Читать книгу Wenn das der Führer sähe … Von der Hitler-Jugend in Filbingers Fänge - Jacqueline Roussety - Страница 7

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Oslofjord

März 1945

Das fahle Sonnenlicht reicht gerade noch aus, um Ausschnitte der Umgebung mit bloßem Auge zu fokussieren. Nicht mehr lange und die ersten dunklen Wolken schieben sich in den Vordergrund. Der frühe Abend schluckt ganz allmählich das Licht des dahinschwindenden Tages. Damit sinken die Temperaturen weiter und noch immer liegen vereinzelt letzte Schnee- und Eisschichten, Zeugen des hartnäckigen Winters. Noch lange wird der Frühling sich mit dem Winter die Herrschaft teilen müssen.

Die seltsam feierliche Stille hinter den Festungsmauern wird vom Nachhall entfernter Bombeneinschläge im monotonen Rhythmus durchbrochen; auch die Kampfflugzeuge der Alliierten zerreißen mit lautem Getöse in regelmäßigen Abständen die scheinbar himmlische Ruhe. Zurück bleiben Rauchwolken, die sich langsam dehnen und auflösen.

Die pechschwarze Mauer, auf die sich gleich unweigerlich alle Aufmerksamkeit richten wird, bröckelt an einigen Stellen. Gesteinsreste zerfallen zu grauem Staub; dieser vermischt sich allmählich mit anderen organischen Substanzen, hier angesammelt, um für die Ewigkeit zu überdauern.

Selbst das tagtägliche, in emsiger Schwerstarbeit erfolgende Abschrubben der noch vorhandenen Mauer kann die Existenz von dunkel getrocknetem Blut nicht verbergen. Der oben aufgerollte Stacheldraht hat im Laufe der Zeit Federn, Äste und Blätter als Beute ergattert. Braust der Wind kurz auf, flattern menschliche Haare wie Wimpel hin und her und wickeln sich schließlich wie von selbst wieder um den Draht. Farne und Moos zwängen sich durch kleinste Mauerritzen – ein Sieg der Natur über das von Menschenhand erschaffene Bollwerk.

Der Verurteilte betritt den Richtplatz. Mit ihm der Kriegspfarrer vom Kriegslazarett Linten. Ferner ist ein Zug der 1. M.E.A. Oslo anwesend. Mit murmelnder Beschwörung versuchen sie dem Angeklagten ein wenig Seelentrost auf den letzten Gang mitzugeben.

Nur scheint dieser des Seelentrostes nicht zu bedürfen. Er wirkt wie entrückt, als nehme er die Menschen um sich herum nicht wahr. Ein Gesicht, gerade den ganz unschuldigen Jahren entwachsen. Schmal, ausgezehrt, ein schlaksiger Körper. Leicht schwankend geht er auf die Front der Männer zu. Gekleidet in schwarze Ledermäntel, erwarten sie ihn mit regloser Miene. Sie sind laut Protokoll aufgefordert, das Urteil zu vollstrecken: der Marinestabsrichter als leitender Offizier, der Marinearzt vom Kommando 1. M.E.A. Oslo als Sanitätsoffizier, der Marinejustizinspektor und die angetretene Einheit, junge Matrosen wie der Angeklagte, die sich an ihren Gewehren festklammern.

Manch einer der Burschen kann den Blick nicht heben; einem anderen zittern leicht die Knie. Es herrscht tödliches Schweigen.

Der Marinearzt nimmt ein schwarzes Tuch und verbindet dem Verurteilten wortlos die Augen. Alles läuft nach vorliegender Vollstreckungsurkunde, die der Wehrmachtrichter in seinen Händen hält. Die schwarzen Lederhandschuhe verhindern jeden Kontakt mit dem Papier, auf dem unpersönlich die Formalitäten aufgelistet sind, das seine Unterschrift trägt und demzufolge ein junges Leben ausgelöscht wird.

Pünktlich um 18 Uhr steht der Angeklagte auf der ihm zugewiesenen Stelle des Richtplatzes. Direkt vor der Mauer.

Die angetretene Einheit hört auf das Kommando: „Gewehr über still!“

Eine bedrückende Ruhe breitet sich aus. Kein Flieger ist am Himmel zu hören, keine Bombe zerbirst auf dem tiefgefrorenen Boden. Nichts. Nur Stille.

Der leitende Offizier liest dem Verurteilten mit einer Stimme wie kaltes Wasser die Urteilsbegründung und die Bestätigungsverfügung vor. Seine Worte hallen über die Mauer, werden gespenstisch von dem dahinter liegenden Wald echogleich zurückgeworfen.

Es folgt eine Sekunde der Lautlosigkeit.

Der Verurteilte erklärt nichts.

Die Geistlichen erhalten letztmalig Gelegenheit, ihm Trost zuzusprechen. In diesem Moment schluckt eine Wolke das kärgliche Sonnenlicht; das bleiche Gesicht mit der schwarzen Binde hebt sich deutlich von der dunklen Mauer ab.

Er zeigt keine Regung. Das zehnköpfige Vollstreckungskommando hat sich fünf Schritte vor dem Verurteilten aufgestellt. Auch hier kein Ton, keine persönliche Reaktion.

Das Kommando „Feuer!“ durchbricht die atemlose Stille um 18:02 Uhr.

Dohlen fliegen wütend krächzend auf. Ihre Schreie gellen in den Ohren, mischen sich mit dem Nachhall der Feuersalven. Dann schlagartig wieder Ruhe.

Der Verurteilte knickt in sich zusammen, fällt auf die rechte Seite. Sand fliegt hoch, rieselt zurück auf den Boden, vermischt sich mit dem Rinnsal, das aus einer Wunde, dann durch die Uniform austritt, lautlos wie ein sterbendes Geheimnis.

Alles schweigt.

Der Sanitätsoffizier löst sich aus der Gruppe, stellt den Tod fest. 18:06 Uhr.

Daraufhin erscheint das Wachpersonal. Die Leiche wird eingesargt und zum Zwecke der Bestattung abtransportiert.

Die abkommandierte Einheit verlässt mit ihren wuchtigen Stiefeln die Stätte. Nur zwei alte Männer vom Wachpersonal bemühen sich, das frische Blut wegzuwischen.

Später bedeckt pechschwarze Nacht das Grauen dieses Ortes. Der Klageschrei dieser jammervollen Seele wird vom Wind fortgetragen, über die Mauer hinweg und hinauf in den Himmel.

Möge Gott sich ihrer erbarmen!

Wenn das der Führer sähe … Von der Hitler-Jugend in Filbingers Fänge

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