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Sauerkraut und Würstchen
ОглавлениеCarina, meine beiden jüngsten Kinder, dann Albert, Familie Rösser, überhaupt alle, schienen mich, als meine Liebe zu Britta offensichtlich war, plötzlich zu meiden, man nahm mich nur noch so hin, man erwartete nichts mehr von mir, ich wurde zum Sündenbock erklärt und in eine Ecke gestellt die mir nicht als angemessen erschien, denn ich war anderes gewöhnt. Es war, als die Einsamkeit mein Herz verdüsterte - Britta, die mir über die Zeit der seelischen Trennung zu meinen Nächsten hinweg half, indem sie durch ihre Schönheit alle Zweifel und Hindernisse in der Luft auflöste. Britta war kein Vergleich zu Carina - da war zu viel Unterschiedliches, deshalb führte ich diese Affäre hauchdünn an meiner eigentlichen Ehe geschickt vorbei, denn in Carinas Augen hatte „ich“ unsere Ehe zerstört. Ja, ich war durch meine Restaurants, durch meinen Erfolg als Geschäftsmann, durch meine unzähligen Abenteuer zu einem miesen Zuhälter und zu einer Un-Person verdonnert worden, die den regelmäßigen Ablauf eines normalen Tages alleine schon durch seine Anwesenheit als solches beeinträchtigte. So kam die Zeit in der ich mich wie ausgestoßen fühlte, man legte auf meine Gegenwart „keinen“, oder nur noch sehr wenig Wert. Die Kinder, also, meine Kinder, hatten sich mit Ausnahme von Jochen und Birgit, auf Carinas sowie Alberts Seite geschlagen, man war grundsätzlich gegen mich, man strafte mich, man warf mir abfällige Blicke zu, indem man selbst noch hinter meinem Rücken, irgendetwas Unschönes herumtratschte. Eine Versöhnung innerhalb meines eigenen Hauses schien in ungreifbare Nähe entschwunden zu sein. Selbst wenn es Sauerkraut und Würstchen gab - das Familienessen schlecht hin, herrschte Uneinigkeit, es herrschte eine Anti-Stimmung, die alles Freundliche und Herzliche sofort im Ansatz erstickte. Es waren sonderbare Vorzeichen auf etwas, was nur schwer zu beschreiben geht, denn, der Sommer 1937 hatte so eine bleierne Schwermut mit sich gebracht, die auf das Gemüt drückte, ich hätte, rückblickend, glücklicher sein müssen, aber ich war es nicht, ich hatte irgendwie meine Stellung innerhalb der Familie verloren; Britta und die Parteiabende mit der NSDAP bildeten meine neue Familie.
Gelegentlich traf ich mich natürlich mit meinen getreuen Geschäftsführern, oder ich zog auch gerne mal alleine durch die Kneipen der Konkurrenz, aber mir fehlte dennoch etwas Bestimmtes. Britta spürte ganz deutlich, dass es mir an einer Sache mangelte, aber sie verhielt sich passiv, sie befürchtete ein Ende unserer Beziehung, würde sie zu sehr in meiner Privatsphäre herumstochern. Das Problem war, dass ich niemanden vertraute, wahrscheinlich aufgrund der Erziehung meiner weltbürgerlichen Mutter; mein Freundeskreis, welcher nie auffallend groß gewesen war, war auf die Nachbarschaft mit Herrn Rösser und die eher flüchtige Bekanntschaft mit dem eifrigen Schulmediziner Herrn Doktor Feldermann reduziert. Innerhalb der Partei, der zum Teil ungewöhnlich fanatischen Genossen, war niemand jemals bei mir zu Hause gewesen - es ergab sich einfach nicht, ferner wurde ich aufgrund meiner geschäftlichen Tätigkeiten, die einige viele zum gnadenlosen Naserümpfen veranlasste, als für nicht-politik-tauglich angesehen. War die Partei zu aller Anfang auch über jedes Parteimitglied hoch erfreut, so sortierte sie mittlerweile die Spreu vom Weizen, die Partei war zu einem Apparat geworden, der sich strikt an die Linie der Vorgaben hielt, um glaubwürdig zu erscheinen, und um so etwas wie eine kontinuierliche Allgegenwärtigkeit zu demonstrieren. Mich hatte das nie gestört als die Partei sich in der Entwicklung befand, schließlich hatte Hitler erstaunliche Erfolge vorzuweisen, aber so im Laufe der Zeit wurde ich nachdenklich, ich war zwar überzeugt von der Richtigkeit des Faschismus, im damaligen Stadium, in all seiner Macht und seiner Verbreitung – Europa weit, dennoch irritierten mich gewisse hochrangige Leute, in ihren Auslebungen, in ihren Prinzipien und Ansprüchen, vor allem, wenn sie als Gäste, in zivil gekleidet, innerhalb von einen meiner Lokalitäten, sich so gaben, wie sie wohl wirklich waren, nämlich: laut, primitiv, peinlich und total besoffen.
Es gab und gibt immer Unterschiede in der Gesellschaft. Die Reichen werden immer auf die Armen herabblicken, es wird immer Führer und Führungsbedürftige geben, es wird auch immer Ungerechtigkeiten geben - da sollte sich niemand etwas vormachen, aber, im Faschismus, hatten Eitelkeiten keinen Platz gehabt, jedenfalls bisher, ich meine, zu dem Zeitpunkt, wo der Krieg noch in weiter Ferne war, - das fand ich gut, das beruhigte mich so dermaßen, dass ich meiner Frau die Scheidung anbot, obwohl das eine mit dem anderen, nicht das Geringste zu tun hatte. Ich war einfach in einer Laune, die rasche Entscheidungen brauchte, deshalb sprach ich Carina spontan auf meine Idee an. Carina willigte, umschweiflos ein, sie behielt die beiden Kleinen bei sich und sie zog nach Berlin - zusammen mit Albert, um dort dann „auch“ zu heiraten. Den Unterhalt allerdings zahlte „ich“ für sie, sowie für Max und Petra; Max und Petra waren mir von Geburt an fremd gewesen, Carina hatte die beiden für sich, gegen mich erzogen, sie überschwemmte sie mit zu viel Liebe und Aufmerksamkeit, Dinge die sie bei Jochen und Birgit unbeschreiblich vernachlässigt hatte, dennoch waren Jochen und Birgit, durch die HJ, zu soliden, eigenständigen Menschen erzogen worden, die auf zu viel Hingabe durchaus verzichten konnten, ohne dass es als etwas Fehlendes ausgelegt wurde, welches für die Besserwisser offensichtlich war.
Als ich mit Jochen und Birgit, sowie Britta eines schönen Tages in der Küche saß, wir Sauerkraut mit Würstchen, sowie mittelscharfen Senf zu uns nahmen, und wir den Regen beobachteten wie er über die Elbe hinweg fegte, wie der Fluss sich aufbäumte und unerwartet hohe Wellen schlug, da kam so eine ganz eigenartige Familienstimmung auf. Wir redeten, wir tranken, wir fraßen wie ausgehungerte Tiere, und wir hatten alle das Bedürfnis nach Nähe und Harmonie, nicht zuletzt deshalb, weil Birgit ihr Freund „Achim“, und von Jochen die Freundin „Maren“, sich im Laufe des Nachmittags mit zu uns gesellten. Ich war zwar der Älteste in der Runde, aber ich genoss es auch. Endlich hörte man mir mal wieder zu, man nahm mich ernst, man respektierte mich und man suchte meinen Rat in verschiedenen Fragen des Lebens, denn ich hatte ja die Erfahrung und das Geld, und war somit zu einem Führer und Vordenker der Jugend geworden. Und als wir alle so die Nähe des oder der anderen genossen, fiel mir auf, wie schön Birgit geworden war, sie hatte die gleichen wundervollen Haare wie ihre Mutter, auch die Figur war das Werk von Carina ihren Erbanlagen, die Augen allerdings hatte sie von mir mitbekommen, aber dennoch, sie war für eine Sechzehnjährige ungeheuer stark mit Sex-Appeal ausgestattet, und ihr Freund Achim, ein blonder Jugendführer der HJ, hing deutlich an ihren Lippen, er vergötterte sie. Ich wusste, dass er sie liebte und eines Tages würde er sie wohl ehelichen, meinen Segen hatte er jetzt schon. Jochen und Maren waren auch ein schönes Paar, Jochen dominierte, er spielte gerne den harten Typen der sich durch nichts aus der Ruhe bringen ließ, Maren hingegen war ein hübscher, flotter Käfer, mit einem frechen Mundwerk, sie zog häufig und gerne die Aufmerksamkeit auf sich, wenn ihr irgendetwas nicht passte, aber im Übrigen war sie der ruhende Pol an Jochens Seite. Auch Ludwig Rösser, unser wortgewandter, zu Boshaftigkeiten neigender Nachbar, war von Birgit stark beeindruckt gewesen; nicht selten lud er Birgit nebst ihrem Achim, zu einem Eis am Alster-Pavillon ein, anschließender Kinobesuch inbegriffen. Rösser riss sich förmlich den Arsch auf, wenn er in Birgits Nähe war, er hatte sich in sie verguckt und er glaubte, dass er sich unauffällig verhalten würde, aber er irrte sich, denn Birgit hatte längst begriffen, was Ludwig Rösser von ihr wollte. Aber anstatt ihn zurecht zu weisen, ließ sie sich von diesem alten Sack hofieren und aushalten, Achim tolerierte das Ganze zwar, aber, er war aufgrund seiner körperlichen Beschaffenheit, zu allem bereit, denn er schwor auf Blut und Ehre, und ich glaube Rösser wusste, was ihm bevorstehen würde, sollte es einmal zu einer Eifersuchtsszene zwischen ihm und Achim kommen. Also zog Rösser den Schwanz ein, er gab Birgit fast auf, er beobachtete Birgit allerdings weiterhin mit dem Fernglas, wenn sie mit ihren Freundinnen in der Elbe badete, oder wenn sie nur mit Achim, in den späten Abendstunden, nackend, vorwiegend am Wochenende, im Wasser herumtollte und alles um sich herum vergaß. Ich weiß nicht warum Rösser ausgerechnet Birgit ins Bett kriegen wollte, aber als ich auch bei Doktor Feldermann ähnliche Absichten entdeckte, führte ich mit meiner ältesten Tochter ein Gespräch, welches allerdings zu nichts führte. Birgit ergötzte sich an der Tatsache, dass zwei wesentlich ältere Männer auf sie flogen, und daraus offenbar keinen Hehl mehr machten.
Bei Rösser war es die Monotonie einer intakten Ehe, die ihn zu solchen Aktivitäten verleitete, aber, dass der gleichaltrige Doktor Feldermann fast genauso für meine Tochter empfand, das war mir dann doch nicht so ganz geheuer. Denn, gerade Doktor Feldermann, ein ergebener Nazi der aller ersten Stunde, ein verheirateter und karrieresüchtiger Vorstadtarzt, und darüber hinaus ein exzellenter Diagnostiker, gerade er, hätte doch wissen müssen, was er da vor hatte, aber er schmolz förmlich dahin, wenn er Birgit gelegentlich „zufällig“ begegnete, und ob das nun immer tatsächlich nur Zufälle waren, nein, sicherlich nicht, aber soviel vorweg: Die Liebe, welche Rösser wie auch Doktor Feldermann meiner Tochter entgegen brachten, wurde nur auf platonischer Basis erwidert. Birgit blieb Achim treu, bis kurz, bevor der Krieg ausbrach, - soviel vorweg, es machte ihr dennoch Spaß, verehrt und bewundert zu werden, besonders, wenn Leute wie Ludwig Rösser oder auch Doktor Feldermann sich ihr gegenüber wie die verliebten Gockel aufführten. Als Doktor Feldermann und auch Ludwig Rösser einsahen, dass ihr Balzen, welches gelegentlich groteske Formen annahm, noch zu nichts führte, zogen sie sich zurück, nicht dass beide aufgaben, oh nein, sie warteten nur auf eine Chance Birgit zu imponieren, um sie so vielleicht doch noch rumzukriegen. Offen gesprochen wurde über derartige Gelüste niemals. Feldermann wie auch Rösser, die sich nach wie vor unbeobachtet fühlten in ihrem Herumgespanne und latenten Anzüglichkeiten, hätten sowieso alles energisch abgestritten, weil beide ja glücklich verheiratet waren, und beide hatten dadurch vielerlei zu verlieren, unter anderem ihren „Ruf“ in der Nachbarschaft, welche (die Nachbarschaft ist gemeint) für jeden Skandal immer ein offenes Ohr hatte. Nienstedten hatte in Bezug auf Skandale recht wenig zu bieten, und damit das auch so blieb, bediente ich mich gegenüber Doktor Feldermann wie auch gegenüber Ludwig Rösser, der leisen versteckten Anspielung, die eigentlich immer wirkte, das ist geschichtlich sogar bewiesen, und als beide die Signale empfangen hatten, da wurde es plötzlich ruhiger, das Gebalze fand ein jähes Ende. Feldermann wie auch Rösser lebten, von nun an, ihren Wunsch nach jungem, knackigen Gemüse in diversen Etablissements aus, wo sie für viel Geld das erhielten, was sie verlangten; denn in ihren sexuellen Wünschen nach etwas Bereicherung konnten die eigenen Ehefrauen nicht mehr mithalten, deshalb gingen beide diese neuen Wege. In wie weit die besorgten Ehefrauen mitspielten oder wegsahen, das kann ich nicht beurteilen, aber, und das ist sicher, Rösser wie auch Feldermann – der mit Vornamen Dietmar hieß, waren im Laufe der Zeit die dicksten Freunde geworden. Und bei einem von beiden, fand in den Sommermonaten, immer irgendeine Gartenparty oder Strandparty statt, und ich wurde jedes Mal mit eingeladen, besonders gerne sahen es Ludwig Rösser und Dietmar Feldermann, wenn ich die Freunde und die Freundinnen meiner beiden Großen mitbrachte. Ja, selbst Britta, meine Dauergeliebte – obwohl wir längst heimlich geheiratet hatten, waren die Gelüste von Rösser und Doktor Feldermann nicht entgangen, sie nahm es allerdings mit Humor, sie war nicht zu knacken, weil sie nur „mir“ alles gab, was sie zu bieten hatte, Experimente waren für Britta kein Thema, denn Erfahrung hatte sie, vor der Zeit, in der sie mit mir zusammen war, ausreichend gesammelt. Rösser und Feldermann nahmen diese Tatsache mit einem Schmerz von Enttäuschung zur Kenntnis, aber sie kamen trotzdem zum Zug, denn auf einer der Partys brachte mein Sohn wieder mal einige junge Frauen mit, und da schlugen Rösser wie auch Feldermann zu, kaum hatten sie die Beute entdeckt, da setzten sie Charme, Geld und unzählige Versprechungen ein, um ans Ziel zu gelangen; Feldermann wie auch Rösser verführten ihre Eroberungen abseits der lauten Strandparty im Gebüsch, keuchend stürzten sie sich auf das junge Fleisch und ließen ihren Trieben freien Lauf, genauso hatte ich einst die wilde Britta gezähmt und mir untertan gemacht. Ich musste einfach nur lachen, als mir bewusst wurde, was Ludwig Rösser und Doktor Feldermann doch für alte Schweine sind, denn sie hatten doch auch eine Vorbildfunktion, der eine aus Sicht seines ehemaligen Regiments, und der andere aus ethischen, moralischen und Gott allein weiß, aus was für Gründen sonst noch, na ja, jedem das Seine. Auf jeden Fall war ich froh, dass Ludwig und Dietmar endlich von meiner Tochter Birgit abließen, denn sie hatten, nun endlich, das, was sie immer wollten, – die jüngere Geliebte, die einem Mann das gibt, was er neben der: Eigentlichen Ehe am nötigsten braucht - und das ist Aufmerksamkeit, sowie das Gefühl sich wirklich als Mann zu fühlen, wenn die Ehe nur noch so dahinplätschert und im Grunde genommen die Luft raus ist, vor allem in sexueller Hinsicht. Rösser sowie Feldermann hatten „mich“ sozusagen als Vorbild und Buhmann genommen, um das zu tun, was schon längere Zeit in ihnen gärte, aber noch nicht so richtig zum Ausdruck kam, erst die Tatsache, dass ich mich von Carina trennte, oder sie sich von mir, dass sie es mit unserem ehemaligen Fahrer trieb, und dass sie diesen Verräter auch noch heiraten würde, alle diese Dinge zusammengefasst, ermöglichen Ludwig wie auch Dietmar, den Weg zur wahren Liebe und zum wahren Glück, jedenfalls aus ihrer sehr eingeschränkten Sicht. Dass es bei mir ein Zufall war, der mich in die Arme von Britta hatte stürzen lassen, das schien meinen beiden Nachbarn egal zu sein, sie wollten mit mir gleichziehen, sie wollten nicht zurückstehen, sie wollten ihre Jugend zurück, und als Beweis, dass sie es geschafft hatten, diente ihnen eine wesentlich jüngere Frau an ihrer Seite, doch dazu später mehr...
Feldermann ging sogar noch einen Schritt weiter, als ihm die natürliche Liebe zwischen Mann und Frau nicht mehr genügte, wandte er sich einer Lust zu, die unter Verbot stand; und hätte man ihn damals bei dem Vollziehen der widernatürlichen Liebe mit einem jüngeren Mann entdeckt, durch die Gestapo, oder durch die Denunzierung eines sich ungerecht behandelten Patienten, ich glaube Feldermann wäre im KZ gelandet. Kaum einer wusste von Feldermanns privaten Leben und Aktivitäten, nun gut, er war verheiratet, er hatte zwei Töchter, er war NSDAP Mitglied, er war Arzt mit Leib und Seele, er besaß ein Boot auf der Alster, er galt in den Kreisen in denen er sich sonst so bewegte: als Beau, als Smartie, als Schönling und als erzkonservativ. Seine einst katholische Erziehung hatte wohl aber auch gewisse Abweichungen in seiner normalen Sexualität mit sich gebracht. Nicht selten ging er, nur für sich, nach dem er gesündigt hatte, in die Kirche, er beichtete, aber, er beichtete nicht die volle Wahrheit, denn so mancher Pfaffe hatte die Pflicht, Derartiges, wie im Fall von Rösser, unverzüglich den staatlichen Organen zu melden. Doch Doktor Feldermann hatte Glück, vielleicht sogar von höchster Stelle aus gesteuert, weil neben den Morpheinen und dem Heroin sowie dem Kokain, die „Lust“ einen ähnlich hohen Stellenwert in der Gesellschaft einnahm. Tatsache ist, in diesem Zusammenhang, nun mal, dass der Mensch eben Mensch bleibt, mit all seinen innersten Träumen, Auslebungen und Begierden, die bisweilen zu einer Intensivität explodieren, mit der er nur noch schlecht zurecht kommt, deswegen berauscht sich der ehemals gesunde Geist, weil die Menschheit, in besonderen Zeiten, von Hochs und Tiefs gekennzeichnet, nach Vernebelung geradezu verlangt. Doktor Feldermann war seinen Träumen erlegen, er, der sonst der Trostspendende war, der Mut machte, der in den Häusern der Patienten ein Gefühl von Sicherheit mit sich brachte, er war plötzlich nicht mehr in der Lage immer nur zu geben, er wollte jetzt auch mal nehmen, er wollte aus der Ehe und aus der Zwangsjacke die man ihm angezogen hatte ausbrechen, er wollte sogar seinen Beruf an den Nagel hängen, aber, dieses gab er sehr schnell wieder auf, als eine von seinen Geliebten ihn wieder zurück auf den Boden der medizinischen Tatsachen holte. Sara war eine von vielen die er sich gegen Bargeld gönnte, sie beschaffte ihm auch immer mal wieder den einen oder den anderen Burschen, wenn Feldermann der Hafer stach und er nach Abwechslung verlangte. Sara, Anfang zwanzig, stark geschminkt, war mit einem Kapitän verheiratet, doch der Kapitän war allzu oft nicht dort, wo er hingehörte – nämlich in Saras Bett, er fuhr lieber über die Weltmeere, er liebte seinen Beruf, und nach einem komplizierten Geständnis, welches er Sara unter Tränen gestand, liebte er die männliche Gesellschaft mehr als die von Damen. Sara lebte also parallel zu ihrem Gatten, sie musste, nicht nur aus Gründen des Geldes schweigen, nein, sie wollte auch „ihre“ natürlichen Anlagen behalten, und die waren bizarrer, perverser und fernab jeglicher Vorstellung; nur Doktor Feldermann hatte Verständnis für Sara ihre Situation, und er nutzte es schamlos aus, so erzählte er es mir einmal, als seine Zunge vom Alkohol und von Opiaten gelöst war. Er bezahlte Sara mit viel Geld, aber auch in Naturalien – vorwiegend in Form von Morphium, dafür musste „er“ alles mit ihr machen, was „ihr“ so gefiel, er wiederum bestand auf: Gelegentliche Zuführungen von jungen Liebhabern, die sich seinen Leidenschaften voll und ganz hingaben. Stattgefunden haben alle sexuellen Treffen in einer Pension in Barmbek bei Frank Zaböhl. Zaböhl der schon mehrfach in der Klapsmühle gewesen war, aufgrund von schizophrenen Verhaltensmustern, die nicht unerheblich waren, der allerdings von Doktor Feldermann und Herrn Rösser mit Geld und Medikamenten unter Kontrolle gehalten wurde, ja, dessen Pension war zu einem Treffpunkt geworden. Zaböhl vermietete insgesamt acht Zimmer auf drei Stockwerke verteilt, offiziell gab es so etwas natürlich nicht, aber die allgegenwärtige Partei wurde in so fern beruhigt, als dass man die Pension als normales Seefahrerheim deklarierte, um so Ärger aus dem Wege zu gehen, und hier verkehrten regelmäßig Doktor Feldermann wie auch der boshafte und exzentrische Ludwig Rösser, für den Zaböhl immer eine Buddel Schnaps stehen haben musste, ebenso Sekt und ein frisches Handtuch durfte niemals fehlen, sonst wurde es ungemütlich im Stadtteil Barmbek. Feldermann war da allerdings genügsamer, ihm reichte ein blonder, blauäugiger gut gebauter jüngerer Mann, der ohne langes Gerede gleich zur Sache kam, Feldermann mochte den devoten Charakter eines Jünglings, wenn er ihn dann, nach einem kurzen Vorspiel, von hinten so richtig rannahm, und sich an ihm bis zum totalen Höhepunkt der Leidenschaft befriedigte, in solchen Momenten spürte Feldermann die Größe und die Adelsauszeichnung, die er in der männlichen Liebe, anfangs nur vermutete, später jedoch fand, weil sie für ihn etwas Gesegnetes und etwas Religiöses bedeutete, obwohl ihn auch junge, natürliche, unkomplizierte Frauen genauso auf Touren brachten, aber er gönnte sich eben seine kleinen Abstecher. Die Ehefrauen von Feldermann und Rösser waren, nach wie vor, über jeden Verdacht erhaben, anscheinend ignorierten sie die Wahrheit, sie ließen auf ihre Ehemänner nichts kommen, im Gegenteil, sie selbst gingen mit ihren sexuellen Wünschen offener um, als ich es für möglich gehalten hätte. Und so kam es, dass ich Frau Feldermann eines schönen Tages begegnete, zusammen mit „ihm“ auf dem Blankeneser Marktplatz. Obwohl sie mit ihm fast ein halbes Jahr verheiratet war, war sie mir noch nie vorgestellt worden, um so erfreuter war ich jetzt. Sie war eine schlanke, dunkelhaarige Erscheinung, und sie wirkte an der Seite ihres Gatten – majestätisch und anmutig, ihre vollen, rot geschminkten Lippen waren absolut passend zu ihrem ebenmäßigen, schönen, mit einer leichten Melancholie versehenen Gesicht, welches Sehnsucht und Empfänglichkeit ausstrahlte. Ivonne, so lautete ihr Vorname, Yvonne war höchstens Ende zwanzig, sie sah mich schweigend an, ich blickte zurück, und es war in jenem Moment, völlig unverhofft, ganz plötzlich, so ein Funke des Herzens übergesprungen der mich zu tiefst erstaunte, Doktor Feldermann war der Augenflirt, den ich für eine Sekunde mit seiner Frau hatte, nicht aufgefallen, dafür war er zu sehr in Gedanken versunken, er hatte mir zwar zur Begrüßung die Hand gegeben, aber, er hatte mich und Britta nur sehr flüchtig wahrgenommen, Feldermann schien in Eile, also zog er seine (bereits schon) zweite Ehefrau in eine andere Richtung an mir und Britta vorbei, dennoch blieb das Erlebnis mit Ivonne in meinem Kopf erhalten. Ihr muss es ähnlich mit unserer ersten Begegnung vorgekommen sein, denn irgendwann auf einer relativ großen Feierlichkeit, die von der NSDAP ausgerichtet worden war, kamen wir uns im Festzelt näher: wir tanzten, wir waren beschwipst, wir schwebten durch das Menschenmeer von Uniformen, Fahnen und Lobreden auf den Führer, ich drückte sie an mich, sie spürte mein steifes Glied und sie bemerkte inmitten der guten Laune: „Dietmar betrügt mich, nicht wahr?“ Was sollte ich sagen? Wäre es richtig gewesen Ivonne reinen Wein einzuschenken? Also nickte ich nur „ganz langsam“ mit dem Kopf, dann küsste ich sie und fühlte, wie ein paar Tränen an ihrer Wange hinunterliefen, sie musste höllisch enttäuscht gewesen sein, als ihr die Tatsache der Untreue klar wurde, sie war verängstigt und gedemütigt, und in mir war plötzlich der Beschützerinstinkt erwacht, Yvonne tat mit leid, ich war aber auch von ihr fasziniert und wurde durch ihre kühle Erotik die sie versprühte eigenartig angezogen. Britta hatte noch nichts bemerkt zu dem Zeitpunkt, ich ließ sie auch im Glauben, dass alles unverändert wäre in unserer Beziehung. Es dauerte sowieso recht lange, bevor ich mit Yvonne schlief, denn ich suchte eigentlich nur eine Abwechslung – anfangs, doch als ich mehr erwartete, weil ich so verschossen in sie war, ließ sie von mir ab, sie vermied es mit mir zu sprechen, sie nahm die Betrügereien ihres Gatten, aus unerfindlichen Gründen, so hin, ja, sie kehrte sogar zu ihm zurück, warum habe ich nie verstanden, aber ich spielte trotzdem weiter mit, alles im Interesse einer guten Nachbarschaft, denn wer versteht schon die Frauen? Und so verliebte ich mich aufs Neue in Britta, sie passte ja auch viel besser zu mir, vor allem durch ihre Jugend, ihre Frische, ihre Einstellung zur Liebe, nein, ich sollte mich wirklich nicht beklagen, obwohl „ich“ mit der Treue so meine Probleme hatte, besonders, wenn eine schöne Frau wie Ivonne auftauchte. Britta gab mir so viel, - sie hätte damals im Grunde genommen etwas Besseres als mich verdient, aber vielleicht verzieh sie mir auch bloß alle meinen kleinen Fehler und Ausrutscher. Vorwürfe hatte ich von ihr nie gehört, und so heirateten wir im Sommer 1937 (zusätzlich) kirchlich, sowie in aller Öffentlichkeit, obwohl mich viele Menschen vor dieser, nun durch Gottes Segen endgültigen Ehe warnten - des Altersunterschiedes wegen, aber irgendwann war auch das kein Thema mehr, weil niemand auch nur geahnt hätte, dass wir standesamtlich längst ein Paar waren. Britta wurde schon recht bald schwanger nach den offiziellen Flitterwochen, welche wir auf Helgoland verbrachten, - die Zeit dort raste davon, wir hatten den gesamten August bis in den September hinein, auf der Insel mit dem roten Fels verbracht. Und als die Vorboten des Herbstes ihre ersten Stürme aussandten, da fuhren wir zurück in unsere Villa nach Nienstedten, um Hamburg im Wechsel seiner Farben zu erleben. Das Laub in unserem Garten hatte bereits all seine Nährstoffe an die Bäume abgegeben und lag nun in kleinen Haufen, vom Wind durcheinander gewirbelt, wie ein Puzzle, sich der Ordnung der Natur beugend, nur noch so da, es hatte seinen Zweck erfüllt, und wartete nun darauf endgültig zu zerfallen, um in den Kreislauf von Tod und neuem Leben zurückzukehren. „Was für eine wunderbare Sache,“ dachte ich so bei mir, „dass alles, was gegeben wird, zwangsläufig auch wieder genommen wird, damit das Gleichgewicht der Kräfte, welche sich „nicht“ immer nur und ausschließlich rational erklären lassen, wieder voll und ganz hergestellt werden.“ Ich und Britta saßen schweigend am Fenster, ja, und wir dachten wohl auch das Gleiche, jeder empfand etwas Bestimmtes, etwas Wohltuendes und Britta sah mich mit einmal so seltsam an, dann küsste sie mich, ich erwiderte ihr Bedürfnis nach Liebe indem ich ihr beide Hände unter den Rock schob, - sie hingegen ließ von meinem Mund nicht ab; ich war erregt, wir hatten Lust, wir ließen unsere Gefühle heraus, wir wollten den anderen haben, und die Lust aufeinander nahm in den folgenden Monaten immer noch mehr zu. Es war, an jenem Tag, welcher in meiner Erinnerung einen besonderen Platz einnimmt, so ein extrem schönes Vorspiel, vielleicht, weil es so spontan und auch so stimmungsbezogen aufkam, es war der Ausdruck unserer Sehnsucht aufeinander, die selbst nach schweren Krisen in unserer Ehe, ungebrochen war. Das Fleischliche, das Animalische, das nur mit dem Wort „Gier“ zu beschreibende Gefühl der totalen Verausgabung, hatte von uns Besitz ergriffen, wir waren wie gefangen in unseren versauten Vorstellungen die Sexualität bis zum Äußersten auszuleben, um die höchste Glückseligkeit der Befriedigung erleben zu dürfen. Nie zuvor hatte mein Bedürfnis nach sexueller Leidenschaft solche Formen angenommen. Es war Britta die durch ihre Ausstrahlung, durch ihre Leichtigkeit und durch ihren Wunsch nach sexueller Befriedigung, auf einer gesunden Basis allerdings, in mir etwas erzeugte, das ich zuvor noch nie erlebt hatte. Es war die Sucht, die Sucht auf den weiblichen Körper, der von Dichtern und Poeten stets vergöttert wurde, dieses Gefühl beherrschte meine Gedanken, ich war dabei mir Britta noch gefügiger zu machen, sie hatte eine Rolle im Bett übernommen, die mir durchaus gefiel, und sie wollte es sowieso nicht anders, also herrschte zwischen uns eine sprühende Atmosphäre, die erst durch das Vollziehen des Geschlechtsaktes auf ein erträgliches Mindestmaß herunter gefahren wurde.
Britta war im vierten Monat, als sie plötzlich, am Dienstag den 19.10.1937, mit heftigsten Unterleibsschmerzen nach Dr. Feldermann verlangte, der, als er kam, sie sofort ins Hafenkrankenhaus einliefern ließ. Doch die dortigen Ärzte mussten uns die traurige Mitteilung machen, dass die Schmerzen die Britta so sehr in panische Angst versetzten zu einer Totgeburt geführt hatten. „Es wäre ein kleines Mädchen gewesen,“ hatte mir der Oberarzt gesagt, „Ihre Frau braucht jetzt mehr Liebe als jemals zuvor, kümmern Sie sich um sie, das ist die beste Medizin, denn, auch der Ärzteschaft sind Grenzen gesetzt,“ fügte er sehr besorgt hinzu. Britta weinte den gesamten Tag, als ihr bewusst geworden war, was geschehen ist. Sie wirkte so traurig und so hilflos, so allein gelassen, ich nahm sie immer wieder in den Arm, und ich versuchte ihr Kraft zu geben, denn Kraft, hatte sie nach all dem seelischen, wie auch dem körperlichen Schmerz, am nötigsten. Und während ich mit der Situation etwas rascher, und ich würde sagen: Einsichtiger umging, hatte Britta lange mit dem Verlust ihres ersten Babys zu kämpfen. Sie konnte es nicht begreifen, dass eine so junge Frau wie sie keinem gesunden Kind das Leben schenken durfte; doch nach weiteren endlosen Liebesnächten, nach einer Stabilisierung ihrer Psyche, und nachdem sie wieder lachen konnte, da wurde sie erneut schwanger und dieses Mal mit Erfolg.
Am Donnerstag den 14.07.1938, dem allseits bekannten französischen Nationalfeiertag, obwohl das wohl eher unwichtig ist in diesem Zusammenhang, gebar mir „meine“ Britta-Mausi einen gesunden Jungen – Lukas. Lukas machte sich von der ersten Stunde seines Lebens an dadurch beliebt, dass er wenig schrie, seinen Brei nicht gleich wieder ausspuckte, dass er das Stethoskop des für ihn zuständigen Arztes, mit beiden Händen festhielt und auch offenbar nicht mehr loslassen wollte, weil ihn das Abhorchen seiner Brust so gefiel; Lukas war verspielt und dermaßen drollig, dass ihn die Schwestern und die Ärzte im Krankenhaus voll und ganz in ihr Herz geschlossen hatten. Als Doktor Feldermann von diesen Dingen erfuhr, sagte er zu mir und Britta: „Dem Kind sei der Beruf des Arztes, wahrscheinlich durch schicksalhafte Fügung, und durch die hervorragende medizinische Betreuung im Hafenkrankenhaus, quasi in die Wiege gelegt worden. Anders seien solche frühen Aktivitäten nicht zu erklären, und wohl auch nicht zu deuten.“ Auch meine Mutter und meine Schwester, sowie deren Ehemänner, die einen Monat später aus den USA angereist kamen, waren im höchsten Maße erfreut über den Neuzuwachs in unserer Villa. Mutter und Schwester sahen in Lukas den „wahren“ Nachkommen der Dynastie „Handke“, denn die ewigen Streitereien mit Carina, in all den vorhergegangenen Jahren, nicht zu vergessen das so typisch preußisch/deutsche/nationale Auftreten, welches von meinem ältesten Sohn – Jochen, und natürlich auch von meiner ältesten Tochter - Birgit, so „typisch“ eben, verkörpert wurde, aufgrund ihrer selbstgewählten Zugehörigkeit in verschiedenen nationalsozialistischen Organisationen, in denen ihnen Zucht und Ordnung beigebracht wurde, all das zusammen gewürfelt, hatte, besonders bei meiner Mutter, stets, Ablehnung hervorgerufen. Sie hegte keinen böswilligen Argwohn gegen ihre so genannten ersten Enkelkinder, aber, den Lukas hätte sie am liebsten, mit Haut und Haaren, aufgegessen, so süß und so wonnepoppig fand sie ihn. Ja, selbst Melanie konnte nicht von ihm lassen, vielleicht, weil sie Britta, die ihr vom Wesen her ähnlich war, so sehr mochte. Und auch Britta hatte starke Gefühle der Sympathie für meine Mutter und für meine Schwester Melanie entwickelt. Ich vermute, dass die Chemie zwischen ihnen mehr stimmte, als seinerzeit zwischen Mutter/Melanie auf der einen Seite, und Carina auf der anderen Seite. Carina die im Übrigen von sich, von Albert und von meinen beiden anderen Kindern gar nichts mehr hören ließ, wurde bei Tischgesprächen völlig ausgeklammert, man schwieg sie „vorerst“ tot, weil sie es von sich aus, auch nicht für nötig hielt, anzurufen, oder wenigstens einen Brief zu schreiben. Sie kam, mit oder auch ohne Albert, wenn sie mal kam, immer nur in den Sommerferien, und lud dann die beiden Kleinen bei uns ab. Selbst Weihnachten (das Fest der Familie) spielte sich vorwiegend in Berlin ab, obwohl ich alle gerne unter einem Dach gehabt hätte, aber das war wohl nicht mehr möglich, Carina und Albert zogen Berlin in vielerlei Hinsicht vor. Carina war anscheinend glücklich in Berlin, und sie hatte Hamburg, sowie deren Bewohnern, und vor allem mich, der sie immer noch so ein bisschen liebte, fast schon vergessen. Ich dachte, trotz Britta, trotz Lukas, trotz allem, was sonst so um mich herum geschah - häufig an sie. Und obwohl meine Briefe immer seltener beantwortet wurden von ihr, war da etwas, was ich nicht erklären konnte, es war so eine innere Verbindung, die über jede Distanz hinweg aufrecht erhalten blieb. Britta machte das offensichtlich und ganz ehrlich keine Sorgen, ich meine damit: Britta war nicht eifersüchtig, nein, sie hatte nämlich die Jugend, welcher ein großer Teil ihrer Schönheit, sowie ihrer Attraktivität bildete, auf ihrer Seite, es war ihr großer Trumpf und sie wusste, dass mich das an sie binden würde, weil der Zahn der Zeit, sowie das ausschweifende Leben, welches Carina mit Albert in Berlin führte, deutliche Spuren hinterlassen haben müsste, und damit hatte sie wohl auch recht. Sie sprach nicht mit mir darüber, oh nein, aber sie wusste, dass ich auf so etwas wie Optik Wert legte, vielleicht, weil Carina für mich lange Zeit die schönste Frau auf der Welt war, und weil Carina es war, die mich einst für sich erobert hatte.
Britta brauchte in der Tat keine Angst zu haben, dass irgendwelche alten Feuer sich wieder entzünden könnten, denn dafür war meine Liebe zu ihr wesentlich stärker, von der Substanz her, als die zu Carina, die von sich aus gesehen, das Interesse an mir sehr deutlich verloren hatte. Albert traf natürlich auch eine Mitschuld, aber er stand unter den schützenden Schwingen von Carina; er war, durch die Heirat mit ihr, der Stiefvater meiner Kinder geworden, er lebte aber auch von Carinas Geld, welches eigentlich von mir und meinem verblichenen Vater stammte, aber man war zufrieden mit sich und mit der Tatsache, dass man mich irgendwie ausgetrickst hatte, um sorglos zu leben. Albert und Carina hatten ihr (mein) Geld unter anderem, in einer altehrwürdigen Berliner Limonadenfabrik angelegt, und waren somit in die Lage versetzt worden, keinen Finger mehr krumm machen zu müssen, um für den täglichen Lebensunterhalt „selbst“ zu arbeiten. Ich empfand das als „erstaunlich“ und „lobenswert“, wenn ich mal, von gewissen Nachbarn, nur mal so als Beispiel, darauf angesprochen wurde – „was Carina, Albert und die beiden Kleinen denn so machen würden in Berlin?“ Insbesondere Dr. Feldermann heuchelte mitleidiges Interesse vor, obwohl ich das von ihm am allerwenigsten erwartet hätte, Rösser fragte zwar auch ab und zu, aber er war zu sehr mit deutsch nationalen Fragen beschäftigt, als dass er sich mit Carina und Albert ernsthaft auseinander setzte. Beide (Carina und Albert) hatten es geschafft, nicht zuletzt mit Hilfe ihrer Parteizugehörigkeit, sich in die oberen Berliner Kreise einzunisten, denn ihren Hamburger Dialekt konnten sie nicht so einfach, von heut` auf morgen ablegen, er war zu eingeprägt, und er wirkte stellenweise, wenn man sich mit der Berliner Oberschicht traf, doch sehr steif und vornehm zurückhaltend, was für „einen“ oder „eine“ Berlinerin, durchaus, eine Herausforderung bedeutete. Der Berliner, welcher sich häufig auf seine Berliner Schnauze beruft, war und ist, verglichen mit einem Hanseaten, doch eher etwas sehr „gewöhnlich“, unter anderem auch in seinem Ess- und in seinem Trinkverhalten.
Meine Schwester Melanie bemerkte frei, und wie immer, aus dem Stegreif heraus: „Carina und Albert haben eine gute Wahl getroffen sich ausgerechnet in Berlin niederzulassen, sie passen auch besser, und das gilt für beide, natürlich mit Ausnahme der beiden Kinder, sie passen schon in eine Umgebung in der Anstand und Tugendhaftigkeit erst an zweiter Stelle kommen. Und im Grunde genommen kann man „ihr“, ich meine, vor allem „ihr“, nur das Beste wünschen.“ Natürlich war das mit dem „Wünschen“ gelogen, aber Melanie konnte anscheinend nicht anders als ständig irgendwelche kleinen Gemeinheiten austeilen. Auch meine weltbürgerliche Mutter kommentierte, mit leicht vorgeschobener Brust, in ähnlicher Art und Weise wie Melanie; die sich währenddessen, während meine Mutter ihren Vortrag hielt, an der, frisch vom Konditor gelieferten Schwarzwälderkirschtorte labte, und meine Mutter die Ansichten ihrer Tochter verteidigte bzw. noch zusätzlich ergänzte, damit auch dem Letzten an unserem Kaffeetisch klar war: Wie glücklich sich Mutter und Tochter fühlten, dass meine Ex-Frau, samt des Hauses ehemaligen Chauffeurs - Albert, „endlich“ nicht mehr Bestandteil dieser Familie waren. Die Ehemänner von Mutter und Schwester kümmerten sich „nicht“ um derartige Probleme, sie hielten sich wieder in harmlosen Gesprächen auf, so wie eigentlich immer, wenn sie über den großen Teich zu uns herüber kamen. Meine Mutter nahm mich eines Abends, leicht angesäuselt, zur Seite und steckte mir einen Haustürschlüssel zu, es war ein stinknormaler Schlüssel so wie man ihn in aller Welt benutzt, um das Haus zu betreten, nur mit dem feinen Unterschied, dass dieser mit einer Gravur versehen war – einer Adresse in London. Ich sah meine Mutter verdutzt an und fragte sie wörtlich: „Was soll das denn bedeuten?“ „Es ist für den Fall, dass Hitler Krieg macht, deshalb habe ich in London, außerhalb der City, ein kleines Häuschen gekauft.“ „Für mich?“ „Für dich und deine Liebsten, wenn, was Gott verhüten möge, der Ernstfall eintritt.“ Im ersten Moment war ich fassungslos wie bescheuert meine eigene Mutter war, warum sollte Hitler Krieg führen in absehbarer Zeit? Und vor allem gegen wen? Doch meine Mutter bestand darauf, dass ich den Schlüssel immer bei mir tragen sollte. „Dein Name steht bereits an der Tür des Hauses, außerdem wird das Haus von einem meiner Bekannten in Schuss gehalten, ihr müsst auf nichts verzichten, solltet ihr irgendwann einmal dort hinziehen,“ fügte meine Mutter besorgt hinzu. So wie in diesem Moment hatte ich meine Mama noch nicht erlebt, vielleicht wusste sie mehr als wir in Deutschland. Dennoch, mir war nicht ganz wohl bei dem Gedanken, dass meine Mutter eventuell doch recht haben könnte, also klinkte ich den Schlüssel an mein Schlüsselbund, zeigte ihr jenes, als Beweis, und schob die fürchterlichen Themen Krieg, Konzentrationslager und das Verunstalten von jüdischen Einrichtungen sowie Geschäften in Deutschland bewusst zur Seite. Weder Dave, Roger und, - Melanie schon mal gar nicht, keiner hatte jemals in den vergangenen Jahren auch nur den geringsten Zweifel an der deutschen Politik geäußert. Roger und Dave gaben sich sehr lässig, sehr entspannt, wenn es sich um „Nazi Deutschland“ drehte, so wie sie sich ausdrückten, also, wenn sie von Deutschland und von Adolf Hitler sprachen, was sie sehr höflich, aber auch mit leisen Andeutungen taten, die nicht zu überhören waren. Es schien, als ob beide überhaupt keine klare Meinung zum Thema Deutschland hätten, aber dem war natürlich nicht so, dennoch vermieden sie es mir gegenüber auf Konfrontationskurs zu gehen. Ab und zu verteilte jeder mal seine Ansicht über den Faschismus, auch über den Faschismus in Italien; natürlich waren Hitler und Mussolini Gegenstand der Weltpolitik, welche besonders von den Emigranten in den USA mit Unbehagen beobachtet wurde, aber dass uns ein Krieg bevorstand, nein, das hätte ich nicht erwartet, ich meine, dass man so von den Deutschen dachte, denn der erste Weltkrieg war noch nicht so lange vorbei, als dass man an einen neuen denken sollte. Selbst so jähzornige und aggressive Zeitgeister wie Ludwig Rösser, hielten eine unmittelbare militärische Auseinandersetzung, ausgehend von Deutschland, für undenkbar. Rösser sagte damals zu mir, als ich ihn auf einen kommenden Krieg ansprach den meine Mutter befürchtete: „So ein Quatsch, und vor allem gegen wen denn? Europas Regierungen bestehen doch nur aus Waschlappen und feigen Demokraten, die sich von irgendwelchen dahergelaufenen Juden herumkommandieren lassen, jedoch, wer sich mit Deutschland anlegt, der hat selber Schuld.“ - Das war die Meinung von Ludwig Rösser, er, der ehemalige Bürgerkriegsveteran, der es ja wissen musste...
Und dann, mit lauter, fester, sowie kraftvoller Stimme fügte er hinzu: „Es wird überhaupt keine Kriege mehr geben, wenn sie nicht notwendig sind – Heil Hitler.“ Tja, und wie er das so daher sagte, nun, das klang schon fast nach dem Führer selbst, welchen Ludwig Rösser nur allzu gerne einmal, zum Tee, zu sich nach Hause eingeladen hätte, um „ihn“ dann in „seinen“ radikalen Ansichten zu bestärken, schließlich hatten beide im ersten Weltkrieg für „ein und dieselbe“ Sache gekämpft. Doktor Feldermann, seine liebreizende, spröde Gattin Ivonne, Frau Rösser, dann der etwas irre Frank Zaböhl, welcher immer noch in Diensten von Rösser sowie Doktor Feldermann stand, alle glaubten, ich übrigens auch, dass von deutschem Boden aus, nie wieder Krieg entstehen würde. Hitler, und seine Politik waren die Garanten für einen dauerhaften Frieden in Europa und der Welt, da waren wir uns alle einig. Warum meine Mutter so verdüsterte Gedanken mit sich herumtrug? Konnte ich mir nicht erklären, aber sie war anscheinend der amerikanischen und der britischen Propaganda gegen die Deutschen aufgesessen; irgendwie tat sie mir leid, es war wohl das Alter welches sie zu allerlei Befürchtungen veranlasste, so- und nicht anders, sah ich das damals.
Und nachdem Lukas, von unserem Besuch aus Übersee, zwei Wochen lang verwöhnt und abgeschleckt worden war, sowie einen weiteren Teddybären erhielt, ja, da kam wieder die Zeit des Aufbruchs. Wie schon so oft verließen uns unsere lieben Verwandten - Richtung Venedig, um dort dann, wie immer, eine Ansichtskarte mit freundlichen Grüßen zu versehen, sowie mit einer Marke zu bekleben, damit die Post sie weiter befördern konnte, um dann nach einer Woche endlich im Briefkasten unserer Villa zu landen. Britta fand das ganz zauberhaft und hinreißend und irgendwie auch süß, sie schwärmte von ihrer Schwiegermutter in den höchsten Tönen, besonders seit der Schlüsselübergabe; und auch Melanie war für sie eine Freundin „wie man sie sich nur wünschen kann,“ verkündete sie mir eines Morgens, als die Karte aus Italien uns erreichte, und sie mir die Grüße mehrfach vorgelesen hatte, bis ich sie darum bat, jetzt, bitte, „endlich“ aufzuhören und Britta gehorchte. Britta war dennoch hellauf begeistert, sie wollte auch nach Venedig, sie wollte Italien einmal so erleben wie es auch in Filmen gezeigt wurde - nämlich als die Stadt der Liebenden und der Verzauberten, Britta drängelte und liebkoste mich immer wieder mit der dringenden und immer wiederkehrenden Bitte: Den nächsten Urlaub in Bella Italia zu verbringen, weil des Führers Geliebte – Eva Braun, dort auch die schönsten Wochen des Jahres, unter blauem Himmel genoss, und nicht nur sie allein... In der Tat hatten unsere nationalsozialistischen Führer, von Goebbels bis Hitler, sowie deren Anhang, an Italien einen Narren gefressen, und solche Dinge stärkten die Freundschaft sowie die Bündnistreue zwischen dem germanischen Norden und dem südlichen Italien. Ja, als ich es mir so recht überlegte ob ich denn dem Gedränge meiner Frau nachgeben sollte, da erlag auch ich plötzlich der Vorstellung: an der Adria im blauen Meer zu baden, Spaghetti zu essen, Rotwein zu trinken und die sommerliche Exotik auf mich wirken zu lassen. Es war wohl darüber hinaus auch meine persönliche Sehnsucht nach Abwechslung des teilweise zu grauen Alltags in Hamburg, der manchmal, einem, wie dem anderen glich, und auf das Gemüt drückte. Aus dieser gedanklichen Poetik heraus entschloss ich mich, aufgrund meiner hanseatischen Verwurzelung, mit der ich auch Weltoffenheit und Korrektheit verknüpfte, dem sonnigen und faszinierenden Italien meine Aufwartung zu machen. Und als ich meine Absichten in einem langen Brief meiner Familie in Amerika mitteilte, wurde dieser „Schritt“ – so wie man sich ausdrückte, kurze Zeit später im Antwortbrief, begrüßend und als „richtig“ formuliert, denn gerade Venedig war, durch die regelmäßigen Besuche meiner Mutter und deren Ja-Sagern, fast schon zu einem Fixpunkt geworden.
Meine Mutter liebte das italienische Europa mehr als das übrige, und wahrscheinlich rührte die Liebe zu dem Land von meinem Vater her, der meine Mutter dort einst, vor ewigen Zeiten, geheiratet hatte. Meine Kindheitserinnerungen waren sehr dünn an Italien, deshalb hielt ich es auch für besser, jetzt, als gestandener Mann, mit einer goldenen Nadel der Partei an der Anzugjacke, auch dort hinzufahren, wo die Zitronen blühen. Und es war, familiär gesehen, somit beschlossene Sache, dass wir den nächsten Sommerurlaub in Italien verbringen würden. Als ich Rösser, an einem bewölkten Samstag, auf der Elbbank sitzen sah und mich zu ihm gesellte, um ihm von meiner Italienreise zu erzählen da sagte er mir nur: „Italien? Na, ja. Ich würde an deiner Stelle auf jeden Fall genügend Medikamente mitnehmen, lass dir von Feldermann so eine Art von Apothekenkoffer zusammen stellen, denn da unten, bei den Makkaroni, ich meine, man weiß ja nie.“ Hier stellte ich mal wieder fest, dass Rösser ein pedantischer Volksdeutscher, durch und durch, war. Andere Völker oder Kulturen waren für ihn einfach nur überflüssige, dreckige Krankheitsherde, auf denen sich bereits die verschiedensten Bakterien tummelten; dass es woanders auch ganz schön sein könnte, nein, diesen Fakt ließ er von vornherein gar nicht erst zu. Rösser konnte nicht einmal die eigenen Verbündeten ab, sie waren ihm nicht gut genug. „Wer, was Rechtes lernen will, wer aus seinem Leben etwas Gescheites machen will, wer stolz auf das Land seiner Väter sein will, der kann und muss einfach nur in die deutschen Geschichtsbücher sehen. In den Büchern, die von den wirklich großen Deutschen handeln, wird er die Antwort auf das finden, welches er im Leben sucht. Alles, was fernab eines Staates, wie dem unseren ist, ist anfällig.“ „Anfällig?“ Ich verstand nicht. Doch Rösser redete, energisch, mit geradezu, fester Entschlossenheit weiter, er ergänzte: „Darum sollte er, der Unorientierte, der Suchende, die deutschen Werte hochhalten, und nicht in den vielen Mittelmäßigkeiten seiner verweichlichten Nachbarn herumschmökern, denn die meisten so genannten Verfechter der Freiheit sind nur nutzlos und idiotisch, sie stellen sich am Ende sogar gegen die eigenen Leute, wenn sie die Führung übernehmen, um alles wieder ganz anders zu machen, und somit verkehrt und unakzeptabel sind.“ Rösser hatte zwar überhört und vermutlich auch übersehen, dass man Freiheit nicht mit Gegnerschaft verwechseln sollte, aber seine nationalen Gedanken deckten sich, im Ansatz zumindest, durchaus, mit den meinigen. Und Rösser setzte, ermutigt durch meine Zustimmung, noch einen drauf, er sagte: „Die Welt hat letzten Endes die wichtigsten Errungenschaften den Deutschen zu verdanken, sie, die Welt, wäre „nichts“, rein gar nichts, ohne die Deutschen. Und weil wir - die Deutschen, eben mehrere Ellenlängen besser sind als jenes Pack welches uns nur ausnutzen will, deshalb dürfen wir uns auch etwas „mehr“ herausnehmen, im Umgang mit unseren Nachbarn und sogar mit den Verbündeten, da sie ständig versuchen uns zu übervölkern.“ „Aber die meisten Juden sind doch genauso wie wir,“ warf ich ein, „wenn man es auf das rein Äußere beschränkt,“ sagte ich mit einem Stück von Sarkasmus, „warum geht man also derartig hart mit ihnen ins Gericht? Wäre es nicht besser die Kirche im Dorf zu lassen?“ „Mensch, Mensch, Mensch, das führt doch zu nichts,“ entgegnete mir Rösser heftigst erregt, „irgendwann hat man als Deutscher die Schnauze voll, darum war und ist es richtig, dass Hitler die Juden, die Zigeuner, die Kommunisten, die viel zu vielen Parteien, die Polen und all die anderen, die gerne alles in Anspruch nahmen, aber ungern etwas abgeben, dass er die alle rausgeschmissen hat. Der wahre Deutsche verträgt nun mal keine Demokratie und keine Ausländer.“
Rösser, war und blieb, unbeeindruckt, als ich ihm nochmals zu verstehen gab, dass ich das gesamte Verhalten gegen die Juden als zu übertrieben empfinde, und meine Argumente schlossen hierbei den Kriegsdienst der Juden im ersten Weltkrieg, voll und ganz, mit ein. „Die sind doch genauso für Kaiser und Vaterland gestorben, ich meine, so wie all die anderen die für das Deutsche Reich gekämpft haben?“ Sagte ich so ruhig wie es mir möglich war. Aber, der verbitterte und boshafte Ludwig Rösser, wie übrigens auch Doktor Feldermann, der im Verlauf des Gesprächs zu uns gestoßen war, sie waren zu Judenhassern und zu einseitigen, unbelehrbaren, extrem fanatischen „Führer und Parteigetreuen“ geworden, sie waren blind vor Zorneswut auf etwas, was mir im tiefsten Innern als lächerlich und schwachsinnig vorkam je mehr ich darüber nachdachte. Ich muss in diesem Zusammenhang sagen, dass ich immer schon vermutete, dass Ivonne Feldermann eine Jüdin war, denn sie passte durch ihr Aussehen genau in das Schema, welches in der deutschen Öffentlichkeit propagiert wurde. Nur ihrem Ehemann schien das noch nicht aufgefallen zu sein. Aber, ob nun Jüdin hin oder her, vor mir hatte sie nichts zu befürchten, denn Melissa war ebenfalls Halbjüdin gewesen, und dadurch auch kein schlechterer Mensch als andere. Ja, und es war alles, außerdem, doch sehr undurchsichtig, wenn man es auf die Familie Feldermann bezog. Die Frage war nämlich: Verdeckte er mit ihr, also durch seine Ehe mit ihr, seine anderen Neigungen, oder versteckte sie sich, recht geschickt, hinter seiner Parteizugehörigkeit? Um nicht im KZ zu landen, denn, dass Juden abtransportiert wurden, diese Tatsache war nicht mehr wegzuleugnen, sie war un-ü-ber-seh-bar geworden. Demzufolge kursierten über die verschwundenen Juden die abenteuerlichsten Gerüchte, zum Beispiel: Man würde sie so ganz langsam nach Madagaskar schaffen... einen nach dem anderen, oder, man würde aus ihrem Blut, welches sich von dem Blut eines Ariers deutlich unterscheidet, Lakritze machen, lautete eine andere Vermutung aus irgendwelchen Kneipen. Richtig nachgefragt aber hatte niemand, die Angst schnürte einem fast den gesamten Atem ab, auch mir, trotz meiner Parteizugehörigkeit, wenn man daran dachte – „selbst“ eines nachts von der Gestapo aus dem Schlaf gerissen zu werden, um dann für immer und ewig zu verschwinden, in einem KZ, ohne Hoffnung auf Wiederkehr. Doch trotz all dieser unangenehmen Dinge die sich tagtäglich ereigneten, aller Vermutungen sowie Erkenntnisse und Offenbarungen – von so manchem, verlief der Rest des Jahres harmonisch, ich hatte auch keine Lust mehr, mir zu viele Gedanken zu machen, das hing auch mit dem Haus in England und mit diesem ominösen Schlüssel samt Gravur zusammen, den mir meine Mutter so sehr ans Herz gelegt hatte.
Kurz nach dem Österreich im Frühjahr 1938 an das Deutsche Reich angeschlossen wurde, fuhr ich nach London, ich fuhr zu der angegebenen Adresse, welche klein aber deutlich auf dem Schlüssel zu lesen war, und ich war angenehm überrascht wie schön das Haus war, wie freundlich die Umgebung mich willkommen hieß. Das war fast so ein Gefühl wie im Jahre 1920, als ich nach Nienstedten heimkehrte, nach vielen Jahren der Emigration in den Vereinigten Staaten und Carina mich, mit offenen Herzen, in die Arme schloss. Hier und heute stand ich allerdings alleine vor einem Haus, welches in einer ruhigen Seitenstraße lag, umgeben von Bäumen gegenüber einer wirklich wunderschönen, geometrischen Parkanlage, die zweifellos einem Lord oder einem Grafen gehören musste. In der Seitenstraße befanden sich noch weitere Häuser sowie Geschäfte - alle im Victorianischen Baustil gehalten, schlicht und praktisch, so war mein erster Eindruck. Ich nahm also meinen Schlüssel, der immer noch darauf wartete, von mir endlich ins richtige Schloss gesteckt zu werden und ging die vier Stufen zum Eingang hinauf, tja, und auf dem Namensschild stand, mein, mir wohlbekannter amerikanischer Name: Marc Hyatt! „Mutter hat also mal wieder an alles gedacht,“ sagte ich zu mir selber, und ich wollte gerade aufschließen, da kam der Milchmann vorgefahren und stellte ein paar, mit Morgen Tau überzogene, Milchflaschen neben den Eingang meines Nachbarhauses. Mich hatte er noch nicht so richtig wahr genommen, ich war ernsthaft gespannt wie er auf mich reagieren würde, wenn er überhaupt reagieren würde, schließlich war der Mann Engländer; Engländer brauchen im allgemeinen Umgang mit den Menschen nicht unbedingt zu reagieren, dennoch war es für mich von größter Wichtigkeit, dass der Milchmann nicht „überreagieren“ würde. Nachdem er also die leeren Flaschen in seinem Wagen verstaut hatte, kam er seelenruhig auf mich zu, er fragte mich auf englisch ob ich der neue Besitzer des Hauses sei, ich sagte ihm, ebenfalls auf englisch, dass ich zwar der neue Besitzer bin, aber, ich sei sehr viel auf Reisen und deshalb nur selten in London, deshalb sehen wir uns heute wohl auch zum ersten Mal. Er habe in den letzten Jahren gelegentlich eine größere Familie hier gesehen, und auch mit dem- oder mit der- einen, ein paar Worte gewechselt, sagte er zu mir, und nach seiner Beschreibung waren es, ohne dass er es wusste: meine Mutter, meine Schwester Melanie, die Ehemänner und die Kinder. Dass dieses so war, wie es war, war mir natürlich nicht unbekannt, schließlich reiste mein, mir vertrauter, amerikanischer Familienzweig, mindestens einmal im Jahr, kreuz und quer durch Europa. Und die Familie besaß, dank meiner umsichtigen Mutter, und trotz düsterster Vorahnungen ihrerseits, mindestens zwei, wenn nicht sogar drei, zum Teil, feste Wohnsitze - im alten Europa, aber ich wollte den Milchmann nicht mit der Wahrheit langweilen, beziehungsweise überfordern. Ja, und dann kamen wir, allmählich und unweigerlich sowie ohne langes Gefasel, auf das allmorgendliche Milchbeliefern zu sprechen, dass man sich aus England kaum wegdenken kann, so sehr gehört es zu dem Land und zu dessen Menschen; der eifrige Milchmann (Dane - mit Namen) sah in mir einen neuen Kunden - verständlicherweise, aber ich ließ mir lediglich seine Adresse geben, für eine spätere, eventuelle, regelmäßige Belieferung seiner Milch, was er durchaus akzeptierte. „Sie sind Amerikaner?“ Hatte er mir zum Abschluss noch gesagt, bevor er sich in seinen Wagen setzte. „Das habe ich gleich an ihrem Akzent erkannt. Ich kenne die Amerikaner, sehr gut sogar,“ fügte er lobend hinzu, bevor er seinen Motor startete und davonbrauste. Und ich schloss nun endlich die Tür auf.
Erwartungsvoll trat ich ein, aber ich war enttäuscht und blieb abrupt stehen, zu spartanisch, zu leer und zu kalt, zu ungemütlich und zu leblos, starrten mich eine Handvoll Möbel, ein paar alte Bilder, eine kleine Küche und eine Katze an, die offensichtlich durch eines der Kellerfenster ins Haus gekommen war. „Schade,“ sagte ich zu der schwarzweißen Katze, „der Milchmann ist gerade weg, da hättest du früher auftauchen müssen, dann hätten wir zusammen etwas getrunken, du eine Untertasse voll Milch, und ich ein Glas Scotch – ohne Milch.“
Da die Katze mich anscheinend nicht verstanden hatte, kam sie auf mich zu und schlich durch meine Beine hindurch, geradewegs ins Wohnzimmer auf einen Sessel, dort legte sie sich schnurrend auf die Seite und beobachtete mich, wie ich mich weiterhin verhalten würde. Und da ich in der Tat in meiner Einkaufstüte eine Flasche Whisky hatte, zudem noch ein ganz einfaches Zahnputzglas, sowie zwei Konserven und ein wenig Brot mit Käse, goss ich mir so eine Art Willkommenstrunk ein. Die Katze pflegte derweil ihren Körper, sie war, so wie es aussah, nicht zum ersten Mal in diesem Haus, denn allzu vertraut hatte sie auf dem etwas abgenutzten Sessel Platz genommen und wohl auch jemanden ganz anderen erwartet als mich. Warum mir meine Mutter von der Katze nichts erzählt hatte? Nun, das fand ich schon ein bisschen sonderbar, doch, was mich am meisten störte, war die Tatsache, dass es niemanden gab der sich um das Haus kümmerte - in Abwesenheit meiner Mutter sowie dem ihr zugehörigen Clan aus den USA. Sie, die sonst alles immer bis ins Genauste im Voraus plante und festlegte, sie hatte ohne jeden Zweifel, das Haus in die falschen Hände gegeben, falls überhaupt jemand mal nach dem Rechten sehen sollte, was ich stark bezweifelte. Denn es sah im Haus eigentlich nur scheiße aus. Natürlich dachte ich auch an einen Einbruch, aber dafür sah es andererseits wieder zu ordentlich aus, allerdings um endgültige Klarheit zu haben, musste ein aufschlussreiches Gespräch her, darum beschloss ich noch am selben Tag, über den großen Teich, nach Amerika zu telefonieren, ich war einfach zu nervös. Ein Taxi fuhr mich nachmittags zur Post, denn das Telefon im Haus war ebenfalls defekt. Bei der Post angekommen ließ ich mir sofort eine freie Leitung nach Amerika geben, doch selbst nach dem zehnten Versuch, innerhalb von gut und gerne zwei Stunden, war niemand zu erreichen gewesen, obwohl es bei den letzten beiden Anrufen nach 20 Uhr abends war, und um diese Zeit war eigentlich immer jemand im Haus gewesen – sonst, wenn ich nach Amerika telefoniert hatte. Ich machte mir ernsthafte Sorgen, ich rief Britta an, doch Britta konnte mir auch nicht weiter helfen, sie bat mich umgehend nach Hamburg zurückzukommen, weil sie sich so alleine im Hause fühlen würde, und ich versprach ihr, noch in den nächsten beiden Tagen England zu verlassen und mich wieder Richtung Nienstedten zu begeben. Die Nacht verbrachte ich, nach ein paar weiteren erfolglosen Versuchen meine Mutter zu erreichen, in dem spartanisch eingerichteten Haus, zusammen mit der Katze, die sich anscheinend freute, dass nun wieder jemand da war, um mit ihr zu spielen, und um ihr genügend Milch und Aufmerksamkeit zu schenken, denn ich hatte ihr eine große Flasche Landmilch mitgebracht, und die Katze blickte mich auch sehr erwartungsvoll an, als sie die Flasche entdeckt hatte. Sie sprang auf mich drauf, sie beschnüffelte mich, sie schmuste ein wenig mit mir, während ich mich für die Nacht, auf eine etwas größere Couch hingelegt hatte. Nachdem die Katze, die im Übrigen „sehr“ verspielt war, von der, guten, britischen Landmilch ausreichend getrunken hatte, aus einer Schüssel, welche ich ihr vor die Couch, auf der ich schlafen wollte, hingestellt hatte, da streckte sie sich; sie gähnte und kam wieder zu mir rauf, ja, und so schlief sie dann an meiner Seite friedlich, gesättigt und schnurrend ein. Am nächsten Morgen frühstückten wir zusammen, sie schleckte aus ihrer Schüssel die zweite Hälfte der noch verbliebenen Milch, und ich nahm mein Glas, füllte es voll mit Whisky sowie Leitungswasser, denn, was anderes war ja nicht da, und trank. Nun erzählte ich ihr von den vergeblichen Versuchen die Familie in Amerika zu erreichen, die Katze hörte sehr genau zu, legte sich dann jedoch, als ich ins Detail ging, leicht desinteressiert, noch etwas müde und verspannt vom Vortag, auf ihren Sessel und döste so in den Tag hinein. Ich machte mich währenddessen fertig und fuhr erneut zur Post, und dieses Mal hatte ich endlich Glück. Meine Mutter war höchstpersönlich am Telefon, und sie erklärte mir warum das Haus in England von außen so schön, und von innen so weit aus weniger schön ist, und vor allem: Warum das Telefon nicht mehr brauchbar funktionierte. Meine Mutter sagte wörtlich: „Es ist doch alles nur eine Art von Vorsichtsmaßnahme. Natürlich kümmert sich ein Hausmeister „Tom McCraner“ um das Haus, solange niemand dort auf Dauer wohnt. Er selber ist nicht immer da, aber, wenn er eines Tages gebraucht wird, dann wird er dafür Sorge tragen, dass alles in Schuss ist, darauf kannst du dich verlassen. Und die Katze die immer mal wieder auftaucht - ist „seine“ Katze, „Twinny“ heißt sie, sie ist sehr lieb und schleicht sich gerne mal heimlich durch ein kaputtes Kellerfenster ins Haus, um dort dann zu nächtigen, süß, nicht wahr? Ich habe das Haus für dich, Britta und für Lukas gekauft, falls es in Deutschland Krieg geben sollte, denn die Zeichen stehen auf Sturm, das ist nicht mehr zu übersehen.“
Ich machte mir nicht einmal die Mühe meine Mutter davon zu überzeugen, dass es „keinen“ Krieg geben wird unter Hitler, denn ich war ja auch Parteimitglied, und ich hätte mit Sicherheit als erstes erfahren, in wie weit Hitler Kriegsvorbereitungen planen würde, oder bereits getroffen hätte. Doch meine Mutter wollte sich auf ihr Gespür verlassen, so hatte sie das ja auch immer gemacht, und ich hatte keine Lust mehr auf ein Streitgespräch mit ihr, weil sie ja seit je her immer alles besser wusste, und wenn sie mal Unrecht hatte, schrie sie wie eine Irre herum. Wir beendeten unser Gespräch damit, dass wir einander alles nur erdenklich Gute wünschten, bis zum nächsten Besuch ihrerseits. Einen Tag später kehrte ich mit so einem seltsamen Gefühl zurück ins heimische Nienstedten, aber, irgendwie hatte die Wirkung des Gesprächs mit meiner Mutter, so einen Rest von Nachdenklichkeit und von Unwohlsein bei mir hinterlassen. Mein aufrichtiges, grundsätzliches, eigentlich uneingeschränktes Vertrauen zu all meinen nationalsozialistischen Freunden, vorrangig zu Ludwig Rösser, Dr. Feldermann, Achim - der Verlobte meiner Tochter Birgit, dann zu Friedrich Ballinger - mein unermüdlicher, fleißiger Geschäftsführer, ausnahmslos alle, auch mein Sohn Jochen, oh ja, dieses sonst so uneingeschränkte Vertrauen zu meinen Nächsten war, auf einmal, unterschwellig, in Frage gestellt worden. Denn auch Melanie, ihr Mann Dave, sowie Roger - der Mann meiner Mutter, hatten „mich“ schon einmal sehr vorsichtig gewarnt, dass in meinem Freundeskreis, die Möglichkeit bestünde, dass die Ansichten zum Faschismus, nicht ausschließlich begeistert und demzufolge gradlinig seien. Mir war das zwar, zu dem Zeitpunkt - so, nie aufgefallen, aber ich ließ mich gerne, durch andere, belehren; was „ich“ davon halten würde, das allerdings musste man dann mir überlassen.
Dave hatte beim letzten Besuch, sehr ernsthaft und gar nicht im Plauderstil, zu mir gesagt: „Recht und Ordnung sind eine Sache, das Beseitigen von Gegnern, die eine andere politische Auffassung vertreten, selbst in den eigenen Reihen, ist eine vollkommen andere.“ Und er hatte nach einer gedanklichen Pause, die ziemlich lang war, hinzugefügt: „Der deutsche Nationalismus, nicht der Nationalsozialismus, dieser sei das wirkliche und das richtige System für ein Land, dessen Menschen sich vor Übervölkerung und Zersetzung ihrer Kultur schützen sollten und müssen. Letzten Endes liege „das“, - jenes pflichtgetreue Bewahren verschiedener Werte, aber in der Natur eines so dermaßen bewunderungswürdigen Landes wie Deutschland selbst, wo die Dichtkunst, die Musik, das Vorausdenken, das verbessern der Lebensbedingungen für das Volk immer an höchster Stelle standen, darum sei das Ausland, auch Amerika, irritiert über diese neue aufkommende Machtentfaltung, die unweigerlich in einem Krieg enden werde.“ Britta fand solche „Aussprüche“, noch dazu von einem Amerikaner, übertrieben; übertrieben und unangemessen, denn auch sie glaubte nicht an einen Krieg der von Deutschland ausgehen würde, sie war glücklich im Faschismus, denn sie hatte alles, durch mich, und natürlich durch ihre Parteizugehörigkeit, was ihr Herz begehrte. Britta war in ihren Meinungen, die sie sich durch die Partei „vorwiegend“ bestätigen ließ – unantastbar, für sich und für andere. Ich sah das, grundsätzlich genauso, aber, ich konnte mir trotz all des Sonnenscheins, der uns in jenen Jahren begleitete, auch einen Härtefall für meine Familie in Nienstedten und für Deutschland - mein geliebtes Vaterland, durchaus vorstellen. Darum behielt ich den Schlüssel für das Haus in London, vorsichtshalber, aus Gründen der Vermutungen - anderer, unter Verschluss...