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Einleitung
ОглавлениеEines der wichtigsten Probleme der Menschheit, das zugleich mit ihrer Entstehung aufgetaucht ist, besteht darin, die irdische Zeit zu beherrschen. Kalender haben es ermöglicht, das Alltagsleben zu organisieren, darum sind sie fast immer mit dem Lauf der Natur verknüpft, mit zwei wichtigen Bezugspunkten, nämlich Sonne und Mond. Doch Kalender definieren eine in Zyklen und Jahren bemessene Zeit und sind völlig ungeeignet, längere Zeiträume zu erfassen. Nun ist die Menschheit bislang zwar außerstande, die Zukunft präzise vorauszusagen, doch immerhin ist sie imstande, ihre lange Vergangenheit zu beherrschen.
Um sie zu organisieren, hat man verschiedene Ausdrücke benutzt: Man hat von „Zeitaltern“, „Epochen“ und „Zyklen“ gesprochen. Doch der Begriff „Periode“ scheint mir am besten geeignet zu sein. „Periode“ kommt vom griechischen periodos1 und bezeichnet einen kreisförmigen Weg. Zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert nahm dieser Ausdruck die Bedeutung „Zeitraum“ oder „Zeitalter“ an. Im 20. Jahrhundert entstand aus ihm die abgeleitete Form „Periodisierung“.
Der Begriff „Periodisierung“ ist der Leitfaden dieses Essays. Er bezeichnet einen menschlichen Eingriff in die Zeit und unterstreicht, dass ihre Einteilung nicht wertfrei ist. Hier sollen die mehr oder weniger erklärten, mehr oder weniger eingestandenen Gründe aufgezeigt werden, warum die Menschen die Zeit in Perioden eingeteilt haben, oft mit Definitionen versehen, die den ihnen beigemessenen Sinn und Wert hervorheben.
Die Einteilung der Zeit in Perioden ist für die Geschichte unentbehrlich, ganz gleich ob man Letztere allgemein als Studium gesellschaftlicher Entwicklungen betrachtet, als eine besondere Form des Wissens und der Lehre, oder einfach als verstreichende Zeit. Aber diese Unterteilung ist nicht nur ein chronologischer Vorgang, er vermittelt auch die Vorstellung von einem Übergang, einem Wendepunkt, gar einer Abkehr von der Gesellschaft und den Werten der vorangegangenen Epoche. Demzufolge besitzen die Perioden eine besondere Bedeutung: Allein durch ihre Abfolge, ihre zeitliche Kontinuität oder im Gegenteil durch alle Brüche, die diese Abfolge impliziert, sind sie für den Historiker ein wichtiger Gegenstand der Betrachtung.
Dieser Essay untersucht die historischen Beziehungen zwischen dem, was man gewöhnlich „Mittelalter“ nennt, und der „Renaissance“. Und weil es sich um Begriffe handelt, die selbst im Laufe der Geschichte entstanden sind, richte ich mein besonderes Augenmerk auf die Zeit, in der sie aufkamen, und auf die Bedeutung, die sie damals vermittelten.
Oft wird versucht, „Perioden“ und „Jahrhunderte“ miteinander zu assoziieren. Der französische Ausdruck „siècle“ (Jahrhundert) im Sinn einer „hundertjährigen Periode“, die theoretisch mit einem auf „00“ endenden Jahr beginnt, kam erst im 16. Jahrhundert auf. Davor bezeichnete das lateinische Wort saeculum entweder die alltägliche Welt („im Jahrhundert leben“) oder eine relativ kurze, ungenau umrissene Periode, die den Namen einer großen, ihr Glanz verleihenden Persönlichkeit trug: zum Beispiel das „Jahrhundert des Perikles“, das „Jahrhundert Cäsars“ usw. Der Begriff des Jahrhunderts hat seine Mängel, weil ein mit „00“ endendes Jahr selten ein Jahr ist, das im Leben der Gesellschaft auch einen Bruch bedeutet. Darum hat man suggeriert beziehungsweise fest behauptet, dass dieses oder jenes Jahrhundert eigentlich vor oder nach dem Stichjahr anfing und länger als einhundert Jahre gedauert oder umgekehrt früher aufgehört hat: So begann das 18. Jahrhundert für die Historiker erst 1715 und das 20. Jahrhundert erst 1914. Trotz solcher Unzulänglichkeiten wurde das Jahrhundert zu einem unentbehrlichen chronologischen Werkzeug, nicht nur für Historiker, sondern auch für alle anderen, die sich für die Vergangenheit interessieren.
Allerdings erfüllen Periode und Jahrhundert nicht dieselben Anforderungen. Selbst wenn sie manchmal zusammenfallen, geschieht dies nur aus Bequemlichkeit. Nachdem zum Beispiel das – im 19. Jahrhundert eingeführte – Wort „Renaissance“ zum Markenzeichen einer Periode geworden war, hat man sich bemüht, es mit einem oder mehreren Jahrhunderten in Übereinstimmung zu bringen. Doch wann hat die Renaissance eigentlich angefangen? Im 15. oder im 16. Jahrhundert? Am häufigsten verweist man auf die Schwierigkeit, den Anfang einer Periode zu bestimmen und zu rechtfertigen. Die Art, wie diese Frage gelöst wird, ist keineswegs belanglos, wie wir weiter unten sehen werden.
Auch wenn die Periodisierung hilft, die Zeit oder vielmehr den Umgang mit ihr zu beherrschen, ist sie für die Einschätzung der Vergangenheit manchmal problematisch. Die Geschichte zu periodisieren ist ein komplexer Vorgang, sowohl behaftet mit Subjektivität als auch mit dem Bestreben, ein mehrheitsfähiges Ergebnis zu erzielen. Meines Dafürhaltens ist das ein sehr spannender Gegenstand der Geschichte.
Um diese Einleitung abzuschließen, möchte ich – wie es speziell Bernard Guenée2 getan hat – unterstreichen, dass alles, was wir „Geschichte oder Sozialwissenschaften“ nennen, sehr lange gebraucht hat, um zum Gegenstand einer „wissenschaftlichen“ oder zumindest rationalen Bildung zu werden. Dieses, die gesamte Menschheit betreffende Wissen entstand eigentlich erst im 18. Jahrhundert, als es in Universitäten und Schulen Einzug hielt. Der Unterricht bildete nämlich den Prüfstein für die Kenntnis der Geschichte. Diese Tatsache darf man nicht vergessen, wenn man die Geschichte der Periodisierung verstehen will.
1 Siehe Olivier Dumoulin und Raphäel Valéry (Hrsg.), Périodes. La construction du temps historique. Actes du Ve colloque d’Histoire au présent, Paris 1991; Jean Leduc, „Période, périodisation“, in: Christian Delacroix, François Dosse, Patrick Garcia und Nicolas Offenstadt (Hrsg.), Historiographies. Concepts et débats, Bd. 2, Paris 2010, S. 830–838; für „Zeitalter“ (âge) siehe Auguste Luneau, L’Histoire du salut chez les Pères de l’Église, la doctrine des âges du monde, Paris 1964; „Epoche“ (époque) ist der Ausdruck, den Krzysztof Pomian wählt in seinem bedeutenden Buch L’Ordre du temps, Paris 1984, Kap. III: „Époques“, S. 101–163.
2 Siehe Bernard Guenée, Artikel „Histoire“, in: Jacques Le Goff und Jean-Claude Schmitt (Hrsg.), Dictionnaire raisonné de l’Occident médiéval, Paris 1999, S. 483–496.