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Alte Periodisierungen
ОглавлениеSchon lange bevor der Begriff „Periode“ in der Geschichtsschreibung und der historischen Forschung anerkannt war, wurde er zur Organisation der Vergangenheit benutzt. Diese Zeiteinteilung war vor allem das Werk von Geistlichen, die sie entweder nach religiösen Kriterien oder in Bezug auf Personen aus den heiligen Schriften vornahmen. Weil ich hier aufzeigen möchte, welchen Beitrag die Periodisierung sowohl zur Bildung als auch für das soziale und intellektuelle Leben im Westen geleistet hat, begnüge ich mich damit, auf die in Europa gängigen Epocheneinteilungen einzugehen. Andere Zivilisationen, wie zum Beispiel die Maya, haben nämlich ganz andere Systeme benutzt.
Ein bemerkenswertes, von der Globalisierungswelle angeregtes Gemeinschaftswerk, das vor kurzem unter der Leitung von Patrick Boucheron1 erschienen ist, vergleicht die Situation der einzelnen Länder in der Welt des 15. Jahrhunderts, jedoch ohne sie in eine Epocheneinteilung der Geschichte zu integrieren. Unter den vielen aktuellen Versuchen, die vom Westen geschaffene und generell durchgesetzte historische Periodisierung zu revidieren, um entweder zu einer einheitlichen Zeiteinteilung für die gesamte Welt oder zu unterschiedlichen Perioden zu gelangen, verweisen wir auf die Schlussfolgerungen im Werk von Philippe Norel, L’Histoire économique globale,2 und hier besonders im Anhang auf die synchronoptische Tabelle der wichtigsten Zivilisationen, vom Jahr 1000 vor unserer Zeitrechnung bis heute.
In der jüdisch-christlichen Tradition gibt es hauptsächlich zwei Periodisierungsmodelle, die beide symbolische Zahlen verwenden: die Ziffer 4 nach der Anzahl der Jahreszeiten und die Zahl 6 nach den sechs Lebensaltern. Zwischen der individuellen Chronologie der Lebensalter und der universellen Chronologie der Weltalter erkannte man nicht nur gewisse Parallelen, sondern auch eine wechselseitige Beeinflussung.3
Das erste Periodisierungsmodell finden wir im Alten Testament bei Daniel. In einer Vision erblickt der Prophet vier Tiere, die vier aufeinanderfolgende Reiche verkörpern. Gemeinsam stellen sie die gesamte Zeit der Welt dar, von ihrer Erschaffung bis zu ihrem Ende. Die Tiere, Könige dieser vier Reiche, verschlingen einander. Der vierte König hat vor, die Zeiten zu ändern, doch er lästert gegen den Höchsten und stellt dessen Pläne auf die Probe. Darauf erscheint mit den Heerscharen des Himmels ein Menschensohn, dem der Älteste der Tage Macht, Ehre und Reich anvertraut, sodass ihm alle Völker, Nationen und Sprachen huldigen. Sein ewiges Reich ist unvergänglich und wird nie zerstört.4
Wie Krzysztof Pomian hingewiesen hat, übernahmen die Chronisten und Theologen vor allem ab dem 12. Jahrhundert diese von Daniel aufgezeigte Periodisierung.5 Sie verbreiteten die Idee einer translatio imperii, die das Heilige Römische Reich Deutscher Nation zum Nachfolger von Daniels letztem Heiligen Reich macht. Im 16. Jahrhundert teilte Melanchthon (1497–1560) die universelle Geschichte in vier Monarchien ein. Und noch 1557 begegnete man einer von Daniel abgeleiteten Periodisierung in den Trois livres des quatre empires souverains, à savoir de Babylone, de Perse, de Grèce et de Rome (Drei Bücher über die vier unabhängigen Reiche, nämlich Babylon, Persien, Griechenland und Rom) von Johannes Sleidanus (1506?–1556).
Das andere jüdisch-christliche Periodisierungsmodell, das gleichzeitig neben dem Modell Daniels gültig war, stammte vom heiligen Augustinus, der großen Quelle des mittelalterlichen Christentums. Im 9. Buch seines Werkes Vom Gottesstaat (413–427) unterschied Augustinus sechs Perioden: die erste von Adam bis Noah, die zweite von Noah bis Abraham, die dritte von Abraham bis David, die vierte von David bis zur Babylonischen Gefangenschaft, die fünfte von der Babylonischen Gefangenschaft bis zur Geburt Christi, während die sechste bis ans Ende aller Zeiten währen sollte.
Sowohl Daniel als auch Augustinus ließen sich bei ihren Epocheneinteilungen von den Zyklen der Natur inspirieren. Daniels vier Reiche entsprachen demnach den vier Jahreszeiten, während die sechs Perioden des Augustinus einerseits auf die sechs Tage der Schöpfung verwiesen, andererseits aber auch auf die sechs Lebensalter: Kindheit (infantia), Schülerzeit (pueritia), Jugend (juventus), Adoleszenz (adolescentia), reifes Alter (gravitas) und Greisenalter (senectus). Sowohl Daniel als auch Augustinus haben ihren Periodisierungen zugleich eine symbolische Bedeutung beigemessen. In der Zeitauffassung von einer weit zurückliegenden Vergangenheit können die Perioden keine neutralen Sequenzen sein. Sie waren Ausdruck verschiedener Gefühle, die man der Zeit entgegenbrachte, aber auch von dem, was man nach einer jahrhundertelangen Entwicklung einmal „Geschichte“ nennen sollte.6
Als Daniel dem persischen König Nebukadnezar die Abfolge der vier Zeitalter erläutert, erklärt er, dass jedes Reich gegenüber dem vorhergehenden einen gewissen Niedergang darstellt, bis zu dem Reich, das Gott erschaffen wird, indem er einen „Menschensohn“7 (in dem die Kirchenväter Jesus erkennen wollten) auf die Erde schickt, der die Welt und die Menschheit bis in alle Ewigkeit lenkt. Diese Periodisierung verband also die Vorstellung von einer aus der Erbsünde geborenen Dekadenz mit dem Zukunftsglauben an eine Ewigkeit, die, wie Daniel zwar nicht ausdrücklich sagt, jedoch andeutet, für die Erwählten ein Glück, für die Verdammten aber eine Qual sein wird.
Augustinus betonte dagegen eher einen allmählichen Verfall, analog dem Menschenleben, das mit dem Greisenalter endet. Seine Periodisierung trug dazu bei, den in vielen Klöstern des Frühmittelalters vorherrschenden chronologischen Pessimismus zu verstärken. Hinzu kam, dass sowohl die griechische als auch die lateinische Sprache und Literatur zunehmend aus dem Unterricht verschwanden, sodass sich ein Gefühl von Niedergang breitmachte, bis in den ersten Jahrhunderten des Mittelalters der Ausdruck mundus senescit, „die Welt altert“, gang und gäbe wurde. Diese Theorie vom Altern der Welt hat bis ins 18. Jahrhundert hinein verhindert, dass die Idee des Fortschritts entstehen konnte.
Trotzdem hat Augustinus in seinem Text auch eine mögliche Verbesserung der kommenden Zeiten angedeutet. Im sechsten Zeitalter, zwischen der Fleischwerdung Christi und dem Jüngsten Gericht – die Erlösung aus der Knechtschaft der Vergangenheit und Hoffnung für die Zukunft versprechen –, bleibt der Mensch, der zwar früh von der Erbsünde besudelt wurde und damit auch die menschliche Zeit besudelt hat, dennoch „nach Gottes Ebenbild“ geschaffen. So fand das Mittelalter in sich selbst immer wieder die nötigen Anlagen zur Erneuerung der Welt und der Menschheit, die man später als Renaissancen bezeichnen sollte.
In dieser Studie über die Bemühungen der Menschheit, die Zeit zu beherrschen, muss man ein Ereignis von weitreichender Bedeutung erwähnen: Im 6. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung schlug der in Rom lebende skythische Schriftsteller Dionysius Exiguus vor, einen grundsätzlichen Schnitt zu machen zwischen der Zeit vor und nach der Fleischwerdung des Heilands. Nach späteren Berechnungen anerkannter Spezialisten in der Erforschung des Neuen Testaments hat sich Dionysius Exiguus zwar mit großer Wahrscheinlichkeit geirrt, weil Jesus sicherlich vier oder fünf Jahre vor dem von Dionysius empfohlenen Datum geboren wurde. Doch das ist hier unwichtig. Wichtig bleibt, dass seitdem im Westen und sogar auf internationaler, von der UNO anerkannter Ebene, die Zeit der Welt und der Menschheit hauptsächlich „vor“ oder „nach Christus“ berechnet wird.
Heute, Anfang des 21. Jahrhunderts, wird im Zuge der sogenannten Globalisierung an mehreren Punkten der Erde dahingehend geforscht, auch die Zeit zu globalisieren, was in vielen Institutionen und bei Kontakten zwischen verschiedenen Kulturen und Religionen oft dazu führt, dass die westliche Zeitrechnung anderen Zivilisationen aufgezwungen wird. Diese Situation, einschließlich aller legitimen Bemühungen, ist zum größten Teil verantwortlich für die auf der Geschichtsperiodisierung lastende Ungewissheit, obwohl diese Forschung von höchster Bedeutung für die Menschheit ist.
Unter den großen Denkern, die im Mittelalter die augustinische Theorie von den sechs Zeitaltern weiterentwickelt haben, gab es so einflussreiche Männer wie Isidor von Sevilla (um 570–636) mit seiner Chronica majora (Chronik), der übrigens auch die berühmten Ethymologien verfasst hat. Ferner wäre noch der Angelsachse Beda Venerabilis (673–735) zu nennen, seinerzeit ein großer Theologe, dessen Schrift De temporum ratione mit einer Weltchronik bis zum Jahre 725 schließt. Der in Royaumont tätige Dominikaner Vinzenz von Beauvais (um 1190–1264) hat dem französischen König Ludwig IX. (genannt Ludwig der Heilige) eine dreiteilige Enzyklopädie gewidmet, in deren dritten Band, Speculum historiale, die augustinische Zeitrechnung angewandt wird.
In der Kontinuität religiöser Periodisierungen gab es im Mittelalter noch andere Zeitkonzepte. Hier erwähne ich nur das – gemessen an der Ausstrahlung des Werks beziehungsweise ihres Autors – zweifellos wichtigste, schließlich hat der genuesische Dominikaner Jacobus de Voragine (um 1228–1298) es in der Legenda aurea vorgestellt. Schon in einer früheren Abhandlung habe ich versucht zu belegen, dass die Legenda aurea keine Heiligengeschichte war, wie man lange behauptet hat.8 Vielmehr ist sie eine Beschreibung und Darstellung aller aufeinanderfolgenden Zeitepochen, die von Gott geschaffen und dem Menschen geschenkt wurden, mit der Geburt des Heilands als Mittelpunkt.
Nach Jacobus de Voragines Ansicht definieren zwei Prinzipien diese Zeit: das „Sanktorale“ und das „Temporale“. Während sich das Sanktorale auf die Lebensgeschichten von 153 Heiligen stützt – was der Anzahl der Fische beim wundersamen Fischzug im Neuen Testament entspricht –, wird das Temporale durch die Liturgie und die sich in ihr widerspiegelnden Beziehungen zwischen Gott und dem Menschen strukturiert. Die Zeit der Menschheit war für Jacobus de Voragine die Zeit, die Gott Adam und Eva geschenkt hat, von diesen jedoch durch die Erbsünde besudelt wurde. Diese Zeit wurde durch die Fleischwerdung und den Opfertod des menschgewordenen Heilands teilweise abgebüßt und führt die Menschheit nach seinem Tod bis ans Ende aller Tage und zum Jüngsten Gericht.
Aus dieser Zeiteinteilung ergab sich eine Gliederung in vier Perioden. Die erste, die Zeit der „Verirrung“, erstreckt sich von Adam bis Moses. Die folgende Zeit, von Moses bis zur Geburt Christi, ist die der „Erneuerung“ oder der „Ermahnung“. Durch die Fleischwerdung Christi kommt es zur kurzen, obwohl wichtigen, dritten Periode der „Versöhnung“ zwischen Ostern und Pfingsten. Die „aktuelle Periode“ schließlich ist die der „Wanderung“, eine Zeit der irdischen Pilgerfahrt des Menschen, den seine Taten und seine Frömmigkeit beim Jüngsten Gericht entweder ins Paradies oder in die Hölle führen.
Die erstaunlichste Periodisierung der Weltgeschichte in vier Zeitalter hat zweifellos Voltaire vorgeschlagen. In Das Zeitalter Ludwigs XIV. (1751) schrieb er Folgendes:
Alle Zeiten haben Helden und Politiker hervorgebracht; alle Völker haben Revolutionen erlebt; für jemanden, der sich nur Fakten einprägen möchte, ist praktisch jede Geschichte gleich. Doch für jeden der denkt oder, was noch seltener vorkommt, für jeden der Geschmack besitzt, zählen in der Weltgeschichte nur vier Jahrhunderte. Diese vier glücklichen Zeitalter sind diejenigen, in denen die Künste vervollkommnet wurden und die, so der Größe des menschlichen Geistes als Epochen dienend, ein Vorbild für die Nachwelt sind.9
Dabei bediente sich Voltaire des Ausdrucks siècle (Jahrhundert) nicht in der für seine Zeit relativ neuen Bedeutung als einer „hundertjährigen Periode“, die zwar schon Ende des 16. Jahrhunderts aufgekommen war, jedoch erst im 17. Jahrhundert Verbreitung gefunden hatte. Für ihn war ein siècle eine Epoche, die einen besonderen Höhepunkt bildet. Zu diesen vier Jahrhunderten zählte Voltaire als erstes die griechische Antike mit Philipp, Alexander, Perikles, Demosthenes, Aristoteles, Platon usw. Das zweite war das von Cäsar und Augustus, wie es von den großen römischen Autoren ihrer Zeit beschrieben wurde. Das dritte war das, „welches auf die Eroberung Konstantinopels durch Mehmed II. folgt“, und das sich hauptsächlich in Italien offenbart hat. Das vierte war dagegen das Jahrhundert von Ludwig XIV., das nach Voltaires Meinung „von den vieren vielleicht dasjenige ist, welches sich am meisten der Perfektion annähert“: Damals sei es zu wichtigen Fortschritten auf den Gebieten der Vernunft, der Philosophie, der Künste, des Geistes, der Sitten und der Regierungsführung gekommen.
Diese Periodisierung hebt zwar vier bemerkenswerte Perioden hervor, hat jedoch mit Blick auf unsere Überlegungen den Nachteil, dass andere Epochen im Schatten bleiben. Und gerade in diesem Schatten liegt das Mittelalter. Auch Voltaire hielt es also für ein dunkles Zeitalter – jedoch ohne es mit der Renaissance oder der Neuzeit zu vergleichen. Immerhin ist dieser Ansatz für unsere Untersuchung insofern interessant, als er die Bedeutung der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in Italien eingesteht.
Im Großen und Ganzen hat man die Periodisierungen der vier Reiche Daniels und der sechs Zeitalter des heiligen Augustinus bis ins 18. Jahrhundert hinein parallel nebeneinander verwendet. Allerdings keimte im Mittelalter noch eine neuartige Anschauung von der Zeit auf, die im 14. Jahrhundert Gestalt annahm.
1 Patrick Boucheron (Hrsg.), Histoire du monde au XVe siècle, Paris 2009.
2 Siehe Philippe Norel, L’Histoire économique globale, Paris 2009, S. 243–246.
3 Siehe Agostino Paravicini Bagliani, „Âges de la vie“, in: Jacques Le Goff und Jean-Claude Schmitt (Hrsg.), Dictionnaire raisonné de l’Occident médiéval, Paris 1999, S. 7–19.
4 Siehe Daniel 7,13–28.
5 Siehe Krzysztof Pomian, L’Ordre du temps, Paris 1984, S. 107.
6 Ich erinnere daran, dass es neben den Schöpfern oder Benutzern der Perioden einerseits sowie den Kalendern andererseits auch Urheber einer Zeiteinteilung gab, die man Chronographen nannte und die der Geschichtsschreiber François Hartog vorzüglich definiert und vorgestellt hat: siehe „Orde des temps:chronographie, chronologie, histoire“, in: Pierre Gibert und Christoph Théobald (Hrsg.), Théologies et vérité au défi de l’histoire, Löwen, Paris 2010, S. 279–289.
7 Daniel 7,13.
8 Siehe Jacques Le Goff, À la recherche du temps sacré. Jacques de Voragine et la Légende dorée, Paris 2011.
9 Auf diesen Text verwies bereits Pomian, L’Orde du temps, S. 123–125.