Читать книгу Geschichte ohne Epochen? - Jacques Le Goff - Страница 9
Das späte Aufkommen
des Mittelalters
ОглавлениеSeit Dionysius Exiguus1 wussten zwar alle Männer und Frauen der Christenheit, zumindest die der geistlichen und weltlichen Oberschicht, dass mit dem Erscheinen des Heilands und vor allem mit der Bekehrung Kaiser Konstantins Anfang des 4. Jahrhunderts für die ganze Menschheit eine neue Ära angebrochen war. Dennoch gab es keine offizielle Periodisierung der Vergangenheit und die Geburt Christi blieb der einzige chronologische Schnitt. Der Wille zu einer Periodisierung kam erst im 14. und 15. Jahrhundert auf, am Ende gerade jener Periode, die als erste definiert wurde: dem Mittelalter.
Anzumerken ist, dass die Konzeptionen für alt und modern, die mehr oder weniger denen von heidnisch und christlich entsprachen, im Mittelalter zwar längst im Umlauf waren, man die vorangegangene Periode, die Antike, seltsamerweise jedoch noch nicht definiert hatte. Das vom lateinischen antiquitas abgeleitete Wort „Antike“ bedeutete damals „Alterung“ und bestätigte damit lange vor der christlichen Ära die Existenz der augustinischen Konzeption, nach der die Menschheit das Greisenalter erreicht hatte.
Seit dem 14. Jahrhundert, erst recht im 15. Jahrhundert, hatten vor allem in Italien einige Dichter und Schriftsteller das Gefühl, sich in einer völlig neuen Atmosphäre zu bewegen und höchstpersönlich zugleich Produkte und Initiatoren dieser neuartigen Kultur zu sein. Darum wollten sie die Periode, die sie der eigenen Überzeugung nach glücklich hinter sich gelassen hatten, in negativer Weise definieren. Diese war einerseits mit ihnen selbst zu Ende gegangen, hatte aber andererseits mehr oder weniger mit dem Untergang des Römischen Reiches begonnen, also jener Epoche, die in ihren Augen Kunst und Kultur verkörperte und in der große Autoren in Erscheinung getreten waren, die sie selbst übrigens kaum kannten: Homer, Platon (im Mittelalter hatte man nur Aristoteles gelesen), Cicero, Virgil, Ovid usw. Diese Periode, die sie nun zu definieren versuchten, zeichnete sich also allein dadurch aus, dass sie zwischen einer imaginären Antike und einer erdachten Modernität lag: Darum gaben sie ihr die Bezeichnung „Mittelalter“ (Media Ætas).
Der große italienische Dichter Petrarca (1304–1374) war der erste, der im 14. Jahrhundert diesen Ausdruck benutzt hat. Ihm folgten im 15. Jahrhundert insbesondere in Florenz andere Dichter, vor allem aber Philosophen und Moralisten. Sie alle hatten das Gefühl, eine neue Moral und neue Werte zu verkörpern, wodurch sich der Mensch dank seiner Tugenden, Kräfte und Eigenschaften noch über den Vorrang Gottes, der Apostel, aller Heiligen usw. erhob: Daher gaben sie sich selbst den Namen „Humanisten“. So begegnen wir 1469 im Werk des päpstlichen Bibliothekars Giovanni Andrea Bussi (1417–1475), der als bedeutender Humanist galt, zum ersten Mal dem Ausdruck „Mittelalter“ in der Bedeutung einer chronologischen Periodisierung. Er unterschied „die Alten des Mittelalters [media tempestas] von den Modernen unserer Zeit“. Dennoch wurde der Ausdruck „Mittelalter“ offenbar erst ab dem späten 17. Jahrhundert allgemein üblich. In Frankreich, Italien und England sprach man im 16. und vor allem im 17. Jahrhundert eher von „Feudalität“. Außerdem benutzten die englischen Gelehrten immer häufiger den Ausdruck „Dunkle Jahrhunderte“, dark ages, um diese Periode zu bezeichnen. Und 1688 definierte der deutsche Historiker Christophorus Cellarius (Christoph Martin Keller), ein Lutheraner, im zweiten Band seiner Historia Universalis zum ersten Mal das Mittelalter als jene Periode, die von Kaiser Konstantin bis zur Eroberung Konstantinopels durch die Türken im Jahre 1453 reicht.2 Dieser Ausdruck beziehungsweise entsprechende oder verwandte Bezeichnungen triumphierten schließlich bei den Philosophen des 18. Jahrhunderts von Leibniz bis Rousseau.
Allerdings musste man noch bis zum 19. Jahrhundert und der Romantik warten, bis das Mittelalter seinen negativen Beigeschmack verlor und einen gewissen Glanz erhielt: So zum Beispiel im Roman Notre-Dame von Victor Hugo oder 1821 mit der Gründung der École nationale des chartes in Frankreich, beziehungsweise mit den Monumenta Germaniae Historica in Deutschland, die 1819 bis 1824 ins Leben gerufen wurden, um Quellen mit Bezug zum alten, vor allem mittelalterlichen Deutschland herauszugeben. 1840 konnte Victor Cousin schreiben: „Nachdem man das Mittelalter ganz zu Beginn seiner Emanzipation geschmäht, verketzert und verachtet hat, beginnt man nun, es eifrig, sogar begeistert zu studieren.“3 Sobald die mittelalterliche Geschichte Einzug in Wissenschaft und Soziologie gehalten hatte, neigte sie sogar zu einer gewissen Globalisierung. Mit dem Amerikaner Charles Haskins (1870–1937) und seinem Werk über die „Renaissance des 12. Jahrhunderts“,4 vor allem aber mit dem Franzosen Marc Bloch (1886–1944) und der Schule der Annales, wurde das Mittelalter zu einer schöpferischen Epoche mit Höhepunkten (insbesondere die „Zeit der Kathedralen“) und Schattenseiten. Obwohl der Begriff mittlerweile unter Historikern seine negative Bedeutung verloren hat, beweist der Ausdruck „Wir sind nicht mehr im Mittelalter“, dass immer noch ein finsteres Bild von dieser Epoche tradiert wird.
Die Geschichte dieser negativen Konzeption des Mittelalters zwischen dem 15. und dem späten 18. Jahrhundert hat Eugenio Garin5 nachgezeichnet. Seine Studie beleuchtet einerseits die Begriffe Erneuerung und Wiedergeburt (renaissance), andererseits den Begriff der Finsternis, den die europäischen Denker mit dem Mittelalter assoziiert haben, um es zu einer dunklen Periode voller Ignoranz zu machen. Erst Anfang des 19. Jahrhunderts entbrannte ein Streit zwischen den Befürwortern eines neuen, positiven Mittelalterbildes – insbesondere Costantino Battini (1757–1832) mit seiner Apologia dei Secoli Barbari (1824) – und den Verfechtern einer düsteren Darstellung dieser Epoche, die Saverio Bettinelli (1718–1808) Ende des 18. Jahrhunderts so treffend resümiert hat.
Wie die Entwicklung des Mittelalterbildes in der Neuzeit und der Gegenwart beweist, ist die Periodisierung der Geschichte nie ein neutraler Vorgang ohne Hintergedanken. Aus ihr spricht eine Wertung der so definierten Sequenzen, ein – wenn auch kollektives – Werturteil. Übrigens kann sich das Bild von einer historischen Periode mit der Zeit durchaus ändern.
Die Periodisierung ist Menschenwerk und damit sowohl künstlich als auch vergänglich. Sie entwickelt sich mit der Geschichte selbst. In dieser Hinsicht erfüllt sie einen doppelten Zweck: Durch sie kann man die vergangene Zeit besser beherrschen, zugleich unterstreicht sie aber auch die Vergänglichkeit der Geschichte als Instrument menschlichen Wissens.
Der Ausdruck „Mittelalter“, der die Vorstellung vermittelt, dass die Menschheit eine brillante Epoche hinter sich gelassen hat, um irgendwann wieder eine ebenso glorreiche Periode zu erleben, hat sich, wie bereits erwähnt, vor allem im 15. Jahrhundert in Florenz verbreitet. Deshalb hat man diese Stadt zum Zentrum des Humanismus erklärt. Der Ausdruck „Humanismus“ selbst kam erst im 19. Jahrhundert in Umlauf: Um 1840 bezeichnete er eine Doktrin, die den Menschen in den Mittelpunkt allen Denkens und der Gesellschaft stellt. Anscheinend tauchte er zuerst in Deutschland auf, dann 1846 bei dem Franzosen Pierre Joseph Proudhon und 1877 erschien schließlich der Ausdruck „Humanisten der Renaissance“. Wie man sieht, hat der Begriff „Renaissance“ lange gebraucht, um sich gegenüber dem „Mittelalter“ durchzusetzen. Der Gegensatz zwischen beiden Begriffen tauchte hingegen schon 1840 in Jules Michelets Vorlesungen im Collège de France auf. Wir werden noch darauf zurückkommen.
Wenn man nun zurückschaut, wird die Chronologie weder klarer noch frühzeitiger. Im Mittelalter haben die Gelehrten den Begriff „Antike“ nur auf Griechenland und Rom angewandt. Die Vorstellung von einer Antike, aus der in gewisser Weise das Mittelalter hervorgegangen sein soll – schließlich war diese sogenannte antike Periode für die meisten mittelalterlichen Gelehrten anscheinend Vorbild und Sehnsucht zugleich –, tauchte erst im 16. Jahrhundert auf, und auch dann nur sehr verschwommen. Im Bericht von seiner Italienreise (1580–1581) benutzte Montaigne den Ausdruck „Antike“ zwar schon in dem Sinne, in dem wir ihn heute kennen, also als vor dem Mittelalter liegende Periode. Doch Du Bellay hat ihn in seinen Antiquités de Rome (1558) nur im Plural verwendet.
Hier muss man zwei Anmerkungen machen. Zunächst wäre da die Bedeutung Italiens für diese lange Periodisierungsgeschichte der Zeit. Im Westen hat nämlich Rom von der heidnischen Epoche bis zum Christentum die Zeit gemessen, angefangen mit der legendären Stadtgründung durch Romulus und Remus im Jahre 753 v. Chr. (eine Referenz, die es damals noch nicht gab, wie ich erinnere, weil der triumphale Eintritt von Christi Geburt in die christliche Periodisierung erst auf Dionysius Exiguus im 6. Jahrhundert zurückging). Auch durch andere Charakteristika hat sich Italien einen besonderen Platz in der mittelalterlichen Geschichte verdient: die Eroberung durch die Lombarden, später durch Karl den Großen; die Anwesenheit des Papstes als Oberhaupt der christlichen Kirche sowie des Kirchenstaates in Rom; die Herrschaft der „Bürgerschaft“ in einem von Monarchien dominierten Europa; die Bedeutung des Handels (insbesondere mit dem Orient) und der Kunst. Diese italienischen Besonderheiten fanden sich später im Aufkommen des Begriffs „Renaissance“ wieder.
Meine zweite Anmerkung bezieht sich auf den Übergang von der sogenannten Antike zum „Mittelalter“. Lange hat man das Ende der Antike entweder mit der Bekehrung Kaiser Konstantins zum Christentum (Edikt von Mailand, 313) oder mit der Rücksendung der westlichen Kaiserinsignien an den byzantinischen Kaiser (476) gleichgesetzt. Zahlreiche Historiker haben jedoch darauf verwiesen, dass der Wechsel von einer Epoche zur anderen langwierig, allmählich und voller Überschneidungen war. Darum wurde die Ansicht geäußert, man könne keinen klaren Zeitpunkt für den Bruch zwischen beiden Epochen bestimmen. Der heute vorherrschende Ansatz besagt, dass dieser Wandel vom 3. bis zum 7. Jahrhundert gedauert hat. Nach dem Vorbild der deutschen Historiker, die diese Periode als Erste mit dem Begriff „Spätantike“ definiert haben, gab man ihr auch in Frankreich den Namen „Antiquité tardive“.6
Einem periodischen Bruch ganz anderer Art, der sich auf den Wandel der Produktionskräfte bezieht, begegnen wir bei den Marxisten. Aus methodologischen Gründen soll hier das am häufigsten besprochene Beispiel erwähnt werden. Sein Ursprung geht zurück auf einen Artikel des Mittelalterhistorikers Ernst Werner, der während der Teilung Deutschlands in der DDR lebte und dort zwar kein Parteimitglied war, sich jedoch die marxistische Geschichtsauffassung zu eigen gemacht hatte.7 Für ihn entsprach der Übergang von der Antike zum Mittelalter dem von einer Sklavenhaltergesellschaft zu einer Feudalherrschaft. Auf diese Frage gehe ich nicht näher ein, weil ich den Ausdruck „Feudalherrschaft“ unpassend finde. Bisweilen hat er sogar den des „Mittelalters“ verdrängt, weil die Juristen des 18. Jahrhunderts das Lehen für die typische Form des Landbesitzes im mittelalterlichen System hielten. Dabei drückt er weder den Reichtum noch die Veränderungen oder den sozialen bzw. kulturellen Charakter dieser Periode aus. Wie mir scheint, hat der Begriff „Mittelalter“ im Laufe der Geschichte seine negative Bedeutung abgeschüttelt. Am besten behalten wir ihn bei, weil es bequem ist, ihn weiter zu verwenden.
Am Ende meines Essays, der die Existenz eines langen Mittelalters und die Unzulässigkeit der Renaissance als eigenständige Periode belegen soll, werden wir sehen, dass sich für die Geschichtsforschung ganz neue Horizonte auftun, so zum Beispiel die Perspektiven, die Georges Duby in Eine andere Geschichte8 eröffnet hat, vor allem aber die von Fernand Braudel bezüglich der langen Dauer des Mittelalters.
Hier muss man noch einen wichtigen Moment in der Periodisierung der Geschichte zur Sprache bringen: Die Verwandlung der historischen Disziplin von einem erzählerisch-moralischen in ein wissenschaftliches Genre, in ein eigenständiges Fachgebiet und vor allem in ein Lehrfach.
1 Siehe Kapitel 1, S. 22.
2 Allerdings begegnet man dem Ausdruck Media Ætas schon 1518 bei dem Schweizer Gelehrten Joachim von Watt (Vadian) und 1604 bei dem deutschen Juristen Goldast unter der Form Medium Ætum. Siehe George L. Burr, „How the Middle Ages got their name?“, in: The American Historical Review, 20, 4 (1915), S. 813–814. Ich danke Jean-Claude Schmitt, der mich auf diesen Artikel aufmerksam gemacht hat.
3 Victor Cousin, œuvres, Bd. I: Cours de l’histoire de la philosophie, Brüssel 1840, S. 17.
4 Charles H. Haskins, The Renaissance of the Twelfth Century, Cambridge, Mass. 1927.
5 Siehe Eugenio Garin, „Medio Evo e tempi bui: concetto e polemiche nella storia del pensiero dal XV al XVIII secolo“, in: Vittore Branca (Hrsg.), Concetto, storia, miti e immagini del Medio Evo, Florenz 1973, S. 199–224.
6 Siehe die erhellende Studie von Bertrand Lançon, L’Antiquité tardive, Paris 1997.
7 Siehe Ernst Werner „De l’esclavage à la féodalité: la périodisation de l’histoire mondiale“, in: Annales ESC, 17, 5 (1962), S. 930–939.
8 Siehe Georges Duby, L’Histoire continue, Paris 1991; dt. Ausg.: ders., Eine andere Geschichte, Stuttgart 1992.