe geht, und es gibt immer ein Klatschmaul, das es Wolf Larsen hinterbringt. Der Wolf ist stark, und es ist die Art des Wolfes, Stärke bei andern zu hassen. Und Stärke findet er bei Johnson – kein Kriechen, kein ›Jawohl, Käptn, ergebensten Dank, Käptn‹ für ein Schimpfwort oder einen Faustschlag. – Ja, es kommt, es kommt! Und Gott weiß, wo ich einen andern Puller hernehmen soll! Was tut der Narr, als der ›Alte‹ ihn Yonson nennt? ›Ich heiße Johnson, Käptn‹, und buchstabiert ihm den Namen vor. Du hättest das Gesicht des ›Alten‹ sehen sollen! Ich dachte schon, er würde auf der Stelle über ihn herfallen. Er tat es nicht, aber er wird es tun, und er wird diesem Hartschädel das Licht ausblasen, oder ich kenne meine Leute nicht.« –

Thomas Mugridge wird unerträglich. Bei jeder Anrede muß ich ›Herr‹ zu ihm sagen. Es dürfte mitsprechen, daß Wolf Larsen eine Vorliebe für ihn gefaßt hat. Es ist wohl unerhört, daß ein Kapitän auf vertrautem Fuße mit seinem Koch steht, aber Wolf Larsen tut es. Zwei- oder dreimal hat er schon den Kopf zur Kombüse hereingesteckt und Mugridge gutmütig geneckt, und heute nachmittag standen sie eine volle Viertelstunde auf dem Achterdeck und unterhielten sich. Als der Koch wieder in die Kombüse trat, glänzte sein Gesicht, als wäre es mit Fett eingeschmiert, und er sang zu seiner Arbeit so falsch, daß es herzzerreißend war.

»Ich verkehre immer mit den Offizieren«, bemerkte er vertraulich zu mir. »Ich weiß mich beliebt zu machen. Mein früherer Kapitän – ei, das ging nicht anders, ich mußte zu ihm in die Kajüte kommen und ein Gläschen mit ihm trinken. ›Mugridge,‹ sagte er, ›Mugridge, du hast deinen Beruf verfehlt.‹ ›Und wieso?‹ ›Du hättest Gentleman werden müssen und nie für Geld arbeiten dürfen.‹ Gott straf' mich, Hump, wenn er das nicht gesagt hat, und ich saß gemütlich mit ihm in seiner Kajüte, rauchte seine Zigarren und trank seinen Rum.«

Dies Gespräch trieb mich zur Verzweiflung. Ich habe nie eine Stimme gehört, die mir so verhaßt war. Seine ölige, gewundene Sprechweise, sein fettiges Lächeln und sein ungeheures Selbstbewußtsein zerrten an meinen Nerven, bis ich manchmal am ganzen Leibe zitterte. Er war tatsächlich der ekelhafteste, widerwärtigste Mensch, den ich je getroffen habe. Seine Kocherei war eine unbeschreibliche Schweinerei, und da er alles kochte, was an Bord gegessen wurde, mußte ich mir mit allergrößter Vorsicht das am wenigsten Schmutzige aus dem Fraß heraussuchen.

Ich war nicht gewohnt, zu arbeiten, und meine Hände schmerzten mich sehr. Die Nägel wurden schwarz und die Haut so schmutzig, daß selbst eine Scheuerbürste sie nicht mehr reinigen konnte. Immer neue Blasen schmerzten, und dazu hatte ich eine große Brandwunde am Unterarm, die ich mir zugezogen hatte, als ich einmal beim Rollen des Schiffes das Gleichgewicht verlor und gegen den Herd geschleudert wurde. Mein Knie hatte sich noch nicht gebessert. Es war immer noch geschwollen. Das Herumhumpeln von früh bis in die Nacht war nicht dazu angetan, es zu heilen. Wenn es überhaupt besser werden sollte, mußte ich Ruhe haben.

Ruhe! Nie zuvor hatte ich den Sinn dieses Wortes verstanden. Ohne es zu wissen, hatte ich mein ganzes Leben geruht. Aber jetzt! Hätte ich nur eine halbe Stunde stillsitzen können, ohne etwas zu tun, ja, ohne zu denken – es wäre das Schönste von der Welt für mich gewesen. Aber es war doch eine Offenbarung für mich. Jetzt war ich besser imstande, das Leben eines Arbeiters zu würdigen. Nie hätte ich mir träumen lassen, daß Arbeit etwas so Furchtbares wäre. Von halb fünf morgens bis zehn Uhr nachts bin ich der Sklave aller und habe nicht eine Minute für mich, außer dem winzigen Augenblick, den ich mir gegen Ende der zweiten Hundewache stehlen kann. Halte ich eine Sekunde inne, um über die See zu blicken, die in der Sonne funkelt, oder zuzuschauen, wenn ein Matrose nach oben ins Gaffeltoppsegel geht oder aufs Bugspriet hinausläuft – gleich höre ich die verhaßte Stimme: »Hallo, Hump, nicht faulenzen! Ich passe auf.« Es gibt Anzeichen von zunehmender Mißstimmung im ›Zwischendeck‹, und es heißt, daß schon eine Prügelei zwischen ›Smoke‹ und Henderson stattgefunden habe. Henderson scheint der beste von den Jägern zu sein, ein besonnener Bursche, der schwer aus seiner Ruhe kommt Diesmal muß er aber sehr erbost gewesen sein, denn als ›Smoke‹ zum Abendbrot in die Kajüte kam, hatte er ein blaues Auge und sah bös aus.

Gerade vor dem Abendbrot hatte sich auf Deck etwas ereignet, das für die Gefühllosigkeit und Roheit dieser Männer bezeichnend ist. Unter der Mannschaft befindet sich ein junger Mensch namens Harrison, ein plump aussehender Bauernbursche, der, vermutlich von Abenteuerlust getrieben, seine erste Seereise macht. In dem leichten, veränderlichen Wind laviert der Schoner ziemlich viel, und dann muß jedesmal ein Mann nach oben gehen, um das vordere Gaffeltoppsegel umzulegen. Irgendwie hatte sich nun, als Harrison oben war, die Schoot im Block am Ende der Gaffel festgeklemmt. Soviel ich verstand, gab es zwei Möglichkeiten, sie loszubekommen – erstens, das Segel herunterzufieren, was verhältnismäßig leicht und gefahrlos war, zweitens auf der Piek bis zum Ende der Gaffel hinauszuklettern, ein gewagtes Unternehmen. Johansen rief Harrison zu, er solle hinausklettern. Alle sahen, daß der Junge Angst hatte, und dazu hatte er alle Ursache: achtzig Fuß über dem Deck und nichts, um sich festzuhalten, als dies dünne, ruckweise hin und her geschleuderte Tau! Hätte ein stetiger Wind geweht, so würde es nicht so schlimm gewesen sein, aber die ›Ghost‹ rollte ohne Ladung in der Dünung, und bei jedem Überholen gerieten die Segel in schwingende Bewegung und schlugen, und die Falle wurden schlaff und dann mit einem Ruck wieder straff. Sie vermochten einen Mann hinunterzufegen wie ein Peitschenschmitz eine Fliege.

Harrison hörte den Befehl und verstand, was man von ihm verlangte, zögerte jedoch. Vermutlich war er das erstemal in seinem Leben in der Takelung. Johansen, von Wolf Larsens Herrschsucht angesteckt, brach in einen Strom von Flüchen aus.

»Genug, Johansen,« sagte der Kapitän schroff, »das Fluchen auf dem Schiff besorge ich selbst, daß Sie und alle es wissen. Wenn ich Ihre Hilfe brauche, werde ich Sie rufen.«

»Jawohl, Käptn«, antwortete der Steuermann unterwürfig.

Unterdessen war Harrison auf das Fall hinausgeklettert. Ich blickte durch die Kombüsentür hinauf und konnte sehen, wie er zitterte, als wären ihm alle Glieder vom Schüttelfrost gepackt. Er kroch ganz langsam und vorsichtig, Zoll für Zoll. Von dem klaren Blau des Himmels hob er sich ab wie eine Riesenspinne, die an ihrem Netzwerk entlang kriecht.

Er mußte leicht aufwärts klettern, denn das Segel stand nach oben. Das Fall, das durch verschiedene Blöcke am Gaffel und Mast lief, gab ihm einige Stützpunkte für Hände und Füße. Aber das schlimmste war, daß der Wind nicht kräftig und stetig genug wehte, um das Segel zu blähen. Als er sich etwa in der Mitte befand, machte die ›Ghost‹ eine Schlingerbewegung nach Luv und wieder zurück in ein Wellental. Harrison hielt inne und klammerte sich fest. Achtzig Fuß unter ihm konnte ich seine krampfhaften Muskelbewegungen sehen: er kämpfte um sein Leben. Das Segel wurde schlaff und schwang mittschiffs. Das Fall gab nach, und obgleich sich das alles mit großer Schnelligkeit abspielte, konnte ich doch sehen, wie es durch sein Körpergewicht sackte. Dann schwang die Gaffel mit einem Ruck zur Seite, das große Segel schwoll wie aus der Kanone geschossen, und die dreifache Reihe von Reffseisingen klatschte wie eine Gewehrsalve gegen die Leinwand. Harrison sauste, immer noch festgeklammert, durch die Luft, aber das Fall straffte sich wieder mit einem scharfen Ruck. Es war wie ein Peitschenhieb. Da verlor er den Halt. Die eine Hand wurde losgerissen, die andere krampfte sich einen Augenblick verzweifelt fest, dann folgte auch sie. Der Körper sauste hinunter, aber glücklicherweise blieb er mit den Füßen hängen. Durch eine schnelle Bewegung gelang es ihm, das Fall zu packen, aber es dauerte nicht lange, bis er sich wieder hochgeschwungen hatte. Da hing er – ein kläglicher Anblick.

»Wetten, daß ihm heute das Abendbrot nicht schmecken wird«, hörte ich Wolf Larsen sagen, dessen Stimme um die Ecke der Kombüse zu mir drang. »Johansen, abhalten! Passen Sie auf! Jetzt kommt die Bö!«

Harrison mußte sich sehr elend fühlen. Lange klammerte er sich an seinen schwankenden Halt, ohne auch nur einen Versuch zu machen, sich zu bewegen. Aber Johansen trieb ihn an, seine Aufgabe zu vollenden.

»Es ist eine Schande!« hörte ich Johnson in langsamem, aber korrektem Englisch knurren. Er stand beim Großmast, ganz nahe bei mir. »Der Junge hat guten Willen. Mit der Zeit wird er es schon lernen. Aber das ist ...« Er machte eine Atempause und beendete dann sein Urteil: »Mord!«

»Willst du still sein!« flüsterte Louis ihm zu. »Wenn dir dein Leben lieb ist, so halt den Mund.«

Aber Johnson knurrte weiter.

Der Jäger Standish sagte zu Wolf Larsen: »Er ist mein Puller, und ich möchte ihn nicht verlieren.«

»Stimmt, Standish«, lautete die Antwort. »Wenn du ihn im Boot hast, ist er dein Puller, solange ich ihn aber hier an Bord habe, ist er mein Matrose, und da mache ich mit ihm, was mir gefällt.«

»Aber das ist doch kein Grund ...« begann Standish erregt.

»Es ist gut«, unterbrach ihn Wolf Larsen. »Ich habe meine Meinung gesagt, und damit genug. Der Mann gehört mir, und wenn es mir paßt, kann ich Suppe aus ihm kochen und sie essen.«

Die Augen des Jägers funkelten zornig, aber er drehte sich um und ging die Treppe zum Zwischendeck hinab, wo er stehenblieb und hinaufsah. Alle Mann befanden sich an Deck, und alle Augen waren nach oben gerichtet, wo ein menschliches Wesen mit dem Tode rang. Die Gefühllosigkeit dieser Menschen war entsetzenerregend. Ich, der ich abseits vom Trubel der Welt gelebt hatte, hätte mir nie träumen lassen, daß es draußen so zuging. Das Leben war mir stets als etwas besonders Heiliges erschienen, und hier galt es nichts, war nur eine Ziffer in einer geschäftlichen Berechnung. Ich muß gestehen, daß manche der Matrosen doch Mitgefühl empfanden, wie Johnson zum Beispiel, aber die Vorgesetzten – die Jäger und der Kapitän – waren ganz herzlos. Selbst der Einspruch Standishs war nur dem Wunsche entsprungen, seinen Bootspuller nicht zu verlieren. Hätte es sich um den Ruderer eines andern Jägers gehandelt, so würde er sich wie sie darüber belustigt haben.

Doch zurück zu Harrison! Johansen schmähte und beleidigte den armen Kerl, aber es dauerte volle zehn Minuten, bis er ihn wieder in Bewegung gebracht hatte. Kurz darauf hatte er das Ende der Gaffel erreicht, wo er sich, auf der Spiere reitend, besser festhalten konnte. Er machte das Schoot klar und hätte nun am Fall entlang zum Mast zurückklettern können. Aber er hatte den Kopf verloren. So unsicher seine jetzige Lage war, wollte er sie doch nicht mit der noch unsicheren auf dem Fall vertauschen.

Er blickte auf den luftigen Weg, den er passieren sollte, und dann hinunter aufs Deck. Noch nie hatte ich soviel Furcht auf dem Gesicht eines Menschen ausgeprägt gesehen. Vergebens rief Johansen, daß er herunterkommen solle. Jeden Augenblick konnte er von der Gaffel geschleudert werden, aber er war hilflos vor Angst. Wolf Larsen, der, in eine Unterhaltung mit Smoke vertieft, auf und nieder schritt, nahm keine Notiz von ihm, nur rief er dem Mann am Rad einmal scharf zu: »Du bist aus dem Kurs, Mann! Paß auf, daß du dir keine Unannehmlichkeiten zuziehst!«

»Jawohl, Käptn«, erwiderte der Rudergast und drehte das Rad.

Er hatte die ›Ghost‹ ein paar Strich aus dem Kurs gebracht, damit das bißchen Wind das Vorsegel füllen und prall halten konnte. Er hatte dem unglückseligen Harrison helfen wollen, auf die Gefahr hin, Wolf Larsens Zorn heraufzubeschwören.

Die Zeit verging, und meine Spannung war furchtbar. Thomas Mugridge hingegen fand die Geschichte außerordentlich lustig, er steckte fortwährend den Kopf zur Kombüse heraus, um scherzhafte Bemerkungen zu machen. Wie ich ihn haßte! Und wie mein Haß in diesen bangen Minuten ins Riesenhafte wuchs! Zum erstenmal in meinem Leben verspürte ich die Lust, zu morden. Mochte Leben im allgemeinen etwas Heiliges sein – für Thomas Mugridge galt mir dies nicht mehr. Ich war entsetzt, als ich mir darüber klar wurde, und durch mein Hirn fuhr der Gedanke: War auch ich von der Roheit meiner Umgebung angesteckt? Ich, der ich selbst für die abscheulichsten Verbrechen die Berechtigung der Todesstrafe geleugnet hatte?

Wohl eine halbe Stunde verging. Da sah ich Johnson in einem Wortwechsel mit Louis. Er endete damit, daß Johnson den Arm des andern, der ihn halten wollte, beiseite schob und nach vorn ging. Er überquerte das Deck, sprang in die Takelung und begann zu klettern. Aber das schnelle Auge Wolf Larsens hatte ihn erfaßt. »Hallo, Mann, wohin?« rief er.

Johnson hielt im Klettern inne. Er blickte seinem Kapitän in die Augen und sagte langsam:

»Ich will den Jungen herunterholen.«

»Du wirst herunterkommen, und das ein bißchen plötzlich. Verstanden? Runter!«

Johnson zögerte, aber der langjährige unbedingte Gehorsam gegen den Herrn des Schiffes übermannte ihn, er glitt aufs Deck herab und ging nach vorn.

Um halb sechs ging ich hinunter, um den Kajütentisch zu decken, aber ich wußte kaum, was ich tat, denn immer sah ich den totenbleichen, zitternden Menschen vor mir, der sich wie ein Käfer an die Gaffel klammerte. Als ich um sechs Uhr an Deck kam, um das Abendbrot aufzutragen, sah ich Harrison immer noch in derselben Lage. Die Unterhaltung bei Tisch drehte sich um andere Dinge. Kein einziger schien sich für das so grundlos gefährdete Leben zu interessieren. Als ich aber noch einmal nach der Kombüse mußte, sah ich zu meiner Freude Harrison nach der Back wanken. Er hatte endlich den Mut zum Herunterklettern gefunden.

Ehe ich diesen Gegenstand verlasse, muß ich eine Unterhaltung berichten, die ich mit Wolf Larsen in der Kajüte hatte, als ich das Geschirr aufwusch.

»Sie sahen sehr schlecht aus heute nachmittag«, begann er. »Was fehlte Ihnen?«

Er wußte natürlich gut, was mich beinahe so elend wie Harrison gemacht hatte, er wollte mich nur reizen. Ich antwortete: »Es war die rohe Behandlung des Jungen.«

Er lachte kurz: »Wohl eher Seekrankheit. Mancher kriegt sie, mancher nicht.«

»Nein, das war es nicht«, antwortete ich.

»Doch gewiß«, fuhr er fort. »Die Erde ist so voller Roheit wie das Meer voller Bewegung. Manchen macht dies krank, manchen jenes. Das ist alles.«

»Aber Sie, der Sie Spott mit Menschenleben treiben, legen Sie dem Leben gar keinen Wert bei?« fragte ich. »Wert? Was für Wert?« Er sah mich an, und obwohl seine Augen ruhig und unbeweglich waren, erschien doch ein zynisches Lächeln in ihnen. »Was für einen Wert? Wie ermessen Sie es? Wer schätzt es?«

»Ich selbst«, gab ich zur Antwort.

»Wieviel ist es Ihnen denn wert? Das Leben eines andern, meine ich. Nun, heraus damit! Was ist es wert?«

Der Wert des Lebens? Wie konnte ich dem Leben einen greifbaren Wert beilegen? Merkwürdig: Irgendwie fehlte mir, der ich sonst nie um Worte verlegen war, der Ausdruck, wenn ich mit Wolf Larsen verhandelte. Ich bin später zu der Erkenntnis gelangt, daß teilweise die Persönlichkeit des Mannes, zum größten Teil aber seine völlig andere Einstellung schuld daran war. Im Gegensatz zu andern Materialisten, die ich getroffen habe und mit denen ich doch denselben Ausgangspunkt teilen konnte, hatte ich mit ihm nichts gemein. Vielleicht war es auch die elementare Einfachheit seines Denkens, die mich verwirrte. So direkt ging er stets auf den Kern einer Sache los, entblößte eine Frage von allem überflüssigen Beiwerk, und das mit solcher Entschiedenheit, daß ich mir vorkam, als kämpfte ich in tiefem Wasser, ohne Grund unter den Füßen. Der Wert des Lebens? Wie sollte ich eine solche Frage stehenden Fußes beantworten? Die Heiligkeit des Lebens war für mich immer etwas Gegebenes gewesen. Daß es einen Wert besaß, war eine Wahrheit, die ich nie bezweifelt hatte. Und als er diese offenbare Wahrheit jetzt anfocht, war ich ratlos.

»Wir sprachen gestern davon«, sagte er. »Ich behauptete, das Leben sei ein Gärstoff, ein Ferment, das Leben fräße, um selbst leben zu können, und das Leben sei nichts als erfolgreichste Gemeinheit. Nun, wenn es auf Angebot und Nachfrage ankommt, so ist das Leben das Billigste auf der Welt. Es gibt soundso viel Wasser, soundso viel Erde, soundso viel Luft, aber Leben, das geboren werden möchte, gibt es zur Unendlichkeit. Die Natur ist eine Verschwenderin. Denken Sie an die Fische und ihre Millionen von Eiern. Denken Sie an mich oder sich. In unsern Lenden ruhen Möglichkeiten für Millionen von Leben. Hätten wir nur Zeit und Gelegenheit, um jedes bißchen ungeborenen Lebens in uns auszunutzen, wir würden die Väter von Nationen werden und Kontinente bevölkern. Leben? Pah! Es hat keinen Wert. Von allem, was billig ist, ist Leben das Billigste. Überall geht es betteln. Die Natur streut es verschwenderisch aus. Wo Raum für ein Leben ist, sät sie tausend, und Leben frißt Leben, bis nur das stärkste und gemeinste übrigbleibt.«

»Sie haben Darwin gelesen,« sagte ich, »aber Sie haben ihn mißverstanden, wenn Sie den Schluß ziehen, daß der Kampf ums Dasein Ihr mutwilliges Vernichten von Leben rechtfertigt.«

Er zuckte die Achseln. »Sie wissen wohl, daß Sie dabei nur an das menschliche Leben denken, denn auf Fleisch, auf Geflügel und Fische verzichten Sie so wenig wie ich oder sonst jemand. Und menschliches Leben unterscheidet sich in keiner Beziehung von tierischem. Warum sollte ich sparsam sein mit diesem Leben, das so billig und wertlos ist? Es gibt mehr Matrosen als Schiffe für sie auf dem Meere, mehr Arbeiter als Maschinen für sie. Sie leben ja auf dem Lande, und Sie wissen doch, daß man Ihre Armen in den ungesundesten Stadtvierteln unterbringt und Hunger und Pest auf sie losläßt, und daß die Zahl derer beständig wächst, die aus Mangel an einem Stückchen Brot und einem Bissen Fleisch zugrunde gehen. Ist das nicht Vernichtung von Leben? Haben Sie je die Londoner Dockarbeiter wie wilde Tiere um eine Arbeitsgelegenheit kämpfen sehen?«

Er schritt nach der Kajütstreppe, drehte aber nochmals den Kopf, um ein letztes Wort zu sagen. »Wissen Sie, welches der einzige Wert des Lebens ist? Den es sich selbst zulegt. Und das ist natürlich eine Überschätzung, eine Bewertung in eigener Sache. Nehmen Sie den Mann, den ich nach oben gehen ließ. Er klammerte sich an, als wäre er etwas überaus Wertvolles, ein Schatz, wertvoller als Diamanten und Rubinen. Für Sie? Nein. Für mich? Keineswegs. Für ihn selbst? Ja. Aber ich mache seine Schätzung nicht mit. Er überschätzt sich maßlos. Es gibt unendlich viel Leben, das geboren werden möchte. Wäre er heruntergestürzt, und wäre sein Hirn wie Honig aus seiner Wabe aufs Deck getropft, die Welt würde keinen Verlust erlitten haben. Der Welt galt er nichts. Das Angebot ist zu groß. Lediglich für sich selbst besaß er einen Wert. Er allein schätzt sich höher ein als Diamanten und Rubinen. Die Diamanten und Rubinen sind fort, auf Deck verschüttet, um von einem Eimer Seewasser weggespült zu werden – und er weiß nicht einmal, daß Diamanten und Rubinen fort sind. Er verliert nichts, denn mit dem Verlust seiner selbst verliert er das Bewußtsein seines Verlustes. Nicht wahr? Nun, was sagen Sie dazu?«

»Daß Sie jedenfalls folgerichtig handeln«, war alles, was ich sagen konnte, und dann machte ich mich wieder ans Aufwaschen.

Nach drei Tagen wechselnden Windes waren wir endlich in den Nordostpassat gekommen. Trotz meinem Knie hatte ich gut geschlafen, und als ich jetzt das Deck betrat, fand ich die ›Ghost‹ mit vollen Segeln außer den Klüvern vor einem frischen Winde vorwärtsjagend. O dieser wunderbare, mächtige Passat! Den ganzen Tag segelten wir, die ganze Nacht, den nächsten Tag und die nächste Nacht und wieder Tag um Tag, immer vor demselben stetigen, starken Winde. Der Schoner segelte ganz von selbst. Es gab kein Heißen und Hahlen von Leinen und Schooten, kein Umlegen der Toppsegel, keine andere Arbeit für die Matrosen, als zu steuern. Nachts, wenn die Sonne untergegangen war, wurden die Segel gelockert, wenn morgens dann der Tau verdampfte, wurden sie wieder angezogen – das war alles.

Abwechselnd zehn, zwölf, elf Knoten ist die Geschwindigkeit, mit der wir fahren. Und immer aus Nordost bläst der brave Wind, der uns von Morgengrauen bis Morgengrauen an zweihundertundfünfzig Meilen weit auf unserm Kurs treibt. Sie stimmt mich trübe und wieder froh, diese Eile, mit der wir San Francisco hinter uns lassen und hinab in die Tropen schäumen. Mit jedem Tage wird es fühlbar wärmer. In der zweiten Hundewache kommen die Matrosen nackt an Deck und begießen sich eimerweise mit Wasser. Fliegende Fische zeigen sich schon, und nachts versucht die Wache die auf Deck gefallenen zu fangen. Thomas Mugridge hat seine obligate Bestechung bekommen, und so steigt aus der Kombüse der herrliche Duft von gebratenen fliegenden Fischen, während vorn und achtern Delphinfleisch aufgetischt wird. Johnson hat die schimmernden schönen Tiere von der Spitze des Bugspriets aus gespeert.

Johnson verbringt fast die ganze Zeit dort oder hoch oben auf den Dwarssalingen und beobachtet die ›Ghost‹, wie sie das Wasser unter dem Druck ihrer Segel durchschneidet. Leidenschaft und Bewunderung leuchten aus seinen Augen, und in einer Art Verzückung starrt er auf die schwellenden Segel, das schäumende Kielwasser und das Heben und Senken über die nassen Berge, die majestätisch unserer Bahn folgen.

Tage und Nächte sind ein Wunder und wildes Entzücken, und obgleich meine traurige Arbeit mir nur wenig Zeit läßt, stehle ich mir doch hie und da einen Augenblick, um immer wieder auf die unendliche Pracht zu schauen, die in der Welt zu finden ich mir nicht hätte träumen lassen. Der Himmel droben ist fleckenlos blau – blau wie das Meer selbst, das unter dem Bug wie azurfarbener Atlas schimmert. Auf allen Seiten stehen am Horizont blasse Wolkenlämmer, unbeweglich, unveränderlich, wie eine Silberfassung um den makellosen Himmelstürkis.

Eine Nacht werde ich nie vergessen. Ich hätte schlafen sollen, lag jedoch auf der Back und blickte hinab auf das geisterhafte Schaumgekräusel, das der Bug der ›Ghost‹ beiseiteschob. Es klang wie das Rieseln eines Bächleins über bemooste Steine in einem stillen Tal, und das leise Murmeln verzauberte mich und ließ mich vergessen, daß ich ›Hump‹, der Kajütsjunge, daß ich van Weyden war, der Mann, der fünfunddreißig Jahre zwischen Büchern verträumt hatte. Aber eine Stimme hinter mir rief mich in die Wirklichkeit zurück. Es war die wohlbekannte Stimme Wolf Larsens, stark wie die unüberwindliche Sicherheit des Mannes, und doch weich wie die Worte, die er sprach:

O die Tropennacht! Sie glüht,

Und das Meer von Funken sprüht

Und den Himmel kühlt.

Stetig zieht der Bug voran

Seine sternbesäte Bahn,

Wo der Wal, der wilde, spielt.

Dein Rumpf ist zernarbt von der Sonne, mein Schiff,

Deine Falle sind straff vor Tau,

Denn wir brausen hinab unsern alten Weg, abseits von den andern,

Den langen Weg nach Süden wir wandern.

Den Weg, der stets neu, ins leuchtende Blau!

»Na, Hump? Wie gefällt Ihnen das?« fragte er nach einer angemessenen, durch Worte und Situation bedingten Pause.

Ich sah ihm ins Gesicht. Es glühte von Licht wie das Meer selbst, und seine Augen schimmerten im Sternenschein.

»Ich bin, offengestanden, ganz erstaunt über Ihre Begeisterung«, erwiderte ich kalt.

»Ja, Mann, das ist das Leben! Das Leben selbst!« rief er.

»Das eine billige Ware ohne Wert ist«, gab ich ihm mit seinen eigenen Worten zurück.

Er lachte, und es war das erstemal, daß ich eine ehrliche Lustigkeit in seiner Stimme hörte.

»Sie wollen also nicht verstehen, was Leben heißt; ich kann es Ihnen nicht in den Schädel hämmern! Natürlich ist das Leben wertlos, nur nicht für einen selber. Und ich kann Ihnen sagen, daß mein Leben jetzt gerade recht wertvoll ist – für mich. Es ist um keinen Preis zu kaufen, was Sie sicher für maßlose Überschätzung halten werden. Aber ich kann nichts dafür, denn es ist eben das Leben in mir, das den Wert bestimmt.«

Er schien nach Worten zu suchen, um seine Gedanken auszudrücken, und fuhr dann fort:

»Wissen Sie, ich bin seltsam gehoben. Die ganze Zeit fühle ich einen Widerhall in mir, als wäre alle Macht der Welt mein. Ich erkenne die Wahrheit, ich kann göttlich Gutes von Bösem, Recht von Unrecht unterscheiden. Ich sehe weit und klar. Fast könnte ich an Gott glauben. Aber – und seine Stimme veränderte sich, und das Licht erlosch auf seinem Antlitz – was ist das für ein Zustand, in dem ich mich befinde? Diese Lebensfreude? Dieser Triumph des Lebens? Diese Inspiration, wie ich es wohl nennen darf? Das ist etwas, das kommt, wenn die Verdauung nicht gestört, wenn der Magen in Ordnung, der Appetit gut ist und der ganze Organismus richtig funktioniert. Es ist eine Bestechung des Lebens, Champagner des Blutes, das Aufwallen des Ferments – manchen gibt es heilige Gedanken ein, andere läßt es Gott sehen oder, wenn sie ihn nicht sehen, erschaffen. Das ist alles – der Rausch des Lebens, das Aufbrausen des Gärstoffes, das Murmeln des Lebens, das trunken ist von dem Bewußtsein, zu leben. Und – pah! Morgen muß ich dafür zahlen, wie der Säufer zahlen muß. Morgen weiß ich, daß ich sterben muß, höchstwahrscheinlich auf dem Meere, daß ich nicht mehr selbsttätig kriechen, daß ich mich nur noch in Fäulnis bewegen werde mit den Bewegungen der See, daß ich gefressen werde, um alle Kraft und Beweglichkeit meiner Muskeln zu verwandeln in die Kraft und Beweglichkeit von Flossen, Schuppen und Eingeweiden der Fische. Pah! Schon ist der Champagner schal geworden. Das Funkeln und Prickeln ist vorbei, und es ist ein fades Gesöff.«

Er verließ mich ebenso plötzlich, wie er gekommen, lautlos mit der Wucht und Leichtigkeit eines Tigers. Die ›Ghost‹ pflügte sich ihren Weg. Das Gurgeln am Bug tönte wie Schnarchen, und als ich darauf lauschte, da verließ mich allmählich der Eindruck, den Wolf Larsens rascher Wechsel von hoher Begeisterung zu tiefer Verzweiflung auf mich gemacht hatte. Dann erklang mittschiffs der kräftige Tenor eines Matrosen, der das ›Lied des Passats‹ sang:

Ich bin der Wind, den der Seemann liebt –

Ich bin die Stärke und Treue,

Er folgt meiner Spur in den Wolken hoch.

Über die unergründliche Bläue.

Durch Licht und Dunkelheit folg' ich der Spur

Des Schiffes wie ein Hund,

Morgens und mittags und mitternachts

Blas ich die Segel ihm rund.

Manchmal glaube ich, daß Wolf Larsen verrückt oder doch wenigstens nicht ganz richtig ist wegen seiner seltsamen Launen und Grillen. Dann wieder halte ich ihn für einen großen Menschen, für ein Genie, das sein Ziel verfehlt hat. Und schließlich bin ich überzeugt, daß er der Urtyp des primitiven Menschen ist, Jahrtausende zu spät geboren, ein Anachronismus in diesem Kulminationszeitalter der Zivilisation. Sicherlich ist er ein ausgesprochener Individualist. Und dazu ist er sehr einsam. Seine gewaltige Männlichkeit und Geisteskraft verleihen ihm eine Sonderstellung. Es besteht keine geistige Gemeinschaft zwischen ihm und den anderen Männern an Bord. Sie erscheinen ihm wie Kinder, selbst die Jäger, und wie Kinder behandelt er sie, läßt sich zu ihnen herab und spielt mit ihnen wie mit jungen Hunden. Sonst aber behandelt er sie mit der Grausamkeit eines Vivisektors, er wühlt in ihren geistigen Prozessen und prüft ihre Seelen, als wolle er sehen, aus welchem Stoff sie gemacht seien.

Dutzende von Malen habe ich gesehen, wie er bei Tisch diesen oder jenen Jäger mit kühlen, wachen Augen und vor allem mit einer gewissen Neugier beleidigte und dann seine Entgegnungen und seine kleinlichen Wutausbrüche mit einem Interesse beobachtete, das mir, dem verstehenden Zuschauer, beinahe lächerlich erschien. Ich bin überzeugt, daß seine eigenen Wutausbrüche nicht echt sind. Zuweilen mögen es Experimente sein, hauptsächlich aber eine Pose, die er einmal den Menschen gegenüber eingenommen und sich dann angewöhnt hat. Ich weiß, daß ich ihn – vielleicht mit Ausnahme des Zwischenfalls mit dem toten Steuermann – nie wirklich zornig gesehen habe. Ich hege aber auch nicht den Wunsch, ihn in wahrer Wut zu sehen, wenn alle seine Kräfte zur Entfaltung gelangen müssen.

Um einen seiner Einfälle zu zeigen, will ich erzählen, was Thomas Mugridge in der Kajüte zustieß. Ich vervollständige damit gleichzeitig den Bericht über die Angelegenheit, die ich schon zweimal berührt habe. Eines Tages, gleich nach dem Essen, als ich eben mit dem Aufwaschen fertig war, kamen Wolf Larsen und Thomas Mugridge die Treppe herunter. Sonst wagte sich der Koch nicht in die Kajüte. War er dazu gezwungen, um zu seiner Koje zu gelangen, so flitzte er wie ein furchtsames Gespenst hindurch.

»So, du kannst ›Nap‹ spielen!« sagte Wolf Larsen vergnügt. »Ich hätte mir denken können, daß ein Engländer das Spiel kennt. Ich hab' es selbst auf englischen Schiffen gelernt.«

Thomas Mugridge war außer sich vor Freude, daß er sich an einen Tisch mit dem Kapitän setzen durfte. Sein Dünkel und seine peinlichen Anstrengungen, sich die ungezwungene Haltung eines Mannes zu geben, der von Geburt für einen würdigen Platz im Leben ausersehen ist, würden ekelerregend gewesen sein, hätten sie nicht so lächerlich gewirkt. Meine Gegenwart ignorierte er völlig, wobei ich ihm jedoch zugute halten will, daß er einfach nicht imstande war, mich zu sehen. Seine blassen, wässerigen Augen schwammen in Verzückung, wenn mir auch unerfindlich war, was für selige Visionen er haben mochte.

»Hol' die Karten, Hump«, befahl Wolf Larsen, als sie am Tische Platz nahmen. »Und bring' Zigarren und Whisky aus meiner Koje.«

Als ich wiederkam, hörte ich gerade, wie der Cockney sich in Andeutungen erging, daß irgendein Geheimnis über ihm läge: er sei sicher der Sohn eines vornehmen Herrn, und er bekäme Geld, wogegen er sich hätte verpflichten müssen, England nicht wieder zu betreten – – »schönes Geld, Käptn,« drückte er sich aus, »schönes Geld, damit ich mich packe und wegbleibe.« Ich hatte die gewohnten Schnapsgläser gebracht, aber Wolf Larsen runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf und gab mir einen Wink, daß ich Wassergläser bringen sollte. Ich füllte sie zu zwei Drittel mit unvermischtem Whisky – »ein Gentlemangetränk«, sagte Thomas Mugridge –, sie stießen auf gutes Spiel an, steckten sich Zigarren an und begannen dann, die Karten zu mischen und auszuteilen.

Sie spielten um Geld. Sie erhöhten die Einsätze. Sie tranken Whisky, leerten die Gläser, und ich holte mehr. Ich weiß nicht, ob Wolf Larsen betrog oder nicht – er wäre sicher fähig dazu gewesen –, aber jedenfalls gewann er andauernd. Der Koch machte wiederholt einen Abstecher nach seiner Koje, um Geld zu holen. Jedesmal schwankte er mehr, brachte aber immer nur einige wenige Dollar auf einmal. Er wurde sentimental, vertraulich, konnte kaum noch die Karten sehen und aufrecht sitzen. Als er den nächsten Ausflug nach seiner Koje antrat, hakte er Wolf Larsen seinen fettigen Zeigefinger ins Knopfloch und wiederholte mehrmals ausdruckslos: »Ich kriege Geld, ich kriege Geld, sag' ich Ihnen. Ich bin der Sohn eines feinen Herrn.«

Schließlich setzte der Koch unter der Beteuerung, er könne verlieren wie ein Gentleman, sein letztes Geld und verlor. Worauf er den Kopf auf die Hände sinken ließ und weinte. Wolf Larsen betrachtete ihn neugierig, als dächte er daran, ihn zu vivisezieren, änderte jedoch seine Absicht, nachdem er zu der Erkenntnis gekommen, daß eine Untersuchung hier ergebnislos bleiben müsse.

»Hump,« sagte er mit vollendeter Höflichkeit zu mir, »wollen Sie die Freundlichkeit haben, Herrn Mugridges Arm zu nehmen und ihm an Deck zu helfen. Er fühlt sich nicht ganz wohl. – Und sagen Sie Johansen, daß er ihn mit ein paar Pützen Seewaser duschen soll«, fügte er leise hinzu, so daß nur ich es hören konnte. Ich überließ Herrn Mugridge an Deck den Händen einiger grinsender Matrosen, die Johansen zu diesem Zwecke gerufen hatte. Herr Mugridge faselte immer noch davon, daß er der Sohn eines vornehmen Herrn sei. Als ich jedoch die Kajütstreppe hinabstieg, um den Tisch abzuräumen, hörte ich ihn kreischen; der erste Guß hatte ihn getroffen.

Wolf Larsen zählte seinen Gewinn.

»Genau hundertfünfundachtzig Dollar!« sagte er laut. »Gerade wie ich mir dachte. Der Lump kam ohne einen Cent an Bord.«

»Und Ihr Gewinn gehört mir, Käptn«, sagte ich beherzt.

Er beehrte mich mit einem spöttischen Lächeln. »Ich habe mich seinerzeit ein wenig mit Grammatik beschäftigt, Hump, und ich glaube, Sie bringen die Zeiten durcheinander. ›Hat mir gehört‹, hätten Sie sagen sollen.«

»Hier ist nicht die Rede von Grammatik, sondern von Ethik«, erwiderte ich.

Er ließ eine Weile verstreichen, ehe er sprach.

»Wissen Sie, Hump,« sagte er bedächtig und mit einem rätselhaften Klang von Traurigkeit in der Stimme, »wissen Sie, daß dies das erstemal ist, daß ich auf diesem Schiffe das Wort Ethik aus dem Munde eines Mannes höre. Und Sie und ich sind die einzigen an Bord, die die Bedeutung dieses Wortes kennen. – Es gab eine Zeit in meinem Leben,« fuhr er nach einer Pause fort, »da ich davon träumte, mit Männern sprechen zu dürfen, die eine solche Sprache redeten, mich aus der Lebensstellung, in der ich geboren, emporzuheben und Umgang zu pflegen mit Menschen, die über Dinge wie Ethik sprachen. Es ist das erstemal, daß ich dies Wort aussprechen höre. – Aber das nur nebenbei! Sie haben unrecht. Dies hat weder etwas mit Grammatik, noch mit Ethik zu tun, es handelt sich einfach um eine Tatsache.«

»Ich verstehe«, sagte ich. »Um die Tatsache, daß Sie jetzt das Geld haben.«

Seine Züge erhellten sich. Meine schnelle Auffassung schien ihm zu gefallen.

»Aber wir umgehen die eigentliche Frage,« fuhr ich fort, »die des Rechtes.«

»Ach!« bemerkte er und zog den Mund schief. »Ich sehe, Sie glauben noch an so etwas wie Recht und Unrecht.«

»Glauben Sie denn nicht daran? – Gar nicht? –« fragte ich.

»Nicht die Spur. Macht ist Recht, das ist alles, was darüber zu sagen ist. Schwäche ist Unrecht. Es ist gut für einen Menschen, wenn er stark, schlecht für ihn, wenn er schwach ist – – oder noch besser: es ist angenehm, stark zu sein, weil man Vorteil davon hat, es ist peinlich, schwach zu sein, weil es Verlust bedeutet Der Besitz dieses Geldes ist etwas Schönes. Sein Besitz ist angenehm. Und da ich die Möglichkeit habe, es zu besitzen, wäre es ein Unrecht gegen mich selbst, wenn ich es Ihnen gäbe und mich des Vergnügens, es zu besitzen, beraubte.«

»Aber Sie begehen ein Unrecht gegen mich, wenn Sie es behalten«, wandte ich ein.

»Keineswegs. Ein Mensch kann kein Unrecht gegen den andern begehen. Nur gegen sich selbst. Von meinem Standpunkt aus tue ich stets ein Unrecht, wenn ich die Interessen anderer beachte. Verstehen Sie? Wie kann ein Stückchen Ferment dem andern Unrecht tun, wenn er dasselbe zu verschlingen sucht? Der Drang, zu verschlingen und sich selbst gegen das Verschlungenwerden zu wehren, ist ihm angeboren. Unterdrücken Sie diesen Drang, so sündigen Sie.«

»Sie glauben also nicht an Altruismus?« fragte ich.

Er sann einen Augenblick nach, als hätte das Wort für ihn einen fremden, aber doch nicht ganz fremden Klang.

»Warten Sie mal, heißt das nicht so etwas wie Zusammenarbeit?«

»Nun ja, so etwas Ähnliches«, erwiderte ich, diesmal nicht überrascht durch eine solche Lücke in seinem Wortschatz; da er ja reiner Autodidakt war, ein Mann, der viel gedacht und wenig, vielleicht gar nicht gesprochen hatte. »Eine altruistische Handlung ist eine solche, die man zum Wohle anderer vollbringt. Sie ist uneigennützig, im Gegensatz zu der eigennützigen Handlung, die man zu seinem eigenen Vorteil begeht.« Er nickte. »O ja, jetzt erinnere ich mich. Ich habe bei Spencer darüber gelesen.«

»Spencer!« rief ich. »Sie haben Spencer gelesen?«

»Nicht sehr viel«, räumte er ein. »Ich verstand allerhand von seinen ›Grundprinzipien‹, aber seine ›Biologie‹ hat mir doch den Wind aus den Segeln genommen, und seine ›Psychologie‹ hat mich lange in der Flaute treiben lassen. Ich konnte mit dem besten Willen nicht verstehen, worauf er hinauswollte. Ich habe damals die Ursache in meiner geistigen Unvollkommenheit gesucht, bin aber später zu der Überzeugung gelangt, daß mir die Voraussetzungen fehlten. Ich hatte nicht die richtige Grundlage. Nur Spencer und ich wissen, wie ich gebüffelt habe. Aber von seinen ›Ethischen Daten‹ habe ich doch etwas gehabt. Und darin fand ich eine Abhandlung über Altruismus und weiß jetzt auch, in welcher Bedeutung er das Wort anwandte.«

Ich hätte gern gewußt, was der Mann von diesem Werke gehabt hatte. Ich erinnerte mich genügend an Spencer, um zu wissen, daß der Altruismus für ihn das höchste sittliche Ideal war. Wolf Larsen hatte offenbar unter der Lehre des großen Philosophen Auslese gehalten und seinen eigenen Bedürfnissen und Wünschen gemäß gewählt und verworfen.

»Was haben Sie sonst noch darin gefunden?« fragte ich. Er runzelte leicht die Stirn vor Anstrengung, einen treffenden Ausdruck für Gedanken zu finden, denen er noch nie Worte verliehen hatte. Ich spürte in mir einen geistigen Hochmut. Jetzt tastete ich seine Seele ab, wie er die anderer abzutasten pflegte. Ich befand mich auf jungfräulichem Gebiet. Eine fremdartige, eine unheimlich fremdartige Gegend entrollte sich hier vor meinen Augen.

»Mit so wenigen Worten wie möglich«, begann er, »sagt Spencer etwa folgendes: Zunächst muß ein Mensch zu seinem eigenen Besten handeln – das ist moralisch und gut. Dann muß er zum Besten seiner Kinder handeln. Und drittens zum Besten seiner Familie.«

»Und die höchste, vornehmste und einzig richtige Handlungsweise«, warf ich ein, »ist die, die gleichzeitig ihm selbst, seinen Kindern und seiner ganzen Familie frommt.«

»Das unterschreibe ich nicht ganz«, erwiderte er. »Ich kann weder die Notwendigkeit noch die Vernunft davon einsehen. Ich nehme Familie und Kinder aus. Für sie würde ich nichts opfern. Das ist nichts als Sentimentalität, wenigstens für einen Mann, der nicht an ein ewiges Leben glaubt. Gäbe es Unsterblichkeit, so wäre Altruismus ein Geschäft, das sich bezahlt machte. Dann könnte sich meine Seele vielleicht zu den höchsten Höhen aufschwingen. Aber ohne Aussicht auf etwas anderes Ewiges als den Tod und nur die kleine Spanne dieses Leben genannten Gärungsprozesses vor mir, würde mir eine Handlung, die mir ein Opfer auferlegt, unmoralisch erscheinen. Jedes Opfer, durch das ich auch nur das Geringste dieses Gärungspozesses verlöre, wäre Torheit – ja, nicht nur Torheit, sondern ein Unrecht gegen mich selbst, und daher etwas Schlechtes.

»Dann sind Sie Individualist, Materialist und, logisch gedacht, Hedonist.«

»Große Worte«, lächelte er. »Aber was ist ein Hedonist?«

Als ich es ihm erklärte, nickte er zustimmend.

»Und«, fuhr ich fort, »dazu sind Sie ein Mann, dem man alles zutrauen kann, sobald man seinem Eigennutz in die Quere kommt.«

»Jetzt fangen Sie an, zu begreifen«, sagte er lebhaft. »Sie sind ein Mensch, völlig bar dessen, was man Moral nennt.«

»Stimmt.«

»Ein Mensch, den man immer fürchten muß – –«

»Richtig.«

»Wie man eine Schlange, einen Tiger, einen Hai fürchtet.«

»Jetzt kennen Sie mich. Und Sie kennen mich so, wie ich allgemein bekannt bin. Andere nennen mich Wolf.«

»Sie sind eine Art Ungeheuer,« fügte ich kühn hinzu, »ein Kaliban, der gegrübelt hat und in müßigen Augenblicken nach Einfall und Laune handelt.«

Seine Stirn umwölkte sich bei dieser Anspielung. Er verstand sie nicht, und ich sah sofort, daß er die Dichtung nicht kannte.

»Ich lese jetzt gerade Browning,« gestand er, »und er ist recht trocken. Ich bin noch nicht weit gekommen und habe so ungefähr die Richtung verloren.«

Um den Leser nicht zu ermüden, will ich nur berichten, daß ich das Buch aus seiner Kabine holte und ihm vorlas. Er war entzückt. Immer wieder unterbrach er mich mit Erklärungen und kritischen Bemerkungen. Als ich fertig war, ließ er es mich noch einmal und dann zum drittenmal vorlesen. Wir gerieten in eine Unterhaltung über Philosophie, Wissenschaft, Evolution, Religion. Er war zuweilen ungenau, wie jeder Autodidakt, besaß aber zugleich die Sicherheit und Planmäßigkeit des primitiven Geistes. Sein einfacher Gedankengang war seine Stärke, und sein Materialismus war viel zwingender als der spitzfindige Charley Furuseths. Nicht, daß ich – ein erklärter Idealist oder, wie Furuseth sich ausdrückte, ein Idealist von Temperament – hätte überzeugt werden können, aber Wolf Larsen stürmte die letzten Bollwerke meines Glaubens mit einer Gewalt, die, wenn sie auch nicht überzeugte, doch Achtung verdiente.

Die Zeit verstrich. Das Abendbrot näherte sich, und noch war der Tisch nicht gedeckt. Ich wurde unruhig und ängstlich, und als Thomas Mugridge, krank und grämlich, die Treppe herunterkam, schickte ich mich an, meinen Pflichten nachzukommen. Aber Wolf Larsen rief ihm zu:

»Köchlein, du mußt heute allein das Essen besorgen. Hump hat für mich zu tun, und du mußt sehen, allein fertig zu werden.«

Und wieder wurde das Unerwartete Ereignis. Diesen Abend saß ich mit dem Kapitän und den Jägern bei Tische, während Thomas Mugridge uns bediente und hinterher das Geschirr aufwusch – eine Grille, eine Kalibanslaune Wolf Larsens, für die ich, wie ich voraussah, büßen sollte. Jetzt aber sprachen und sprachen wir, zum großen Ärger der Jäger, die nicht ein Wort davon verstanden.

Drei Ruhetage, drei gesegnete Ruhetage hatte ich bei Wolf Larsen. Ich saß in der Kajüte und tat nichts, als über Leben, Literatur und Universum mit ihm zu disputieren, während Thomas Mugridge schäumend und wütend meine Arbeit neben der seinen verrichtete.

»Sei auf deiner Hut – weiter sage ich nichts«, warnte Louis mich, als ich zufällig mal auf eine halbe Stunde auf Deck war und Wolf Larsen einen Streit zwischen den Jägern schlichtete.

»Was geschehen wird, weiß ich nicht«, erwiderte Louis auf meine Bitte, sich deutlicher auszudrücken. »Der Mann ist so unberechenbar wie die Strömungen in See und Luft. Du weißt nie, was er will. Wenn du meinst, du kennst ihn und segelst vor günstigem Wind mit ihm, so schlägt er um und liegt still, um dann plötzlich wie ein Wirbelsturm über dich herzufahren, daß all deine Schönwettersegel in Fetzen reißen.«

Es war daher keine völlige Überraschung für mich, als das von Louis prophezeite Wetter kam. Wir hatten einen heißen Disput – über das Leben natürlich – und, übermütig geworden, zeichnete ich einen zu scharfen Riß von Wolf Larsen und seinem Leben. Tatsächlich zergliederte ich ihn bei lebendigem Leibe und wühlte in seiner Seele genau so scharf und unerbittlich, wie er es bei den andern zu tun pflegte. Ich mag vielleicht die Schwäche einer zu großen Konsequenz in der Beweisführung haben, jedenfalls ließ ich alle Zurückhaltung fahren und schnitt und schlitzte an dem Mann herum, bis er knurrte. Sein sonnengebräuntes Gesicht wurde schwarz vor Wut, seine Augen funkelten. Sie drückten nicht Klarheit oder gesunden Verstand mehr aus, sondern nichts als die entsetzliche Raserei eines Wahnsinnigen. Jetzt sah ich den Wolf in ihm und noch dazu einen tollen.

Mit Gebrüll sprang er auf mich los und packte meinen Arm. Ich hatte mich ermannt und wollte standhalten, obgleich ich innerlich zitterte, aber die riesige Kraft dieses Mannes war zuviel für meine Standhaftigkeit. Seine Hand hatte mich am Oberarm gefaßt, und als er zupackte, sank ich zusammen und schrie laut. Meine Füße verweigerten mir den Dienst. Ich konnte einfach nicht mehr aufrecht stehen und den Schmerz ertragen. Ich hatte das Gefühl, als wäre der Oberarm zu Brei gequetscht.

Er schien wieder zu sich zu kommen, denn ein heller Schimmer trat in seine Augen, und er ließ mich los mit einem kurzen Lachen, das eher wie Knurren klang. Ich stürzte zu Boden, mir war sehr schlecht zumute, während er sich hinsetzte, sich eine Zigarre ansteckte und mich beobachtete wie die Katze die Maus. Ich konnte in seinen Augen die Neugier lesen, die ich so oft bei ihm bemerkt hatte, diese Verwunderung und Unruhe, das Suchen, das stete Forschen: Wozu das alles? Ich raffte mich auf und kroch die Treppe hinauf. Das schöne Wetter war vorbei, und mir blieb nichts übrig, als wieder in die Kombüse zugehen. Mein linker Arm war völlig gefühllos, und es vergingen Tage, ehe ich ihn wieder gebrauchen konnte, Wochen, bis er ganz gesund war. Und dabei hatte Wolf Larsen nichts getan, als meinen Arm mit seiner Hand umschlossen und gedrückt. Er hatte ihn weder verdreht noch gestoßen, nur seine Hand mit gleichmäßigem Druck geschlossen. Was er möglicherweise hätte tun können, ging mir erst am nächsten Tage auf, als er den Kopf zur Kombüse hereinsteckte und mit erneuter Freundlichkeit fragte, wie es meinem Arm ginge.

»Es hätte schlimmer werden können«, lächelte er.

Ich schälte Kartoffeln. Er nahm eine aus dem Eimer. Sie war ungewöhnlich groß, fest und ungeschält. Er umschloß sie mit der Hand, preßte sie zusammen, und die Kartoffel spritzte zwischen seinen Fingern hervor. Die breiigen Überreste warf er wieder in den Eimer und ging, aber ich bekam eine deutliche Vorstellung davon, wie es mir ergangen wäre, wenn das Ungeheuer wirklich mit aller Kraft zugepackt hätte.

Trotz alledem hatte die dreitägige Ruhe mir gutgetan, denn mein Knie war wieder gebrauchsfähig geworden. Es hatte sich bedeutend gebessert, die Schwellung war sichtlich zurückgegangen, und die Kniescheibe befand sich wieder an ihrem Platze. Aber die Ruhezeit brachte mir noch eine Unannehmlichkeit, die ich vorausgesehen hatte. Offenbar hatte Thomas Mugridge im Sinne, mich für diese drei Tage büßen zu lassen. Er behandelte mich niederträchtig, verfluchte mich unausgesetzt und wälzte seine eigene Arbeit auf mich ab. Er wagte es sogar, die Faust gegen mich zu erheben, aber ich war selbst wie ein wildes Tier geworden und fauchte ihm so grimmig ins Gesicht, daß er ängstlich zurückfuhr. Es ist kein angenehmes Bild, das ich von mir heraufbeschwören muß: Ich, Humphrey van Weyden, in einer Ecke dieser lärmenden Schiffskombüse über die Arbeit gebückt, Angesicht zu Angesicht mit diesem Geschöpf, das im Begriff war, mich zu schlagen, mit entblößten Zähnen und knurrend wie ein Hund, die Augen glühend vor Furcht und Hilflosigkeit und dem Mut der Verzweiflung! Das Bild behagt mir nicht. Es erinnert mich zu lebhaft an eine Ratte in der Falle. Ich denke nicht gern daran. Aber es wirkte: der drohende Schlag fiel nicht.

Thomas Mugridge wich zurück und starrte mich nur ebenso bösartig und haßerfüllt an wie ich ihn. Ein paar wilde Tiere waren wir, zusammen eingesperrt und zähnefletschend. Er war ein Feigling, fürchtete sich, mich zu schlagen, weil meine Furcht nicht groß genug war, und so suchte er einen neuen Weg, mich einzuschüchtern. Es gab nur ein Küchenmesser, das zur Waffe taugte. Viele Jahre Gebrauch und Abnutzung hatten die Klinge dünn und biegsam geschliffen. Es sah gräßlich aus, mich hatte es jedesmal geschaudert, wenn ich es benutzen mußte. Der Koch lieh sich einen Wetzstein von Johansen und begann das Messer zu schärfen. Er tat es mit großer Umständlichkeit, indem er mich während der ganzen Prozedur bedeutsam anblickte. Einen ganzen Tag lang wetzte er es. Sobald er einen freien Augenblick hatte, saß er mit Stein und Messer da und wetzte. Die Schneide wurde so scharf wie ein Rasiermesser. Er prüfte sie am Daumenballen oder am Nagel. Er rasierte sich die Haare auf dem Handrücken, peilte mit mikroskopischer Genauigkeit über die Schneide und fand immer noch irgendwo eine leichte Unebenheit. Und dann wetzte er weiter, wetzte und wetzte, bis ich hätte lachen mögen, so unsagbar lächerlich war es.

Und doch war es ernst genug, denn ich sollte erfahren, daß er wohl imstande war, das Messer zu gebrauchen, daß unter seiner Feigheit ein Mut der Feigheit steckte, der, wie der meine mich, ihn zwingen konnte, seiner ganzen Natur zuwider zu handeln und aller Furcht zu trotzen. »Der Doktor schärft sein Messer für Hump«, begann man unter den Matrosen zu flüstern, und manche neckten ihn damit. Er aber legte das günstig aus, freute sich und nickte mit furchteinflößender Geheimnistuerei, bis George Leach, der frühere Kajütsjunge einen rohen Scherz über den Gegenstand machte. Nun hatte sich Leach zufällig unter den Matrosen befunden, die Mugridge nach seinem Kartenspiel mit dem Kapitän hatten duschen müssen. Leach war seiner Aufgabe offenbar mit einer Gründlichkeit nachgekommen, die Mugridge nicht verziehen hatte, denn jetzt gab ein Wort das andere, und die Beleidigungen auf die gegenseitigen Vorfahren schwirrten durch die Luft. Schließlich drohte Mugridge ihm mit dem Messer, das er für mich schärfte. Leach lachte und überschüttete ihn noch mehr mit Gemeinheiten. Aber ehe ich wußte, was geschah, war sein rechter Arm durch einen raschen Schnitt mit dem Messer aufgeschlitzt. Der Koch fuhr zurück, ein teuflisches Grinsen auf seinem Gesicht und das Messer in Verteidigungsstellung vorgehalten. Aber Leach blieb ganz ruhig, obgleich das Blut wie ein Springbrunnen auf das Deck spritzte.

»Ich krieg' dich schon noch, Köchlein,« sagte er, »und dann wird's dir nicht glimpflich gehen. Ich hab' keine Eile. Du wirst kein Messer zur Hand haben, wenn ich mit dir abrechne.«

Mit diesen Worten drehte er sich um und entfernte sich gelassen. Mugridges Gesicht war fahl vor Angst. Er sah, was er getan, und ahnte, was er von dem Verwundeten früher oder später zu erwarten hatte. Aber mir gegenüber benahm er sich schlimmer als je. Bei aller Furcht vor Vergeltung konnte er doch die Wirkung seiner Tat auf mich sehen und wurde immer herrschsüchtiger und übermütiger. Dazu war bei dem Anblick des vergossenen Blutes ein an Wahnsinn grenzendes Gelüst in ihm erwacht. Überall sah er Blut. Es war ein traurig verworrener Geisteszustand, aber ich konnte seine Gedanken so klar lesen wie ein gedrucktes Buch.

Mehrere Tage vergingen, immer noch schäumte die ›Ghost‹ vor dem Passat dahin, und ich hätte schwören können, daß ich den Wahnsinn in Thomas Mugridges Augen wachsen sah. Ich gestehe, daß ich mich sehr, sehr fürchtete. Er wetzte, wetzte, wetzte – so ging es den ganzen Tag. Wenn er die Schärfe der Schneide prüfte und mich wild anstarrte, glich sein Blick dem eines Menschenfressers. Ich fürchtete, ihm den Rücken zu kehren, und wenn ich die Kombüse verließ, ging ich rücklings, zum Ergötzen der Matrosen und Jäger, die sich in Gruppen versammelten, um Zeugen meiner Flucht zu sein. Die Spannung war zu groß. Ich fürchtete zuweilen, den Verstand darüber zu verlieren, übrigens ein passender Zustand auf diesem Schiff voll von Verrückten und Bestien. Jede Stunde, jede Minute stand mein Leben auf dem Spiel. Ich war eine Menschenseele in Not, und doch war vorn und achtern keine Seele, die Mitgefühl genug besaß, um mir zu Hilfe zu kommen. Zuweilen dachte ich daran, die Barmherzigkeit Wolf Larsens anzurufen, aber der spöttische Teufel in seinen Augen, der das Leben höhnte, erschien vor mir und hielt mich zurück. Dann wieder erwog ich ernsthaft den Gedanken an Selbstmord und mußte die ganze Kraft meiner hoffnungsfrohen Philosophie aufbieten, um nicht in der Dunkelheit der Nacht über Bord zu springen.

Mehrmals suchte Wolf Larsen mich in eine Unterhaltung zu ziehen, aber ich gab nur kurze Antworten und wich ihm geschickt aus. Zuletzt befahl er mir, meinen Platz am Kajütentisch wieder einzunehmen und den Koch meine Arbeit verrichten zu lassen. Da sprach ich offen mit ihm, erzählte ihm, was ich von Thomas Mugridge wegen seiner dreitägigen Gunst zu leiden hatte. Wolf Larsen betrachtete mich lächelnd.

»So, und jetzt haben Sie Angst, was?« höhnte er.

»Ja,« sagte ich trotzig und ehrlich, »ich fürchte mich.«

»So seid ihr Kerle,« rief er halb ärgerlich, »schwelgt in Gefühlen über eure unsterbliche Seele und fürchtet euch vor dem Tode. Beim Anblick eines scharfen Messers und eines feigen Cockneys denkt ihr an nichts anderes, als euch ans Leben zu klammern. Nun ja, mein Lieber, Sie sollen ja ewig leben. Sie sind ein Gott, und ein Gott kann nicht getötet werden. Köchlein kann Ihnen nicht die Haut ritzen. Sie sind ja Ihrer Auferstehung sicher. Warum sich fürchten? Sie haben ja ein ewiges Leben vor sich. Sie sind Millionär an Unsterblichkeit, und dazu ein Millionär, der sein Vermögen nicht verlieren kann, dessen Glück dem Untergang weniger geweiht ist, als die Sterne und dauert wie Zeit und Ewigkeit. Es ist Ihnen unmöglich, Ihr Kapital zu verringern. Unsterblichkeit ist ein Ding ohne Anfang und ohne Ende. Ewigkeit bleibt Ewigkeit, und selbst, wenn Sie hier und in diesem Augenblick sterben, so werden Sie irgendwoanders in alle Ewigkeit weiterleben. Und dabei ist das alles herrlich: Das Loslösen vom Fleische und die Befreiung des gefesselten Geistes. Köchlein kann Ihnen gar nichts anhaben. Er kann Sie nur auf den Weg befördern, den Sie für die Ewigkeit wandern sollen.

Wenn Sie aber nicht den Wunsch hegen, gerade jetzt befördert zu werden, warum befördern Sie dann nicht Köchlein? Wenn Ihre Anschauung richtig ist, muß ja auch er ein unsterblicher Millionär sein. Sie können ihn nicht zum Konkurs bringen. Seine Papiere werden immer pari stehen. Sie können sein Leben nicht verkürzen, wenn Sie ihn töten, denn er ist ohne Anfang und ohne Ende. Er muß irgendwo und irgendwie weiterleben. Also befördern Sie ihn doch! Stechen Sie ihm ein Messer in den Leib und erlösen Sie seinen Geist. Der lebt jetzt doch in einem elenden Gefängnis, und Sie erweisen ihm nur einen Freundschaftsdienst, wenn Sie die Tür aufreißen. Und wer weiß? Vielleicht wird ein schöner Geist aus dem ekelhaften Leichnam zum himmlischen Blau emporschweben. Befördern Sie ihn, und ich befördere Sie an seinen Platz mit 45 Dollar den Monat.«

Es war klar, daß ich von Wolf Larsen weder Hilfe noch Mitgefühl zu erwarten hatte. Ich mußte allein handeln, und mit dem Mute des Feiglings beschloß ich, Thomas Mugridge mit seinen eigenen Waffen zu bekämpfen. Ich lieh mir von Johansen einen Schleifstein. Louis, der Bootssteurer, hatte mich um kondensierte Milch und Zucker angebettelt. Der Vorratsraum lag unter dem Fußboden der Kajüte. Ich nahm eine Gelegenheit wahr und stahl fünf Dosen Milch, und als Louis' Wache am Abend begann, erstand ich dafür einen Dolch, der ebenso dünn und gefährlich war wie Thomas Mugridges Küchenmesser. Er war rostig und stumpf, aber ich drehte den Schleifstein, und Louis schliff die Klinge. Diese Nacht schlief ich viel besser als sonst.

Am nächsten Morgen, nach dem Frühstück, begann Thomas Mugridge wieder sein unaufhörliches Wetzen. Ich sah mich ängstlich nach ihm um, denn ich kniete vor dem Herd, um die Asche herauszuholen. Als ich sie über Bord geschüttet hatte und wiederkam, unterhielt er sich mit Harrison, dessen braves, dummes Bauerngesicht die größte Bewunderung verriet.

»Ja«, sagte Mugridge, »was kann mir schon Schlimmeres geschehen als zwei Jahre Kittchen! Aber was ich mir daraus schon mache. Der andere Kerl hat sein Fett gekriegt. Du hättest ihn sehen sollen! Messer gerad wie das hier. Steckte es rein in ihn wie in Butter, und er pfiff besser als 'ne Zweipennyflöte.« Er warf einen Blick auf mich, um zu sehen, ob ich es gehört hätte, und fuhr fort: » ›Ich hab' es nicht so gemeint, Tommy,‹ winselte er, ›weiß Gott, ich hab' es nicht so gemeint.‹ ›Ich will dich schon zur Vernunft bringen‹, sagte ich und setzte ihm nach. Ich schnitt ihn in Fetzen, und er tat nichts als quietschen. Dann kriegte er das Messer zu fassen und wollte es halten. Mit den Fingern darum. Aber ich zog es durch bis auf die Knochen. Das war ein Anblick, sag' ich dir!«

Ein Ruf des Steuermanns unterbrach den blutrünstigen Bericht, und Harrison ging nach achtern. Mugridge setzte sich auf die Türschwelle der Kombüse und wetzte weiter. Ich legte die Kohlenschaufel beiseite, setzte mich ruhig auf den Kohlenkasten und sah ihm zu. Er beehrte mich mit einem bösartigen Blick. Äußerlich ruhig, wenn auch mit Herzklopfen, zog ich Louis' Dolch heraus und begann ihn auf dem Stein zu wetzen. Ich war auf irgend etwas von seiten des Cockneys gefaßt gewesen, aber zu meiner Überraschung schien er gar nicht zu bemerken, was ich tat. Er wetzte weiter sein Messer. Und ich tat dasselbe. Und zwei Stunden lang saßen wir da, Angesicht zu Angesicht, und wetzten, wetzten, wetzten, bis die Neuigkeit sich an Bord verbreitete und die halbe Schiffsbesatzung sich vor der Kombüsentür scharte, um den Anblick zu genießen. Anfeuerungen und Ratschläge wurden freigiebig erteilt. Jock Horner, der stille Jäger, der aussah, als könne er keiner Maus etwas zuleide tun, riet mir, ihm die Klinge von unten in den Bauch zu jagen und ihr dann die ›spanische Drehung‹ zu geben. Leach, der den Arm in der Binde auffällig vorstreckte, bat mich, ein paar Reste vom Koch für ihn übrigzulassen, und Wolf Larsen blieb ein paarmal neben der Hütte stehen und betrachtete neugierig, was ihm als ein Gärungsprozeß erscheinen mußte, wie er das Leben nannte.

Und ich muß gestehen, daß ich das Leben jetzt ebenso niedrig einschätzte. Es hatte nichts Schönes, nichts Göttliches mehr – hier gab es nur zwei feige Geschöpfe, die Stahl auf Stein wetzten, und eine Gruppe weiterer Geschöpfe, die zusahen. Die Hälfte von ihnen, davon bin ich überzeugt, wartete begierig, daß wir gegenseitig unser Blut vergossen. Es wäre ihnen eine Unterhaltung gewesen. Und ich glaube nicht, daß ein einziger sich dazwischengelegt hätte, wenn es zu einem Kampf auf Leben und Tod zwischen uns beiden gekommen wäre.

Andererseits war das alles wiederum lächerlich und kindisch. Wetzen, wetzen, wetzen – Humphrey van Weyden in einer Schiffkombüse, im Begriff, ein Messer zu schärfen und es mit dem Daumen zu prüfen! Von allen Situationen die undenkbarste! Meine Angehörigen würden es nicht für möglich gehalten haben. Daß ich, Humphrey van Weyden, solcher Dinge fähig war, bedeutete eine Offenbarung für mich, und ich wußte nicht, ob ich stolz sein oder mich schämen sollte. Aber nichts geschah. Nach zwei Stunden legte Thomas Mugridge Messer und Stein fort und streckte mir die Hand entgegen.

»Was hat es für einen Sinn, sich den Viechern zur Schau zu stellen?« fragte er. »Sie lieben uns nicht und würden sich verdammt freuen, wenn wir beide uns gegenseitig die Kehle abschnitten. Du bist nicht der Schlimmste, Hump! Du hast Mut, und ich hab' dich im Grunde gerne. Komm, gib mir die Flosse.«

So feige ich auch sein mochte, war ich es doch weniger als er. Es war ein unbedingter Sieg, den ich errungen hatte, und ich wollte nichts davon verscherzen, indem ich die verhaßte Hand schüttelte.

»Schön,« sagte er, »nimm sie oder laß es bleiben, deshalb gefällst du mir nicht weniger.« Und hierauf wandte er sich heftig gegen die Zuschauer: »Macht, daß ihr von der Kombüsentür wegkommt, ihr elenden Lümmel!«

Diesem Befehl verlieh er Nachdruck durch einen Kessel kochenden Wassers, bei dessen Anblick die Matrosen Hals über Kopf fortstürzten. Das war eine Art Sieg für Thomas Mugridge, der ihn die Niederlage, die ich ihm zugefügt hatte, mit mehr Anstand tragen ließ. Die Jäger versuchte er allerdings nicht zu vertreiben.

»Köchlein ist fertig«, hörte ich Smoke zu Horner sagen. »Ja, darauf kannst du wetten«, lautete die Antwort. »Von jetzt an ist Hump Herr in der Kombüse, und Tommy muß die Hörner einziehen.«

Mugridge hörte es und warf mir einen schnellen Blick zu, aber ich tat, als hätte ich nichts gemerkt. Ich hätte nicht geglaubt, daß mein Sieg so vollständig und weittragend sei, war aber entschlossen, nicht ein Tüftelchen davon preiszugeben. Die Tage vergingen, und die Prophezeiung Smokes bewahrheitete sich. Der Cockney wurde demütiger und sklavischer vor mir als selbst vor Wolf Larsen. Ich redete ihn nicht mehr ›Herr Mugridge‹ an, wusch nicht mehr die fettigen Töpfe aus und schälte nicht mehr Kartoffeln. Ich verrichtete meine Arbeit, aber nur meine eigene, wann und wie ich es für richtig hielt Ich trug auch nach Matrosenart meinen Dolch in einer Scheide an der Hüfte und nahm von jetzt an Thomas Mugridge gegenüber eine Haltung ein, die aus Despotismus, Hohn und Verachtung gemischt war.

Die Vertraulichkeit zwischen Wolf Larsen und mir nimmt zu – wenn man mit Vertraulichkeit Beziehungen zwischen Herrn und Diener oder besser noch zwischen König und Hofnarr bezeichnen kann. Ich bin ihm nichts als ein Spielzeug, und er schätzt mich nicht mehr als ein Kind das seine. Meine Aufgabe ist, ihn zu unterhalten, und solange ich das tue, ist alles gut; langweile ich ihn aber oder überkommt ihn eine seiner düsteren Launen, so werde ich sofort wieder vom Kajütentisch in die Kombüse gejagt und muß mich noch glücklich preisen, wenn ich mit dem Leben und mit heilen Gliedern davonkomme.

Allmählich erkenne ich immer mehr die Einsamkeit des Mannes. Nicht einer an Bord, der ihn nicht haßt und fürchtet, nicht einer, den er nicht verachtet. Die ungeheure Kraft, die in ihm ruht und nie eine würdige Verwendung gefunden hat, scheint ihn zu verzehren. So würde Luzifer sein, wäre der stolze Geist zur Gesellschaft seelenloser, langweiliger Geister verbannt. Die Einsamkeit ist schon schlimm an sich, noch schlimmer aber ist, daß ihn die ursprüngliche Schwermut seiner Rasse bedrückt. Seit ich ihn kenne, verstehe ich die alten skandinavischen Mythen besser. Die weißhäutigen, blonden Wilden waren aus demselben Stoff gemacht wie er. Die Leichtfertigkeit lachlustiger Lateiner hat keinen Teil an ihm. Lacht er, so ist es nur eine Laune, nichts als reißende Wildheit. Aber er lacht selten; zu oft ist er schwermütig. Und es ist eine Schwermut, die ebenso tief wurzelt wie seine Rasse selbst. Sie ist ihr Erbteil, diese Schwermut, die sein Geschlecht nüchtern, rein und fanatisch sittsam gemacht, und die in ihrer letzten Ausstrahlung ihren Höhepunkt in der reformierten Kirche der Engländer gefunden hat.

In der Tat: die Religion in ihren düstersten Formen war die letzte Folgerung dieser Schwermut. Aber der Ersatz, den eine solche Religion schenkt, ist Wolf Larsen versagt. Sein brutaler Materialismus läßt keinen Raum dafür. So bleibt ihm, wenn ihn seine düstere Stimmung überkommt, nichts übrig, als teuflisch zu sein. Wäre er nicht ein so entsetzlicher Mensch, ich könnte zuweilen Mitleid mit ihm haben, wie zum Beispiel vor drei Tagen, als ich morgens überraschend in seine Kajüte trat, um die Wasserflasche zu füllen. Er sah mich nicht. Sein Kopf war in den Händen vergraben, seine Schultern zuckten krampfhaft, und als ich mich leise zurückzog, hörte ich ihn stöhnen: »Gott! Ach Gott!« Nicht etwa, daß er Gott angerufen hätte, es war ein Wort, das an niemand gerichtet war, ihm aber aus tiefster Seele kam.

Bei Tisch fragte er die Jäger nach einem Mittel gegen Kopfschmerzen, und abends taumelte er halbblind in der Kajüte herum.

»Ich bin nie in meinem Leben krank gewesen, Hump«, sagte er, als ich ihm in seine Koje half. »Und ich habe auch noch nie Kopfschmerzen gehabt, außer in der Zeit, als mein Kopf heilte, nachdem ich mir aus Unvorsichtigkeit ein sechs Zoll großes Loch mit dem Ankerspill hineingeschlagen hatte.«

Drei Tage dauerten die entsetzlichen Kopfschmerzen, und er litt, wie ein wildes Tier leidet, und wie man auf diesem Schiffe zu leiden scheint: klaglos, mitleidlos, ganz allein.

Als ich aber heute morgen seine Kajüte betrat, um sein Bett zu machen und aufzuräumen, fand ich ihn wohlauf und mitten in der Arbeit. Tisch und Koje waren mit Plänen und Berechnungen übersät. Mit Zirkel und Winkel zeichnete er eine große Skala auf einen großen Bogen Pauspapier.

»Hallo, Hump!« begrüßte er mich heiter. »Ich mache gerade die letzten Striche. Wollen Sie sehen?«

»Was ist das?« fragte ich.

»Eine Anleitung für Seeleute, die Zeit erspart und Navigieren zu einem Kinderspiel macht«, antwortete er heiter. »Von heute an ist jedes Kind imstande, ein Schiff zu steuern. Keine verwickelten Berechnungen mehr! Alles, was man braucht, ist ein Stern am Himmel in dunkler Nacht, um sofort zu wissen, wo man ist. Sehen Sie, ich lege die Pauspapierskala auf diese Sternenkarte und lasse sie sich um den Nordpol drehen. Auf der Skala habe ich die absoluten Höhenkreise und die Peilungslinien verzeichnet. Ich habe nichts weiter zu tun, als sie auf einen bestimmten Stern einzustellen, die Skala zu drehen, bis sie sich den Zahlen unten auf der Karte gerade gegenüber befindet, und: Eins, zwei, drei! Da haben wir die genaue Lage des Schiffes!«

In seiner Stimme war ein triumphierender Klang, und seine Augen, die an diesem Morgen klar und blau wie die See waren, funkelten.

»Sie müssen viel von Mathematik verstehen«, sagte ich. »Wo sind Sie zur Schule gegangen?«

»Ich hab' nie eine Schule von innen gesehen – leider. Hab' alles selbst ausgraben müssen.

Und warum, glauben Sie, hab' ich die Sache hier gemacht?« fragte er unvermittelt. »In der Hoffnung, meine Spur im Sande der Zeit zu hinterlassen?« Er lachte sein schreckliches, höhnisches Lachen. »Keineswegs. Ich will es mir patentieren lassen und Geld damit verdienen, um die Nächte zu durchprassen, während andere arbeiten. Das ist meine Absicht. Aber die Geschichte hat mir auch Freude gemacht.«

»Schaffensfreude«, bemerkte ich.

»So müßte es wohl heißen. Wieder eine Ausdrucksweise für die Freude des Lebens, weil es lebt und wirkt, für den Triumph der Bewegung über die Materie, des Lebendigen über das Tote, für den Stolz der Hefe, weil sie Hefe ist und kriecht.«

Ich hob die Hände in hilflosem Protest gegen seinen eingewurzelten Materialismus und machte mich daran, die Koje in Ordnung zu bringen. Er fuhr fort, Linien und Ziffern auf die transparente Skala zu zeichnen. Es war eine Aufgabe, die äußerste Genauigkeit erforderte, und ich mußte bewundern, wie er seine Kraft zügelte und der nötigen Feinheit und Aufmerksamkeit anpaßte.

Als ich das Bett gemacht hatte, überraschte ich mich dabei, wie ich ihn fasziniert ansah. Er war sicher schön – schön als Mann. Und immer wieder wunderte ich mich, daß sein Antlitz nicht die Spur von Verderbnis oder Lasterhaftigkeit zeigte. Es war das Gesicht eines Mannes, der kein Unrecht tat. Ich möchte nicht mißverstanden werden: Ich meine, es war das Gesicht eines Mannes, der nichts tat, was er nicht vor seinem Gewissen verantworten konnte, oder – der überhaupt kein Gewissen hatte. Ich neige dazu, letzteres zu glauben. Er war ein prachtvoller Atavismus, ein Mensch, so primitiv, wie die Welt ihn vor Entwicklung der Moral gesehen. Er war nicht unmoralisch, sondern ganz morallos.

Wie gesagt, er war schön als Mann. Sein glattrasiertes Gesicht ließ jeden Zug hervortreten, und es war rein und scharf geschnitten wie eine Kamee. Sonne und Meer hatten die ursprünglich helle Haut zu einem dunklen Bronzeton gebräunt, der von Kampf und Streit zeugte und sowohl Wildheit wie Schönheit noch erhöhte. Seine Lippen waren voll, aber doch von der Herbheit, die sonst dünnen Lippen eigen ist. Mund, Kinn und Kinnbacken zeugten ebenfalls von Festigkeit und Härte, gepaart mit männlicher Wildheit und Unbezähmbarkeit – ebenso die Nase. Es war die Nase eines Menschen, der geboren war, zu erobern und zu herrschen. Sie erinnerte an einen Adlerschnabel. Sie wäre fast griechisch oder römisch gewesen, war aber einen Schatten zu massig für das eine und eine Spur zu zart für das andere. Und während das alles die verkörperte Wildheit und Stärke war, schienen die Linien von Augen und Brauen gleichsam veredelt durch die Schwermut in der Tiefe seiner Seele, und die Züge erhielten dadurch eine Größe und Vollkommenheit, die ihnen sonst gefehlt hätten.

Ich überraschte mich also dabei, wie ich untätig dastand und ihn studierte. Wie sehr der Mann mich doch interessierte! Wer war er? Was war er? Wie war er zu dem geworden, der er war? Alle Fähigkeiten schien er zu besitzen, alle Möglichkeiten – warum war er denn nichts geworden als der einfache Kapitän eines Robbenfängers mit einem Ruf furchteinflößender Brutalität unter den Seeleuten und Jägern?

Meine Neugier mußte sich Luft machen.

»Warum haben Sie nichts Großes auf dieser Welt vollbracht? Mit Ihrer immensen Kraft hätten Sie jede Höhe erklimmen können. Ohne Gewissen oder moralische Instinkte, wie Sie sind, hätten Sie die Welt unterjochen und beherrschen können. Und statt dessen sind Sie, auf der Höhe des Lebens, in einem Alter, da der Abstieg schon beginnt, der Führer eines Schoners und jagen Robben, um die Eitelkeit und Putzsucht der Weiber zu befriedigen, schwelgen, um Ihre eigenen Worte zu gebrauchen, in einer Gemeinheit, die alles andere eher als herrlich ist. Mit all Ihrer wunderbaren Kraft haben Sie nichts vollbracht? Gab es nichts, das Sie hielt, das Sie halten konnte? Warum? Besaßen Sie keinen Ehrgeiz? Sind Sie Versuchungen erlegen? Warum?«

Bei Beginn meines Ausbruchs hatte er die Augen erhoben und folgte mir willig, bis ich fertig war und nun, atemlos und erschrocken, vor ihm stand. Er wartete einen Augenblick, als suchte er nach Worten, und sagte dann:

»Hump, kennen Sie das Gleichnis vom Sämann, der ausging, um zu säen? Sie werden sich erinnern, daß einige Samenkörner auf steinigen Boden fielen, wo es nur wenig Erde gab, und sogleich keimten, weil sie so dicht unter der Oberfläche lagen. Als aber die Sonne kam, verdorrten sie und welkten dahin, weil sie keine Wurzeln hatten. Und einige Körner fielen zwischen Dornensträucher, und die erstickten sie.«

»Nun?« fragte ich.

»Nun?« fragte er, ein wenig gekränkt. »Ich war ein solches Samenkorn.«

Er senkte den Kopf auf die Zeichnung und setzte seine Arbeit fort. Ich beendete die meine und hatte schon die Tür geöffnet, um zu gehen, als er mich wieder ansprach: »Hump, wenn Sie eine Karte von Norwegen nehmen, werden Sie an der Westküste einen Einschnitt finden, der Romsdals Fjord genannt wird. Im Bannkreise dieser Bucht wurde ich geboren. Aber nicht als Norweger. Ich bin Däne. Mein Vater und meine Mutter waren Dänen, und wie sie in dies rauhe Fleckchen Erde gekommen waren, weiß ich nicht. Ich habe nie etwas darüber gehört. Hiervon abgesehen, ist nichts Geheimnisvolles an der Geschichte. Sie waren arme, unwissende Leute. Alle ihre Vorfahren waren so gewesen – Küstenbauern, die ihre Söhne seit undenklichen Zeiten auf die Wogen zu säen pflegten. Mehr ist nicht zu berichten.«

»Doch«, wandte ich ein. »Es ist mir immer noch rätselhaft.«

»Was soll ich Ihnen noch erzählen?« fragte er mit einem neuen Klang von Wildheit in der Stimme. »Von dem kümmerlichen Leben eines Kindes? Von dem kargen Dasein der Fischer? Daß ich aufs Meer hinausfuhr, als ich kaum kriechen konnte? Von meinen Brüdern, die, einer nach dem andern, zur See gingen und nie wiederkehrten? Von mir selber, der ich im reifen Alter von zehn Jahren Kajütsjunge auf Küstenfahrern war und weder lesen noch schreiben konnte? Von schlechter Kost und noch schlechterer Behandlung – Püffe und Schläge waren mir Bett und Frühstück, ersetzten Worte, und Furcht, Haß und Schmerz waren meine einzigen Seelenregungen. Ich erinnere mich nicht gern daran. Selbst jetzt noch werde ich toll, wenn ich daran denke. Aber es gab Schiffer, die ich hätte töten können, als ich meine Manneskraft erlangt hatte, wenn das Schicksal mich nicht in andere Meere geführt hätte. Als ich wiederkehrte, waren diese Schiffer leider tot, nur einen traf ich – er war seinerzeit Steuermann gewesen; als ich ihn jetzt wiedertraf, war er Schiffer; als ich ihn verließ, ein Krüppel, der nie wieder gehen wird.«

»Aber Sie lesen Spencer und Darwin und haben dabei nie eine Schule von innen gesehen – wo haben Sie lesen und schreiben gelernt?« fragte ich.

»In der englischen Handelsmarine. Kajütsjunge mit zwölf, Schiffsjunge mit vierzehn, Leichtmatrose mit sechzehn, Vollmatrose und Koch mit siebzehn, unendlicher Ehrgeiz und unendliche Einsamkeit, ohne Hilfe, ohne Verständnis. Ich tat alles aus eigener Kraft, lernte selbst Navigation, Mathematik, Naturwissenschaft, Literatur und ich weiß nicht, was alles. Und wozu? Herr und Besitzer eines Robbenschoners auf der Höhe meines Lebens, wo, wie Sie sagen, der Abstieg beginnt. Jammervoll, nicht wahr? Als die Sonne kam, war ich verdorrt, und weil ich keine Wurzeln geschlagen hatte, welkte ich hin.«

»Aber die Geschichte berichtet von Sklaven, die sich zum Purpur emporschwangen«, schaltete ich ein.

»Und die Geschichte berichtet von günstigen Gelegenheiten, durch welche diese Sklaven sich emporschwangen«, entgegnete er bitter. »Kein Mensch kann eine günstige Gelegenheit schaffen. Alles, was die großen Männer taten, war, daß sie die Gelegenheit erkannten, wenn sie kam. Der Korse erkannte sie. Ich habe ebenso große Träume geträumt wie der Korse. Ich würde die Gelegenheit erkannt haben, aber sie kam nie. Die Dornen schossen hoch und erstickten mich. Und ich kann Ihnen sagen, Hump, daß Sie mehr von mir wissen, als sonst irgendein Lebender außer meinem Bruder.«

»Und was ist der? Wo ist er?«

»Kapitän des Dampfers ›Macedonia‹, Robbenfänger«, lautete die Antwort. »Wir werden ihn aller Wahrscheinlichkeit nach an der japanischen Küste treffen. Die Leute nennen ihn Tod Larsen.«

»Tod Larsen!« rief ich unwillkürlich. »Gleicht er Ihnen?«

»Kaum. Er ist ein Stück Vieh ohne Kopf. Er hat all meine – – meine – –«

»Tierheit!« schob ich ein.

»Ja – Dank für das Wort – all meine Tierheit, aber er kann weder lesen noch schreiben.«

»Und hat nie über das Leben philosophiert«, fügte ich hinzu.

»Nein«, antwortete Wolf Larsen mit einem Ausdruck unbeschreiblicher Traurigkeit. »Und er ist glücklich, da er sich nicht um das Leben kümmert. Er hat zuviel damit zu tun, es zu leben, als daß er darüber grübeln könnte. Mein Fehler war, daß ich je ein Buch aufgeschlagen habe.«

Die ›Ghost‹ hat den südlichsten Punkt des Bogens erreicht, den sie durch den Stillen Ozean beschreibt, und beginnt jetzt, den Kurs nach Norden, dem Gerücht nach, auf eine einsame Insel zu setzen, um die Wasserfässer zu füllen. Dann geht es die japanische Küste entlang, und die Jagd beginnt. Die Jäger haben ihre Büchsen und Schrotflinten nachgesehen und schießen sich jetzt ein, bis sie mit ihren Leistungen zufrieden sind; Puller und Bootssteurer haben Sprietsegel verfertigt, Riemen und Dollen mit Leder und Strohgeflecht umwunden, damit sie geräuschlos an die Robben herankommen können; die Boote sind gebrauchsfertig.

Nebenbei: Leachs Arm ist gut verheilt, wenn er auch die Narbe sein ganzes Leben behalten wird. Thomas Mugridge lebt in Todesangst vor ihm und wagt kaum, nach Eintritt der Dunkelheit das Deck zu betreten. In der Back geht es recht ungemütlich her. Louis erzählt mir, unter den Matrosen ginge das Gerücht, daß zwei von ihnen, die geschwatzt haben sollen, von ihren Kameraden tüchtig verprügelt worden seien. Er schüttelt bedenklich den Kopf über Johnson, der Puller in seinem Boot ist. Johnson soll sich des Verbrechens schuldig gemacht haben, daß er seine Meinung zu frei geäußert hat und ein paarmal mit Wolf Larsen wegen der Aussprache seines Namens aneinandergeraten ist. Johansen hat er neulich eines Nachts mittschiffs verprügelt, und seitdem nennt der Steuermann ihn bei seinem rechten Namen. Aber es kann natürlich nicht die Rede davon sein, daß Johnson es auch Wolf Larsen auf diese Weise einbläut.

Louis hat mir auch mehr von Tod Larsen berichtet, und was er erzählt, stimmt mit der kurzen Beschreibung des Kapitäns überein. Wir werden Tod Larsen vermutlich an der japanischen Küste treffen. »Und da kannst du dich auf ein Unwetter gefaßt machen,« prophezeit Louis, »denn sie hassen sich wie die Wolfsbrut, die sie ja auch sind.« Tod Larsen befehligt den einzigen Robbendampfer der ganzen Flotte, die ›Macedonia‹, die vierzehn Boote trägt, während die übrigen Fahrzeuge nur je sechs haben. Es heißt, sie habe Kanonen an Bord, und es laufen wilde Gerüchte um über seltsame Beutezüge und Expeditionen des Schiffes, von Opiumschmuggel nach den Staaten und Waffenschmuggel nach China bis zu Sklavenhandel und offener Seeräuberei. Und ich muß Louis glauben, denn ich habe ihn noch nie auf einer Lüge ertappt, und er ist ein lebendiges Lexikon in bezug auf alles, was mit Robbenjagd und Robbenjägern zusammenhängt.

Wie auf dem Vorschiff und in der Kombüse, so geht es auch im ›Zwischendeck‹ und auf dem Achterdeck dieses wahren Höllenschiffes zu. Die Leute kämpfen wie wilde Tiere. Die Jäger erwarten jeden Augenblick eine Schießerei zwischen Smoke und Henderson, deren alter Streit noch nicht beigelegt ist, während Wolf Larsen sagt, daß er, wenn er dazu käme, den Überlebenden töten würde. Er sagt ohne Umschweife, daß seine Stellungnahme in dieser Sache nichts mit Moral zu tun habe, und daß die Jäger sich seinetwegen gern alle gegenseitig totschlagen und auffressen könnten, wenn er sie nicht so nötig zur Jagd brauchte. Wenn sie sich nur ruhig verhalten wollen, bis die Jagd vorbei ist, verspricht er ihnen einen königlichen Karneval. Dann kann sich ihr Groll austoben, die Überlebenden können die Toten ins Meer werfen und sich eine Geschichte ausdenken, wie sie verunglückt sind. Ich glaube, selbst die Jäger entsetzen sich über seine Kaltblütigkeit. So gefährliche Burschen sie auch sind: ihn fürchten sie. Thomas Mugridge bezeigt mir eine hündische Unterwürfigkeit, aber meine geheime Furcht vor ihm schläft nie. Mit meinem Knie geht es viel besser, wenn es auch zuweilen noch längere Zeit schmerzt, und mein Arm, den Wolf Larsen gepackt hatte, wird nach und nach wieder gebrauchsfähig. Im übrigen befinde ich mich in glänzender körperlicher Verfassung und fühle das. Meine Muskeln werden fester und nehmen an Umfang zu. Meine Hände jedoch bieten einen jämmerlichen Anblick. Sie sind mit Brandblasen übersät, Niednägel haben sich gebildet, und die Nägel sind abgebrochen, schmutzig und von wildem Fleisch überwuchert. Dazu leide ich an Furunkeln, wohl eine Folge der Kost, denn ich habe noch nie etwas mit dieser Plage zu tun gehabt. Vor einigen Abenden hatte ich das Vergnügen, Wolf Larsen in der Bibel lesen zu sehen, von der ein Exemplar in der Seemannskiste des toten Steuermanns gefunden worden war. Ich war gespannt, welche Ausbeute der Kapitän von dieser Lektüre haben konnte, und er las mir aus dem Prediger Salomo vor. Ich hätte mir einbilden können, daß er, als er vorlas, seine eigenen Gedanken aussprach, und seine Stimme, die tief und traurig durch die kleine Kajüte hallte, nahm mich gefangen und hielt mich fest. Ungebildet mag er sein, aber sicher weiß er der Bedeutung des geschriebenen Wortes Ausdruck zu verleihen. Ich höre ihn noch, höre die tiefe Schwermut in seiner Stimme vibrieren, als er las:

»Ich sammelte mir auch Silber und Gold und teure Schätze von Königen und den Ländern, ich schaffte mir Sänger und Sängerinnen und, die Lüste der Menschensöhne, viele Frauen.

Und ich ward groß und schaffte mehr als jedweder, der vor mir in Jerusalem gewesen, auch meine Weisheit verblieb bei mir.

Als ich mich aber wandte auf alle meine Werke, die meine Hände geschaffen, und auf die Mühe, die ich aufgewendet, um zu schaffen, siehe: alles nichtig und Haschen nach Wind und kein Erfolg unter der Sonne. Alles wie allen. Ein Begebnis ist dem Gerechten und dem Frevler, dem Guten und Reinen und dem Unreinen, dem, der opfert, und dem. der nicht opfert, wie der Gute, so der Sünder, der leicht schwört wie wer einen Schwur scheut.

Dies ist ein Übel in allem, was unter der Sonne geschieht, daß Ein Begebnis allen ist, und des füllet sich der Menschensöhne Herz mit Bösem, und Wahn ist in ihrem Herzen während ihres Lebens, und nach diesem geht es zu den Toten!

Denn wer ist ausgenommen? Allen Lebenden ist Hoffnung, denn es ist besser um einen lebendigen Hund als um den toten Löwen.

Denn die Lebenden wissen, daß sie sterben werden, aber die Toten wissen nicht das geringste, und ihnen ist kein Lohn mehr, denn ihr Andenken wird vergessen. Sowohl ihre Liebe als ihr Haß als ihr Eifer ist längst verloren, und keinen Anteil haben sie mehr auf immer an allem, was unter der Sonne geschieht.

Da haben Sie's, Hump«, sagte er, schloß das Buch über seinen Fingern und blickte mich an. »Der Prediger, der König über Israel in Jerusalem, dachte wie ich. Sie nennen mich einen Pessimisten. Ist dies nicht der schwärzeste Pessimismus? ›Alles ist nichtig und Haschen nach Wind‹, ›kein Erfolg unter der Sonne‹, ›Ein Begebnis für alle‹, für den Toren wie für den Weisen, für den Reinen wie den Unreinen, den Sünder und den Heiligen, und dies Begebnis ist der Tod, etwas Böses, wie er sagt. Denn der Prediger liebte das Leben und wollte nicht sterben, und so sagte er, daß ein lebendiger Hund besser sei als ein toter Löwe. Er zog Eitelkeit und Qual dem Schweigen und der Unbeweglichkeit des Grabes vor. Und das tue ich auch. Krabbeln ist gemein, aber nicht zu krabbeln, wie Erde und Stein zu sein, ist ein abscheuerregender Gedanke. Abscheuerregend für das Leben in mir, das Leben, dessen Essenz Bewegung, die Fähigkeit, sich zu bewegen, und das Bewußtsein dieser Fähigkeit ist. Das Leben selbst befriedigt nicht, aber vorauszuschauen auf den Tod ist noch unbefriedigender.«

Meine Einwände, mein Widerspruch waren vergebens. Er überschüttete mich förmlich mit Argumenten.

»So ist das Leben nun einmal. Das Leben wird sich stets empören, wenn es spürt, daß es aufhören soll. Der Prediger nannte das Leben und das Lebenswerk eitel und qualvoll, ein Übel; aber den Tod, das Aufhören von Eitelkeit und Qual, nannte er ein noch größeres Übel. Kapitel auf Kapitel klagt er über dies ›Begebnis‹, das allen ohne Ausnahme widerfährt. Und so geht es mir, und so geht es Ihnen, ja, selbst Ihnen, denn Sie empörten sich gegen den Tod, als Köchlein das Messer für Sie wetzte. Sie fürchteten den Tod, und das Leben in Ihnen, aus dem Sie bestehen und das stärker ist als Sie, wollte nicht sterben. Sie haben von dem Instinkt der Unsterblichkeit gesprochen. Ich spreche vom Instinkt des Lebens, der um so stärker wird, je näher der Tod kommt, und der, wenn der Tod vor der Tür steht, den Instinkt der Unsterblichkeit überwältigt. So ist es Ihnen ergangen – das können Sie nicht leugnen –, weil ein verrückter Cockneykoch das Messer wetzte.

Jetzt fürchten Sie ihn. Und Sie fürchten mich. Das können Sie nicht leugnen. Wenn ich Sie bei der Kehle packte, so« – und seine Hand umkrallte meinen Hals, und der Atem stockte mir –, »und begänne, das Leben aus Ihnen herauszupressen, so und so, dann würde Ihr Unsterblichkeitsinstinkt verglimmen, Ihr Lebensinstinkt würde aufflackern, und Sie würden für Ihre Rettung kämpfen. Ich sehe die Todesangst in Ihren Augen. Sie fuchteln mit den Armen in der Luft herum. Sie bieten Ihre ganze winzige Kraft für den Kampf ums Leben auf. Ihre Hand packt meinen Arm – sie fühlt sich so leicht an wie ein ruhender Schmetterling. Ihre Brust keucht, Ihre Zunge streckt sich zum Halse heraus, Ihre Haut wird schwarz, Ihre Augen verschwimmen: ›Leben! Leben! Leben!‹ schreien Sie. Und Sie schreien, weil Sie leben wollen – hier und jetzt, nicht hinterher. Sie zweifeln an Ihrer Unsterblichkeit, nicht wahr? Haha! Sie sind ihrer nicht sicher. Sie wollen es nicht darauf ankommen lassen. Nur dieses Leben ist Ihnen etwas Sicheres. Ach, es wird immer dunkler. Die Finsternis des Todes, das Ende des Seins. des Fühlens, der Bewegung, die sich in Ihnen sammelt, sinkt auf Sie hernieder, erhebt sich um Sie. Ihre Augen werden starr, brechen. Meine Stimme klingt schwach und fern. Sie sehen mein Gesicht nicht. Aber noch kämpfen Sie unter meinem Griff. Sie stoßen mit den Füßen um sich. Ihr Körper krümmt und windet sich wie eine Schlange. Ihre Brust arbeitet und keucht. Leben, leben – –«

Ich hörte nichts mehr. Das Bewußtsein war ausgelöscht durch die Finsternis, die er so anschaulich beschrieben hatte. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Boden, während er, eine Zigarre rauchend, mich nachdenklich mit dem bekannten forschenden Ausdruck in seinen Augen betrachtete.

»Nun, habe ich Sie überzeugt?« fragte er. »Hier trinken Sie. Ich möchte Sie einiges fragen.«

Ich schüttelte verneinend den Kopf. »Ihre Argumente sind zu zwingend«, brachte ich mit großer Anstrengung aus meiner schmerzenden Kehle heraus.

»In einer halben Stunde wird Ihnen wieder gut sein«, versicherte er mir. »Und ich verspreche Ihnen, daß ich keine handgreiflichen Beweisgründe mehr gebrauchen werde. Stehen Sie auf. Sie können sich auf einen Stuhl setzen.«

Und mit dem Spielzeug, das ich diesem Ungeheuer war, wurde die Unterhaltung über den Prediger und andere Dinge wieder aufgenommen. Die halbe Nacht saßen wir wach.

Die letzten vierundzwanzig Stunden sind Zeugen eines reinen Karnevals von Roheit gewesen. Von der Kajüte bis zur Back verbreitete es sich wie eine ansteckende Krankheit. Ich weiß kaum, wo beginnen. Wolf Larsen war der eigentliche Urheber. Das Verhältnis zwischen der Besatzung war gespannt und feindselig infolge von Groll und Streitigkeiten. Bis jetzt war das Gleichgewicht gewahrt worden, aber nun flammten die bösen Leidenschaften auf und loderten wie ein Präriebrand.

Thomas Mugridge ist ein Duckmäuser, ein Spion und Hinterträger. Er hat versucht, sich beim Kapitän wieder lieb Kind zu machen, indem er die Mannschaft verklatschte. Ich weiß, daß er Wolf Larsen einige voreilige Worte Johnsons hinterbrachte. Johnson soll sich Ölzeug aus der Schiffskleiderkiste gekauft haben, das von sehr zweifelhafter Güte war. Er hielt mit dieser Tatsache nicht hinter dem Berge. Die Schiffskleiderkiste ist eine Art Miniaturwarenlager, das ein Robbenschoner an Bord hat, und das den Ansprüchen der Matrosen gemäß zusammengestellt ist. Was ein Matrose kauft, wird später von seinem Verdienst am Robbenfang abgezogen, denn Puller und Bootssteurer erhalten, ebenso wie die Jäger, statt der Heuer einen Anteil am Gewinn, nämlich einen gewissen Betrag für jedes von ihrem Boot erbeutete Fell.

Von Johnsons Unzufriedenheit mit dem Ölzeug wußte ich jedoch nichts, und was ich erlebte, kam daher wie ein Blitz aus heiterem Himmel für mich. Ich war gerade mit dem Aufräumen der Kajüte fertig, als Johansen, von Johnson gefolgt, die Kajütstreppe herunterkam. Johnson nahm nach Seemannsart die Mütze ab, stand ehrerbietig, schwer im Rollen des Schoners schwankend, mitten in der Kajüte und blickte dem Kapitän offen in die Augen.

»Schließen Sie die Tür und riegeln Sie ab«, sagte Wolf Larsen zu mir.

Als ich gehorchte, bemerkte ich einen ängstlichen Ausdruck in Johnsons Augen, aber die Ursache ließ ich mir nicht träumen. Ich ahnte nicht, was kommen sollte, bis es geschah, er aber wußte vom ersten Augenblick an, was seiner wartete, und sah seinem Schicksal tapfer in die Augen. Und seine Handlungsweise war für mich die völlige Widerlegung von Wolf Larsens ganzem Materialismus. Der Matrose Johnson war im Recht, und er wußte das und war furchtlos. Er würde im Notfall für dieses Recht gestorben sein. Er blieb sich und seiner Seele treu. Und das kennzeichnete den Sieg des Geistes über das Fleisch, die Unbestechlichkeit und Größe einer Seele, die sich nicht unterjochen ließ, sondern sich über Zeit, Raum und Materie erhob mit einer Sicherheit und Unüberwindlichkeit, die nichts anderm entspringt als Ewigkeit und Unsterblichkeit.

Ich bemerkte zwar den ängstlichen Ausdruck in Johnsons Augen, hielt ihn jedoch irrtümlich für die angeborene Schüchternheit und Verlegenheit des Mannes. Johansen, der Steuermann, stand einige Fuß entfernt neben ihm, und gut drei Yards ihm gegenüber saß Wolf Larsen auf einem Kajütendrehstuhl. Als ich die Tür geschlossen und abgeriegelt hatte, trat eine merkbare Pause ein, eine Pause, die eine ganze Minute dauern mochte. Sie wurde von Wolf Larsen beendet. »Yonson«, begann er.

»Ich heiße Johnson, Käptn«, verbesserte ihn der Matrose kühn.

»Schön, also Johnson, in Teufels Namen! Kannst du erraten, warum ich dich rufen ließ?«

»Ja und nein, Käptn«, antwortete er langsam. »Meine Arbeit tue ich gut. Daß weiß der Steuermann, und das wissen Sie, Käptn. Es kann also keinen Grund zur Klage über mich geben.«

»Und das ist alles?« fragte Wolf Larsen; seine Stimme war sanft und leise, er schnurrte fast wie eine Katze. »Ich weiß, daß Sie es auf mich abgesehen haben«, fuhr Johnson mit unerschütterlicher, schwerfälliger Langsamkeit fort. »Sie können mich nicht leiden. Sie – Sie –«

»Weiter«, trieb ihn Wolf Larsen an. »Hab' nur keine Angst vor meinen Gefühlen.«

»Ich habe keine Angst«, entgegnete der Matrose rasch, und eine leichte Zornesröte wurde unter seiner sonnenverbrannten Haut sichtbar. »Wenn ich langsam spreche, so kommt es daher, daß ich meine Heimat noch nicht so lange verlassen habe wie Sie. Sie können mich nicht leiden, weil ich zu sehr Mann bin, das ist der Grund, Käptn.«

»Du bist zu sehr Mann, um dich der Schiffsdisziplin zu fügen, wenn du das meinst, und wenn du verstehst, was ich meine«, erwiderte Wolf Larsen.

»Ich verstehe englisch, und ich weiß, was Sie meinen, Käptn«, antwortete Johnson und errötete noch mehr bei der Anspielung auf seine Sprachkenntnisse.

»Johnson«, sagte Wolf Larsen mit einem Ausdruck, der erkennen ließ, daß er alles Bisherige nur als Einleitung angesehen hatte und jetzt auf die Hauptsache kommen wollte, »ich höre, daß du nicht zufrieden mit dem Ölzeug bist?«

»Nein, ich bin nicht zufrieden. Es taugt nichts, Käptn.« »Und du hast große Töne darüber geredet.«

»Ich sage, was ich denke, Käptn«, antwortete der Matrose mutig, ohne die an Bord eines Schiffes herrschende Etikette zu vergessen.

In diesem Augenblick fielen meine Augen zufällig auf Johansen. Seine großen Fäuste ballten und öffneten sich wieder, und sein Gesicht hatte einen geradezu teuflischen Ausdruck, so furchtbar blickte er Johnson an. Ich sah, daß Johansen noch ein blaues Auge hatte, ein Denkzettel von den ihm von Johnson vor einigen Nächten erteilten Prügeln. Jetzt erst begann ich zu ahnen, daß sich etwas Schreckliches abspielen sollte, wenn ich mir auch nicht denken konnte, was.

»Weißt du, was dem geschieht, der sagt, was du über mich und meine Waren gesagt hast?« fragte Wolf Larsen.

»Ich weiß es, Käptn.«

»Was denn?« fragte Wolf Larsen scharf und gebieterisch.

»Was Sie und der Steuermann im Begriff sind, mit mir zu tun, Käptn.«

»Sehen Sie ihn sich an, Hump«, sagte Wolf Larsen zu mir. »Sehen Sie sich das bißchen beseelten Staub an, dies Häufchen Materie, das sich bewegt und atmet und mir Trotz zu bieten wagt, und das fest davon überzeugt ist, aus etwas Gutem zu bestehen, das von gewissen menschlichen Phantastereien von Gerechtigkeit und Ehrlichkeit durchdrungen ist und an ihnen festhält trotz aller persönlichen Unannehmlichkeiten und Drohungen. Was halten Sie von ihm, Hump? Nun, was halten Sie von ihm?«

»Ich finde, er ist ein besserer Mensch als Sie«, antwortete ich, wohl von dem Wunsche getrieben, einen Teil des Zornes abzulenken, der sich, wie ich fühlte, über das Haupt des Matrosen entladen mußte. »Seine menschlichen Phantastereien, wie Sie es zu nennen belieben, schaffen Edelmut und Männlichkeit. Sie kennen keine Phantastereien, keine Träume, keine Ideale. Sie sind ein Bettler.«

Er nickte mit wilder Lust. »Ganz recht, Hump, ganz recht. Ich kenne keine Phantastereien, die Edelmut und Männlichkeit schaffen. Mit dem Prediger sage ich, daß ein lebender Hund besser ist als ein toter Löwe. Ich kenne nur eine Lehre: die der Selbstsucht und des Lebenswillens. Dies bißchen Hefe, das sich Johnson nennt, wird, sobald es nicht länger Hefe, sondern nur noch ein Häufchen Staub und Asche ist, nicht mehr Edelmut besitzen als Staub und Asche im allgemeinen – während ich weiter lebe und brülle. – Wissen Sie, was ich tun werde?« fragte er.

Ich schüttelte den Kopf.

»Nun, ich werde Ihnen das Recht des Stärkeren demonstrieren und Ihnen zeigen, wohin Edelmut führt. Passen Sie auf.«

Drei Yards saß er von Johnson entfernt. Neun Fuß! Und doch machte er geradeswegs aus seiner sitzenden Stellung einen Satz wie ein Tiger, und wie ein Tiger durchschoß er den Raum zwischen sich und dem Matrosen. Es war eine Lawine von Wut, die Johnson vergebens abzuwehren versuchte. Mit dem einen Arm suchte er seinen Bauch, mit dem andern das Gesicht zu beschützen. Aber Wolf Larsens Faust traf zwischen beide mit einem zermalmenden, widerhallenden Stoß. Johnson stockte der Atem, dann entwich die Luft pfeifend seiner Lunge. Er fiel beinahe hintenüber und schwankte von einer Seite nach der andern, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen.

Ich bin nicht imstande, alle Einzelheiten der grauenvollen Szene, die jetzt folgte, wiederzugeben. Es war empörend. Selbst jetzt noch werde ich krank, wenn ich daran denke. Johnson leistete tapferen Widerstand, aber einem Wolf Larsen war er nicht gewachsen, und noch weniger Wolf Larsen und dem Steuermann zusammen. Es war furchtbar. Ich hatte nie gedacht, daß ein menschliches Wesen soviel ertragen und dabei noch leben und kämpfen könnte. Und Johnson kämpfte. Natürlich hatte er keine Hoffnung, nicht die leiseste Hoffnung, und das wußte er ebensogut wie ich. aber seine Mannhaftigkeit erlaubte ihm nicht, den Kampf aufzugeben.

Es wurde zuviel für mich, ich konnte es nicht mehr mit ansehen. Ich fühlte, daß ich im Begriff war, den Verstand zu verlieren, und stürzte die Kajütstreppe hinauf, um die Tür zu öffnen und an Deck zu fliehen. Aber Wolf Larsen ließ einen Augenblick von seinem Opfer ab, erwischte mich mit einem seiner ungeheuren Sprünge und schleuderte mich zurück in die fernste Ecke der Kajüte.

»Die Lebensphänomene, Hump«, höhnte er. »Bleiben Sie stehen und beobachten Sie sie. Sie können Material über die Unsterblichkeit der Seele sammeln. Im übrigen können wir Johnsons Seele ja gar nicht verletzen. Wir können höchstens ihre vergängliche Form zerstören.«

Jahrhunderte schienen vergangen – wahrscheinlich waren es nicht mehr als zehn Minuten, daß die Mißhandlung dauerte. Wolf Larsen und Johansen waren ganz von ihrem Tun in Anspruch genommen. Sie trafen ihn mit ihren Fäusten, stießen ihn mit ihren schweren Schuhen, schlugen ihn zu Boden und rissen ihn wieder hoch, um ihn von neuem hinzuschleudern. Seine Augen waren geblendet, er konnte nichts sehen. Das Blut rann ihm aus Ohren, Nase und Mund und verwandelte die Kajüte in ein Schlachthaus. Und als er sich nicht mehr erheben konnte, schlugen sie weiter auf den am Boden Liegenden ein.

»Sachte, Johansen, sachte, es ist genug!« sagte Wolf Larsen endlich.

Aber die Bestie war los in dem Steuermann, und Wolf Larsen mußte ihn mit einer Handbewegung beiseitefegen – anscheinend ganz sanft, aber Johansen flog wie ein Kork zurück, und sein Kopf schlug mit einem Knall gegen die Wand. Halb betäubt fiel er zu Boden und blieb einen Augenblick keuchend und blöde blinzelnd liegen.

»Tür auf, Hump!« wurde mir befohlen.

Ich gehorchte, und die beiden Bestien hoben den Ohnmächtigen wie einen Sack Lumpen auf und zwängten ihn die Treppe hinauf und durch die enge Türöffnung an Deck. Das Blut schoß aus seiner Nase in einem scharlachroten Strahl über die Füße des Rudergastes, der kein andrer als Louis, sein Bootssteurer, war. Aber Louis bediente sein Rad und blickte unerschütterlich ins Kompaßhaus.

Anders George Leach, der frühere Kajütsjunge. Auf dem ganzen Schiffe hätte mich nichts so überraschen können wie sein Benehmen. Ohne Befehl kam er nach der Ruff und schleppte Johnson nach vorn, wo er sich mit ihm zu schaffen machte und ihm die Wunden, so gut er konnte, verband. Johnson war nicht mehr als Johnson kenntlich. Und nicht nur das, seine Züge hatten überhaupt jedes menschliche Gepräge verloren, so verzerrt und verschwollen waren sie in der kurzen Zeit, seit er die Kajüte betreten hatte.

Während ich die Kajüte säuberte, hatte Leach sich Johnsons angenommen. Ich kam an Deck, um frische Luft zu schöpfen und zu versuchen, meine erregten Nerven ein wenig zur Ruhe zu bringen. Wolf Larsen rauchte seine Zigarre und untersuchte das Patentlog, das gewöhnlich achtern nachschleppte, aber aus irgendeinem Grunde eingeholt war.

Plötzlich drang Leachs Stimme an mein Ohr. Sie war angestrengt und heiser vor verhaltener Wut. Ich drehte mich um und sah ihn gerade an der Backbordseite der Kombüse neben der Hütte stehen. Sein Gesicht war weiß und verzerrt, seine Augen blitzten, und er hob die geballten Fäuste gegen Wolf Larsen.

»Gott verdamme deine Seele in die Hölle, Wolf Larsen! Die Hölle ist noch zu gut für dich, Feigling, Mörder, Schweinehund!« Mit diesem Gruß begann er. Ich war wie vom Donner gerührt. Ich erwartete seine augenblickliche Vernichtung. Aber Wolf Larsen war nicht in der Laune, ihn zu vernichten. Er schlenderte langsam die Ruff hinab, stützte die Ellbogen auf das Kajütendach und blickte nachdenklich und neugierig den aufgeregten Jungen an.

Und der Junge überschüttete Wolf Larsen mit Anklagen, wie sie ihm noch nie gesagt worden waren. Die Matrosen sammelten sich furchtsam vor der Achterluke, sahen zu und lauschten. Die Jäger drängten sich aus dem ›Zwischendeck‹ heraus, und als Leach auch jetzt noch nicht schwieg, blickten sie besorgt herüber. Selbst sie waren erschrocken, nicht über die furchtbaren Worte des Jungen, sondern über seinen entsetzlichen Wagemut. Es erschien ihnen ganz undenkbar, daß ein lebendes Wesen Wolf Larsen derart Trotz bieten sollte. Ich selbst war erschüttert, so bewunderte ich den Jungen, in dem ich jetzt die herrliche seelische Unüberwindlichkeit sah, die sich über das Fleisch und die Furchtsamkeit des Fleisches erhob, um, wie die alten Propheten, die Ungerechtigkeit zu verfluchen.

Leach wütete wie ein Wahnsinniger. Auf seine Lippen trat seifiger Schaum, und zuweilen ging ihm der Atem aus, daß er nur unartikulierte Laute hervorbringen konnte.

Während dieser ganzen Zeit stand Wolf Larsen ruhig und untätig, auf die Ellbogen gestützt, da und bildete, wie in tiefe Neugier versunken, hinunter.

Jeden Augenblick erwartete ich – und alle mit mir –, daß er sich auf den Jungen stürzen und ihn vernichten würde. Aber in der Laune war er nicht. Seine Zigarre ging aus, und er blickte weiter, stumm und prüfend. Leach hatte sich in eine wahre Ekstase ohnmächtiger Wut verrannt.

»Schwein, Schweinehund! Schweinehund!« wiederholte er immer wieder mit der vollen Kraft seiner Lunge. »Warum kommst du nicht herunter und tötest mich, Mörder? Tu es doch! Ich fürchte mich nicht! Niemand hindert dich! Verdammt, lieber tot als lebendig und in deinen Klauen! Komm doch, Feigling! Töte mich! Töte mich! Töte mich!«

In diesem Augenblick betrat Thomas Mugridge, von seiner ruhelosen Seele getrieben, den Schauplatz. Er hatte an der Kombüsentür gelauscht, kam aber jetzt heraus, vorgeblich, um Abfall über Bord zu werfen, in Wirklichkeit aber, um zu sehen, wie Leach getötet würde, was er bestimmt erwartete. Er schmunzelte in seiner fettigen Art Wolf Larsen zu, der ihn jedoch nicht zu sehen schien. Aber das störte den Cockney nicht. Er wandte sich an Leach:

»Welche Sprache! Pfui Teufel!«

Leachs Wut war nicht mehr ohnmächtig. Hier war ein Gegenstand, an dem er sie auslassen konnte. Und dazu war es das erstemal, daß der Koch ohne sein Messer an Deck erschien, seit er Leach angefallen hatte. Kaum hatte er ausgesprochen, als Leach ihn auch schon zu Boden schlug. Dreimal sprang Mugridge auf und versuchte, die Kombüse zu erreichen, und jedesmal wurde er wieder niedergeschmettert.

»O Gott!« schrie er. »Hilfe! Hilfe! Haltet ihn, hört ihr, haltet ihn!«

Die Jäger lachten aus reiner Erleichterung. Die Tragödie war vorbei, jetzt begann der Schwank. Die Matrosen rotteten sich achtern kühn zusammen, grinsten und schoben sich immer näher, um zu sehen, wie mit dem verhaßten Cockney abgerechnet wurde. Und selbst ich fühlte eine große Freude in mir aufsteigen. Ich gestehe, daß ich mich über die Prügel, die Thomas Mugridge von Leach bekam, freute, obgleich sie schrecklich, fast ebenso schrecklich waren wie die, die Mugridge Johnson verschafft hatte. Aber in Wolf Larsens Gesicht änderte sich nicht eine Miene. Er änderte nicht einmal seine Stellung, sondern blickte weiter mit großer Neugier herab. Trotz all seiner unfehlbaren Gewißheit schien er Spiel und Bewegung des Lebens in der Hoffnung zu beobachten, etwas Neues zu erfahren, in seinen tollsten Zuckungen etwas zu finden, das ihm bisher entgangen war – vielleicht den Schlüssel zu dem Geheimnis, der alles offenbarte. Aber die Prügelei! Sie war ähnlich der, der ich in der Kajüte beigewohnt hatte. Vergebens suchte der Koch sich gegen den rasenden Jungen zu wehren. Und vergebens suchte er die schützende Kombüse zu erreichen. Er rollte, kroch, fiel zu ihr hin, wenn er zu Boden geschlagen wurde. Aber ein Schlag folgte dem andern mit verwirrender Schnelligkeit. Wie ein Federball wurde er hin und her gepufft, bis er endlich, hilflos auf dem Deck liegend, wie Johnson geschlagen und gestoßen wurde. Und keiner legte sich dazwischen. Leach hätte ihn töten können, da aber das Maß seiner Rache offenbar voll war, zog er sich von seinem niedergestreckten Feinde zurück, der winselte und jammerte wie ein Hund, und schritt nach der Back.

Aber diese beiden Scharmützel waren nur die einleitenden Ereignisse des Tagesprogramms. Am Nachmittag fielen Smoke und Henderson über einander her. Schuß auf Schuß knallte im Zwischendeck, gefolgt von einer wilden Flucht der übrigen vier Jäger an Deck. Eine Säule dichten, scharfen Schwarzpulverrauches erhob sich über der Treppe, und hinunter durch sie sprang Wolf Larsen. Beide Männer waren verwundet, und jetzt wurden sie noch dazu von Wolf Larsen verprügelt, weil sie sein Verbot übertreten und sich noch vor Beginn der Jagd kampfunfähig gemacht hatten. Sie waren in der Tat recht erheblich verwundet, und als Wolf Larsen sie verprügelt hatte, ging er als rauher Wundarzt daran, sie zu behandeln und zu verbinden. Ich diente ihm als Assistent, während er die Kugelkanäle sondierte und reinigte, und ich sah, wie die beiden Männer seine rohe Behandlung ohne Betäubungsmittel ertrugen und sich nur durch ein Glas reinen Whiskys aufrecht hielten.

In der ersten Hundewache kam es zu einer Schlägerei im Vorder-Kastel. Ursache war die Angeberei, die die Veranlassung zu Johnsons Schlägen geworden war, und aus dem Lärm, den wir hörten, und den verprügelten Leuten, die wir am nächsten Tage sahen, erkannten wir, daß offenbar die eine Hälfte der Besatzung die andere gründlich vermöbelt hatte.

In der zweiten Hundewache wurde der Tag mit einer Schlacht zwischen Johansen und dem mageren, wie ein Yankee aussehenden Jäger Latimer beendet. Sie wurde herbeigeführt durch einige Bemerkungen Latimers über das Schnarchen des Steuermanns im Schlafe, und obwohl Johansen Prügel bekam, hielt er doch wieder die Back für den Rest der Nacht wach, während er selbst, selig schlummernd, im Traum den Kampf immer wieder ausfocht.

Ich selbst wurde von einem Alp geplagt. Der ganze Tag hatte einem schrecklichen Traum geglichen. Eine Roheit war der andern gefolgt, flammende Leidenschaft und kaltblütige Grausamkeit hatten die Leute getrieben, sie zu Beleidigung, Mord und Totschlag angefacht. Meine Nerven waren zerrüttet, ja, meine Seele war erschüttert. Meine Tage waren vergangen, ohne daß ich etwas von der Bestialität der Menschen geahnt hatte. In der Tat: Ich hatte nur die intellektuellen Seiten des Lebens gekannt. Zwar hatte ich Brutalität gesehen, aber nur die Brutalität des Geistes – Charley Furuseths beißenden Sarkasmus, die grausamen Epigramme und die gelegentlichen rohen Witze der Studenten, wie die boshaften Bemerkungen der Professoren in meiner Studienzeit.

Das war alles. Aber daß ein Mensch seine Wut an einem andern auslassen konnte, indem er ihn zuschanden schlug und ihm das Blut abzapfte, das war etwas seltsam und furchtbar Neues für mich. Und mir schien, daß ich keine Ahnung von dem wirklichen Leben gehabt hatte. Ich lachte bitter und glaubte in Wolf Larsens unheilverkündender Philosophie eine viel treffendere Erklärung für das Leben finden zu können als in meiner eigenen.

Und ich erschrak, als ich mir der Richtung meiner Gedanken bewußt wurde. Die andauernde Roheit in meiner Umgebung hatte eine verderbliche Wirkung. Sie war auf dem besten Wege, das Schönste und Leuchtendste im Leben für mich zu vernichten. Die Vernunft sagte mir, daß die Prügel, die Thomas Mugridge erhalten, etwas Böses waren, und dennoch mußte ich mich bei dem Gedanken daran freuen. Und trotzdem die Ungeheuerlichkeit meiner Sünde mich bedrückte – denn eine Sünde war es –, frohlockte ich in toller Freude. Ich war nicht mehr Humphrey van Weyden. Ich war Hump, der Kajütsjunge, auf dem Schoner ›Ghost‹. Wolf Larsen war mein Kapitän, Thomas Mugridge und die übrigen meine Kameraden, und der Stempel, der ihnen allen aufgeprägt war, hatte auch mich gezeichnet.

Drei Tage lang verrichtete ich neben meiner eigenen Arbeit auch die von Thomas Mugridge, und ich schmeichle mir, daß ich sie gut tat. Ich weiß, daß sie Wolf Larsens Beifall fand, während die Matrosen in der kurzen Zeit meines Regiments vor Zufriedenheit strahlten. »Der erste saubere Bissen, seit ich an Bord bin«, sagte Harrison zu mir, als er mir die Töpfe und Pfannen von der Back wieder an die Kombüsentür brachte. »Tommys Essen schmeckt immer nach ranzigem Fett, und ich wette, er hat, seit wir Frisco verließen, das Hemd nicht gewechselt.«

»Ich weiß, daß er es nicht getan hat«, sagte ich.

»Und ich wette, er schläft sogar damit«, fügte Harrison hinzu.

»Die Wette verlierst du nicht«, stimmte ich ihm lebhaft bei.

»Er hat das Hemd in der ganzen Zeit noch nicht ein einziges Mal vom Leibe gehabt.«

Aber drei Tage waren alles, was Wolf Larsen dem Koch zugestand, um sich von den Wirkungen der erhaltenen Prügel zu erholen. Am vierten wurde er, noch lahm und wund und kaum imstande, die Augen zu öffnen, beim Kragen gepackt und aus seiner Koje zur Arbeit geschleppt. Er jammerte und weinte, aber Wolf Larsen hatte kein Mitleid.

»Und sieh zu, daß du uns keinen solchen Fraß mehr auftischst«, schärfte er ihm zum Schluß ein. »Kein Fett und keinen Dreck, vergiß das nicht, und hin und wieder ein reines Hemd, oder du wirst gekielholt. Verstanden?«

Thomas Mugridge kroch über den Fußboden der Kombüse, und ein kurzer Stoß der ›Ghost‹ brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Bei dem Versuch, es wieder zu erlangen, faßte er nach der eisernen Stange um den Herd, die die Töpfe am Herunterrutschen hindern sollte, griff aber daneben, und seine Hand landete mit ihrer ganzen Fläche auf der heißen Herdplatte. Es zischte, der Geruch von verbranntem Fleisch verbreitete sich, und er stieß ein Schmerzensgeheul aus.

»O Gott, o Gott, was hab' ich getan?« wimmerte er, indem er sich auf den Kohlenkasten setzte und vor Schmerz hin und her rückte. »Warum muß ich so schwer geprüft werden, ich, der keiner Fliege je etwas zuleide getan hat?«

Die Tränen rannen über seine geschwollenen, verfärbten Wangen, und sein Gesicht war vor Schmerz verzogen. Ein wilder Ausdruck fuhr darüber hin.

»Oh, wie ich ihn hasse! Wie ich ihn hasse!« knirschte er. »Wen?« fragte ich, aber der arme Wicht weinte wieder über sein Mißgeschick. Es war weniger schwer zu erraten, wen er haßte, als wen er nicht haßte. Denn immer mehr sah ich in ihm einen boshaften Teufel, der die ganze Welt haßte. Und manchmal dachte ich, daß er sogar sich selber haßte, so schrecklich und unnatürlich war das Leben mit ihm umgesprungen. In solchen Augenblicken konnte Mitleid in mir aufsteigen, und ich schämte mich, daß ich mich je über seine Niederlage und seine Schmerzen gefreut hatte. Das Leben hatte ihm einen gemeinen Streich gespielt, als es ihn zu dem machte, der er war, und seither spielte es ihm einen gemeinen Streich nach dem andern. Welche Möglichkeiten hatte er gehabt, anders zu werden, als er geworden war? Und als ob er meine unausgesprochenen Gedanken beantworten wollte, wimmerte er:

»Ich hab' nie Glück gehabt, nie auch nur das kleinste bißchen Glück! Wer war da, um mich in die Schule zu schicken, mir ein Stück Brot in den hungrigen Schnabel zu stecken oder die blutige Nase zu wischen, als ich noch ein kleiner Junge war? Wer hat je was für mich getan, he? Wer, frage ich?«

»Mach' dir nichts daraus, Tommy«, sagte ich und legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. »Faß Mut. Am Ende wird noch alles gut. Du hast noch ein langes Leben vor dir und kannst aus dir machen, was du willst.«

»Das ist Lüge! Verdammte Lüge!« schrie er mir ins Gesicht und schleuderte meine Hand fort. »Es ist Lüge, und das weißt du. Ich bin aus Resten und Abfall gemacht. Für dich ist es nicht schwer, Hump. Du bist als feiner Herr geboren. Du hast nie erfahren, was es heißt, sich hungrig in Schlaf zu weinen, während dein Magen knurrt, als ob eine Ratte darin säße. Es kann nicht gut werden. Und wenn ich morgen Präsident der Vereinigten Staaten würde, wie könnte das den Hunger stillen, den ich früher gelitten habe?

Wie könnte es wohl? frage ich. Ich bin für Leiden und Sorgen geboren. Ich habe mehr durchgemacht als zehn andere zusammen, jawohl! Ich habe mein halbes Leben im Krankenhaus gelegen. Ich hatte Fieber in Aspinwall in Havanna, in New Orleans. Ich wäre fast an Skorbut gestorben und faulte sechs Monate daran in Barbados. Pocken in Honolulu, beide Beine gebrochen in Schanghai, Lungenentzündung in Alaska, drei gebrochene Rippen und eine innere Quetschung in Frisco. Und jetzt bin ich hier. Schau mich an! Schau mich an! Meine Rippen wieder vom Rücken losgeprügelt. Ich werde Blut spucken, ehe die Sonne wieder aufgeht. Wie sollte das anders für mich werden? frage ich. Wer sollte es gutmachen? Gott? Ach, Gott muß mich gehaßt haben, als er meinen Heuerkontrakt für die Reise durch seine blühende Welt unterschrieb!«

Dieser Ausbruch wider sein Geschick währte eine Stunde oder noch länger, und dann machte er sich, hinkend und stöhnend, und die Augen von Haß gegen die ganze Welt leuchtend, an die Arbeit.

Seine Diagnose war indessen richtig gewesen, denn er wurde von Anfällen gepackt, in denen er Blut brach und starke Schmerzen hatte. Und er schien recht zu haben: Gott haßte ihn zu sehr, um ihn sterben zu lassen, denn er wurde schließlich wieder gesund und war boshafter als je.

Mehrere Tage vergingen noch, ehe Johnson an Deck kroch und mutlos an seine Arbeit ging. Er war noch krank, und mehr als einmal beobachtete ich, wie schmerzhaft es für ihn war, zu einem Toppsegel hinaufzuklettern, und wie er zusammenfiel, wenn er am Steuerrad stand. Aber das Schlimmste war: Sein Mut schien gebrochen. Er kroch vor Wolf Larsen und lag vor Johansen beinahe auf dem Bauche vor Furcht. Anders Leach. Der ging an Deck umher wie ein Tigerjunges und schleuderte offen seine haßerfüllten Blicke auf Wolf Larsen und Johansen.

»Ich werde schon mit dir fertig werden, du plattfüßiger Schwede!« hörte ich ihn eines Nachts auf Deck zu Johansen sagen.

Der Steuermann verfluchte ihn in der Dunkelheit, und im nächsten Augenblick traf irgendein Wurfgeschoß mit scharfem Stoß die Kombüse. Noch einige Flüche ertönten, ein höhnisches Lachen, dann war alles still. Ich stahl mich hinaus und fand ein schweres Messer, das über einen Zoll tief in dem festen Holze steckte. Einige Minuten später kam der Steuermann, tappte herum und suchte es. Aber ich gab es Leach heimlich am nächsten Tage wieder. Er grinste, als ich es ihm reichte, aber in diesem Grinsen lag mehr wahre Dankbarkeit als in dem ganzen Strom schöner Worte von einem meiner eigenen Klasse.

Als einziger von der ganzen Besatzung lebte ich mit allen auf gutem Fuße und stand in aller Gunst. Die Jäger duldeten mich möglicherweise nur, obgleich mich keiner von ihnen haßte. Smoke und Henderson, die als Genesende in Hängematten unter einem über Deck gespannten Sonnensegel lagen, versicherten mir jedoch, ich sei besser als eine Krankenschwester, und sie würden an mich denken, wenn sie am Ende der Reise ihre Löhnung ausbezahlt erhielten. (Als ob ich ihres Geldes bedurft hätte! Ich, der ich den ganzen Schoner mit allem, was an Bord war, hätte kaufen und zwanzigfach bezahlen können!) Aber mir war die Aufgabe zugefallen, ihre Wunden zu pflegen und sie durchzubringen, und ich tat mein Bestes.

Wolf Larsen hatte wieder einen zweitägigen Anfall von Kopfschmerzen. Er mußte schrecklich leiden, denn er rief mich zu sich und gehorchte meinen Anweisungen wie ein krankes Kind. Aber ich konnte nichts tun, um ihm Erleichterung zu schaffen. Auf meine Ermahnung rauchte und trank er jedoch nicht. Wieso ein so prachtvolles Tier wie er überhaupt Kopfschmerzen haben konnte, war mir rätselhaft.

»Es ist Gottes Hand, sage ich dir.« Das war Louis' Auffassung. »Es ist eine Heimsuchung zur Strafe für seine schwarzen Taten, und es wird noch ganz anders kommen, oder – –«

»Oder – –«, forschte ich.

»Oder Gott schläft und versäumt seine Pflicht – obwohl ich das wohl eigentlich nicht sagen dürfte.«

Wenn ich sagte, daß ich mit allen auf gutem Fuße stand, so war das ein Irrtum. Thomas Mugridge fährt nicht nur fort, mich zu hassen, er hat sogar einen neuen Grund für seinen Haß entdeckt. Es dauerte ziemlich lange, bis ich ihn erkannte, aber schließlich wußte ich ihn: Ich war unter einem glücklicheren Stern als ›feiner Herr‹ geboren, wie er sagte.

»Und immer noch kein Toter wieder?« neckte ich Louis, als Smoke und Henderson Seite an Seite in freundschaftlicher Unterhaltung ihren ersten Gang an Deck machten.

Louis betrachtete mich mit einem prüfenden Blick seiner verschmitzten grauen Augen und schüttelte unheilverkündend den Kopf. »Das kommt schon noch, sag' ich dir, und man wird ein Liedchen davon singen können, wenn's erst losgeht. Ich spüre es die ganze Zeit, und jetzt fühle ich es so deutlich, wie ich die Takelung in dunkler Nacht fühle. Es ist nahe, ganz nahe.«

»Wer wird der erste?« fragte ich.

»Nicht der dicke alte Louis, das verspreche ich dir«, lachte er. Denn es steckt mir in den Knochen, daß ich nächstes Jahr um diese Zeit bestimmt in die alten Augen meiner Mutter schauen werde. Nach den fünf Söhnen, die sie bereits der See geschenkt hat, hat sie sich trübe gestarrt.«

»Was wollte er von dir?« fragte Thomas Mugridge mich gleich darauf.

»Er erzählte mir, daß er nach Hause will, um seine Mutter wiederzusehen«, antwortete ich diplomatisch. »Ich hab' nie eine gehabt«, meinte der Cockney und blickte mit matten, hoffnungslosen Augen in die meinen.

Endlich ist mir ein Licht aufgegangen, daß ich die Frauen nie richtig eingeschätzt habe. Obwohl ich nicht in besonderem Maße erotisch veranlagt bin, hatte ich doch nie in einer völlig frauenleeren Atmosphäre gelebt. Mutter und Schwestern waren immer um mich gewesen, und ich hatte ihnen stets zu entrinnen gesucht, denn sie quälten mich bis zur Verzweiflung mit ihrer Sorge um meine Gesundheit und ihren periodischen Einfällen in mein Zimmer, die mein »geordnetes« Durcheinander, auf das ich nicht wenig stolz war, in ein noch größeres, wenn auch dem Auge wohl gefälliges Durcheinander von Unordnung verwandelten. Ich konnte nie etwas wiederfinden, wenn sie mich verlassen hatten. Aber ach, wie willkommen wäre mir jetzt ihre Gegenwart, das Rascheln ihrer Kleider gewesen, das ich so von Herzen verabscheut hatte! Ich bin sicher, daß ich mich, wenn ich je wieder nach Hause kommen sollte, nie wieder über sie ärgern werde. Mögen sie morgens, mittags und abends an mir herumdoktern, Staub wischen und fegen: ich werde nur von meinem Sessel aus still zusehen und dankbar sein, daß ich Mutter und Schwestern habe.

So vieles wundert mich. Wo sind die Mütter dieser zwanzig zusammengewürfelten Männer auf der ›Ghost‹? Es erscheint mir unnatürlich und ungesund, daß sich Männer völlig getrennt von Frauen herdenweise allein durch die Welt treiben sollen. Roheit und Wildheit sind die unvermeidlichen Folgen. Hätten diese Männer um mich Frauen, Schwestern und Töchter, sie würden imstande sein, Sanftmut, Zärtlichkeit und Mitgefühl zu bekunden. Tatsächlich ist nicht einer von ihnen verheiratet. Jahr auf Jahr ist nicht einer von ihnen mit einer guten Frau in Berührung gekommen, hat unter ihrem Einfluß gestanden oder die Erlösung gefunden, die ein solches Geschöpf unweigerlich ausstrahlt. Ihr Leben ist aus dem Gleichgewicht. Ihre Männlichkeit, die schon an sich die eines wilden Tieres ist, hat sich überentwickelt. Die andere, geistige Seite ihres Wesens ist eingeschrumpft – verzehrt.

Es ist eine Gesellschaft von Einsiedlern, die sich scharf aneinander reiben und davon mit jedem Tage hartherziger werden. Mir erscheint es manchmal unglaublich, daß sie Mütter gehabt haben sollen. Es ist fast, als gehörten sie einer Gattung von Halbtieren, Halbmenschen an, einer besonderen, geschlechtslosen Rasse; sie mögen von der Sonne wie Schildkröteneier ausgebrütet oder sonst auf irgendeine Weise zum Leben erweckt sein. Sie müssen ihr ganzes Leben lang in Brutalität und Niedertracht wüten und am Ende ebenso jämmerlich sterben, wie sie gelebt haben.

Diese Gedanken beschäftigten mich, und so sprach ich vergangene Nacht mit Johansen. Es waren die ersten überflüssigen Worte, mit denen er mich seit Beginn der Reise beehrte. Mit 18 Jahren hatte er Schweden verlassen, jetzt ist er 38, und die ganze Zeit war er nicht ein einziges Mal zu Hause. Vor einigen Jahren traf er in einem Seemannsheim in Chile einen Landsmann, und von ihm erfuhr er, daß seine Mutter noch lebte.

»Sie muß jetzt schon eine alte Frau sein«, sagte er, indem er nachdenklich ins Kompaßhaus starrte und dann einen scharfen Blick auf Harrison warf, der einen Strich aus dem Kurs gekommen war.

»Wann haben Sie ihr zuletzt geschrieben?«

Er rechnete laut: »Einundachtzig, nein – – zweiundachtzig, nicht? Nein – – dreiundachtzig – ja, dreiundachtzig. Vor zehn Jahren. Aus einem kleinen Hafen in Madagaskar. Ich fuhr auf einem Handelsschiff. Sehen Sie«, fuhr er fort, als ob er sich über den halben Erdkreis hinweg an seine vernachlässigte Mutter wandte, »jedes Jahr wollte ich heimfahren. Was hatte es da für einen Sinn, zu schreiben? Es dauerte ja nur noch ein Jahr. Und jedes Jahr kam etwas dazwischen, und ich kam nicht nach Hause. Aber jetzt bin ich Steuermann, und wenn ich meine Schulden in Frisco – vielleicht 500 Dollar – abbezahlt habe, dann fahre ich auf einem Segler um Kap Horn nach Liverpool. Damit verdiene ich dann genug für die Überfahrt nach Hause. Dann braucht sie nicht mehr zu arbeiten.« »Arbeitet sie denn jetzt? Wie alt ist sie denn?«

»Um die siebzig«, erwiderte er. Und dann rühmte er sich: »Bei mir zu Hause arbeiten wir von der Geburt bis zum Tode. Daher werden wir so alt. Ich werde hundert.«

Ich werde diese Unterhaltung nie vergessen. Es waren die letzten Worte, die ich ihn sprechen hörte. Vielleicht waren es die letzten, die er überhaupt sprach.

Als ich die Kajüte betrat, war es mir stickig zum Schlafen. Es war eine stille Nacht. Wir befanden uns außerhalb des Bereiches des Passats, und die ›Ghost‹ kam kaum einen Knoten in der Stunde vorwärts. So nahm ich denn eine Decke und ein Kissen unter den Arm und stieg wieder an Deck.

Als ich zwischen Harrison und dem oben auf dem Kajütendach angebrachten Kompaßhaus hindurchschritt, bemerkte ich, daß wir volle drei Strich vom Kurse abgewichen waren. Da ich glaubte, daß der Rudergast schliefe, und ich ihm einen Verweis ersparen wollte, sprach ich ihn an. Aber er schlief nicht. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er vor sich hin. Er schien verwirrt und außerstande zu sein, mir zu antworten. »Was ist denn?« fragte ich. »Bist du krank?«

Er schüttelte den Kopf, und als ob er erwachte, schöpfte er mit einem tiefen Seufzer Atem.

»Du tätest besser, den Kurs zu halten«, schalt ich.

Er griff in die Speichen des Rades, und ich sah, wie sich die Kompaßkarte langsam nach NNW drehte und nach einigen leichten Schwingungen zur Ruhe kam.

Ich nahm mein Bettzeug wieder auf und wollte gerade weitergehen, als eine Bewegung mein Auge fesselte und nach der Reling zurückzwang. Eine sehnige, triefende Hand packte sie. Neben ihr tauchte eine zweite Hand aus der Finsternis auf. Wie verzaubert stand ich da. Was für einen Gast aus der dunklen Tiefe sollte ich sehen? Was für ein Wesen es aber auch sein mochte, so wurde mir jedenfalls klar, daß es mit Hilfe der Logleine an Bord kletterte. Ich sah einen Kopf mit triefendem Haar, dann erschien ein Körper, und nun erkannte ich Augen und Gesicht Wolf Larsens. Seine rechte Backe war rot von Blut, das aus einer Kopfwunde herabfloß.

Mit einer plötzlichen Anstrengung zog er sich an Bord und stand auf den Füßen. Dann warf er einen schnellen Blick auf den Mann am Rade, als wolle er sich überzeugen, wer er sei, und daß von ihm keine Gefahr drohe. Das Seewasser troff von ihm herab mit einem leisen Rieseln, das mich beunruhigte. Als er auf mich zuschritt, wich ich instinktiv zurück, denn ich sah in seinen Augen etwas, das Tod hieß.

»Gut, Hump«, sagte er mit leiser Stimme. »Wo ist der Steuermann?« Ich schüttelte den Kopf.

»Johansen!« rief er leise. »Johansen!«

»Wo ist er?« fragte er Harrison.

Der junge Mann schien seine Fassung wiedererlangt zu haben, denn er antwortete ganz ruhig: »Ich weiß es nicht, Käptn. Vor kurzem sah ich ihn nach vorn gehen.« »Ich war auch vorn. Aber hast du bemerkt, daß ich nicht denselben Weg, den ich ging, wieder zurückkam? Kannst du dir das erklären?«

»Sie müssen über Bord gewesen sein, Käptn.«

»Soll ich im Zwischendeck nach ihm sehen, Käptn?« fragte ich.

Wolf Larsen schüttelte den Kopf. »Sie würden ihn nicht finden, Hump. Aber gehen Sie meinetwegen. Kommen Sie. Lassen Sie Ihr Bettzeug liegen.«

Ich folgte ihm. Nichts regte sich mittschiffs.

»Die verdammten Jäger!« bemerkte er. »Zu dick und faul, um vier Stunden Wache durchzuhalten.«

Auf der Back fanden wir jedoch drei schlafende Matrosen.

Er drehte sie auf den Rücken und blickte ihnen ins Gesicht. Sie bildeten die Deckwache, die Wache selbst pflegte man bei gutem Wetter schlafen zu lassen mit Ausnahme des Offiziers, des Rudergastes und des Mannes im Ausguck.

»Wer hat den Ausguck?« fragte der Kapitän.

»Ich, Käptn«, antwortete Holoyak, einer der Vollmatrosen, mit einem leichten Zittern in der Stimme. »Ich bin diese Minute eingeschlafen, Käptn. Es tut mir leid, Käptn. Es soll nicht wieder vorkommen.«

»Hast du irgend etwas an Deck gehört?«

»Nein, Käptn, ich – –«

Aber Wolf Larsen hatte sich mit einem unzufriedenen Knurren abgewandt, und der Matrose rieb sich die Augen, erstaunt, so leichten Kaufs davongekommen zu sein.

»Still jetzt!« ermahnte mich Wolf Larsen flüsternd, indem er sich bückte und sich anschickte, durch die Luke hinunterzusteigen.

Ich folgte ihm bebenden Herzens. Was geschehen sollte, wußte ich ebensowenig wie, was geschehen war. Aber Blut war geflossen, und Wolf Larsen war nicht selbst auf den Einfall gekommen, mit einem Loch im Kopf über Bord zu klettern. Außerdem fehlte Johansen.

Es war das erstemal, daß ich in die Back hinunterstieg, und ich werde nicht sobald den Eindruck vergessen, den ich empfing, als ich den Fuß auf die Treppe gesetzt hatte. Direkt in den Schiffsraum eingebaut, hatte die Back die Form eines Dreiecks, an dessen Schenkeln die zwölf Kojen in zwei Reihen übereinander angebracht waren. Sie war nicht größer als eine kleine Bodenkammer, und doch mußten zwölf Mann darin essen, schlafen und atmen. Mein Schlafzimmer daheim war nicht groß, aber es hätte gut ein Dutzend derartiger Vorderkastelle, ja, wenn man die Höhe berücksichtigte, das Doppelte fassen können.

Es roch schal und säuerlich, und im Lichte der trüben, hin und her schwingenden Schiffslampe sah ich, daß aller verfügbare Platz bis ins kleinste Eckchen ausgefüllt war mit Seestiefeln, Ölzeug und sauberen und schmutzigen Kleidungsstücken aller Art. Mit jedem Rollen des Schiffes schwang das alles hin und zurück und brachte ein scheuerndes Geräusch hervor, als ob ein Baum sich gegen ein Dach oder eine Wand rieb. Irgendwo stieß ein Stiefel regelmäßig mit lautem Krachen gegen die Wand. Und obgleich es eine ruhige Nacht war, ertönte doch unausgesetzt ein Chor von knarrendem Holz, knirschenden Spanten und unergründlichen Geräuschen unter den Dielen.

Die Schläfer ließen sich nicht stören. Es waren ihrer acht – die beiden unten befindlichen Wachen – die Luft war dick vor Wärme und stinkendem Atem, und das Ohr erfüllte der Lärm ihres Schnarchens, Seufzens und Grunzens, Überbleibsel ihres Tiermenschentums. Aber schliefen sie? Alle? Oder hatten sie geschlafen? Das wollte Wolf Larsen offenbar feststellen; er wollte den finden, der sich nur schlafend stellte oder erst vor kurzem eingeschlafen war. Und er begann die Untersuchung in einer Art, die mich an eine Erzählung des Boccaccio erinnerte.

Er nahm die Lampe aus ihrem schwingenden Halter und reichte sie mir. Bei den beiden ersten Kojen steuerbord begann er. In der oberen lag der Kanake Oofty-Oofty, ein ausgezeichneter Seemann. Er lag auf dem Rücken, schlief fest und atmete so sanft wie eine Frau. Den einen Arm hatte er unter seinen Kopf gelegt, während der andere auf der Decke lag. Wolf Larsen faßte mit Daumen und Zeigefinger sein Handgelenk und fühlte ihm den Puls. Da erwachte der Kanake. Et erwachte ebenso leicht wie er schlief, ohne eine einzige Bewegung seines Körpers. Nur die Augen regten sich. Sie öffneten sich plötzlich ganz weit, groß und schwarz und starrten uns, ohne zu zwinkern, an. Wolf Larsen legte ihm zum Zeichen, daß er schweigen sollte, den Finger auf den Mund, und die Augen schlossen sich wieder.

In der unteren Koje lag Louis, dick, warm und verschwitzt, und schlief einen unverstellbaren, schweren Schlaf. Als Wolf Larsen sein Handgelenk faßte, bewegte er sich unbehaglich und krümmte seinen Körper so, daß er einen Augenblick nur auf Schultern und Fersen ruhte. Seine Lippen bewegten sich, und er murmelte folgende rätselhaften Worte:

»Ein Viertel für einen Schilling, aber biete die Lampen für drei Pence das Stück aus. Sonst hängt sie dir der Wirt für sechs Pence auf.«

Dann drehte er sich mit einem schweren Seufzer auf die Seite und sagte:

»Ein Sechspencestück ist ein Tanner, und ein Schilling ist ein Bob, aber was ein Pony ist, weiß ich nicht.«

Befriedigt schritt Wolf Larsen weiter zu den beiden nächsten Kojen an der Steuerbordseite, in denen, wie wir beim Schein der Lampe sahen, oben Leach und unten Johnson lagen.

Als Wolf Larsen sich zur unteren Koje niederbeugte, um Johnson den Puls zu fühlen, sah ich, der ich aufrecht stand und die Lampe hielt, wie Leach verstohlen den Kopf hob und über den Rand der Koje herabblickte, um zu sehen, was vorging. Er mußte wohl die Absicht Wolf Larsens durchschaut und erkannt haben, daß eine Entdeckung unumgänglich war, denn im selben Augenblick wurde mir die Lampe aus der Hand geschleudert, und das Vorderkastell war in Finsternis gehüllt. Gleichzeitig mußte er auf Wolf Larsen heruntergesprungen sein.

Das erste nun folgende Geräusch war wie das eines Kampfes zwischen einem Stier und einem Wolfe. Ich hörte ein wütendes Gebrüll von Wolf Larsen und ein Knurren von Leach, das verzweifelt und haarsträubend klang. Johnson muß ihm sofort zu Hilfe gekommen sein, so daß sein untertäniges, kriecherisches Wesen in den letzten Tagen nichts als Verstellung gewesen war. Ich war so entsetzt über diesen Kampf im Dunkeln, daß ich mich zitternd gegen die Treppe lehnte und nicht imstande war, hinaufzugehen. Ich hatte wieder das alte Gefühl in der Magengrube, das mich stets beim Anblick von Gewalttätigkeiten überkam. In diesem Falle konnte ich zwar nichts sehen, aber ich hörte das dumpfe Geräusch der Schläge, den klatschenden Ton, der entsteht, wenn Fleisch auf Fleisch prallt. Dann hörte ich den krachenden Zusammenstoß von Körpern, schwere Atemzüge und kurze rasche Schmerzensausbrüche.

Es mußten sich wohl noch andere an der Verschwörung gegen Kapitän und Steuermann beteiligen, denn aus den verschiedenen Geräuschen erkannte ich, daß Leach und Johnson schnell Verstärkung von ihren Kameraden erhalten hatten.

»Ein Messer her!« schrie Leach.

»Zerschlag ihm den Kopf! Zerquetsch ihm das Gehirn!« rief Johnson.

Aber nach dem ersten Gebrüll machte Wolf Larsen keinen Lärm mehr. Grimmig und stumm kämpfte er um sein Leben. Er war arg in der Klemme. Im ersten Augenblick war er zu Boden geworfen, und es war ihm nicht möglich, wieder auf die Beine zu kommen. Ich fühlte, daß er trotz seiner ungeheuren Kraft keine Hoffnung hatte.

Ich erhielt selbst einen deutlichen Begriff von der Gewalt des Kampfes, denn ich wurde von den umherwirbelnden Körpern zu Boden geschleudert und bös gequetscht. Aber es gelang mir, in der Verwirrung in eine leere Unterkoje zu kriechen, wo ich mich in Sicherheit befand.

»Alle her! Wir haben ihn! Wir haben ihn!« konnte ich Leach rufen hören.

»Wen?« fragten die, welche wirklich geschlafen hatten und jetzt, sie wußten nicht wie, geweckt worden waren. »Den blutigen Steuermann«, antwortete Leach listig. Diese Auskunft wurde mit einem Freudengeheul begrüßt, und jetzt waren sieben starke Mann über Wolf Larsen. Ich glaube, Louis beteiligte sich nicht am Kampfe. Die Back glich einem Bienenstock, dessen wütende Insassen durch einen Eindringling aufgescheucht waren.

»Was ist denn los da unten?« hörte ich Latimer durch die Luke herunterrufen. Er war zu vorsichtig, um in diese Hölle der Leidenschaften herabzusteigen, die er in der Finsternis toben hörte.

»Kann denn niemand ein Messer finden? Ein Messer, ein Messer!« flehte Leach in einem Augenblick verhältnismäßiger Ruhe.

Die große Zahl der Angreifer verursachte Verwirrung. Sie hinderten sich gegenseitig, ihre Kräfte zu entfalten, während Wolf Larsen, der nur ein Ziel kannte, dadurch gewann. Dieses Ziel war, sich bis zur Luke durchzuschlagen. Obgleich völlige Finsternis herrschte, konnte ich durch das Geräusch seine Fortschritte verfolgen. Endlich hatte er die Treppe erreicht, und was er jetzt tat, vermochte nur ein Riese zu tun. Zoll für Zoll zog er sich, allein durch die Kraft seiner Arme, aus dem Haufen von Männern heraus, die ihn umklammert hielten, und richtete sich auf, bis er auf den Füßen stand. Und dann arbeitete er sich, Stufe um Stufe, mit Händen und Füßen die Treppe hinauf.

Das allerletzte sah ich. Denn Latimer, der endlich eine Laterne geholt hatte, hielt sie so, daß sie die Treppe hinableuchtete. Wolf Larsen mußte beinahe oben sein, wenn ich ihn auch nicht sehen konnte. Allein sichtbar war der Klumpen von Männern, die sich an ihn klammerten. Der Klumpen zappelte wie eine ungeheure Spinne mit vielen Beinen und schwankte hin und her mit dem Rollen des Schiffes. Aber Zoll um Zoll, mit langen Pausen dazwischen, hob sich der Klumpen. Einmal taumelte er und schien herabzustürzen, aber er gewann den verlorenen Halt wieder und kroch weiter. »Wer ist da?« rief Latimer.

Im Schein der Lampe konnte ich sein bestürztes Gesicht herabblicken sehen.

»Larsen«, hörte ich eine gedämpfte Stimme inmitten des Klumpens.

Latimer streckte die freie Hand herab. Ich sah eine andere Hand emporschnellen und die seine packen. Latimer zog, und die nächsten Stufen wurden im Sturm genommen. Dann streckte sich die andere Hand Wolf Larsens empor und umklammerte den Rand der Luke. Der Klumpen pendelte zurück, und die Treppe war frei, während die Männer noch an dem fliehenden Feinde hingen. Sie begannen abzufallen, einige wurden von dem scharfen Lukenrand abgefegt, andere mit den Füßen fortgestoßen. Leach war der letzte, der losließ. Er fiel kopfüber auf seine am Boden krabbelnden Kameraden. Wolf Larsen und die Laterne verschwanden, und wir blieben im Dunkeln zurück.

Fluchen und Jammern ertönten, als die Männer am Fuße der Treppe wieder auf die Füße zu kommen versuchten.

»Kann nicht jemand ein Streichholz anzünden, mein Daumen ist ausgerenkt«, rief einer der Leute, namens Parsons, ein dunkelhäutiger, melancholischer Mann, Standishs Steuerer – in demselben Boot, dessen Puller Harrison war.

»Die liegen irgendwo am Mastfuß herum«, sagte Leach und setzte sich auf den Rand seiner Koje, in der ich mich verkrochen hatte.

Man suchte nach Streichhölzern, dann wurde eines angezündet, und die Lampe flackerte auf, trübe und rauchig. In ihrem geisterhaften Schein bewegten sich barfüßige Männer und sahen nach ihren Wunden. Oofty-Oofty packte Parsons Daumen, zog daran und ließ ihn wieder ins Gelenk schnappen. Dabei bemerkte ich, daß der Knöchel des Kanaken aufgeschlitzt und der Knochen bloßgelegt war. Er zeigte die Wunde und erklärte mit einem Grinsen, das seine prachtvollen Zähne zeigte, er hätte sie bekommen, als er Larsen auf den Mund schlug.

»Also du warst es, du schwarzer Schurke?« fragte Kelly kriegerisch. Er war ein geborener Irländer, ein Leichtmatrose, der seine erste größere Reise machte und Kerfoots Puller war.

Bei dieser Frage spuckte er eine Handvoll Blut und Zähne aus und drängte sich mit streitsüchtiger Miene an Oofty-Oofty heran. Der Kanake sprang in seine Koje, war mit einem zweiten Satz wieder da und schwang ein langes Messer.

»Ach, leg' dich nieder, sonst setzt es was«, mischte Leach sich hinein. Trotz seiner Jugend und Unerfahrenheit gab er offenbar in der Back den Ton an. »Geh, Kelly, laß Oofty in Ruhe. Wie sollte er denn im Dunkeln erkennen, daß du es warst?«

Kelly murmelte noch etwas und beruhigte sich dann, während der Kanake dankbar lächelnd die weißen Zähne fletschte. Er war ein schönes Geschöpf und wirkte beinahe weiblich durch die angenehmen Linien seiner Gestalt, Sanftmut und Verträumtheit lagen in seinen großen Augen, die seinen wohlverdienten Ruf für Streit- und Rauflust Lügen zu strafen schienen.

»Wie ist er entwischt?« fragte Johnson.

Er saß auf dem Rande seiner Koje, seine ganze Stellung drückte äußerste Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit aus. Er atmete noch schwer von der Anstrengung. Das Hemd war ihm im Kampfe völlig vom Leibe gerissen, und das Blut troff ihm aus einer klaffenden Wunde in der Backe auf die nackte Brust herab, zeichnete eine rote Bahn auf seinem weißen Schenkel und tropfte auf den Boden.

»Weil er der Teufel selber ist, wie ich immer gesagt habe«, meinte Leach, dann sprang er, wütend über die Enttäuschung und mit Tränen in den Augen, auf.

»Und nicht einer von euch konnte ein Messer bringen!« klagte er immer wieder.

Aber die andern hatten große Furcht vor den zu erwartenden Folgen und achteten nicht auf ihn.

»Wie kann er wissen, wer's war?« fragte Kelly und sah sich mit einem blutgierigen Blick um, »es sei denn, daß einer von euch aus der Schule schwatzte.«

»Er braucht euch ja nur anzusehen«, entgegnete Parsons, »ein Blick genügt ihm.«

»Erzähl' ihm, daß das Deck hochprellte und dir die Zähne aus dem Maule schlug'«, grinste Louis. Er war der einzige, der nicht aus seiner Koje herausgekommen war, und er freute sich, weil er keine Wunden hatte, die verraten konnten, daß er bei dieser Nachtarbeit beteiligt gewesen. »Wartet nur, bis er eure Fratzen morgen gesehn hat«, gluckste er.

»Wir sagen, daß wir ihn für den Steuermann hielten«, meinte einer. Und ein andrer: »Ich weiß, was ich sagen werde: daß ich Lärm hörte, aus der Koje sprang, zum Dank für meine Mühe eins aufs Maul kriegte und so in die Geschichte hineingezerrt wurde. Ich konnte nicht sehen, was und wer es war, und schlug um mich.« »Und da hast du mich natürlich getroffen«, fiel Kelly ein, und sein Gesicht hellte sich einen Augenblick auf. Leach und Johnson beteiligten sich nicht an der Unterhaltung, es war klar, daß ihre Kameraden sie als Leute ansahen, für die das Schlimmste unvermeidlich, ja, deren Lage ganz hoffnungslos war, und die bereits als tot zu betrachten waren. Eine Weile hörte Leach ihre Befürchtungen und Vorwürfe mit an. Dann aber brach er los:

»Ihr langweilt mich! Schöne Genossen seid ihr! Wenn ihr etwas weniger geschwatzt und etwas mehr getan hättet, dann wäre es jetzt geschafft. Warum konnte mir nicht einer, nur ein einziger, ein Messer geben, als ich danach rief? Jetzt jammert und klagt ihr, als ob er euch totschlagen würde, wenn er euch erwischte! Ihr wißt verdammt gut, daß er das nicht tun wird. Er kann es gar nicht. Hier gibt es keinen Heuerbas, und er braucht euch bei seinem Geschäft, ihr seid ihm unentbehrlich. Wer sollte pullen und steuern und Segel setzen, wenn er euch verlöre? Ich und Johnson werden die Suppe auszulöffeln haben. Jetzt geht in eure Kojen und haltet den Mund, ich möchte ein bißchen schlafen.« »Das ist schon richtig, ganz richtig«, meinte Parsons. »Mag sein, daß er uns nichts tut, aber denkt an meine Worte: Von heute an wird dieses Schiff ein Zuchthaus sein.«

Die ganze Zeit war ich mir über meine eigene schwierige Lage klar gewesen. Was geschah, wenn die Leute meine Gegenwart entdeckten? Ich konnte mich nicht durchschlagen wie Wolf Larsen. Und in diesem Augenblick rief Latimer durch die Luke herab:

»Hump! Der Alte braucht dich!«

»Hier ist er nicht!« rief Parsons zurück.

»Doch, er ist hier!« sagte ich und bemühte mich, meine Stimme fest erklingen zu lassen.

Die Matrosen blickten mich bestürzt an. Starke Furcht prägte sich auf ihren Zügen aus, und daneben die Folge der Furcht: Teufelei.

»Ich komme!« rief ich Latimer zu.

»Nein, das wirst du nicht!« rief Kelly und trat zwischen mich und die Treppe, während seine Rechte sich in eine Klaue verwandelte, die bereit war, mich zu erwürgen. »Du verdammter kleiner Duckmäuser! Ich werde dir das Maul stopfen.«

»Laß ihn gehen!« befahl Leach.

»Nein, und wenn es das Leben gälte«, lautete die zornige Erwiderung.

Leach blieb unverändert auf dem Rande seiner Koje sitzen. »Laß ihn gehen, sage ich!« wiederholte er; aber diesmal war seine Stimme kernig und metallisch.

Der Ire schwankte. Ich machte Miene, vorbeizuschreiten, und er trat beiseite. Als ich die Treppe erreicht hatte, wandte ich mich gegen diesen Kreis brutaler und bösartiger Gesichter, die mich im Halbdunkel anstarrten. Ein plötzliches tiefes Mitgefühl wallte in mir auf. Ich erinnerte mich der Anschauung des Cockney: Wie mußte Gott sie hassen, daß sie so gepeinigt wurden!

»Ich habe nichts gesehen oder gehört, glaubt mir!« sagte ich ruhig.

»Ich sage euch, es ist in Ordnung«, hörte ich Leachs Stimme, als ich die Treppe hinaufstieg. »Er liebt den Alten nicht mehr als ihr und ich.«

Ich fand Wolf Larsen in der Kajüte, entkleidet und blutig. Er wartete auf mich und begrüßte mich mit seinem seltsamen Lächeln.

»Kommen Sie und machen Sie sich an die Arbeit, Doktor. Sie scheinen die besten Aussichten für eine ausgedehnte Praxis auf dieser Reise zu haben. Ich weiß nicht, was ohne Sie aus der ›Ghost‹ geworden wäre, und wenn ich sogenannter edler Gefühle fähig wäre, würde ich Ihnen versichern, daß Ihr Kapitän Ihnen außerordentlich dankbar sei.«

Ich kannte den einfachen Arzneikasten der ›Ghost‹ und während ich Wasser auf dem Kajütofen wärmte und alles für die Behandlung der Wunden Nötige bereitmachte, ging er lachend und plaudernd auf und ab und betrachtete prüfend seine Verletzungen. Ich hatte ihn noch nie entblößt gesehen, und der Anblick seines Körpers benahm mir fast den Atem. Es war nie meine Schwäche gewesen, das Fleisch zu sehr zu preisen – weit entfernt. Aber es steckte genug von einem Künstler in mir, um seine Wunderwerke anzuerkennen.

Ich muß gestehen, daß die vollkommenen Linien von Wolf Larsens Gestalt und das, was ich ihre furchtbare Schönheit nennen möchte, mich faszinierten. Ich hatte die Männer im Vorderkastell beobachtet. So kräftige Muskeln auch einige von ihnen hatten, irgend etwas stimmte nie: eine ungenügende Entwicklung hier, eine zu starke dort, eine Biegung oder Krümmung, die die Symmetrie störte, zu kurze oder zu lange Beine, zuviel oder zuwenig hervortretende Knochen. Oofty-Oofty war der einzige, dessen Linien wirklich ansprechend waren, aber er wirkte zu weiblich.

Wolf Larsen hingegen war der Mann in seiner Vollkommenheit, beinahe ein Gott. Wenn er sich bewegte oder die Arme hob, sprangen und regten sich die starken Muskeln unter der feinen glatten Haut, ich vergaß zu bemerken, daß das Braun sich auf sein Gesicht und seinen Hals beschränkte. Sein Körper war, dank seiner skandinavischen Herkunft, so weiß wie der einer zarten Frau. Ich weiß noch, wie er die Hand hob, um seine Kopfwunde zu befühlen, und wie der Bizeps sich wie ein lebendiges Wesen unter einer weißen Hülle bewegte. Dieser Bizeps war es, der mir kürzlich beinahe das Leben herausgepreßt, den ich so viele tödliche Schläge hatte austeilen sehen. Ich konnte die Augen nicht von ihm lassen. Reglos stand ich da und ließ ein Päckchen Watte, das ich in der Hand hielt, sich aufrollen und zu Boden fallen.

Er sah sich nach mir um, und ich wurde mir bewußt, daß ich dastand und ihn anstarrte.

»Gott hat Sie schön geschaffen«, sagte ich.

»Wirklich?« antwortete er. »Ich habe oft dasselbe gedacht und mir den Kopf zerbrochen, warum?«

»Absicht –«, begann ich.

»Zweckmäßigkeit«, unterbrach er mich. »Dieser Körper ist zum Gebrauch geschaffen. Diese Muskeln sind gemacht, um zuzupacken, um zu zerreißen und zu vernichten, was sich zwischen mich und das Leben stellt. Aber haben Sie an andre Lebewesen gedacht? Auch sie haben Muskeln irgendwelcher Art, um zu packen, zu zerreißen und zu vernichten. Wenn sie aber zwischen mich und das Leben treten, so übertreffe ich sie im Packen, Zerreißen und Vernichten. Eine Absicht erklärt dies nicht, wohl aber die Zweckmäßigkeit.«

»Das ist nicht schön«, wandte ich ein.

»Das Leben ist nicht schön, meinen Sie«, lächelte er. »Und doch sagen Sie, ich sei schön geschaffen. Sehen Sie her!«

Er spreizte die Beine und preßte die Zehen gegen den Kajütsboden, als wolle er ihn damit packen. Knoten, Klüfte und Berge von Muskeln spielten unter seiner Haut. »Fühlen Sie!« befahl er.

Sie waren hart wie Stahl. Sein ganzer Körper hatte sich, straff und geschmeidig, unbewußt zusammengezogen, die Muskeln streckten sich sanft über Lenden, Rücken und Schultern, die Arme waren leicht erhoben, ihre Muskeln zogen sich zusammen, die Finger krümmten sich, daß die Hände Klauen glichen, und selbst die Augen hatten ihren Ausdruck gewechselt, und die Schärfe und Wachsamkeit eines Raubtieres leuchtete aus ihnen.

»Festigkeit und Gleichgewicht«, sagte er und entspannte seinen Körper wieder. »Füße, um sich am Boden zu halten, Beine, um festzustehen und Widerstand zu leisten, wenn ich mit Armen, Händen, Zähnen und Nägeln zu töten versuche, um nicht selbst getötet zu werden. Absicht? Zweckmäßigkeit ist ein besseres Wort.«

Ich widersprach ihm nicht. Ich hatte den Mechanismus einer primitiven kämpfenden Bestie gesehen, und er machte einen Eindruck auf mich wie die Maschinen eines großen Kriegsschiffes oder eines Ozeandampfers. Wenn ich an den heißen Kampf im Vorderkastell dachte, war ich überrascht von der Oberflächlichkeit seiner Verletzungen, und ich glaube sagen zu dürfen, daß ich sie gut pflegte. Mit Ausnahme einiger häßlicher Wunden waren es nur tüchtige Beulen und Schrammen. Den Schlag, den er auf den Kopf erhalten hatte, ehe er über Bord flog, hatte seine Schädeldecke mehrere Zoll breit bloßgelegt. Ich reinigte die Wunde und nähte sie nach seiner Anweisung zusammen, nachdem ich die Wundränder rasiert hatte. Dann hatte er einen schlimmen Riß in der Wade, der aussah, als hätte sich eine Bulldogge hinein verbissen. Zu Beginn des Kampfes hatte, wie er mir erzählte, ein Matrose mit den Zähnen zugepackt und festgehangen, bis er ihn die Treppe mit hinaufzerrte, wo er sich freigetreten hatte.

»Ja, wie gesagt, Hump, Sie sind ein brauchbarer Mensch«, begann Wolf Larsen, als ich mit meiner Arbeit fertig war. »Wie Sie wissen, fehlt uns ein Steuermann. Von jetzt an übernehmen Sie die Wache, erhalten fünfundsiebzig Dollar monatlich und werden vorn und achtern Herr van Weyden angeredet.«

»Ich – verstehe nichts von Navigation, das wissen Sie doch«, keuchte ich.

»Gar nicht nötig.«

»Ich mache mir wirklich nichts aus einer solchen Beförderung«, wandte ich ein. »Ich finde das Leben schwer genug in meiner jetzigen bescheidenen Stellung. Ich habe keine Erfahrung. Alle Mittelmäßigkeit hat ihre Grenzen.«

Er lächelte, als wäre die Sache abgemacht.

»Ich will nicht Steuermann auf diesem Höllenschiff sein!« rief ich trotzig.

Ich sah sein Gesicht hart werden und den unbarmherzigen Schimmer in seine Augen treten. Er ging in seinen Schlaf räum, indem er sagte:

»Und jetzt, Herr van Weyden, gute Nacht.«

»Gute Nacht, Herr Larsen«, unterbrach ich schwach.

Ich kann nicht behaupten, daß die Stellung als Steuermann mir einen andern Vorteil gebracht hätte, als daß ich nicht mehr Geschirr abzuwaschen brauchte. Ich wußte nicht das geringste von den elementarsten Pflichten eines Steuermanns, und es würde mir schlecht ergangen sein, hätte ich nicht die Zuneigung der Matrosen besessen. Ich wußte nichts von Tauen und Takelung, nichts von Segeln und Segelsetzen. Aber die Matrosen bemühten sich, mich anzuweisen – namentlich Louis war ein tüchtiger Lehrer –, und meine Untergebenen machten mir keine Schwierigkeiten.

Anders die Jäger. Mehr oder minder mit dem Leben zur See vertraut, nahmen sie mich für eine Art Spaß. Zwar konnte ich es selbst nicht ernst nehmen, daß ich, die ausgemachteste Landratte, das Amt des Steuermanns bekleiden sollte, wenn aber andere einen nicht ernst nehmen, ist das etwas anderes. Ich beklagte mich nicht, aber Wolf Larsen forderte die pünktlichste Innehaltung der Schiffsetikette in bezug auf mich – in weit höherem Maße, als er es bei dem armen Johansen getan, und nachdem er ein paar von ihnen verprügelt und sie eindringlich ermahnt und bedroht hatte, kamen die Jäger zur Vernunft. Ich war vorn und achtern Herr van Weyden, und nur inoffiziell geschah es wohl, daß Wolf Larsen mich noch Hump nannte.

Es war ganz unterhaltend. Während wir bei Tische saßen, schlug zum Beispiel der Wind um, und wenn ich dann aufstand, sagte er: »Herr van Weyden, würden Sie die Güte haben, nach Backbord umzulegen.« Und ich ging an Deck, rief Louis zu mir und ließ mir von ihm sagen, was zu tun war. Wenn ich dann seine Anweisungen verdaut und das Manöver verstanden hatte, ging ich daran, meine Befehle auszuteilen. Ich erinnere mich eines der ersten Fälle dieser Art. Als ich gerade meine Befehle erteilen wollte, erschien Wolf Larsen auf der Szene. Er rauchte seine Zigarre und schaute ruhig zu, dann kam er nach achtern und stellte sich neben mich an die Ruff. »Hump«, sagte er, »Verzeihung: Herr van Weyden, ich gratuliere. Jetzt können Sie Ihrem Vater die Beine ins Grab zurückschicken. Sie haben Ihre eigenen entdeckt und gelernt, auf ihnen zu stehen. Noch ein bißchen Arbeit in den Tauen, einige Übung im Segelsetzen und etwas Erfahrung bei Sturm, und Sie können am Ende der Reise auf jedem Küstenfahrer anheuern.«

In dieser Zeit, zwischen Johansens Tod und der Ankunft in den Robbengründen, verlebte ich meine angenehmsten Tage auf der ›Ghost‹. Wolf Larsen war ganz rücksichtsvoll, die Matrosen halfen mir, und ich kam nicht in diese aufreizende Berührung mit Thomas Mugridge. Und ich muß offen gestehen, daß ich, wie die Tage schwanden, einen gewissen heimlichen Stolz zu fühlen begann. In dieser phantastischen Lage – eine Landratte als Nächstkommandierender – hielt ich mich doch ganz gut, und ich wurde bald selbstbewußt und gewann das Heben und Senken der ›Ghost‹ lieb, die sich unter meinen Füßen ihren Weg durch die tropische See nach der kleinen Insel in Nordwesten bahnte, wo wir unsere Wasserfässer füllen sollten.

Aber mein Glück war nicht ungemischt. Es war nur eine verhältnismäßig weniger unglückliche Periode, die sich zwischen das große Elend von Vergangenheit und Zukunft eingeschlichen hatte. Denn die ›Ghost‹ war für die Matrosen ein Höllenschiff schlimmster Art. Sie hatten nie einen Augenblick Ruhe oder Frieden. Wolf Larsen bezahlte sie für ihren Überfall und die Prügel, die ihm in der Back zuteil geworden waren. Und morgens, mittags, abends und nachts widmete er sich der Aufgabe, ihnen das Leben unerträglich zu machen.

Er kannte die Psychologie der Kleinigkeiten nur zu gut, und mit Kleinigkeiten trieb er die Mannschaft bis an den Rand des Wahnsinns. Ich war Zeuge, wie Harrison aus der Koje geholt wurde, um einen an den falschen Platz gelegten Pinsel richtig hinzulegen, und zwei von der Wachmannschaft aus dem Schlaf geweckt wurden, um mitzugehen und zu sehen, ob er es richtig machte. Eine Kleinigkeit, wohl wahr, wenn aber ein so erfinderischer Kopf tausenderlei erdenkt, so kann man sich den Geisteszustand der Leute in der Back leicht vorstellen.

Natürlich wurde beständig gemurrt, und immer fanden kleine Ausbrüche statt. Schläge wurden ausgeteilt, und zwei bis drei Mann mußten stets die Verletzungen pflegen, die ihnen von der Hand ihres Herrn, dieser menschlichen Bestie, zugefügt worden waren. Offene Meuterei war nicht möglich angesichts des bedeutenden Waffenarsenals im Zwischendeck und in der Kajüte. Leach und Johnson waren die auserwählten Opfer der teuflischen Einfälle Wolf Larsens, und der Ausdruck tiefster Schwermut, der sich auf Johnsons Gesicht und in seinen Augen zeigte, ließ mein Herz bluten.

Anders Leach. In ihm steckte zuviel von einem kämpfenden Raubtier. Er schien von einer unersättlichen Wut besessen, die ihm nicht Zeit ließ, sich seinem Kummer hinzugeben. Seine Lippen waren zu einem beständigen Knurren verzerrt, das sich beim bloßen Anblick Wolf Larsens zu einem furchtbaren, drohenden und, ich glaube, ihm ganz unbewußten Ton verstärkte. Ich habe beobachtet, wie er Wolf Larsen, wie ein wildes Tier seinem Wächter, mit den Augen folgte, während das tierische Knurren tief aus seiner Kehle kam und zwischen den Zähnen zitterte.

Ich erinnere mich, wie ich einmal an Deck bei helllichtem Tage seine Schulter von hinten berührte, um ihm einen Befehl zu erteilen. Im selben Augenblick sprang er in einem Satz von mir weg, indem er knurrte und im Sprunge den Kopf wandte. Er hatte mich für den Verhaßten gehalten.

Er sowohl wie Johnson würde Wolf Larsen bei der ersten Gelegenheit getötet haben, aber die Gelegenheit kam nie. Wolf Larsen war zu klug, und außerdem hatten sie keine entsprechenden Waffen. Mit ihren Fäusten hatten sie keine Chance. Immer wieder kam es zum Kampf zwischen Wolf Larsen und Leach, der sich stets wie eine Wildkatze mit Zähnen, Nägeln und Fäusten wehrte, bis er erschöpft oder ohnmächtig auf dem Deck lag. Und er war stets zu neuem Kampf bereit. Der Teufel in ihm forderte den Teufel in Wolf Larsen heraus. Sie brauchten nur gleichzeitig an Deck zu erscheinen, so waren sie auch schon fluchend, knurrend und kämpfend aneinander, und ich habe Leach gesehen, wie er sich ohne Warnung und ohne Anlaß auf Wolf Larsen stürzte. Einmal schleuderte er sein schweres griffestes Messer und verfehlte Wolf Larsens Kehle nur um einen Zoll. Ein andermal ließ er einen stählernen Marlpfriem vom Besanbaum herunterfallen, auf einem rollenden Schiffe ein schwerer Wurf, aber die scharfe Spitze, die aus einer Höhe von 75 Fuß durch die Luft sauste, verfehlte den Kopf Wolf Larsens, der gerade von der Kajütstreppe kam, um nur zwei Zoll und bohrte sich tief in die feste Deckplanke ein. Ein drittes Mal stahl er sich ins Zwischendeck, setzte sich in den Besitz eines geladenen Gewehrs und schlich sich damit auf Deck, wurde aber von Kerfoot überrascht und entwaffnet.

Ich wunderte mich oft, daß Wolf Larsen ihn nicht tötete und der Sache damit ein Ende machte. Aber er lachte nur, und es schien ihn zu belustigen.

»Es kitzelt,« erklärte er mir, »wenn das Leben nur an einem Haar hängt. Der Mensch ist von Natur aus Spieler, und das Leben ist der höchste Einsatz, den man hat. Je größer die Gefahr, desto mehr kitzelt es. Warum sollte ich mir die Freude rauben, Leachs Seele bis zur Fieberglut zu erhitzen? Übrigens erweise ich ihm damit einen Freundschaftsdienst. Das Gefühl ist gegenseitig. Er führt ein königlicheres Dasein als irgendeiner von der Mannschaft, wenn er es auch nicht weiß. Denn er hat, was die andern nicht haben, ein Ziel, eine Aufgabe, die ihn ganz erfüllt: den Wunsch, mich zu töten, und die Hoffnung, daß ihm dies glücken werde. Wirklich, Hump, er lebt auf den Höhen des Lebens. Ich zweifle, daß er je so frisch und mutig gelebt hat, und beneide ihn zuweilen ehrlich, wenn ich ihn auf dem Gipfel der Leidenschaft und des Gefühls rasen sehe.«

»Ach, das ist feige, feige«, rief ich. »Sie haben ja das Übergewicht.«

»Wer ist der größere Feigling von uns beiden, Sie oder ich?« fragte er ernsthaft. »Die Situation ist unerfreulich, und da schließen Sie ein Kompromiß mit Ihrem Gewissen. Wenn Sie wirklich groß, wenn Sie wahr gegen sich selbst wären, so würden Sie gemeinsame Sache mit Leach und Johnson machen. Aber Sie fürchten sich. Sie wollen leben. Das Leben in Ihnen schreit heraus, daß es leben muß, koste es, was es wolle. Und daher leben Sie unwürdig, werden Ihren besten Träumen untreu, versündigen sich gegen all Ihre jämmerlichen Lehren und schicken Ihre Seele schnurstracks in die Hölle, falls es eine geben sollte. Pah! Ich spiele ein tapferes Spiel. Ich sündige nicht, denn ich bleibe meinen Lebensanschauungen treu.«

Was er sagte, traf mich. Vielleicht war ich wirklich feige, und je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr erschien es mir als meine Pflicht, zu tun, was er mir geraten hatte: gemeinsame Sache mit Leach und Johnson zu machen, um ihn zu beseitigen. Der Gedanke ließ mich nicht los. Es mußte eine gute Tat sein, die Welt von diesem Ungeheuer zu befreien. Die Menschheit würde besser und glücklicher, das Leben schöner und lieblicher dadurch werden.

Ich erwog es lange, lag wach in meiner Koje und ließ die Tatsachen nochmals in endloser Prozession an mir vorbeiziehen. Während der Nachtwachen, wenn Wolf Larsen unten war, sprach ich mit Johnson und Leach. Beide hatten die Hoffnung aufgegeben – Johnson aus Mutlosigkeit, Leach, weil er sich in dem vergeblichen Ringen erschöpft hatte. Aber eines Nachts ergriff er leidenschaftlich meine Hand und sagte:

»Sie sind rechtschaffen, Herr van Weyden. Aber bleiben Sie, wo Sie sind, und halten Sie den Mund. Wir beide, Johnson und ich, sind verloren, ich weiß es – aber vielleicht wird es Ihnen doch eines Tages möglich sein, uns einen Dienst zu erweisen, wenn wir es verdammt nötig haben.«

Ich hatte die Hoffnung gehegt, daß seine Opfer eine Gelegenheit zur Flucht finden würden, wenn wir die Wasserfässer füllten, aber Wolf Larsen hatte seine Maßregeln getroffen. Die ›Ghost‹ lag eine halbe Meile vor der Brandung, und dahinter war öder Strand, den eine wilde Bergschlucht mit steilen vulkanischen, unersteigbaren Wänden abschloß. Und hier, unter seiner eigenen Aufsicht – denn er ging selbst mit an Land –, füllten Leach und Johnson die kleinen Fässer und rollten sie zum Wasser hinab. Sie hatten keine Gelegenheit, mit Hilfe eines Bootes ihre Freiheit zu gewinnen.

Harrison und Kelly jedoch machten einen Fluchtversuch. Sie befanden sich in einem der Boote und hatten die Aufgabe, mit je einem Faß zwischen Strand und Schoner hin und her zu rudern. Gerade vor dem Mittagessen, als sie mit einem leeren Faß an Land fuhren, änderten sie plötzlich den Kurs nach links, um hinter das Vorgebirge zu kommen, das sich zwischen ihnen und der Freiheit aus dem Meere erhob. Jenseits der schäumenden Fläche lagen die hübschen Dörfer der japanischen Kolonisten und lächelnde Täler, die sich weit ins Innere erstreckten. Waren sie erst dort, so konnte Wolf Larsen sich den Mund nach ihnen wischen.

Ich hatte bemerkt, daß Henderson und Smoke den ganzen Morgen auf Deck herumlungerten, und jetzt erfuhr ich den Zweck. Sie nahmen ihre Büchsen und eröffneten lässig ein Feuer auf die Flüchtlinge. Es war eine kalte Darbietung ihrer Schießkunst. Zuerst hüpften ihre Kugeln harmlos über den Wasserspiegel zu beiden Seiten des Bootes, als aber die Leute weiter ruderten, trafen sie immer näher.

»Paß auf: jetzt nehme ich Kellys rechten Riemen«, sagte Smoke, indem er sorgfältig zielte.

Ich sah durch das Glas, wie das Ruderblatt durch seinen Schuß zersplittert wurde. Henderson wählte sich Harrisons rechten Riemen zum Ziel. Das Boot drehte sich. Einen Augenblick später waren auch die beiden andern Riemen zerschossen. Die Leute versuchten mit den Stümpfen zu rudern, aber sie wurden ihnen aus den Händen geschossen. Kelly brach eine Bodenplanke los und begann damit zu paddeln, ließ sie aber mit einem Schmerzensruf fallen, als die Splitter ihm in die Hand drangen. Jetzt gaben sie es auf und ließen das Boot treiben, bis ein zweites Boot, das Wolf Larsen vom Strande schickte, sie ins Schlepptau nahm und an Bord brachte.

Spät am Nachmittage lichteten wir die Anker und fuhren weiter. Vor uns lagen drei bis vier Monate Jagd in den Robbengründen. Diese Aussicht war in der Tat trübe, und ich ging schweren Herzens an meine Arbeit. Eine Art Grabesstimmung schien sich auf die ›Ghost‹ herabgesenkt zu haben. Wolf Larsen hatte sich, von seinen merkwürdigen, betäubenden Kopfschmerzen gepackt, in seine Koje zurückgezogen. Harrison stand teilnahmslos am Rad, halb darauf gestützt, als drücke ihn sein eigenes Gewicht zu Boden. Die übrige Mannschaft war mürrisch und schweigsam. Ich überraschte Kelly, der, den Kopf auf den Knien und die Arme um den Kopf, in einer Haltung unaussprechlicher Niedergeschlagenheit neben der Achterluke zusammengebrochen war.

Johnson fand ich seiner ganzen Länge nach auf dem äußersten Rande der Back liegend, wo er unverwandt in den aufgewühlten Schaum unter sich starrte. Ich versuchte, die düsteren Gedanken des Mannes abzulenken, indem ich ihn zu mir rief, aber er lächelte mich nur traurig an und weigerte sich, zu gehorchen. Als ich nach achtern ging, näherte sich Leach mir.

»Ich möchte Sie um etwas bitten, Herr van Weyden«, sagte er. »Wollen Sie, wenn Sie je das Glück haben sollten, Frisco wiederzusehen, Matt McCarthy aufsuchen? Er ist mein Vater. Er wohnt auf dem Hügel, gleich hinter der Mayfair-Bäckerei, und betreibt eine Schuhflickerwerkstatt, die jeder kennt, Sie werden ihn ohne Schwierigkeiten finden. Sagen Sie ihm, daß ich lange genug gelebt habe, um all die Sorge zu bereuen, die ich ihm bereitet habe, und – Gott segne ihn.«

Ich nickte, sagte aber: »Wir werden alle nach San Francisco zurückkehren, Leach, und du wirst mit dabei sein, wenn ich Matt MacCarthy besuche.«

»Ich möchte es gern glauben«, antwortete er, indem er mir die Hand schüttelte, »aber ich kann nicht. Wolf Larsen bringt mich um, das weiß ich, und ich hoffe, daß er es schnell tut.«

Und als er mich verließ, spürte ich denselben Wunsch in mir selber. Es geschah ja doch, also dann lieber schnell. Die allgemeine Finsternis hatte auch mich eingehüllt. Das Schlimmste schien unvermeidlich. Und wie ich Stunde auf Stunde an Deck auf und ab schritt, war mir, als hätten mich die abstoßenden Gedanken Wolf Larsens angesteckt. Wozu das alles? Wo war die Größe des Lebens, wenn es eine so maßlose Vernichtung menschlicher Seelen zulassen konnte? Alles in allem war dieses Leben etwas Billiges, Nichtiges, und je eher es vorbei war, desto besser. Auch ich lehnte mich über die Reling und starrte sehnsüchtig ins Meer hinab, sicher, daß ich früher oder später versinken mußte in dieser kühlen, grünen Tiefe der Vergessenheit.

Merkwürdigerweise ereignete sich trotz den allgemeinen Ahnungen nichts Besonderes auf der ›Ghost‹. Wir liefen weiter nach Norden und Westen, bis wir die japanische Küste erreichten und die großen Robbenherden fanden. Sie kamen durch den unendlichen Ozean – niemand wußte woher – auf ihren alljährlichen Wanderungen nach den Paarungsplätzen an der Beringsee. Und nach Norden fuhren wir, mordend und vernichtend, indem wir die geschundenen Körper den Haien überließen und die Häute einsalzten, damit sie später die schönen Schultern der Städterinnen schmücken konnten.

Es war Massenmord, und alles um des Weibes willen. Niemand aß das Fleisch oder gebrauchte den Tran. Nach einem guten Jagdtage war das ganze Deck mit Fellen und Körpern übersät und schlüpfrig von Fett und Blut, durch die Speisegatten floß ein roter Strom, und Masten, Tauwerk und Reling waren blutbespritzt. Die Männer verrichteten ihr Handwerk wie Schlächter, mit bloßen, roten Armen und großen Messern in den Händen, um die schönen Seetiere, die sie getötet hatten, ihrer Felle zu berauben.

Ich hatte die Aufgabe, die Felle nachzuzählen, wenn sie von den Booten an Deck geschafft wurden, das Häuten und später die Säuberung des Decks zu beaufsichtigen. Es war keine erfreuliche Arbeit. Seele und Magen empörten sich dagegen. Und doch tat mir diese Arbeitsleistung und der Befehl über viele Männer gut. Meine Entschlossenheit entwickelte sich, und ich merkte, daß ich ausdauernd und abgehärtet wurde. Eines begann ich zu fühlen, daß ich nie wieder derselbe werden konnte, der ich gewesen war. Überlebten auch meine Hoffnung und mein Glaube an das menschliche Leben immer noch Wolf Larsens vernichtende Kritik, so hatte er dennoch Veränderungen in weniger wichtigen Dingen bei mir verursacht. Er hatte mir die Welt der Wirklichkeit geöffnet, von der ich bisher tatsächlich nichts gewußt, und die ich immer gescheut hatte. Ich hatte gelernt; das Leben, wie es wirklich war, näher zu betrachten, zu erkennen, daß es etwas auf der Welt gab, das Tatsachen hieß, sich zu befreien von der Herrschaft des Geistes und der Gedanken und einen gewissen Wert zu legen auf die greifbaren, gegenständlichen Seiten des Daseins.

Als wir die Jagdgründe erreicht hatten, sah ich Wolf Larsen mehr denn je. Denn wenn das Wetter schön war und wir uns inmitten einer Herde befanden, waren alle Mann in den Booten, und nur er und ich sowie Thomas Mugridge, der nicht zählte, blieben an Bord. Aber das war keine Erholung für mich. Die sechs Boote zerstreuten sich fächerförmig vom Schoner, bis das äußerste Luv- und Leeboot zehn bis zwanzig Meilen voneinander entfernt waren, dann kreuzten sie und jagten, bis die Nacht hereinbrach oder schlechtes Wetter sie zur Umkehr zwang. Unsere Aufgabe war es, die ›Ghost‹ in Lee des letzten Leebootes zu steuern, so daß alle Boote günstigen Wind hatten, wenn sie uns bei drohendem Unwetter erreichen wollten.

Es ist keine Kleinigkeit für zwei Mann, namentlich bei steifem Wind, ein Fahrzeug wie die ›Ghost‹ zu führen, zu steuern, Ausschau nach den Booten zu halten und Segel zu setzen und zu streichen. Daher galt es für mich, zu lernen, und schnell zu lernen. Das Steuern erfaßte ich leicht, aber in die Takelung zu klettern und nur durch die Kraft meiner Arme mein ganzes Gewicht hinaufzuschwingen, wenn ich die Wanten verließ, um noch höher zu gehen, war schon viel schwerer. Aber auch das lernte ich rasch, denn ich spürte in mir den heißen Wunsch, vor Wolf Larsen zu bestehen, mein Recht am Leben auf andern Wegen als denen des Geistes zu beweisen. Ja, es kam die Zeit, da es mir geradezu eine Freude machte, die Bewegungen der Mastspitze zu fühlen und mich mit den Beinen festzuklammern, während ich durch das Glas das Meer nach den Booten absuchte.

Ich erinnere mich eines Tages, als die Boote früh ausfuhren, wie das Knallen der Büchsen immer ferner und schwächer klang und schließlich ganz erstarb, je weiter sie sich über das Meer zerstreuten. Es wehte ganz schwach aus Westen, aber der Wind schlief völlig ein, gerade als wir in Lee der Boote angelangt waren. Eines nach dem andern – ich sah es von der Mastspitze aus – verschwanden die sechs Boote hinter der Rundung der Erde, indem sie die Robben westwärts verfolgten. Wir lagen, nur ganz schwach in der stillen See rollend und außerstande, die Boote einzuholen. Wolf Larsen war ernst. Das Barometer fiel, und der Himmel im Osten gefiel ihm nicht. Er studierte ihn mit ununterbrochener Wachsamkeit.

»Wenn es dort«, sagte er, »plötzlich losbricht und uns in Luv von den Booten treibt, kann es leicht leere Kojen in Zwischendeck und Back geben.«

Gegen elf Uhr war die See blank wie Glas geworden. Um Mittag war die Hitze, obwohl wir uns hoch im Norden befanden, erstickend. Nicht ein Lüftchen wehte. Es war schwül und drückend, und ich erinnerte mich des kalifornischen Ausdrucks ›Erdbebenwetter‹. Etwas Unheilverkündendes war darin, und man hatte das unerklärliche Gefühl, daß das Schlimmste bevorstand. Langsam füllte sieh der östliche Himmel mit Wolken, die uns wie ein schwarzes Gebirge der Höllenregion überragten. So deutlich konnte man Schlünde, Schluchten und Abgründe mit ihren Schatten unterscheiden, daß man unwillkürlich nach der weißen Brandungslinie ausschaute und auf ihr Brüllen lauschte. Und immer noch schaukelten wir sanft in der Windstille.

»Das ist keine Bö«, sagte Wolf Larsen. »Die alte Mutter Natur ist daran, sich auf die Hinterbeine zu stellen und loszulegen, und wir können froh sein, Hump, wenn die Hälfte unsrer Boote durchkommt. Sie täten am besten, nach oben zu gehen und die Toppsegel loszumachen.«

»Aber wenn es losbricht, und wir sind nur zwei hier?« fragte ich mit einem Klang von Protest in der Stimme. »Na, wir wollen tun, was wir können, und den ersten Anprall benutzen, um unsere Boote zu erreichen, ehe unsere Leinwand in Fetzen geht. Was dann geschieht, dafür gebe ich keinen Deut. Die Hölzer werden schon halten, und das werden wir beide auch, wenn es auch eine harte Nuß für uns wird.«

Immer noch hielt die Stille an. Wir aßen zu Mittag. Es war eine hastige, ängstliche Mahlzeit mit dem Gedanken an die achtzehn Mann draußen auf See hinter dem Horizont und die himmelhohen Wolkenberge, die langsam näher zogen. Wolf Larsen schien indessen ganz unbekümmert, nur beobachtete ich, als wir an Deck zurückkehrten, ein schwaches Zittern der Nasenflügel und eine spürbare Unrast in seinen Bewegungen. Sein Gesicht war starr, die Linien hart geworden, und doch lag in seinen Augen – blau und klar waren sie an diesem Tage – ein seltsamer Schimmer, ein helles funkelndes Licht. Ich war überrascht, ihn von einer grimmigen Fröhlichkeit gepackt zu sehen, er schien sich zu freuen auf den bevorstehenden Kampf, durchschauert, gehoben zu werden durch das Bewußtsein, daß einer der großen Augenblicke bevorstand, in denen die Ebbe des Lebens zur Flut schwillt.

Ohne zu ahnen, daß er es tat, oder daß ich es sah, lachte er einmal laut, spöttisch und herausfordernd dem nahenden Sturm entgegen. Noch jetzt sehe ich ihn vor mir wie einen Zwerg aus ›Tausendundeiner Nacht‹ vor dem ungeheuren Antlitz eines bösen Geistes. Er trotzte dem Geschick und fürchtete sich nicht.

Er schritt nach der Kombüse. »Köchlein, wenn du fertig bist mit deinen Töpfen und Pfannen, wirst du auf Deck gebraucht. Halt dich bereit, wenn du gerufen wirst.«

»Hump,« sagte er, als er den bewundernden Blick bemerkte, den ich auf ihn warf, »das ist besser als Whisky, und da versagen auch Ihre Dichter.«

Der westliche Himmel war unterdessen finster geworden. Die Sonne war verdunkelt und unsern Blicken entzogen. Es war zwei Uhr nachmittags, und ein geisterhaftes Zwielicht hatte sich, hier und dort von purpurnen Strahlen durchschossen, auf uns herabgesenkt. In diesem purpurnen Licht erglühte das Gesicht Wolf Larsens, und meine aufgeregte Phantasie umgab ihn mit einem Heiligenschein. Wir lagen inmitten einer unirdischen Stille, während alles um uns Töne und Bewegung verkündete. Die drückende Hitze war unerträglich geworden. Der Schweiß stand mir auf der Stirn, und ich fühlte ihn an meiner Nase herabträufeln. Mir war, als sollte ich ohnmächtig werden, und ich griff nach der Reling, um einen Halt zu finden. Und gerade da kam ein ganz, ganz schwaches Lüftchen. Es kam von Osten, kam wie ein leises Säuseln und ging wieder. Die schlaffen Segel bewegten sich nicht, und doch hatte mein Gesicht den Luftzug gespürt und eine Kühlung empfunden.

»Köchlein«, rief Wolf Larsen mit leiser Stimme. Thomas Mugridge erschien mit einer erbarmenswert kläglichen Miene. »Nimm die Focktalje und halt sie quer, und wenn die Schoot glatt geht, dann ist es gut, und du kommt hübsch mit der Talje her. Und wenn du Unsinn machst, dann wird es der letzte sein, den du je gemacht hast. Verstanden?«

»Herr van Weyden, halten Sie sich fertig, die Vorsegel übergehen zu lassen. Dann springen Sie nach oben und breiten die Toppsegel aus, so schnell es mit Gottes Hilfe geschehen kann – –, je schneller Sie machen, desto leichter geht es. Und wenn der Koch nicht fix macht, dann geben Sie ihm eins zwischen die Augen. Ich verstand das Kompliment und war froh, daß keine Drohungen meine Unterweisungen begleiteten. Wir lagen hart nach Nordwest, und es war seine Absicht, beim ersten Windstoß zu halsen.

»Wir kriegen die Brise in die Dillen«, erklärte er mir. »Nach den letzten Schüssen müssen die Boote sich nach südwärts gewandt haben.«

Er drehte sich um und schritt nach achtern ans Rad. Ich ging nach vorn und stellte mich an den Klüver. Ein zweites Lüftchen kam und ging, und noch eines. Die Leinwand schwang sich träge.

»Gott sei Dank, es kommt nicht auf einmal, Herr van Weyden!« lautete der inbrünstige Stoßseufzer des Cockneys.

Und ich war in der Tat dankbar, denn ich hatte inzwischen genug gelernt, um zu wissen, was für ein Unglück geschehen konnte, wenn in einem solchen Falle alle Segel gesetzt waren. Das Säuseln wurde zu Windstößen, die Segel blähten sich, die ›Ghost‹ bewegte sich. Wolf Larsen packte das Rad, drehte es hart nach Backbord, und wir begannen abzufallen. Der Wind kam jetzt direkt von achtern, knurrend und mit immer stärkeren Stößen, daß meine Toppsegel lustig flatterten. Ich sah nicht, was anderswo vorging, wenn ich auch an dem plötzlichen Rollen und Überkrengen des Schoners und an dem Umstand, daß der Wind jetzt von der andern Seite kam, merkte, daß Fock- und Großsegel herumgeschwungen waren. Ich hatte alle Hände voll zu tun mit Klüver und Stagsegel, und als dieser Teil meiner Aufgabe gelöst war, sprang die ›Ghost‹ nach Südwest, den Wind in den Dillen, und alle Schoote steuerbord. Ohne Atem zu schöpfen – obwohl mein Herz vor Anstrengung wie ein Hammerwerk schlug – sprang ich zu dem Toppsegel hinauf, und ehe der Wind zu stark geworden war, hatten wir sie gesetzt und standen wieder auf Deck. Dann ging ich nach achtern, um weitere Befehle entgegenzunehmen.

Wolf Larsen nickte beifällig und überließ mir das Rad. Der Wind nahm beständig zu, und die See stieg. Eine Stunde lang steuerte ich, und in dieser Stunde wurde es mit jedem Augenblick schwerer. Ich hatte keine Übung, bei der Schnelligkeit, mit der wir jetzt fuhren, und mit dem Wind in den Dillen, zu steuern. »Jetzt gehen Sie mit dem Glas nach oben und sehen Sie, einige von den Booten zu finden. Wir haben wenigstens zehn Knoten gemacht und machen jetzt zwölf bis dreizehn. Das alte Mädel weiß, was es zu tun hat.« Ich kletterte auf die vorderen Dwarssalinge, einige siebzig Fuß über dem Deck. Wie ich über die weite Fläche vor mir blickte, wurde mir die Notwendigkeit klar, daß wir eilen mußten, wenn wir überhaupt noch jemand von der Mannschaft finden wollten. Beim Anblick der schweren See, die wir durchfuhren, zweifelte ich tatsächlich, daß sich noch ein Boot auf dem Meere befand. Es schien mir unmöglich, daß ein so gebrechliches Fahrzeug diesem Ansturm von Wind und Wogen widerstehen könnte.

Ich konnte die volle Gewalt des Sturmes nicht fühlen, denn wir liefen mit ihm; aber von meinem luftigen Sitze sah ich auf die ›Ghost‹ hinunter und sah ihre Form sich im Fahren scharf von der schäumenden See abheben. Zuweilen hob sie sich und durchschnitt eine schwere Woge, daß die Steuerbordreling verschwand und das Deck bis zu den Luken von dem kochenden Ozean bedeckt war. Dann konnte ich infolge des Rollens nach Luv plötzlich mit schwindelerregender Schnelligkeit durch die Luft sausen, als ob ich am Ende eines ungeheuren, umgekehrten Pendels hing, dessen Schwingungen siebzig Fuß oder noch mehr betrugen.

Einmal überwältigte mich das Entsetzen über dies schwindelnde Kreisen, und sekundenlang klammerte ich mich mit Händen und Füßen an, schwach und zitternd, unfähig, das Meer nach den vermißten Booten abzusuchen, und ohne etwas anderes von ihm zu wissen, als daß es brüllend unter mir die ›Ghost‹ zu überwältigen suchte.

Aber der Gedanke an die Männer dort draußen rüttelte mich auf, und in der Suche nach ihnen vergaß ich mich selber. Eine Stunde lang sah ich nichts als das öde, trostlose Meer. Da erblickte ich an einer Stelle, wo ein unsteter Lichtstrahl den Ozean traf und die Oberfläche in schäumendes Silber verwandelte, einen kleinen schwarzen Punkt, der in einem Augenblick himmelwärts geschleudert wurde und dann verschwand. Ich wartete geduldig. Wieder tauchte der schwarze Punkt in dem silbernen Gischt, ein paar Striche backbord vorm Bug, auf. Ich versuchte nicht erst zu rufen, sondern übermittelte Wolf Larsen die Nachricht durch Schwingen der Arme. Er änderte den Kurs, und als der Punkt sich jetzt gerade voraus zeigte, signalisierte ich, daß es stimmte.

Der Punkt wuchs, und zwar so schnell, daß ich erst jetzt unserer eigenen Schnelligkeit ganz innewurde. Wolf Larsen machte mir Zeichen, hinunterzukommen, und als ich neben ihm am Rade stand, unterwies er mich, wie ich brackbassen sollte.

»Machen Sie sich darauf gefaßt, daß die ganze Hölle losbricht«, warnte er mich, »aber kümmern Sie sich nicht darum. Sie haben Ihre Arbeit zu tun und lassen Köchlein an der Fockschoot stehen.«

Ich bahnte mir meinen Weg nach vorn, aber es war kein großer Unterschied, welche Seite ich benutzte, da die Luvreling genau wie die Leeseite unter Wasser begraben wurde. Nachdem ich Thomas Mugridge angewiesen hatte, was er tun sollte, kletterte ich einige Fuß hoch in die vordere Takelung. Das Boot war jetzt ganz nahe, und ich konnte genau sehen, wie es mit dem Bug gerade im Winde lag und Mast und Segel über Bord geworfen hatte und treiben ließ, um sie als Seeanker zu benutzen. Die drei Männer schöpften das Wasser aus. Jede Woge entzog sie dem Blick, und ich wartete erregt und von der Furcht gepackt, sie nie wieder auftauchen zu sehen. Das Boot konnte plötzlich auf einem schäumenden Wellenkamm in die Luft schießen, daß der Bug himmelwärts zeigte und ich den ganzen Boden sah, bis es auf dem Heck zu stehen schien. Dann sah ich einen Augenblick die mit wahnsinniger Hast schöpfenden Männer. In der nächsten Sekunde stürzte das Boot vornüber in das gähnende Tal, und die ganze Seite mit dem Achterende stand senkrecht in die Luft. Jedesmal, wenn es wieder zum Vorschein kam, erschien es mir wie ein Wunder.

Die ›Ghost‹ änderte plötzlich ihren Kurs und hielt ab, und mich durchfuhr der Gedanke, Wolf Larsen könne die Rettung als unmöglich aufgegeben haben. Dann aber sah ich, daß er sich fertig machte, beizudrehen, und sprang aufs Deck, um bereit zu sein. Wir lagen jetzt gerade vor dem Wind, und das Boot befand sich in der gleichen Höhe wie wir. Ich fühlte, wie wir plötzlich stillstanden, eine schnelle, drehende Bewegung, und wir fuhren gerade in den Wind hinein. Als wir im rechten Winkel lagen, packte uns der Wind (dem wir bisher weggelaufen waren) mit voller Gewalt. Unglücklicherweise kehrte ich ihm zufällig das Gesicht zu. Wie eine Mauer prallte er gegen mich an und füllte mir die Lunge mit Luft, die ich nicht imstande war, auszuatmen. Ich wollte ersticken – da krengte die ›Ghost‹ nach vorn über, und in diesem Augenblick sah ich, wie eine ungeheure See sich hoch über meinem Kopfe erhob. Ich wandte mich seitwärts, schöpfte tief Atem und blickte wieder hin. Die Woge überragte die ›Ghost‹, und ich blickte gerade zu ihr empor. Ein Sonnenstrahl streifte den brechenden Rand, und ich sah einen halb durchsichtigen, grünen Schimmer mit milchiger Schaumkante.

Dann kam sie herab. Die Hölle brach los – alles geschah auf einmal. Ich erhielt einen zermalmenden, betäubenden Schlag, der mich jedoch nicht an einer bestimmten Stelle, sondern am ganzen Körper traf. Ich verlor den Halt, ich war unter Wasser, und mir fuhr der Gedanke durch den Kopf, daß jetzt das Furchtbare kam: ich sollte über Bord gespült werden! Mein Körper wurde hilflos hin und her, um und um geschleudert, gestoßen und zerhämmert, und als ich den Atem nicht länger anhalten konnte, drang mir das beißende Salzwasser in die Lunge. Aber in allem hatte ich nur einen Gedanken: den Klüver nach Luv bringen. Ich hatte keine Furcht vor dem Tode. Ich zweifelte nicht, daß ich irgendwie durchkommen mußte. Und während der Gedanke, Wolf Larsens Befehl auszuführen, ununterbrochen meinem betäubten Bewußtsein vorschwebte, schien mir, als könnte ich ihn mitten in dem wilden Chaos am Rade stehen sehen, wie er seinen Willen dem Sturm entgegenstemmte und ihm Trotz bot.

Ich stieß hart gegen etwas, das ich für die Reling hielt, und atmete wieder frische Luft. Ich versuchte, mich zu erheben, stieß mir aber heftig den Kopf und wurde auf Hände und Füße zurückgeschleudert. Durch einen glücklichen Zufall war ich unter den Backkopf und in eine Tauschlinge gefegt worden. Als ich auf allen vieren herauskroch, stieß ich auf Thomas Mugridge, der als ein stöhnendes Häufchen Elend dalag. Aber ich hatte keine Zeit zu verlieren, ich mußte den Klüver nach Luv bringen.

Als ich wieder nach vorn kam, schien das Ende gekommen. Auf allen Seiten ertönte Knirschen und Krachen von Holz, Eisen und Leinwand. Die ›Ghost‹ wurde zerrissen und zerfetzt. Fock und Toppsegel, die bei dem Manöver aus dem Wind gekommen waren und aus Mangel an Leuten nicht rechtzeitig geborgen werden konnten, rissen mit Donnerkrachen in Fetzen, während der schwere Baum von Reling zu Reling schlug und zersplitterte. Die Luft war schwarz von Schiffstrümmern; losgerissene Taue und Stags zischten und wanden sich wie Schlangen, und mitten in das Gewirr krachte die Fockgaffel.

Der Baum konnte mich nur um wenige Zoll verfehlt haben, und das brachte mich wieder zur Besinnung. Vielleicht war die Lage doch noch nicht hoffnungslos. Ich erinnerte mich der Worte Wolf Larsens. Er hatte erwartet, daß die Hölle losbrechen würde, und nun war es so weit. Aber wo war er? Ich erblickte ihn, wie er das Großsegel mit seinen entsetzlichen Muskeln einholte. Das Heck des Schoners hob sich hoch in die Luft, und ich sah seinen Körper sich gegen eine weiße Sturzsee abzeichnen, die schnell vorbeischoß. Alles dies, und vielleicht noch mehr – eine ganze Welt von Chaos und Trümmern – sah, hörte und begriff ich in vielleicht fünfzehn Sekunden.

Ich hielt mich nicht damit auf, zu sehen, was aus dem kleinen Boot geworden war, sondern sprang an den Klüver. Der begann zu flattern, straffte sich und erschlaffte mit scharfem Knattern. Aber durch Anziehen der Schoot und mit Aufbietung aller meiner Kräfte brachte ich ihn langsam zurück, indem ich immer einen Augenblick benutzte, wenn er schlaff war. Das weiß ich: Ich tat mein Bestes. Ich zog, daß mir das Blut unter den Nägeln herausspritzte, und während ich arbeitete, rissen Außenklüver und Stagsegel donnernd in Fetzen.

Immer weiter hahlte ich, das Gewonnene mit einer Doppelschlinge haltend, bis ich beim nächsten Schlaffwerden weiterzog. Dann gab der Klüver plötzlich leichter nach; Wolf Larsen stand neben mir und hahlte allein weiter, während ich das Segel festmachte.

»Machen Sie schnell!« rief er laut, »und kommen Sie!« Ich folgte ihm und bemerkte, daß trotz Vernichtung und Verderben noch eine gewisse Ordnung herrschte. Die ›Ghost‹ drehte bei. Sie war immer noch seetüchtig. Waren auch die andern Segel fort, so hielt sich das Schiff, da der Klüver nach Luv gebracht und das Großsegel flach niedergeholt war, doch noch mit dem Bug gegen die wütende See.

Ich blickte mich nach dem Boote um, und während Wolf Larsen die Bootstalje klarmachte, sah ich, wie es sich in Lee, keine zwanzig Fuß entfernt, auf einer großen Woge hob. Und so genau hatte Wolf Larsen seine Maßnahmen berechnet, daß wir gerade darauf zutrieben, so daß wir nichts zu tun hatten, als die Taljen an jedem Ende einzuhaken und das Boot an Bord zu heißen. Aber das war leichter gesagt als getan. Im Bug stand Kerfoot, während Oofty-Oofty am Heck und Kelly mittschiffs standen. Als wir näher trieben, wurde das Boot von einer Woge gehoben, und wir sanken in das Wellental, bis ich gerade vor mir die drei Männer die Köpfe beugen und nach uns auslugen sah. Im nächsten Augenblick wurden wir gehoben und emporgeschwungen, während sie tief hinabsanken. Es mußte fast ein Wunder geschehen, wenn die nächste See nicht die ›Ghost‹ auf die winzige Eierschale niederschmettern sollte.

Aber da warf ich dem Kanaken, Wolf Larsen vorn Kerfoot das Tau zu. Beide Taue waren in einem Nu eingehakt, und die drei Männer nahmen gewandt den richtigen Augenblick und sprangen gleichzeitig an Bord des Schoners. Als die ›Ghost‹ sich jetzt seitwärts überlegte, wurde das Boot an der Schiffswand aus dem Wasser gehoben, und ehe wir wieder hinüberkrengten, hatten wir es schon an Bord geheißt und kieloben auf das Deck gelegt. Ich bemerkte, daß Kerfoots linke Hand von Blut troff. Sein Mittelfinger war zu Brei zerquetscht worden. Aber er gab kein Zeichen des Schmerzes und half uns mit der rechten Hand, das Boot auf seinem Platz festzumachen.

»Bring' den Klüver rüber, Oofty!« befahl Wolf Larsen, als wir eben mit dem Boot fertig waren. »Kelly, komm nach achtern und laß das Großsegel locker! Und du, Kerfoot, geh nach vorn und sieh, was aus Köchlein geworden ist! Herr van Weyden, gehen Sie nach oben und schneiden Sie alles lose Zeug weg, das Ihnen in die Quere kommt!«

Und nachdem er seine Befehle erteilt hatte, sprang er in seiner eigentümlichen, tigerhaften Weise nach achtern zum Rade. Während ich mühsam die Wanten zum Fockmast hinaufkletterte, setzte sich die ›Ghost‹ langsam in Bewegung. Als wir diesmal ins Wellental sanken und von Sturm und See herumgeschleudert wurden, konnten keine Segel mehr eingeholt werden, und auf halbem Wege zu den Dwarssalingen wurde ich durch die Gewalt des Windes so gegen die Takelung gepreßt, daß es mir unmöglich gewesen wäre, zu fallen. Die ›Ghost‹ lag fast ganz auf der Seite, und die Masten standen parallel zum Wasser, so daß ich, wenn ich das Deck der ›Ghost‹ sehen wollte, nicht hinunter, sondern beinahe im rechten Winkel blicken mußte. Aber ich sah das Deck gar nicht, denn dort, wo es hätte sein sollen, war nichts als kochendes Wasser, aus dem nur zwei Masten herausragten; das war alles. Einen Augenblick war die ›Ghost‹ ganz unter dem Meere begraben. Als sie jetzt allmählich vor den Wind ging und der seitliche Druck geringer wurde, richtete sie sich langsam auf, und ihr Deck durchbrach wie ein Walrücken die Meeresfläche.

Dann rasten wir über die wilde stürmische See, während ich wie eine Fliege in den Salingen hing und nach den andern Booten ausspähte. Nach einer halben Stunde sichtete ich das zweite. Es trieb kieloben, und Jock Horner, der dicke Louis und Johnson klammerten sich verzweifelt daran fest. Diesmal blieb ich in der Takelung, und es gelang Wolf Larsen, beizudrehen, ohne den Halt zu verlieren. Wie zuvor trieben wir hin. Taljen wurden festgemacht und Taue den Männern zugeworfen, die wie Affen an Bord kletterten. Das Boot selbst wurde, als es an Bord gezogen wurde, an der Schiffswand zerschmettert, aber das Wrack befestigten wir sicher, denn es konnte ausgebessert und wieder seeklar gemacht werden.

Wieder drehte sich die ›Ghost‹ in den Wind, und diesmal tauchte sie so tief ins Meer, daß ich einige Sekunden dachte, sie würde nie wieder zum Vorschein kommen. Selbst das Steuerrad, das ein ganz Teil höher als das Mitteldeck angebracht war, verschwand immer wieder unter den Wellen. In solchen Augenblicken hatte ich ein seltsames Gefühl, allein mit Gott zu sein, allein mit ihm und dem Chaos, das sein Zorn verursacht hatte. Dann tauchte das Rad wieder auf, und dahinter die breiten Schultern Wolf Larsens, seine Hände, die in die Spaken griffen und den Schoner in den Kurs zwangen, den er wollte. Er selbst ein irdischer Gott, der den Sturm beherrschte, das herabstürzende Wasser von sich abschleuderte und sein Fahrzeug ritt, wohin er wollte! Ach, welch ein Wunder! Daß winzige Menschlein leben, atmen, schaffen und ein so gebrechliches Ding aus Holz und Leinwand durch diesen furchtbaren Kampf der Elemente führen konnten.

Wie zuvor schwang sich die ›Ghost‹ aus dem Schlund herauf, hob ihr Deck über das Wasser und jagte vor dem heulenden Sturm dahin. Es war jetzt halb sechs, und eine halbe Stunde später, als das letzte Tageslicht einem unheimlichen, trüben Zwielicht wich, sah ich das dritte Boot. Es trieb kieloben, und von der Mannschaft war nichts zu sehen. Wolf Larsen wiederholte sein Manöver, hielt ab, drehte dann nach Luv und ließ sich hintreiben. Aber diesmal verfehlte er das Boot um vierzig Fuß, und es trieb vorbei.

»Boot vier«, rief Oofty-Oofty, dessen scharfe Augen in der Sekunde, als es, kieloben, aus dem Gischt auftauchte, die Nummer erspäht hatten.

Es war Hendersons Boot, und zugleich mit ihm hatten wir Holyak und Williams, einen der Vollmatrosen, verloren. Über ihr Schicksal konnte kein Zweifel herrschen, aber das Boot schwamm hier, und Wolf Larsen wollte noch einen verwegenen Versuch machen, es wiederzuerlangen. Ich war aufs Deck heruntergekommen und sah, wie Horner und Kerfoot vergebens gegen den Versuch protestierten.

»Bei Gott! Ich lasse mir mein Boot nicht stehlen – und wenn die ganze Hölle los wäre!« rief er laut, und obgleich wir alle vier die Köpfe zusammensteckten, um besser zu hören, klang seine Stimme nur schwach und wie aus ungeheurer Ferne.

»Herr van Weyden!« rief er, und ich hörte seine Stimme wie ein schwaches Flüstern, »bleiben Sie mit Johnson und Oofty am Klüver. Die andern achtern an die Großschoot! Los, oder ich fahre geradeswegs mit euch in die andere Welt! Verstanden?«

Und da er das Ruder hart umlegte und die ›Ghost‹ sich drehte, blieb den Jägern nichts übrig, als zu gehorchen und zu helfen, das kühne Wagnis nach Möglichkeit zu einem guten Abschluß zu bringen. Wie groß die Gefahr war, kam mir zum Bewußtsein, als ich nochmals unter den zermalmenden Seen begraben wurde und mich, mit dem Tode ringend, an die Nagelbank am Fuße des Großmastes klammerte. Meine Finger verloren ihren Halt, und ich wurde über Bord ins Meer gefegt. Schwimmen war unmöglich, aber ehe ich sinken konnte, war ich schon wieder zurückgeschwemmt. Eine starke Hand packte mich, und als die ›Ghost‹ endlich wieder auftauchte, sah ich, daß ich mein Leben Johnson verdankte. Er spähte ängstlich umher, und ich bemerkte, daß Kelly, der im letzten Augenblick nach vorn gekommen war, fehlte.

Wolf Larsen hatte das Boot verfehlt, die Lage hatte sich geändert, und so mußte er seine Zuflucht zu einem andern Manöver nehmen. Da wir mit dem Wind und allen Segeln nach Steuerbord liefen, kam er herum und halste backbord zurück.

»Großartig!« rief Johnson mir ins Ohr, als wir glücklich die Überschwemmung, die notwendige Folge des Manövers, überstanden hatten, und ich wußte, daß sein Ausruf sich nicht auf die seemännische Tüchtigkeit Wolf Larsens, sondern auf die Leistung der ›Ghost‹ selbst bezog.

Es war jetzt so dunkel, daß von dem Boote nichts mehr zu sehen war. Wolf Larsen aber führte, wie durch einen unfehlbaren Instinkt geleitet, das Ruder. Obwohl wir immer halb unter Wasser waren, wurden wir diesmal in kein Wellental hinuntergeschwemmt, sondern trieben geradeswegs auf das Boot zu, das, freilich arg beschädigt, an Bord geheißt wurde. Es folgten zwei Stunden furchtbarer Anstrengung. Wir alle an Bord – zwei Jäger, drei Matrosen, Wolf Larsen und ich – refften zuerst den Klüver, dann das Großsegel. Beigedreht und mit so wenig Leinwand war das Deck einigermaßen trocken, und die ›Ghost‹ wippte wie ein Kork auf den Seen.

Ich hatte mir gleich im Anfang die Haut von den Fingern gerissen, und beim Reffen hatte ich vor Schmerz kaum die Tränen zurückhalten können. Als jetzt alles getan war, ließ ich mich wie ein Weib gehen und warf mich, jammernd vor Schmerz und Erschöpfung, aufs Deck.

Unterdessen war Thomas Mugridge wie eine ertrunkene Ratte unter dem Backkopf hervorgezogen worden, wo er sich feige verkrochen hatte. Als er achtern nach der Kajüte geschleppt wurde, sah ich plötzlich zu meinem Schrecken, daß die Kombüse verschwunden war. Wo sie gestanden hatte, war klar Deck.

In der Kajüte fand ich alle Mann, auch die Matrosen, versammelt, und während der Kaffee auf dem kleinen Ofen gekocht wurde, tranken wir Whisky und kauten Zwiebäcke. Nie im Leben war mir Essen so willkommen gewesen, und nie hatte mir heißer Kaffee so geschmeckt. So gewaltig rollte und stieß die ›Ghost‹, daß selbst die Matrosen sich nicht bewegen konnten, ohne sich festzuhalten, und daß wir mehrmals unter allgemeinem Geschrei nach Backbord an die Wand geschleudert wurden, als hätten wir uns an Deck befunden.

»Zum Teufel mit dem Ausguck!« hörte ich Wolf Larsen sagen, als wir uns satt gegessen und getrunken hatten. »An Deck kann doch nichts mehr gemacht werden. Wenn jemand uns überrennen will, können wir ihm doch nicht ausweichen. Alle Mann in die Kojen, und versucht ein bißchen zu schlafen!«

Die Matrosen kämpften sich nach vorn und setzten unterwegs die Seitenlichter, während die beiden Jäger zum Schlafen in der Kajüte blieben, da es nicht ratsam war, die Zwischendeckslupe zu öffnen. Wolf Larsen und ich amputierten gemeinsam Kerfoots zerschmetterten Finger und vernähten die Wunde. Mugridge, der die ganze Zeit, während er Kaffee machen und aufwarten mußte, über innere Schmerzen geklagt hatte, schwor jetzt, daß er zwei oder drei Rippen gebrochen hätte. Aber er mußte bis zum nächsten Tage warten, zumal ich nichts von gebrochenen Rippen verstand und erst darüber nachlesen mußte.

»Ich finde nicht, daß es das wert war,« sagte ich zu Wolf Larsen, »ein zersplittertes Boot für Kellys Leben!«

»Kelly war nicht viel wert«, lautete die Antwort. »Gute Nacht!«

Nach allem, was sich ereignet hatte, bei fast unerträglichen Schmerzen in den Fingerspitzen und den Gedanken an die drei vermißten Boote, gar nicht zu reden von den wilden Sprüngen, die die ›Ghost‹ machte, hätte ich nicht geglaubt, daß es möglich gewesen wäre, zu schlafen. Aber meine Augen müssen sich in demselben Augenblick geschlossen haben, als mein Kopf das Kissen berührte, und in äußerster Erschöpfung schlief ich die ganze Nacht, während sich die ›Ghost‹, einsam und ungeleitet, ihren Weg durch den Sturm erkämpfte.

Am nächsten Tage paukten Wolf Larsen und ich, während der Sturm sich austobte, schnell Anatomie und Chirurgie und setzten Mugridges Rippen wieder zurecht. Als dann die Gewalt des Orkans gebrochen war, kreuzte Wolf Larsen über die Stelle, wo er uns überrascht hatte, zurück, und fuhr dann, während die Boote ausgebessert und neue Segel gemacht wurden, etwas weiter nach Westen. Ein Robbenschoner nach dem andern wurde gesichtet und geprait; die meisten hatten Boote und Mannschaften an Bord, die sie aufgelesen hatten und die ihnen nicht gehörten. Der größte Teil der Flotte hatte sich westlich von uns befunden, und die weit verstreuten Boote hatten in wilder Flucht den ersten besten Zufluchtsort aufgesucht.

Zwei unserer Boote mit wohlbehaltener Mannschaft nahmen wir von der ›Cisco‹ über, und zu Wolf Larsens großer Freude und meinem Schmerz las er Smoke, Nilson und Leach von der ›San Diego‹ auf. So waren wir nach fünf Tagen, nur um vier Mann ärmer – Henderson, Holoyak, Williams und Kelly – wieder hinter den Herden her.

Wir verfolgten sie weiter nordwärts, und nun trafen wir auf die gefürchteten Seenebel, Tag auf Tag wurden die Boote hinuntergefiert und verschwanden, fast ehe sie noch das Wasser berührt hatten. Wir an Bord stießen in regelmäßigen Zwischenräumen ins Horn und gaben alle fünfzehn Minuten Signalschüsse ab. Beständig wurden Boote verloren und wiedergefunden, und es war üblich, mit dem ersten besten fremden Schoner zu jagen, der das Boot aufnahm, bis der eigene Schoner gefunden war. Da Wolf Larsen jedoch ein Boot fehlte, ergriff er Besitz von dem ersten fremden, das uns in die Quere kam, zwang die Mannschaft, auf der ›Ghost‹ zu bleiben und erlaubte ihnen nicht, zurückzukehren, als wir ihren eigenen Schoner sichteten. Ich weiß noch, wie er dem Jäger und seinen beiden Leuten das Gewehr auf die Brust setzte und sie nach unten trieb, als ihr Kapitän uns passierte und praite, um nach ihnen zu fragen.

Thomas Mugridge, der sich so seltsam und hartnäckig ans Leben klammerte, humpelte wieder herum und kam seinen zweifachen Pflichten als Koch und Kajütsjunge nach. Johnson und Leach wurden schlimmer behandelt als je, und sie erwarteten, daß mit der Jagdzeit auch ihr Leben zu Ende sein würde. Aber auch die übrige Mannschaft lebte ein wahres Hundeleben unter ihrem erbarmungslosen Herrn. Ich selbst kam ganz gut mit Wolf Larsen aus, obgleich ich nie den Gedanken loswerden konnte, daß ich am richtigsten handeln würde, wenn ich ihn tötete. Er übte einen ungeheuren Zauber auf mich aus, und ich fürchtete ihn grenzenlos. Und doch konnte ich mir nicht vorstellen, daß er tot hingestreckt daliegen sollte. Es war ein Hauch von Ewigkeit über ihm. Immerwährende Jugend umwehte ihn und verscheuchte das Bild. Ich konnte ihn mir nur immer lebend vorstellen, immer herrschend, kämpfend und vernichtend, alles überlebend.

Eine seiner Zerstreuungen war, wenn wir mitten in einer Robbenherde lagen und die See zu hoch ging, um die Boote niederzulassen, selbst mit zwei Pullern und einem Steurer hinauszugehen. Er war ein guter Schütze und erbeutete viele Felle unter Verhältnissen, die die Jäger einfach unmöglich nannten. Aber er schien gerade seine Freude daran zu finden, sein Leben auf diese Weise aufs Spiel zu setzen und gegen fast unüberwindliche Schwierigkeiten anzukämpfen.

Ich lernte immer mehr von der Navigation, und an einem schönen Tage – etwas, was uns jetzt selten begegnete – erlebte ich die Befriedigung, selbst die ›Ghost‹ führen, steuern und die Boote auflesen zu dürfen.

Wolf Larsen war von seinen Kopfschmerzen befallen, und so stand ich nun von morgens bis abends am Rade, kreuzte über das Meer nach dem letzten Leeboot, legte bei und nahm dieses und die andern fünf auf, und das alles ohne Kommando oder Anweisung von dem Kapitän.

Hin und wieder wehte es steif, denn wir waren in eine stürmische Breite gekommen, und Mitte Juni erlebten wir einen Taifun, der sehr denkwürdig für mich und bedeutungsvoll für meine ganze Zukunft werden sollte. Wir wären fast von dem Zentrum des Wirbelsturms gepackt worden, und Wolf Larsen lief nach Süden davon, zuerst mit doppelt gerefftem Klüver und zuletzt mit gänzlich gestrichenen Segeln. Nie hatte ich gedacht, daß es so ungeheure Wogen geben könnte! Die Wellen, denen wir bisher begegnet waren, erschienen im Vergleich zu ihnen wie sanftes Gekräusel. Von Kamm zu Kamm maßen sie wohl eine halbe Meile, und ich bin fest überzeugt, daß sie unsern Topp überragten. So gewaltig waren sie, daß selbst Wolf Larsen nicht beizudrehen wagte, obgleich wir Gefahr liefen, weit nach Süden und aus den Robbengründen getrieben zu werden.

Wir mußten etwa bis in die Route der Transpazifik-Linie gekommen sein, und als der Taifun nachließ, befanden wir uns zur Überraschung der Jäger inmitten einer großen Robbenherde – einer Art Nachhut, wie sie erklärten, etwas sehr Seltenes. Aber die Folge war, daß den ganzen Tag die Büchsen knallten und die Tiere mitleidslos abgeschlachtet wurden.

Gegen Abend näherte Leach sich mir. Ich war gerade damit fertig, die Häute zu zählen, die das letzte Boot an Bord gebracht hatte, als er in der Dunkelheit neben mich trat und leise fragte:

»Herr van Weyden, können Sie mir sagen, wie weit wir von der Küste entfernt sind und in welcher Richtung Yokohama liegt?«

Mein Herz hüpfte vor Freude, denn ich wußte, was er vorhatte, und ich gab ihm die Richtung an: »500 Meilen West-Nord-West.«

»Danke!« Mehr sagte er nicht, und dann schlüpfte er wieder ins Dunkel zurück.

Am nächsten Morgen wurde Boot 3 mit Johnson und Leach vermißt. Gleichzeitig fehlten die Wasserfässer und Eßkisten aller andern Boote und Bettzeug und Seesäcke der beiden Männer. Wolf Larsen raste. Er setzte Segel und fuhr nach West-Nord-West, immer zwei Jäger im Ausguck, während er selbst wie ein zorniger Löwe auf Deck auf und ab schritt. Er kannte meine Sympathie mit den Flüchtlingen zu gut, als daß er mich in den Ausguck geschickt hätte.

Der Wind war günstig, wenn auch unbeständig, aber mir schien, daß man ebensogut eine Stecknadel in einem Heuschober, wie das winzige Boot in dieser blauen Unendlichkeit hätte suchen können. Er holte jedoch alles aus der ›Ghost‹ heraus, um die Flüchtlinge vom Lande abzuschneiden, und als er das erreicht zu haben meinte, kreuzte er hin und her in der Überzeugung, irgendwo auf sie zu stoßen.

Am dritten Morgen, kurz vor acht, rief Smoke vom Mast herab, daß das Boot in Sicht sei. Alles stürzte an die Reling. Eine scharfe Brise wehte aus West, und es schien noch mehr Wind aufzukommen. Und dort, in Lee, in dem bewegten Silberschein der aufgehenden Sonne, kam und ging ein schwarzer Fleck.

Wir braßten vierkant und fuhren auf ihn zu. Mein Herz war schwer wie Blei. Schlimme Ahnungen machten mich krank, und als ich den Triumph in Wolf Larsens Augen schimmern sah, drehte sich alles vor mir, und ich fühlte den fast unwiderstehlichen Drang, mich auf ihn zu stürzen. Ich weiß, daß ich in halber Betäubung ins Zwischendeck schlüpfte und gerade mit einer geladenen Büchse in der Hand wieder hinaufsteigen wollte, als ich den erstaunten Ruf hörte:

»Es sind fünf Mann im Boot!«

Schwach und zitternd lehnte ich mich an die Wand und hörte, wie Smokes Beobachtung jetzt von den andern bestätigt wurde. Dann versagten mir die Knie, und ich sank zu Boden. Ich war wieder zu mir gekommen, aber mich erschütterte das Bewußtsein dessen, was ich fast getan hätte. Mit großer Erleichterung stellte ich das Gewehr wieder an seinen Platz und schlich mich an Deck zurück.

Niemand hatte meine Abwesenheit bemerkt. Das Boot war jetzt nahe genug, um uns erkennen zu lassen, daß es größer als die üblichen Robbenfängerboote und von einem andern Typ war. Als wir uns näherten, wurde das Segel eingeholt und der Mast umgelegt. Riemen kamen zum Vorschein, und die Leute warteten offenbar, daß wir beidrehen und sie an Bord nehmen sollten.

Smoke, der auf das Deck herabgestiegen war und jetzt neben mir stand, begann bedeutungsvoll zu kichern. Ich blickte ihn fragend an.

»Bunte Gesellschaft«, gluckste er.

»Was ist los?« fragte ich.

Er gluckste wieder. »Sehen Sie nicht, dort im Stern am Boden? Ich will nie wieder eine Robbe schießen, wenn das nicht eine Frau ist!«

Ich blickte näher hin, konnte jedoch nichts Genaues erkennen. Da ertönten von allen Seiten erstaunte Ausrufe. Im Boot befanden sich vier Männer, der fünfte Insasse aber war zweifellos eine Frau. Wir befanden uns in einer ungeheuren Aufregung – wir alle, außer Wolf Larsen, der offensichtlich enttäuscht war, daß er nicht sein eigenes Boot mit den Opfern seiner Niedertracht vor sich hatte.

Wir holten den Außenklüver ein, brachten die Klüverschoot nach Luv, ließen das Großsegel flach gehen und kamen in den Wind. Die Riemen senkten sich ins Wasser, und nach einigen Schlägen war das Boot längsseits. Jetzt erblickte ich die Frau zum erstenmal. Sie war in einen langen Überzieher gehüllt, denn der Morgen war rauh, und ich konnte nichts von ihr sehen als ihr Gesicht und eine Fülle hellbraunen Haares, das unter dem Südwester, den sie auf dem Kopfe trug, hervorquoll. Die Augen waren groß, braun und strahlend, der Mund sinnlich und das Antlitz selbst ein zartes Oval, das die Sonne und der salzige Wind jetzt allerdings rotgebrannt hatten.

Sie erschien mir wie ein Wesen aus einer andern Welt. Ich spürte, daß mich nach ihr verlangte wie den Hungernden nach Brot. Hatte ich doch so lange, lange keine Frau mehr gesehen! Ich weiß, ich verlor mich so sehr in Bewunderung, fast in Betäubung, daß ich mich selbst und meine Pflichten als Steuermann vergaß und mich nicht daran beteiligte, den Bootsinsassen an Bord zu helfen. Als einer der Matrosen sie in die herabgestreckten Arme Wolf Larsens hob, blickte sie in unsere neugierigen Gesichter und lächelte, wie nur eine Frau lächeln kann, und wie ich so lange niemand hatte lächeln sehen, daß ich vergessen hatte, daß es überhaupt ein solches Lächeln gab.

»Herr van Weyden!«

Die scharfe Stimme Wolf Larsens brachte mich wieder zu mir.

»Wollen Sie die Dame nach unten bringen und für ihre Bequemlichkeit sorgen. Setzen Sie die freie Backbordkajüte in Stand. Lassen Sie es Köchlein tun. Und sehen Sie, was Sie für ihr Gesicht tun können. Es ist arg verbrannt.«

Er machte kurz kehrt und begann die Männer zu verhören.

Das Boot war Wind und Wellen preisgegeben gewesen, was einer von ihnen eine blutige Schande nannte, da Yokohama so nahe war.

Ich fühlte eine seltsame Befangenheit dieser Frau gegenüber, die ich jetzt nach achtern brachte. Ich war feige. Zum erstenmal wurde ich gewahr, was für ein zartes, gebrechliches Geschöpf eine Frau ist, und als ich ihren Arm faßte, um ihr die Kajütstreppe hinunterzuhelfen, erschrak ich über seine Zierlichkeit und Zartheit. Sie war in der Tat eine besonders schlanke, zarte Frau, mir erschien sie jedenfalls so ätherisch, daß ich fast erwartete, ihren Arm unter meinem Griff zerbrechen zu fühlen. Dies ist nach so langer Zeit ein offenes Bekenntnis meines ersten Eindrucks von der Frau im allgemeinen und Maud Brewster im besondern.

»Sie brauchen sich wirklich nicht so zu bemühen«, protestierte sie, als ich sie in Wolf Larsens Lehnstuhl setzte, den ich schnell aus seiner Kajüte geholt hatte. »Die Leute haben schon die ganze Zeit nach Land ausgeschaut, und wir müssen es ja noch vor Einbruch der Nacht erreichen. Meinen Sie nicht?«

Ihre Zuversicht erschreckte mich. Wie sollte ich ihr die Situation und den seltsamen Mann erklären, der wie das Schicksal das Meer abschritt – all das, was zu begreifen mich Monate gekostet hatte? Aber ich antwortete ihr ehrlich:

»Wäre es ein anderer Kapitän, so würde ich sagen, daß Sie morgen in Yokohama wären. Unser Kapitän aber ist ein merkwürdiger Mann, und ich bitte Sie, auf alles vorbereitet zu sein – verstehen Sie mich? Auf alles!«

»Ich – ich gestehe, daß ich nicht recht begreife«, sagte sie zögernd, mit einem unruhigen, aber nicht ängstlichen Ausdruck in den Augen. »Oder irre ich mich, daß Schiffbrüchige stets auf das größte Entgegenkommen rechnen können? Es handelt sich ja nur um eine Kleinigkeit, da wir so nahe an Land sind.«

»Offen gestanden, ich weiß es nicht«, brachte ich mit einiger Mühe hervor. »Aber ich möchte Sie auf das Schlimmste vorbereiten für den Fall, daß das Schlimmste kommen sollte. Dieser Mann, der Kapitän, ist ein Scheusal, ein Dämon, und man kann nie wissen, welche phantastische Handlung er im nächsten Augenblick begeht.«

Ich hatte mich warm geredet, aber sie unterbrach mich mit einem: »Oh, ich verstehe«, und ihre Stimme klang müde. Nachdenken bedeutete offenbar eine Anstrengung für sie, und sie war nahe daran, zusammenzubrechen.

Sie stellte keine weiteren Fragen, und ich hielt mich nur an Wolf Larsens Befehl, für ihre Bequemlichkeit zu sorgen. Ich widmete mich ihr wie eine gute Hausfrau, verschaffte ihr milderndes Waschwasser für ihre verbrannte Haut, holte aus Wolf Larsens Privatvorrat eine Flasche Portwein und wies Thomas Mugridge an, die Koje in der freien Kajüte instand zu setzen.

Der Wind wuchs schnell, die ›Ghost‹ krengte stark, und als wir die Kajüte in Ordnung gebracht hatten, schossen wir vor einer steifen Brise dahin. Ich hatte ganz die Existenz von Leach und Johnson vergessen, als plötzlich wie ein Donnerschlag der Ruf »Boot ahoi!« die Kajütstreppe herunterhallte. Es war unverkennbar die Stimme Smokes vom Mast. Ich warf einen Blick auf die Frau, die sich jedoch mit geschlossenen Augen und unaussprechlich müde im Stuhl zurücklehnte. Ich hoffte, daß sie nichts gehört hätte, und beschloß zu verhindern, daß sie Zeugin der Brutalität würde, die der Ergreifung der Flüchtlinge, wie ich wußte, folgen mußte. Sie war müde. Sehr gut. Sie sollte schlafen.

An Deck ertönten eilige Befehle, Füßestampfen und das Klatschen der Seisinge, als die ›Ghost‹ sich jetzt in den Wind drehte. Beim Überkrengen begann der Lehnstuhl über den Fußboden zu gleiten, aber ich sprang schnell zu, gerade noch rechtzeitig, um die Gerettete vor dem Hinstürzen zu bewahren.

Sie war zu schläfrig, um ihre Überraschung anders als durch einen kurzen Ausruf zu erkennen zu geben, dann ließ sie sich strauchelnd und wankend von mir zu ihrer Koje führen. Mugridge grinste mich einschmeichelnd an, als ich ihn hinausschob mit dem Befehl, sich wieder an seine Küchenarbeit zu begeben, aber er rächte sich, indem er den Jägern witzigen Bericht erstattete, welch ausgezeichnete Jungfer ich abgäbe.

Sie lehnte sich schwer gegen mich, und ich glaube, daß sie auf dem Wege zwischen Lehnstuhl und Koje eingeschlafen war. Bei einem plötzlichen Überholen des Schoners fiel sie beinahe in die Koje. Sie erwachte, lächelte schlaftrunken und war wieder eingeschlafen, und so verließ ich sie: schlummernd unter einem Paar dicker Seemannsdecken und den Kopf auf einem Kissen, das ich aus Wolf Larsens Koje geholt hatte.

Als ich an Deck kam, sah ich, daß die ›Ghost‹ Backbord halste und dicht am Winde in Luv eines wohlbekannten Sprietsegels vor uns ging. Alle Mann waren an Deck, denn sie wußten, daß etwas geschehen würde, wenn Leach und Johnson an Bord geholt wurden. Es war vier Glasen. Louis kam zur Ablösung nach achtern ans Rad. Es lag Feuchtigkeit in der Luft, und ich bemerkte, daß er sein Ölzeug angezogen hatte. »Was gibt es jetzt?« fragte ich ihn.

»Eine gesunde Regenbö, gerade genügend, um uns den Kragen naß zu machen, weiter nichts«, antwortete er. »Zu dumm, daß wir sie sichten mußten!« sagte ich, während der Bug der ›Ghost‹ von einer schweren See ein paar Strich aus dem Kurs geworfen wurde und das Boot einen Augenblick hinter dem Klüver zum Vorschein kam.

Louis drehte das Rad und antwortete ausweichend: »Sie hätten das Land doch nicht erreicht, das weiß ich.«

»Glaubst du nicht?«

»Nein, Herr van Weyden. In der nächsten Stunde kann sich keine solche Eierschale auf See halten, und es ist ein Glück für sie, daß wir hier sind, um sie aufzufischen.«

Wolf Larsen, der mittschiffs mit dem Geretteten gesprochen hatte, kam jetzt mit langen Schritten nach achtern. Das katzenartig Sprunghafte in seinem Gang war jetzt noch ausgeprägter als gewöhnlich, und seine Augen leuchteten hell.

»Drei Heizer und ein vierter Maschinist«, begrüßte er mich. »Aber wir werden schon Matrosen oder doch wenigstens Bootspuller aus ihnen machen. Und wie steht's mit der Dame?«

Ich weiß nicht warum, aber ich fühlte einen Schmerz wie einen Messerstich, als er sie erwähnte. Ich hielt es für einen gewissen törichten Stolz von meiner Seite, aber der Schmerz hielt an, und ich antwortete nur mit einem Achselzucken.

Wolf Larsen spitzte die Lippen zu einem langen höhnischen Pfeifen.

»Wie heißt sie denn?« fragte er.

»Ich weiß nicht«, erwiderte ich. »Sie schläft. Sie war sehr müde. Eigentlich hätte ich gedacht, von Ihnen etwas zu hören. Was für ein Schiff war es denn?«

»Postdampfer«, antwortete er kurz. ›City of Tokio‹ von Frisco nach Yokohama. Im Taifun außer Dienst gesetzt. Alter Kasten. Wurde leck wie ein Sieb. Sie sind vier Tage umhergetrieben. – Und Sie wissen nicht, wer oder was sie ist, wie? – Mädchen, Frau oder Witwe? – Na schön.«

Er schüttelte neckend den Kopf und sah mich mit lachenden Augen an.

»Wollen Sie – –«, begann ich. Es lag mir auf der Zunge, ihn zu fragen, ob er die Schiffbrüchigen nach Yokohama zu bringen gedächte.

»Ob ich was will?« fragte er.

»Was wollen Sie mit Leach und Johnson machen?«

Er schüttelte den Kopf. »Wirklich, Hump, ich weiß es nicht. Sie sehen doch, daß wir mit den Leuten, die wir vorhin an Bord genommen haben, genügend Mannschaft besitzen.«

»Die beiden haben sicher genug vom Desertieren«, meinte ich. »Nehmen Sie sie an Bord und seien Sie anständig gegen sie. Was sie auch getan haben: sie sind dazu getrieben worden.«

»Durch mich?«

»Durch Sie«, entgegnete ich fest. »Und ich warne Sie, Wolf Larsen, ich könnte meine Liebe zum Leben vergessen über dem Wunsche, Sie zu töten, wenn Sie in Ihrer Rache an diesen Unglücklichen zu weit gehen.« »Bravo!« rief er. »Sie machen mir wirklich Ehre, Hump! Sie machen sich, und darum habe ich Sie gern.« Er änderte Stimme und Ausdruck. Sein Gesicht wurde ernst. »Glauben Sie an Versprechungen?« fragte er »Sind Sie Ihnen heilig?«

»Natürlich«, erwiderte ich.

»Dann schließen wir einen Pakt«, fuhr er fort, dieser vollendete Schauspieler. »Wenn ich verspreche, keine Hand an Leach und Johnson zu legen, versprechen Sie mir dann, nicht zu versuchen, mich zu töten? – Oh, ich fürchte mich nicht vor Ihnen, das nicht«, beeilte er sich hinzuzufügen.

Ich wollte kaum meinen Ohren trauen. Was ging in dem Manne vor?

»Abgemacht«, fragte er ungeduldig.

»Abgemacht«, antwortete ich.

Er streckte mir die Hand entgegen, aber als ich sie herzlich schüttelte, hätte ich schwören mögen, seine Augen höhnisch aufblitzen zu sehen.

Wir schlenderten über die Ruff nach Lee. Das Boot war jetzt fast zum Greifen nahe und befand sich in einem elenden Zustande. Johnson steuerte, während Leach schöpfte. Wolf Larsen bedeutete Louis, etwas seitwärts zu halten, und wir schossen, keine zwanzig Fuß in Luv, an dem Boot vorbei. Die ›Ghost‹ narrte sie. Das Sprietsegel flatterte schlaff, und das Boot richtete sich auf, was die beiden Männer schleunigst veranlaßte, die Plätze zu wechseln. Das Boot stampfte, und während wir uns jetzt auf einer hohen Woge hoben, stürzte es tief hinab.

In diesem Augenblick sahen Leach und Johnson in die Gesichter ihrer Kameraden, die mittschiffs über die Reling lehnten. Keiner grüßte. In den Augen der andern waren sie Tote, und zwischen ihnen lag der Abgrund, der Lebendige und Tote scheidet.

Gleich darauf befanden sie sich der Ruff gegenüber, auf der Wolf Larsen und ich standen. Wir sanken in das Wellental, während sie sich auf den Kamm erhoben. Johnson blickte mich mit einem unsagbar zerquälten Ausdruck an. Ich winkte ihm zu, und er erwiderte meinen Gruß, aber mit einem Winken, das hoffnungslos und verzweifelt war. Es war, als nehme er Abschied. Leachs Augen konnte ich nicht fangen, denn er schaute mit dem alten unversöhnlichen Haß Wolf Larsen an.

Dann waren sie achteraus gekommen. Plötzlich füllte sich das Sprietsegel mit Wind, und das offene Fahrzeug krengte so, daß es aussah, als sollte es kentern. Eine Sturzsee schäumte darüber hinweg und begrub es unter schneeweißem Gischt. Dann hob sich das Boot wieder. Es war halb voll Wasser, und Leach schöpfte wie wahnsinnig, während Johnson sich, weiß vor Angst, an die Ruderpinne klammerte.

Wolf Larsen lachte kurz und spöttisch und schritt nach der Achterhütte. Ich erwartete, daß er befehlen würde, beizudrehen, aber die ›Ghost‹ hielt ihren Kurs, und er gab kein Zeichen, Louis stand unbeweglich am Steuerrad, aber ich bemerkte, daß die vorn in Gruppen stehenden Matrosen uns bestürzt anblickten. Immer weiter schoß die ›Ghost‹, bis das Boot nur noch ein kleiner Punkt war. Da ertönte Wolf Larsens Stimme, die befahl, steuerbord zu halsen.

Wir gingen zurück, zwei Meilen oder mehr in Luv der mit den Wellen ringenden Nußschale, dann wurde der Außenklüver niedergeholt, und wir drehten bei. Robbenboote sind nicht dafür eingerichtet, gegen den Wind zu gehen. Sie sind darauf angewiesen, sich in Luv zu halten, um, wenn der Schoner anfährt, vor dem Winde laufen zu können. In dieser ganzen wilden Einöde gab es jedoch keine Zuflucht für Leach und Johnson außer der ›Ghost‹, und so begannen sie entschlossen gegen den Wind anzukämpfen. Es ging nur langsam in der schweren See. Jeden Augenblick konnten sie unter den schäumenden Sturzseen begraben werden. Immer wieder, unzählige Male, sahen wir das Boot luven und wie ein Kork wieder zurückgeschleudert werden.

Johnson war ein ausgezeichneter Seemann. Nach anderthalb Stunden befand er sich fast Seite an Seite mit uns und dachte, uns beim nächsten Halsen zu erreichen.

»So, ihr habt's euch überlegt?« hörte ich Wolf Larsen murmeln, als ob sie ihn hätten hören können. »Ihr wollt an Bord, was? Na schön, dann versucht's doch. Hart Steuerbord!« befahl er Oofty-Oofty, dem Kanaken, der unterdessen Louis am Rad abgelöst hatte. Ein Befehl folgte dem andern. Der Schoner ging in den Wind, und Fockschoot und Großschoot wurden gelockert. Und vor dem Winde liefen wir und hüpften über die Wogen, während Johnson unter Lebensgefahr seine Schoot nachließ und, hundert Fuß hinter uns, unser Kielwasser kreuzte. Wieder lachte Wolf Larsen, und diesmal machte er ihnen Zeichen, uns zu folgen. Er hatte offenbar die Absicht, mit ihnen zu spielen, ihnen statt der Prügel, wie ich annahm, eine Lehre zu erteilen, allerdings eine gefährliche Lehre, das leichte Fahrzeug konnte jeden Augenblick kentern. Johnson braßte sofort vierkant und folgte uns. Es blieb ihm nichts anderes übrig. Wohin sie sich auch wandten, sahen sie sich dem Tode preisgegeben, und es war nur eine Frage der Zeit, daß eine der ungeheuren Sturzseen das Boot treffen, darüber hinweg und weiterrollen würde.

»Der Tod sitzt ihnen im Nacken«, murmelte Louis mir ins Ohr, als ich nach vorn ging, um dafür zu sorgen, daß Außenklüver und Stagsegel eingeholt wurden.

»Ach, er wird wohl bald beidrehen und sie aufnehmen«, ermunterte ich ihn, »er will ihnen nur eine Lehre erteilen, das ist alles.«

Louis sah mich von der Seite an. »Glauben Sie das wirklich?« fragte er.

»Natürlich«, erwiderte ich. »Du nicht?«

»Ich denke nur an meine eigene Haut«, lautete seine Antwort. »Und ich bin gespannt, wie alles ausläuft. Eine schöne Bescherung hat der Whisky angerichtet, den ich in Frisko trank, und das Mädchen achtern wird noch eine schöne Bescherung für Sie anrichten. Aber eins weiß ich: Sie sind ein rechter Narr!«

»Wie meinst du das?« fragte ich Louis, der sich, nachdem er seinen Pfeil abgeschossen hatte, abwandte. »Wie ich das meine?« rief er. »Das fragen Sie noch? Auf meine Meinung kommt es nicht an, nur auf die vom Wolf. Vom Wolf sage ich, vom Wolf!«

»Würdest du mir beistehen, wenn es not täte?« fragte ich unwillkürlich, denn er hatte nur meiner eigenen Besorgnis Ausdruck verliehen.

»Ihnen beistehen? Ich stehe nur dem alten dicken Louis bei, und damit hab' ich schon genug zu tun. Wir sind erst am Anfang, sage ich Ihnen, ganz am Anfang.« »Ich hätte dich nicht für einen solchen Feigling gehalten«, höhnte ich.

Er warf mir einen geringschätzigen Blick zu. »Ich hab' nie einen Finger für den armen Narren gerührt«, er wies auf das winzige Segel achtern, – »und da meinen Sie, ich sei verrückt, mir den Hals für eine Frau zu brechen, die ich bis zum heutigen Tage noch nie gesehen habe?«

Verächtlich wandte ich mich ab und ging nach achtern. »Es ist am besten, wenn Sie das Toppsegel einholen lassen, Herr van Weyden«, sagte Wolf Larsen, als ich zur Ruff kam.

Ich spürte eine Erleichterung, wenigstens bezüglich der beiden Männer. Es war klar, daß er ihnen nicht zu weit weglaufen wollte. Bei diesem Gedanken schöpfte ich wieder Hoffnung und führte den Befehl rasch aus. Ich hatte kaum den Mund geöffnet, als die Leute auch schon eifrig an die Falle und in die Takelung sprangen. Wolf Larsen sah ihren Eifer und lächelte grimmig.

Das Boot kam immer näher und wurde wie ein lebendes Wesen durch die wallende grüne Masse gewirbelt. Es hob und senkte sich, erschien auf den ungeheuren Rücken der Wogen und verschwand hinter ihnen, um kurz darauf wieder zum Vorschein zu kommen und himmelan zu schießen. Es schien unmöglich, durchkommen zu können, aber immer wieder vollbrachte es das Unmögliche mit schwindelerregender Fahrt. Ein Regenschauer trieb vorbei, und aus dem Dunkel tauchte das Boot dicht neben uns auf.

»Hart Steuerbord!« rief Wolf Larsen und sprang selbst ans Rad, um es herumzuwerfen.

Wieder jagte die ›Ghost‹ mit dem Wind um die Wette dahin, und zwei Stunden lang folgten Johnson und Leach uns. Wir drehten bei und liefen fort, drehten bei und liefen fort, und immer noch stieg das kämpfende Segel himmelwärts und stürzte in die vorbeischießenden Täler. Eine Viertelmeile von uns entzog eine dichte Regenbö das Boot unsern Blicken. Es kam nie wieder zum Vorschein. Der Wind verwehte den Regen, aber kein Segel zeigte sich auf der bewegten Fläche. Einen Augenblick glaubte ich, den schwarzen Boden des Bootes sich von dem Gischt einer brechenden Welle abheben zu sehen. Das war alles. Für Johnson und Leach war der Kampf ums Dasein beendet.

Die Mannschaft blieb in einer Gruppe mittschiffs stehen. Keiner ging nach unten, und keiner sprach ein Wort. Nicht einmal Blicke wurden getauscht. Alle schienen wie betäubt – sie standen in Betrachtungen versunken da und versuchten, sich das Geschehene klarzumachen. Wolf Larsen ließ ihnen indessen nicht viel Zeit zum Nachdenken. Er setzte die ›Ghost‹ in den Kurs auf die Robbenherden und nicht nach Yokohama. Aber die Leute hatten ihren Eifer beim Hahlen und Fieren verloren, und ich hörte manchen Fluch, der ihren Lippen entschlüpfte, schwer und dumpf wie sie selbst. Nicht so die Jäger. Smoke, der Unbezähmbare, erzählte eine Geschichte, und unter schallendem Gelächter begaben sie sich ins Zwischendeck.

Als ich auf der Leeseite nach achtern ging, näherte sich mir der Maschinist, den wir gerettet hatten. Sein Gesicht war weiß, und seine Lippen zitterten.

»Großer Gott, was ist das für ein Fahrzeug?« rief er. »Sie haben ja selbst Augen im Kopf«, antwortete ich fast brutal, so sehr schnürten Schmerz und Furcht mir das Herz zusammen.

»Ihr Versprechen?« fragte ich Wolf Larsen.

»Ich dachte gar nicht daran, sie an Bord zu nehmen, als ich es gab«, erwiderte er. »Und was auch geschehen ist, so werden Sie mir jedenfalls zugeben, daß ich nicht Hand an sie gelegt habe ... Im Gegenteil, im Gegenteil«, lachte er einen Augenblick später.

Ich antwortete nicht. Ich war unfähig, zu sprechen, mein Geist war verwirrt. Ich wußte, daß ich Zeit brauchte, um über das Geschehene nachzudenken. Die Frau, die jetzt unten in der Kajüte schlief, bürdete mir eine Verantwortung auf, die mir schwer aufs Herz fiel, und der einzige vernünftige Gedanke, der mir durchs Hirn flackerte, war, daß ich nichts übereilen durfte, wenn ich ihr überhaupt eine Hilfe sein wollte.

Jack London - Romane und Erzählungen

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