Читать книгу Treffpunkt Brunnen - Jacques Varicourt - Страница 5
Die Hamburg-Wahl
ОглавлениеEigentlich war mir egal, was Doris über mich dachte, aber im tiefsten Inneren musste ich ihr recht geben, ja, ich war empfindlich geworden, empfindlich und in so einer gewissen Aufbruchstimmung. Wahrscheinlich hatte ich auch zu oft diese Auswanderer-Sendungen im Fernsehen gesehen, ich war irgendwie voll auf dem Australien-Trip, ich träumte von Adelaide, von Sonne, Wind und Meer. So wie ich sonst immer von Santa Monica geträumt hatte, so träumte ich nun von dem australischen Kontinent. Ich bin eben ein romantischer Träumer, der die Gegenwart als inakzeptabel einstuft, weil sie mein Weltbild, welches ich als Kind von den Eltern mitbekam, stört, und mich geradezu bedroht, deshalb bin ich auch immer bewaffnet, denn ich möchte kein Opfer sein, das dann am nächsten Tag im Fernsehen- oder in einer Zeitung präsentiert wird. Doch nun mal was ganz anderes. Der Brunnen in Harburg war, so mir nichts dir nichts, plötzlich und ohne großartige, ausführliche Vorankündigung, umgebaut worden, und nicht nur die „Neuen“ am Brunnen gerieten hierdurch in Aufregung, nein, auch die Alteingesessenen beobachteten den Umbau- sowie dessen feierlichen Abschluss mit Argwohn. Und als der Brunnen-Umbau, bis ins kleinste Detail, vollendet war, versuchte jeder etwas dazu zu sagen. Ich erinnere mich noch wie Daimler-Dieter meinte: „Der alte Brunnen, der so etwas: Ursprüngliches hatte, ja, das war was, das war nämlich irgendwie ursprünglich, also irgendwie ursprünglicher vom Ursprung her, meine ich, oder habe ich das eben schon mal gesagt?“ Gichtkrallen-Bernd sagte daraufhin vor versammelter Mannschaft: „Ist schon gut Dieter, wir wissen alle, was gemeint ist. Du meinst mit „ursprünglich“ so etwas in der Art wie: Antiquiert, nicht wahr? Also, mehr so der Umgebung entsprechend? Mit einem Gefühl des: Nationalen, aus der Vergangenheit vereinigt, ohne es ausschließlich auf die Geschichte des Brunnens negativ zu beschränken? Denn der Brunnen hat ja lange mit uns gelebt, um es einmal traditionsbewusst auszudrücken. Ich vermute, das wolltest du damit im Grunde genommen sagen, stimmt doch, oder?“ Dieter überlegte ein paar Sekunden, rauchte währenddessen an seiner Zigarette, kratzte sich am Ohr, sah anschließend ca. 10 Sekunden lang zu Gichtkrallen-Bernd, und sagte dann: „Ja, so habe ich das gemeint, ganz genauso! Ich vermisse den alten Brunnen nämlich, ich bin wehmütig, ich fühle mich dem Zauber den er ausstrahlte entrissen und verspüre eine ganz eigenartige Form von innerlicher, unbewältigter Trauer, es scheint so: Als würde diese Melancholie mein Herz verdunkeln.“ Dann weinte Dieter. Jacqueline reichte ihm, in einem Anfall von überwältigender, selbstloser Anteilname, ein besticktes Stofftaschentuch, welches Daimler-Dieter: So dermaßen- und heftig voll rotzte, dass Jacqueline es, nachdem Dieter fertig war, in eine Plastiktüte legte, einen Knoten in die Tüte machte, und es in ihrem, viel zu großen Wintermantel verschwinden ließ. Mario Huana bemerkte: „Uns ist im Moment allen zum Heulen zu Mute, ich will mich da gar nicht ausnehmen. Darum sage ich euch, meine Lieben: Der Brunnen, also der alte Brunnen, war charismatischer, er schaffte das, was nicht mal ein Psychotherapeut schafft, und ich weiß wovon ich rede, – er, der alte, steinerne Brunnen, beruhigte die Seele von uns armen, hoffnungslosen Individualisten.“ Nach diesen Worten schluchzte Mario: Eimerweise Wasser. Er ließ sich gehen, er zeigte mit der rechten Hand immer wieder auf den verregneten, grauen Himmel, niemand konnte sich das für den Moment erklären, erst als eine Taube am Himmel entlang flog, deuteten die „Neuen“, wie auch er selber, die Taube als ein Signal der Hoffnung, der Güte und der Zukunft.
Mario hatte allen aus der Seele gesprochen! Aber, was wäre passiert, wenn die Taube „nicht“ genau in jenem Moment aufgetaucht wäre? Nun, man könnte viel darüber vermuten, aber ist es einer Vermutung wert? Ist es wirklich sinnvoll sich über derartige Begebenheiten den Kopf zu zerbrechen? Ich glaube eher nein! Was damals hingegen die Leute verwirrte war die Tatsache, dass das Wort: Mindestlohn, einen enormen Stellenwert einnahm. Die Blödzeitung und wahrscheinlich alle Teile der CDU konnten sich so „gar nicht“ mit dem Gedanken anfreunden, dem Volke so viel Geld zukommen zu lassen, dass die wirklich arbeitenden Menschen davon menschenwürdig leben konnten. Ganze Fernsehsendungen waren notwendig, um zu zeigen, dass unser soziales, demokratisches System immer mehr aus: Idioten bestand, - die hirnverbrannt und peinlich rüberkamen, wenn man sie auf der Matschscheibe ertragen musste. Ralf erzählte mir und natürlich auch den anderen, beim gemeinsamen Frühstück im Hotel Lüders, an einem Morgen, wo er eine wache Phase hatte: „Ja, der Mindestlohn wäre schon gut, vor allem einer der bei 10-12 Euro liegt, und kein Armuts-Mindest-Lohn. Denn, 7,50 Euro ist nichts weiter als eine Katastrophe, vor allem, wo alle Lebensmittel so teuer geworden sind, nicht wahr? Aber ich kann mir auch durchaus vorstellen, dass die CDU wie auch die SPD, obwohl sich das sonderbar anhört, dass beide ihre korrupten Finger mit drinnen haben? Ich will damit sagen: Einen reellen, und wie gesagt „echten“ Mindestlohn, für alle Branchen, werden diese beiden Parteien bestimmt zu verhindern wissen, was meint ihr?“ Mit „ihr“ meinte Ralf vor allem die Grishams, die ihm sehr aufmerksam zugehört hatten. Patricia sagte daraufhin nur kurz und knapp: „Ja! ... Ja, Ralf, da könnte was dran sein, was meinst du, Arthur?“ Arthur Grisham meinte zu dem brisanten Thema: „In der Tat, es gibt anscheinend, und das wird immer deutlicher, nur noch die Linkspartei, die sich von den anderen, im Bundestag vertretenen, Parteien unterscheidet. Aber das ist ja eigentlich nichts Neues?“ „Ja, das wissen wir „nicht erst“ seit gestern!“ Sagte Magda. Und als sie das so daher gesagt hatte, hatte ich das Gefühl, dass sie jeden Augenblick zu einer Rede ansetzen würde, und ganz genauso kam es dann auch. Aber, allen Erwartungen zum Trotz erhob Magda sich nicht, sie blieb sitzen und sagte: „Ich muss mal ganz generell etwas anmerken, nämlich über die Bildzeitung. Dieses bebilderte Stück Scheißhauspapier, welches ja zu dem Springer-Konzern gehört, also dieser Dreck, maßt es sich an, das Volk nun total zu verarschen, Stichwort, der eben schon erwähnte: Mindestlohn! Springer zahlt, wenn denn dann überhaupt, nur Hungerlöhne, und tut dann in seiner beschissenen Aufmachung so, als wenn das, was sie den Leuten eintrichtern wollen, auch noch richtig sowie unerlässlich wichtig ist. In den von mir so geschätzten sechziger Jahren, sind die Studenten, ebenso meine Wenigkeit, gegen den Springerkonzern massiv vorgegangen. Ich fordere euch alle hiermit auf: Kauft „keine Bildzeitung“ mehr! Kauft überhaupt keine Druckerzeugnisse mehr - hinter denen Springer steckt, denn, diese Art von Protest ist die wohl wirksamste Methode jenen Damen und Herren in der Chefetage zu zeigen, dass wir das Volk, in einer korrupten Demokratie, uns zu wehren wissen. So wie es jetzt ist, kann- und darf es auf gar keinen Fall weitergehen, ich betone dieses mit Nachdruck. Der normale Bürger wird seit kurzer Zeit so richtig verarscht, er wird in seiner beruflichen Zukunftsangst, noch zusätzlich belastet, und das in einer Art und Weise die beispiellos, wenn nicht sogar beschämend ist!“ Alle im Frühstückstraum des Hotels Lüders klatschten Beifall, auch Bert Teufel, der plötzlich durch die Tür, ganz alleine, das Zimmer betrat, und Magda von hinten anerkennend auf die Schulter klopfte, dabei grinste er so... so wie es eben nur „er“ kann. Uns verwunderte Teufel seine rührige Geste ein bisschen – war er nicht mit einem Bildzeitungsschmierfinken befreundet? Aber egal, wir hielten uns nicht lange bei dem Gedanken daran auf, die Studentin: Sybille von Burg, hingegen, erhob, dabei ein wenig erregt – durch Magda ihre Rede, das eigene Wort, sie sagte, ungewöhnlich laut für ihre Verhältnisse: „Wir müssen auf die Straße. Nur dort werden wir die Aufmerksamkeit finden die wir brauchen. Vielleicht können wir ja auch die Linkspartei mobilisieren sich uns anzuschließen? - Oder umgekehrt? Was meint ihr?“ Alle nickten mit ihren Köpfen, wir gaben der Studentin recht. Dann klatschen wir, - wir klatschten für Magda und für den Vorschlag der Studentin, der von allen wohlwollend zur Kenntnis genommen worden war. Und in der Tat, die Wahlen, das heißt ganz konkret: Die Wahl der Bürger, der sog. Protestwähler, in Niedersachsen und Hessen, im Januar 2008, bewirkte, dass die Linkspartei in beiden Parlamenten plötzlich vertreten war. Roland Koch, von vielen auch nur „Scarface“ genannt, hatte mit seiner Kampagne gegen kriminelle Ausländer, die es ja eigentlich gar nicht gibt in Deutschland: Also, die kriminellen Ausländer, - er hatte mit jener Aktion den minderbemittelten Wähler irritiert, und der gute Roland wurde für seinen waghalsigen Schritt mit einem prozentualen Verlust von 12% bestraft, die CDU hatte versagt. Parteigenossen, langjährige Weggefährten und natürlich der Wechselwähler verstanden ihn plötzlich irgendwie so gar nicht mehr, ihn den Hardliner, der am liebsten alles und jeden aufgehängt hätte, der nicht so war wie er selber, - so unerbittlich in der Sache, so zielstrebig und so übersachlich in der Sache. Koch rang nach Erklärungsbedarf, dennoch stellte sich die Kanzlerin, Angela Merkel, hinter ihn, und nicht etwa vor ihm, so wie viele böse Zungen es hämisch kommentierten, wenn man für sich und alleine war. Die „Neuen“ in Harburg am Brunnen reagierten mit Gleichgültigkeit und Unwissenheit auf die Tatsache, dass die Linkspartei im Aufwind war, ihnen war es egal ob aus einer Protestpartei eine bürgerliche Partei wurde, die ein Bündnis mit der korrupten, volksentfernten und unsozialen SPD einging, für die „Neuen“ am Brunnen war im Grunde genommen nur wichtig, dass sie sich auch in Zukunft regelmäßig besaufen konnten ohne Einschränkungen hinnehmen zu müssen. – Dass das Hartz IV Geld hinten und vorne nicht langte, um den sich ständig erhöhenden Lebensmittelpreisen gerecht zu werden, dieser Fakt wurde durch das reichhaltige Angebot der Harburger Tafel mehr oder weniger ausgeglichen. Der Rest des Geldes wurde, wie uns ja mittlerweile allen bekannt ist, innerhalb kürzester Zeit versoffen. In diesem Zusammenhang sei Gichtkrallen-Bernd genannt, der im Januar 2008 durch permanente Abwesenheit am Brunnen in Harburg auffiel und beinah in Vergessenheit geriet. Was der Anlass für sein Wegbleiben war konnte selbst sein damaliger Busenfreund und Berater Martin Wagenknilch nicht ergründen. Wagenknilch sagte mir diesbezüglich: „Wenn Bernd sich so dermaßen lange nicht blicken lässt, könnte das, unter gewissen Umständen, bedeuten, dass er einer regelmäßigen, schwarzen Arbeit nachgeht, oder dass er schon wieder einen Bruch gemacht hat.“ Und obwohl jene Vermutungen naheliegend waren, konnte und wollte sich niemand so recht mit diesem doch sehr spekulativen Gedanken anfreunden, Unbehagen breitete sich aus. Dennoch, Gichtkrallen-Bernd blieb fürs Erste verschwunden. – Die Gerüchteküche drohte beinah über zu schwappen. Doch war auch in jenen späten Januartagen, am Brunnen in Harburg, etwas Positives geschehen. Trizi, die von allen hochgeschätzte Kielerin, mit einem ausgeprägten Hang zu: Drogen, Tabletten und psychisch bedingten Abnormitäten, ließ sich von ihrem Psychiater mit dem Anti-Depressiva: Mirtazapin behandeln, also mit jenem Präparat, mit welchem auch bei Ralf seit längerer Zeit erstaunliche Erfolge erzielt worden waren, so dass er am alltäglichen Leben, trotz immer wiederkehrenden Dauersuffs, teilnehmen konnte. Trizi, sagte zu mir: „Ich bin wieder glücklich, glücklich und der Sonnenseite des Lebens ein Stück näher gerückt. Ich nehme morgens eine Mirtazapin und dann noch eine gegen Abend, ich fühle förmlich wie mein Gehirn sich regeneriert, ich sehe ganz neue Welten, wenn ich kurz vor Mitternacht am Ofen sitze und von Kiel träume, wo ich einst das Licht der Welt erblickte, Gott hat mich also noch „nicht“ vergessen. Und meinem Psychiater werde ich uneingeschränkt, bis in alle Ewigkeit hin, dankbar sein, dass er mich vor einer zukünftigen Krise bewahrt hat, möge somit das Licht des Lebens in seine Praxis scheinen.“ Trizi war wie berauscht als sie mir das so sagte, sie war mit sich selbst wieder im Reinen.
Vielleicht ist es für den Moment, also für Sie, meine Lieben Leser, ein zu abrupter Wechsel, wenn ich daraufhin weise, dass die Hamburger Wahlen, am 24. Februar 2008, bevorstanden? Der Hamburger Bürgermeister Ole von Beust, und das war offensichtlich, hätte gerne seinen warmen Sessel behalten, aber er wusste, dass sein Stuhl erheblich wackelte, aufgrund von Politikverdrossenheit der Wähler. Christa Sager, der Papagei, von den Grünen, wollte sogar eine Koalition mit der CDU nicht mehr ausschließen. – „Macht“ ist eben geil. Arthur Grisham sagte in diesem Zusammenhang zu mir und zu Bianca: „Wenn man sich das einmal so vorstellt, die CDU würde sogar ein Bündnis mit den Grünen eingehen? – Unglaublich! Ich bin verwirrt! Wahrscheinlich werden sie es in 10 Jahren auch nicht mehr für unmöglich halten ein Bündnis mit der NPD oder der DVU zu schließen, nur um eine Regierungsmehrheit auf Länderebene mit zu beeinflussen, oder sehe ich: Schwarz?“ Und Patricia Grisham fügte an: „Christa Sager ist eine Person der bürgerlichen Mitte geworden, die Partei die sie repräsentiert sowieso, - sie hat beim linkslastigen, und somit bisherigen Wähler gründlich verschissen. Grün zu wählen ist out, leider haben die Grünen selber das noch nicht begriffen, deshalb sollten sie mit der FDP ein Bündnis eingehen und sich von mir aus: Deutsche Reichs Union nennen, um dann später einmal bei einer Neugründung der NSDAP mit dabei zu sein. Ich gehe doch wohl nicht etwa zu weit in meinen futuristischen Thesen, nicht wahr?“ Wir mussten alle lachen nach diesen Worten, die nicht boshafter hätten sein können und die mir noch lange im Gedächtnis haften blieben. Aber warum blieben sie haften? Eine Erklärung diesbezüglich war die Ansicht von Magda, welche da lautete: „Wahlen sind eigentlich dazu da, dass der enttäuschte Wähler, oder auch der neue Wähler, gegebenenfalls sogar der umworbene Wechselwähler, sich formiert und sich dann ganz individuell zur Wahlurne bewegt um zu wählen. Die Idioten die schon immer traditionell wählten wird man mit neuen, sozial verträglichen und somit gerechteren Ideen nicht erreichen, weil ihnen die Gegenwarts-Begutachtung fehlt. Ich will damit sagen: Unabhängig von irgendwelchen, immer wieder kehrenden Konjunktur-Schwankungen oder auch Ab- bzw. Aufschwüngen einzelner Branchen sind die Schönredner kaum in eine andere Richtung zu bewegen – es sind Spießer! Wie kann man also etwas Gutes so vermitteln, dass es bei den Idioten ankommt? Ich will es einmal versuchen näher zu erläutern: Man müsste auf die Wahlplakate der traditionellen Parteien einen flotten Spruch schreiben, so dass der Wähler gewisse Veränderungen wahrnimmt. Und dann müsste man...“ - „Moment! So ein Verhalten wäre aber nicht unbedingt rechtens?“ Sagte Heide Lüders. „Wie bitte?“ Entgegnete ihr Magda. Nun nahm Heide Lüders Haltung an, sie sagte: „Plakate voll schmieren mit Sprüchen... das ist Kindergarten für Erwachsene, ich kann mich nicht für so etwas begeistern. Ich wähle auch die Linkspartei, aber ich will den Wähler nicht um jeden Preis manipulieren. Jeder sollte seine eigene Meinung haben, und demzufolge auch wählen am Wahltag, denn das ist die wahre Demokratie!“ Und Rudolf Lüders fügte an: „Ich sehe das im Grunde genommen genauso, das, was Heide da eben gerade gesagt hat, also ich stelle mich an ihre Seite, Demokratie hat viele Gesichter und darauf sollten wir einen trinken, nicht wahr? Sieg äh... ich meine, ich gieße euch einfach mal so, ohne große Umschweife, einen kräftigen Schluck in eure Gläser ein. Prost meine Lieben.“
Während meiner Studienreisen von Altona nach Harburg stieg ich am 5. Februar in Ingo Wilff seiner muffigen, von Bakterien verseuchten Bahnhofskneipe ab. Und wer blickte mich dort hinterm Tresen mit hasserfüllten, von Kokain, Heroin und Nicotin verschwommenen Augen an: Diane. – Das widerlichste Geschöpf, das sich die Natur ausgedacht hatte, oh ja, sie lebte noch. Sie versuchte mich auch sofort zu bescheißen, indem sie mir mein Bier falsch berechnete, und den Differenzbetrag, in ihren raffgierigen, verschrumpelten Händen verschwinden ließ. Diane trug immer noch ihren uralten, schwarzen, nach altem Pommes-Buden-Fett stinkenden Pullover aus einer längst vergangenen Zeit. Ihr aufgedunsenes, bäuerliches Gesicht war mit Make-up zugekleistert, sie stank aus dem Mund wie eine: Kuh aus dem Arsch. Diane war alt geworden, alt und abgetakelt. Ihre gesamte Ausstrahlung war dennoch die eines wild gewordenen Tiger-Hais, der nach Aufmerksamkeit lechzte. Nach den üblichen, und bei ihr nicht wegzudenkenden, Verbalattacken, gegen mich und andere anwesende Gäste sagte sie zu mir: „Ich bin immer noch die Schönste im ganzen Land, sagen die Leute, ich habe sogar mal etwas gelernt!“ „Gelernt?“ Fragte ich entgeistert. „Was hat denn so ein: Primitives Häuflein Elend wie du gelernt, außer das Sozialamt zu bescheißen und hier bei Ingo in der Kneipe schwarz zu arbeiten und die Stammgäste regelmäßig zu vergraulen?“ „Ich habe Einzelhandelskauffrau gelernt!“ „Und in welcher Branche?“ Fragte ich. Doch da, nach dieser Frage, wurde Diane verlegen, wenn nicht sogar irrsinnig nervös, sie sog wie eine Wahnsinnige an ihrem Joint, anschließend kratzte sie sich in den Ohren, grapschte sich des Weiteren zwischen die Beine, und sagte dann mit geschwollener Brust: „Ich habe schon „alles“ gemacht. Ich war in „jeder Branche“ tätig, und außerdem geht „dich“ das gar nichts an, was ich: wann, wo- und bei wem gemacht habe.“ Nach diesem aufschlussreichen Gespräch verließ Diane plötzlich ihren Arbeitsplatz und überreichte das Zepter des Schichtwechsels, in der Bahnhofskneipe, an ihre Nachfolgerin: Jenny. Jenny war eine 20jährige, kleine, fette Ratte, die mir sofort durch ihre Unfreundlichkeit ins Auge stach. Ich hatte mal wieder spontan erkannt, dass es in gewissen Kneipen: So ist, wie es ist. - Im Laufe des Nachmittags stellte ich bei ihr eine latente Psychose fest, welche auf Heroinmissbrauch deutete. Jenny erzählte mir, dass Diane mit ihrer ältesten Tochter jeden Abend gemeinsam auf den zweifelhaften Auto-Strich von „Neu Wulmstorf“ ging, um so die Familienkasse aufzubessern. Meistens trieben die beiden, also Mutter und Tochter, es mit Leuten die einen schwierigen Migranten-Hintergrund hatten, oder mit: Drogendealern, Minderbemittelten sowie psychisch labilen... nicht mehr zu therapierende Individuen, oder sie taten es mit Leuten die „ganz generell“ der asozialen Schicht angehörten, aber eben gut bezahlten, trotz gewisser, ekelerregender, sexueller Praktiken bzw. Wünsche, die diese Herrschaften gerne in Anspruch nahmen, wenn man über den Verkehr als solches spricht.
18. Georgi Knossos (Spitzname: Triebi)
Georgi war ein: Bisexueller, immer lächelnder Grieche. Mitte dreißig, ohne Berufsausbildung, aber triebhafter als man sich die Griechen überhaupt- und generell vorstellt, wenn man sie sich vorstellt. Er war sehr feminin, also „schwul feminin“ und ihn interessierte immer nur das Eine, denn er war maßlos. Böse Zungen behaupteten sogar: „Georgi hätte `nen Arschloch wie `nen Abflussrohr.“ Und in der Tat, Georgi bezahlte seine Kunden, vorwiegend: Bodybuilder-Typen, dafür, dass sie ihn von hinten kräftig einen verpassten, wenn ihn der Hafer stach, wenn er geil war und wenn er sich vor lauter Erregung kaum noch halten konnte, - und wenn er, was selten vorkam, keinen Typen fand der sich seiner annahm, dann rammte der wilde Georgi sich, nach eigenen Worten, gelegentlich ein extra: Dickes Dildo in den Arsch, um sich so der Lust selber hinzugeben. Privat trug er gerne: Lidschatten, Lippenstift, silbrige Turnschuhe - und zwar mit Absatz... ja, er war geradezu vernarrt in die sogenannten: Weiblichen Attribute. Georgi bezeichnete sich gerne als „Fee“ die auf den Schwingen der Liebe durch das Leben tanzt, um den Himmel zu berühren. Er war aber auch selbstverliebt, selbstlos und selbstgerecht, ferner litt er unter Depressionen, Selbstzweifeln sowie Zwangsneurosen. Ja, und Georgi sah sich gerne Sendungen mit dem schwulen Komödianten: Dirk Bach an, den er über alles schätzte, weil er ihn so zum Knuddeln fand. Georgi wurde nicht von allen am Brunnen akzeptiert, nicht weil er „zu schwul“ war, nein, sondern, weil er teilweise darauf bestand, mit: Fräulein, Madame, oder auch mit Prinzessin angeredet zu werden, so etwas konnten viele nicht verstehen, deshalb nahmen sie ihn nicht für voll und ignorierten ihn. Als ich Bert Teufel von Georgi erzählte, sagte er spontan und lüstern: „Wie süß, also ganz allerliebst, den muss ich einmal kennen lernen, ich bin jetzt schon hin und weg, – und das nur so vom Zuhören.“ Ganz und gar nicht hin und weg war Magda als sie sich im Fernsehen, ganz genau auf Hamburg 1, die neusten Wählerumfragen zu Gemüte führte. „Dass die Linkspartei nicht besser dasteht gefällt mir nicht besonders,“ hörte man sie sagen. „Magda,“ sagte „ich“ daraufhin, „die Wahl wird doch erst am Wahltag endgültig entschieden, nämlich am Sonntag, dem 24. Februar, deshalb solltest du optimistischer in die Zukunft blicken.“ „Optimistischer? Also, hör mal, ich brauche keine Belehrungen, es wäre mir nur lieber, wenn der „Nicht-Wähler“ endlich erwachen würde und sich für „eine Partei“ entscheidet, das meine ich, denn das ist wichtig.“ Einen Tag später, als ich bei den Lüders im Hotel herumlungerte, sagte Rudolf Lüders plötzlich zu mir: „Entscheidend für die Wahl in Hamburg ist, dass der sog. „Nicht-Wähler“ endlich aus seinem Dämmerschlaf erwacht. Mir ist in diesem Zusammenhang sowieso völlig unklar, dass die Medien über diesen Fakt nur sehr reduziert berichten, ihn sogar bisweilen völlig ausklammern.“ „Ja,“ sagte ich, „der Nicht-Wähler stellt, prozentual betrachtet, ein enormes Stimmenpotential dar.“ Noch während ich das sagte, erschien wie aus dem „Nichts“ Heide Lüders, sie sagte zu mir und zu ihrem Gatten: „Ihr redet anscheinend über die bevorstehende Wahl? Ich habe das nämlich eben so zwischen Tür und Angel mitbekommen. Na, gut! Ist euch eigentlich bewusst, dass in den Medien, gerade jetzt vor der Wahl, der „Nicht-Wähler“ überhaupt gar keine Beachtung findet, obwohl er ein enormes Stimmenpotential darstellt? ... Wahrscheinlich ist euch beiden Schlaubergern, und in Abwesenheit auch die: Alles wissende Magda, in keinster Weise klar, dass die Linkspartei viel mehr den sog. „Nicht-Wähler“ mit einbeziehen sollte in den Wahlkampf, oder, was meint ihr?“ Rudolf wollte gerade darauf antworten, da klingelte das Telefon – es war der Getränkelieferservice, Heide ging, etwas torkelnd, zum Telefon und bestellte unüberhörbar, was alles an Getränken im Hotel zur Neige ging und was neu bestellt werden müsste, sofern es beim Lieferservice vorrätig war. Rudolf Lüders nahm mich kurzer Hand zur Seite, dann sah er mich durchdringend an, anschließend rieb er sich sein Gesicht, bevor er sagte: „Heide und ich... wir sind, also, wir haben im Grunde genommen dieselbe Meinung, auch wenn du denkst, dass wir „uns“ in Bezug auf die „Nicht-Wähler“ abgesprochen hätten! Es kommt mir beinahe schon etwas albern vor. Aber das, das Absprechen wie du vermuten könntest, ist nicht so. Wir sehen gerne am Abend, bei einem Gläschen Wein, politische Sendungen, darum sind wir auch kontinuierlich auf dem Laufenden.“ Ich lächelte lediglich nach diesen einleuchtenden Worten, ich sagte nichts, denn ich hielt es für besser zu schweigen. Ja, und während Heide im Hintergrund noch grölend und dabei leicht angesoffen ihre Bestellung per Telefon durchgab, setzte ich mich mit Rudolf an die Bar. – Rudolf servierte für uns Bier und Cognac, den Cognac spülten wir sofort hinunter, beim Bier ließen wir uns Zeit, dann verschloss Rudolf die Tür zur Bar, irgendetwas drückte ihm aufs Gemüt, er brauchte noch einen zweiten Cognac, lange blickte er mir anschließend in die Augen, bevor er sagte: „Ich habe mich in die Studentin, Sybille von Burg, verliebt. Ich kann nicht mehr ohne sie leben.“ Ich war erstaunt, erstaunt sowie ratlos, wahrscheinlich sogar fassungslos, dabei versuchte ich locker und lässig die Situation zu begreifen, denn nur „ein falsches Wort“ meinerseits in jenem Moment und es wäre zu einer Grenzsituation gekommen. Mir war sofort klar, dass Rudolf meinen Rat suchte. Also fragte ich ihn: „Schläfst du bereits mit ihr?“ „Gelegentlich, wir lieben uns nicht so wie du dir das vielleicht vorstellst, es ist mehr so eine sexuelle Gier aufeinander, - es packt uns von Zeit zu Zeit, und dann machen wir Pläne für die Zukunft.“ „Willst du Heide verlassen?“ „Nein, um Gottes Willen nein. Niemals könnte ich Heide das antun.“ „Du willst also zweigleisig fahren, verstehe ich dich richtig?“ „So ungefähr.“ „Ahnt Heide denn etwas?“ „Das glaube ich nicht, ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass sie nichts ahnt – sie weiß gar nichts, also definitiv nichts! Heide säuft zurzeit relativ viel, auffallend viel, außerdem ist sie tagsüber gerne mal so für ein- oder auch zwei Stunden einfach weg.“ „Vielleicht hat sie selber einen Liebhaber?“ In diesem Augenblick, kaum dass ich zu Ende gesprochen hatte, klopfte es an der Tür, welche von Rudolf verschlossen worden war. Rudolf erhob sich und schloss die Tür wieder auf – Heide kam herein gewankt. „Ihr schließt euch ein? Seid ihr hier am Wichsen, oder, was, ey?“ „Heide, bitte beruhige dich,“ sagte Rudolf. „Ich kann mir schon vorstellen, was hier hinter meinem Rücken über mich getratscht wird – nichts Gutes, so ist das nämlich. Ihr seid doch der letzte Dreck, ihr seid so etwas von scheiße drauf, von Mist und Pisse besudelt, dass ich kotzen könnte. Wieso bietest du deiner Frau nichts zu trinken an? Was soll das? Muss ich etwa darum betteln?“ „Was möchtest du den gerne trinken, mein Schätzchen?“ Fragte Rudolf so höflich wie nur irgend möglich. „Ich will auch nen` Cognac, einen Doppelten bitte... und das mit dem Schätzchen, mein Kleiner, das kannst du dir sparen – ich bin nämlich nicht blöd!“ Mit einem kräftigen Zug leerte Heide hastig ihr Glas, dann sagte sie triumphierend: „Wir können ganz offen miteinander reden, wenn ihr wollt? Rudolf bumst mit einer anderen hinter meinem Rücken, ist doch so, nicht wahr? Aber ich habe auch meinen Spaß, denn ich treibe es mit Ralf... jawohl: Mit Ralf, er ist zwar dauernd besoffen und winselt herum, aber wir sind uns auf einer sehr menschlichen Ebene neu begegnet. – Es ist die Poesie des Glücks, die mich zurzeit beglückt, aber davon habt ihr ja sowieso keine Ahnung, ihr Penner.“ Nach diesen aufschlussreichen Sätzen sackte Heide total besoffen in sich zusammen. Ich und Rudolf trugen sie vorsichtig auf eine Liege, deckten sie zu, und gingen an die Hotelrezeption. Schweigend rauchten wir dort eine Zigarre, dazu tranken wir erneut Cognac. Rudolf wirkte nachdenklich, ich hingegen suchte in meinem Kopf nach einer Lösung, aber mir fiel nichts Gescheites ein. Und plötzlich erschien die Studentin, sie ging zu Rudolf Lüders, umarmte ihn und sagte in meine Richtung: „Rudolf fickt so gut, dass ich mich echt zusammen reißen muss und nicht völlig durchdrehe, denn so wie Rudolf mich bumst hat mich noch keiner gebumst, ich glaube er ist der Beste – er ist supergeil.“ Rudolf schmolz förmlich dahin, seine Gesichtsröte nahm erheblich zu, doch dann sagte er: „Ich glaube das ist jetzt „nicht“ der geeignete Zeitpunkt über unsere Beziehung zu sprechen?“ Ja, so sagte es Rudolf zu der Studentin, die daraufhin ein wenig verstört wirkte. „Ach, nicht? Gestern im Bett hast du mir noch etwas von einer eventuellen „Zukunft“ vorgefaselt, und jetzt soll ich das Maul halten, oder was?“ „Nein, so doch nicht. Ich möchte mich jetzt mit Jürgen alleine unterhalten, wir sprechen uns ein anderes Mal, einverstanden?“ „Von mir aus, ich habe sowieso noch etwas Wichtiges vor.“ Dann verließ uns die Studentin. Nachdem dieses geschehen war, verspürte Rudolf Lüders einen kräftigen Harndrang. „Ich gehe mal kurz abjauchen, komme aber gleich wieder,“ ließ er mich wissen, und verschwand in den privaten Räumlichkeiten des Hotels. Plötzlich klingelte mein Handy - Ralf war dran, er war nüchtern und er bat mich nach „Möller“ zu kommen, in jene berühmte Eckkneipe in Ottensen direkt am Spritzenplatz. Ich sagte zu, aber nur deshalb, weil Rudolf Lüders überhaupt nicht wieder auftauchte, obwohl ich ihn beim Pissen und Scheißen singen hören konnte – aufgrund dessen war ich ein wenig verärgert, ich leerte mein Cognac-Glas und verließ das Hotel. Nachdem ich die Eckkneipe betreten hatte, erblickte ich Ralf, er wirkte bestens gelaunt und winkte mich an seinen Tisch. Doris servierte mir sofort eine Flasche Bier sowie einen Apfelkorn, während sie das tat blickte sie mich so eigenartig an. „Ist irgendetwas?“ Fragte ich. Doch Doris schüttelte nur mit dem Kopf, dann räusperte sie sich und ging wieder auf ihren Platz hinter den Tresen und tat so als wäre alles in Ordnung. Nun erhob Ralf das Wort, er sagte: „Ich muss dir etwas sagen, und erbitte hiermit deinen Rat, ich habe mich nämlich in jemanden verliebt, in eine Person die du sehr gut kennst.“ „Ich weiß bereits schon wen du... .“ „Nein,“ sagte Ralf, „lass „mich“ bitte etwas sagen, lass mich vor allem zu Ende sprechen, du magst es bestimmt auch nicht, wenn dich jemand so ohne weiteres unterbricht, oder? Und tu vor allem nicht immer so, als wenn „du“ schon alles im Voraus weißt, ich kann das nicht ab! ... Es ist mir nämlich sehr wichtig, denn sie ist so ganz anders als Magda, sie, die Neue, ist verständnisvoller, aufmerksamer und sie leitet ein Hotel, und zwar hier in Altona. Mitten in Altona! Ist das nicht unglaublich?“ (Mir war natürlich sofort klar, dass Ralf von: Heide Lüders sprach, aber ich ließ ihn weiter reden, denn er schien sich auf das Gespräch mit mir sehr intensiv vorbereitet zu haben, darum schwieg ich, und ich tat so, als würde ich rein gar „nichts“ wissen). „Es ist, du wirst es wohl kaum glauben: Heide Lüders,“ sagte Ralf euphorisch, und er strahlte dabei wie ein Honigkuchenpferd. „Dass es sich um „sie“ handelt wird dich jetzt wahrscheinlich ziemlich überraschen, nicht wahr? Aber ich glaube es ist nicht nur: billiger, schmutziger, perverser Sex der mich und Heide in erster Line verbindet, es ist mehr... es ist mehr als nur ein Abenteuer, ich glaube sie liebt mich, was meinst du, liebt sie mich, hat sie schon mal etwas über mich in „deiner Gegenwart“ verlauten lassen diesbezüglich?“ „Wie soll ich mich jetzt bloß verhalten?“ Fragte ich mich in jenem Moment.
Und noch während ich mein Kinn, mit der rechten Hand, massierte, bestellte Ralf für sich und für mich: Bier sowie Apfelkorn. „Na, was ist nun? Was denkst du?“ Fragte er mich mit glänzenden Augen. „Ja... Ralf, das ist wirklich eine große Überraschung, damit hätte ich nun wirklich überhaupt nicht gerechnet!“ „Siehst du,“ sagte Ralf, „deshalb bat ich dich, gerade eben, „mich“ ausreden zu lassen.“ „Ralf! Ich entschuldige mich für meine Voreiligkeit, es war ein wenig unüberlegt von mir – es tut mir leid. Doch davon einmal ganz ab, bist du dir hundertprozentig sicher, dass es zwischen dir und Heide Lüders „Liebe“ ist, und nicht nur so ein kleiner romantischer Abstecher? Denn, Magda wird von deinen Liebesdiensten bei Heide doch wohl nicht etwa bereits informiert sein, oder?“ „Moment mal, glaubst du denn tatsächlich, dass Magda mir immer treu war in all den vergangenen Jahren? Ich glaube das nicht! Und ich sage dir auch warum. Sie hat schon wieder, ganz genau: Vor zwei Tagen, heimlich mit Teufel telefoniert. Es drehte sich um Geld, denn die Wohnung in Neuwiedenthal wurde ja plötzlich aufgegeben wie du weißt, oder weißt du das gar nicht?“ „Aufgegeben? Nein, das wusste ich nicht!“ „Ist aber so, die Bullen hatten herausbekommen, dass dort geackert wird, dass dort Filmteams beschissen werden usw. – Pech! Aber, man kann daran nun mal nichts ändern, es ist: Wie es ist. Doch damit nicht genug, Teufel ist auch wieder solo, und er fühlt sich erneut und schon wieder zu Magda hingezogen, - eine unendliche Geschichte von verworrener Liebe, wenn du mich fragst... die sind beide nicht mehr ganz dicht, deshalb habe ich mich auch so in Heide Lüders verliebt, die scheint von den beiden nämlich nicht gerade viel zu halten. – Die, also Heide, quatscht mich auch nicht dauernd mit irgendwelchen politischen Thesen voll, die steht mehr „im“ Leben.“ „Aber du warst- und bist doch auch ein politischer Mensch, nicht wahr?“ „Oh, Gott, oh, Gott, oh, Gott: Warst, bist, – bist, warst, das ist doch alles völlig unwichtig, wichtig sind die Werte des Lebens! Und das ist: die wahre Liebe, das Glück und die Zuversicht, alles andere ist Quatsch mit Soße.“ „Genau! So ist es auch!“ Sagte Doris unüberhörbar laut, - sie, die unser Gespräch aufmerksam verfolgte, obwohl ich diesen verbalen Einbruch ihrerseits in ein „privates Gespräch“ als: Aufdringlich empfand. Ralf lächelte lediglich, als ihm Doris ihre Neugier auffiel, er sagte nichts, - er erwartete jedoch eine Meinung von mir zu seiner Liaison zwischen ihm und Heide Lüders. Und er bekam eine Meinung von mir, ich sagte: „Willst du dich denn auf jeden Fall von Magda trennen, ist eure Ehe zerrüttet, geht bei euch beiden gar nichts mehr?“ „Ich würde am liebsten mit Heide nach Aschaffenburg gehen, und zwar dorthin, wo ich einst das Licht der Welt erblickte. Ich möchte mit Heide ganz neu anfangen, ich würde gerne einen PC-Notdienst eröffnen, denn irgendwoher muss die Kohle ja kommen, nicht wahr?“ „Deine zukünftigen Pläne, sofern Heide damit auch einverstanden ist, scheinen sehr gut durchdacht zu sein, wenn ich das einmal so interpretieren darf? Ist Heide wirklich genauso glücklich wie du, Ralf?“ „Ja, denkst du denn ich bin total bescheuert? Frage sie doch selber, dann wird sie dir unsere Liebe offenbaren, da bin ich mir ganz sicher!“ „Wenn du mir eine weitere delikate Frage gestattest? – Nun, äh, in Sachen Alkohol, warst du in den letzten Jahren kein Kostverächter, ins Glas gespuckt hast du gerade nicht, verstehst du, was ich damit sagen will?“ „Ich habe vor ein paar Tagen mit dem Saufen aufgehört, ich brauche keinen Alkohol mehr um glücklich zu sein, mir geht’s auch ohne diesem Teufelszeug gut – ich bin clean, und das werde ich bleiben!“ Ich kannte Ralf ja nun auch schon eine ganze Weile, aber dass ausgerechnet „er“ mit dem Trinken aufhören wollte, nein, ich konnte das nicht so recht glauben, aber ich nahm es zur Kenntnis, obwohl Ralf schon mehrfach Abstinenz gelobt hatte, und obwohl er immer wieder rückfällig geworden war, machte er, nachhaltig betrachtet, in jenem Moment, tatsächlich den Eindruck auf mich, dass er dem Alkohol feierlich entsagen wollte, - jedenfalls, was die Exzessivität dessen anbelangte, denn er konnte, wie uns allen bekannt ist, enorme Mengen an Alkohol hinunter spülen, und er spürte instinktiv, dass ich ihm beinah Glauben schenken wollte. Was mich jedoch verwunderte, war die Tatsache, dass er, an jenem Tag, bei Möller, ständig nachbestellte – Alkohol wohlgemerkt. Und als er dann hackevoll war, ging er plötzlich, zuvor hatte er noch bezahlt. Ja, und da ich ebenfalls nicht mehr der Nüchternste war, wollte auch ich nach Hause, da stürzte, wie aus dem Nichts, Heide Lüders zur Tür hinein, sie setzte sich sofort zu mir an den Tisch, anschließend bestellte sie bei Doris einen doppelten Gin. Nachdem dieser serviert worden war, sagte sie zu mir: „Ich bin gerade Ralf begegnet, er war total besoffen und machte mir, auf offener Straße, einen Heiratsantrag, kannst du mir bitte erklären, was das zu bedeuten hat? Denkt der tatsächlich, dass ich meine Ehe mit Rudolf aufgeben würde, nur um ausgerechnet ihn zu heiraten?“ „Er tat jedenfalls so als, wenn du seine neue, große Liebe wärst, Ralf schwebt auf den Wolken durch den siebten Himmel.“ „Da hat er sich aber gewaltig in den Finger geschnitten, wenn das so ist wie du sagst? Das bisschen Bumsen mit ihm ist eine Sache, aber ich heirate ihn doch nicht. Was denkt der sich überhaupt, dieser primitive, versoffene Holzkopf?“
Und in der Tat, Ralf seine überhasteten Heiratspläne relativierten sich in den nächsten Tagen, auch Rudolf seine stürmische Beziehung zu der Studentin wurde, seinerseits, nicht mehr so hoch im Kurs gehandelt, wie es den Anschein gehabt hatte – alles war plötzlich, sehr plötzlich sogar, wieder wie immer, auch das gemeinsame Frühstück im Hause Lüders, mit den uns bekannten Leuten, wurde quasi von heut` auf morgen reaktiviert. Alles schien wieder völlig in Ordnung zu sein – und dem war auch so. Denn, am 24. Februar saßen wir alle im Frühstücksraum bei Familie Lüders vor dem Fernseher, Heide und Magda hatten ein fantastisches Kaltes Büffet aufgebaut, zwei Kisten Bier standen irgendwo in der Gegend herum; Schampus, Whiskey, Wodka und Gin erblickte ich ebenfalls. Dann um 18:00 Uhr, geschah endlich das, was wir uns alle erhofft hatten, die CDU hatte die absolute Mehrheit in Hamburg eingebüßt, die SPD hatte hingegen ein wenig zugelegt. Die Linke war mit über 6% in der Hamburger Bürgerschaft vertreten und die FDP war nach einem ersten Eindruck zwar auch in der Bürgerschaft, aber eben noch nicht sicher, im Laufe der ständigen Hochrechnungen war dann sicher: Die FDP hatte es „nicht“ geschafft. „Hauptsache „wir“ sind in der Bürgerschaft,“ sagte Magda, und erhob dabei feierlich ihr Glas. Wir stießen daraufhin alle miteinander an. Rudolf und Heide fielen sich weinend, vor Liebe, um den Hals. Magda und Ralf stimmten die „Internationale“ an, die Grishams, Bert Teufel, Chantal, Bianca sowie auch Kirstin Lüders tanzten freudig erregt durch den Frühstücksraum, sie gaben sich sehr einig. Ich war natürlich auch glücklich, ebenso die Studentin, aber die Studentin, sagte zu mir: „Es ist gut, dass die Linkspartei es geschafft hat, aber welche Konstellationen werden sich jetzt ergeben? Wenn die CDU tatsächlich mit den Grünen ein Bündnis eingehen wird? Also, dann sind die Grünen, nicht mehr ganz normal im Kopf! Mir persönlich wäre: Rot, rot, grün am liebsten, was meinst du, oder hast du etwa keine Meinung dazu?“ „Ja, eine Meinung habe ich schon, nur ich glaube der Bürgermeister ist ein Machtmensch, und zwar einer der von Kindesarmut und Hartz IV nichts wissen will, mit Ausnahme der Linken wird er vermutlich jede nur denkbare Koalition eingehen, damit er seinen durchgescheuerten Sessel im Rathaus behält. Rot, rot, grün wäre in der Tat die beste Variante für Hamburg, für die Wähler, für uns alle und für das Ansehen dieser Stadt.“ Nach diesen Worten fiel mir die Studentin um den Hals und küsste mich, sie schob mir, ohne dass die anderen davon etwas mitbekamen, ihre Zunge in meinen Mund, es war ein angenehmes und erotisches Gefühl. Bianca, meine treue Maus, bekam davon nichts mit, nur Kirstin Lüders, warf mir so einen giftigen Blick zu, der beinah schon tödlich war.
In Harburg bei den „Neuen“ am Brunnen kam, auch wenn ich mich jetzt ansatzweise vielleicht ein wenig wiederhole, keine besondere Stimmung nach der Wahl auf. Jens Blatthaus sagte lediglich: „Vielleicht bekomme ich, wenn es zu einer rot, rot, grünen Koalition kommt, „mehr“ Kindergeld?“ Bahama-Thomas sagte zu mir: „Wahlen, Wahlen, Wahlen, was soll denn das? Ich gehe eines Tages sowieso wieder auf die Bahamas und jage Schildkröten sowie weiße Haie, ich brauche keine Wahlen, ich brauche eine Harpune, ne` Palette Dosenbier und genug Hasch.“ Trizi meinte: „Hoffentlich wird es unter einem rot, rot, grünen Senat in Hamburg, sofern es dazu kommt, eine bessere psychiatrische Betreuung für Leute wie „mich“ geben, denn seitdem ich regelmäßig Mirtazapin fresse geht es mir erheblich besser. Ich habe auch keine Wahnvorstellungen mehr, ich höre kaum- bis gar nicht mehr Stimmen die mir seltsame Botschaften zusenden, ich fühle mich endlich erlöst und beseelt.“ Alle stimmten Trizi zu, denn jeder wusste wie sie früher war. Martin Wagenknilch sah die Wahl, und die Tage danach, allerdings etwas kritischer, er sagte diesbezüglich: „Eine Wahl ist auch immer der Ausdruck einer generellen Meinung des Bürgers, die CDU ist zwar mit 43% die stärkste Partei geworden, und das: Ohne jeden Zweifel, aber sie, die CDU, stellt eben nicht die Meinungs-Mehrheit des wahlberechtigten Wählers dar, deshalb sollte die CDU sich nicht zur sehr auf sich selbst verlassen. Ich will damit sagen, dass eine große Koalition, also: SPD und CDU, für Hamburg, keine Lösung ist, es ist vielmehr eine Not-Lösung – mehr nicht. Denn, wenn die CDU mit den Grünen zusammen geht, dann ist „das“ der Untergang der Grünen, und zwar auf bundesweiter Ebene.“ „Genauso ist es!“ Sagte Trizi voll Anerkennung zu Martin. Warum Trizi plötzlich so ein derartig starkes Interesse an der Politik entdeckt hatte, blieb vielen unklar, aber es war nachträglich betrachtet eine erfreuliche Entwicklung, die auch auf die anderen am Brunnen, so nach und nach, übergriff. Mario Huana hatte sich ebenfalls in die politische Debatte miteingeschaltet, er wollte ein Zeichen setzen. Aber wie sollte dieses Zeichen aussehen? Fragten sich viele. Und er ließ es uns allen an einem regnerischen Februar-Tag wissen, indem er sagte: „Ich werde meine Wohnung in Heimfeld neu dekorieren, also so umgestalten, dass sie wieder so aussieht wie mein Zimmer damals in der Psychiatrie in Schleswig an der Schlei... Trizi, mein Mäuschen, du erinnerst dich doch bestimmt noch, nicht wahr?“ Und Trizi erinnerte sich in der Tat daran, sie brachte aufgrund dessen ihre Freude in dem Maß zum Ausdruck, dass sie mehrfach auf der Stelle in die Luft sprang, dabei ihre Hände recht eigenartig schüttelte und immer wieder rief: „Klapse, Klapse, - wo sind meine Strapse?“ - Ich, der Augenzeuge war an jenem Tag, beschwöre, dass es so war. Die gesungene Aussage von Trizi, dass sie Ende der neunziger Jahre in einer Klapse, in Schleswig, gerne Strapse trug, hatte sicherlich keine politische Basis, oder Aussage, aber es war doch eine individuelle Grundeinstellung zum Leben überhaupt.
Als ich, ein paar Tage später, Magda davon erzählte, sagte sie erfreut zu mir: „Trizi hat aufgrund der Tatsache, dass sie Mirtazapin konsumiert, also, jenes Antidepressiva, ganz offensichtlich zu einer „normalen“ Lebensform zurück gefunden, denn auch Ralf ist, seitdem er wieder täglich zum Mirtazapin greift, in einer besseren Stimmung, seine Spinnereien mit Heide Lüders scheinen vergessen zu sein, er geht wieder tief in sich hinein, und er „surft“ jeden Tag im Internet hin und her. Er hat es geschafft seinen Lebensrhythmus wieder selbst in die Hand zu nehmen, dank der Pharma-Industrie, das Gleiche gilt natürlich auch für Trizi. - Beiden gehört somit meine volle Anerkennung.“
Ich glaube damals, wie auch im Nachhinein, hatte Magda mal wieder vollkommen recht gehabt, sie war schon so etwas wie eine „Seherin“, dabei mitfühlend und politisch betrachtet, überaus korrekt. Ralf sah man im Februar 2008 selten bis gar nicht mehr, selbst beim gemeinsamen Frühstück im Hotel Lüders glänzte er lediglich durch Abwesenheit, nicht dass er enttäuscht gewesen wäre von sich selbst, oder gar nachtragend in Bezug auf Heide Lüders ihr Verhalten ihm gegenüber, nein, er wollte einfach nur seine Ruhe haben, er wollte sich nicht ausklinken, er wollte sich aber abgrenzen, weil er gemerkt hatte, dass auch an ihm der Zahn der Zeit genagt hatte – Ralf fühlte sich verbraucht, jedenfalls argumentierte Magda seinen Zustand am Morgen des 29. Februars 2008 so in dieser Art. Heide Lüders warf ihr daraufhin, nach jener Aussage, ein verständnisvolles, wenn nicht sogar mitleidiges Lächeln zu, das von Magda warmherzig erwidert wurde. Die Studentin, die mit Rudolf Lüders (auch wenn man jetzt anderes erwarten würde) „nicht“ spinnefeind war, sie machte von uns allen den ausgeglichensten Eindruck, sie schien die Zeit, nur so für sich, zurückgedreht zu haben, ähnlich kam mir auch Rudolf vor, alles war wieder in geordneten Bahnen, keiner machte dem anderen Vorwürfe. Und dennoch, kohlemäßig lief es für jeden von uns: Alles andere als gut, eine neue Idee musste her. Teufel war bereits am Planen, aber es kam nicht viel dabei heraus, - vieles funktionierte einfach nicht mehr, denn die Lage in jenen Tagen war irgendwie: Lähmend. Die Tatsache, dass die Leute, also der normal sterbliche Bürger auf der Straße, durch Hartz IV am absoluten Abgrund angekommen waren, und auch die Erkenntnis, dass die Grünen: Hartz IV einst mit abgesegnet hatten, damit es den Betroffenen noch beschissener ging als ohnehin schon, erweckte bei dem politisch beunruhigten Wechselwähler das Gefühl, es stimmt wirklich „nichts mehr“ im geeinten Deutschland. Deutschland war nicht mehr das Land der Dichter und Denker, es war vielmehr ein unübersichtlicher Sauhaufen einer dürren sowie elitären Oberklasse und einer Unterschicht, die in die permanente Kriminalität abzudriften drohte. Liechtenstein, das neue Steuerparadies, war in aller Munde, - Angela Merkel, die damalige Kanzlerin gab sich besorgt angesichts der Zustände vor ihrer eigenen Haustür. Aber wovon lebten „wir“ – damals, werden Sie sich jetzt fragen, meine Lieben Leser und Leserinnen? Und die Antwort ist nicht gerade einfach, darum verschiebe ich sie, weil wir alle damals so vor uns hinvegetierten. Magda sagte zu mir, so dass alle anderen es im Frühstücksraum vom Hotel Lüders hören konnten: „Natürlich ist es scheiße, dass die Grünen mit der CDU Koalitionsgespräche führen, das klingt schon als solches irgendwie nach Verrat, aber man darf einen Fakt nicht vergessen: Die Grünen haben auf dem letzten Parteitag beschlossen, dass der Regelsatz des Hartz IV Geldes von 347 Euro auf 430 Euro erhöht werden soll. Also, wenn die Grünen bei den Gesprächen mit der CDU diese Forderung durchsetzen, dann kann es sein, dass die Grünen und die CDU eine Schnittmenge finden. Beschwören kann auch ich es nicht, aber es wäre doch geil, wenn die Betroffenen, also auch wir, etwas mehr Kohle in der Tasche hätten, oder nicht?“ Bianca sagte daraufhin: „Mensch Magda, so habe ich das noch gar nicht gesehen. Und du hast recht. Was wären wir nur ohne dich? Klar haben die Grünen ihre Seele und damit ihre Werte verkauft, und im Grunde genommen sind es ja auch nur arrogante Arschlöcher, die sich von der beknackten sowie eingebildeten FDP kaum noch unterscheiden, aber wenn wir Normalsterblichen mehr Geld zum Leben haben, das wäre echt mega-geil.“ „So ist es,“ sagte Magda, „und darum sollten wir erst einmal abwarten, was die Gespräche zwischen den beiden Parteien bringen, bevor wir uns ärgern und aufregen.“ Auch Rudolf Lüders nickte zustimmend mit seinem Kopf, und dann sagte er: „Hartz IV ist schon die absolute Katastrophe, ich bin froh, dass wir, also Heide und Kirstin, davon persönlich betrachtet, nicht so dermaßen betroffen sind, irgendwie geht es ja immer weiter. Man sagt ja auch: Wenn man denkt es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her! Aber wenn die beschissene CDU tatsächlich einlenkt, wenn die ihr soziales Gewissen, ohne wenn und aber, reformieren, und es nicht zuviel verlangt ist, dass die auch mal nach unten gucken, und sich dann dabei etwas wirklich ändert, und nicht nur auf regionaler Ebene, sondern bundesweit, dass also Hartz IV generell, für alle, erträglicher wird, dass es erhöht wird um mindestens 100 Euro, ja, das wäre wenigstens ein letztes Aufflackern von Demokratie: So wie ich sie verstehe, denn bescheißen werden uns die Politiker auch in Zukunft, da könnt ihr alle einen drauf lassen.“ Aber all diese Erkenntnisse brachten uns damals wenig, weil wir im tiefsten Inneren genauso dachten und fühlten. Chantal ging sogar wieder ackern, - ihre Bilder verkauften sich nicht mehr gut, Chantal war selten von der Muse- und dem Glück geküsst, sie trieb es in einem Edelbordell, wo sich die Hamburger Prominenz die Klinke in die Hand gab. „Schließlich muss ich von irgendetwas leben, und bumsen schadet nie, so ist das nämlich!“ Lautete ihr Kommentar, als sie irgendwer darauf ansprach.
Und es war ja auch so im März 2008, wir waren uns, nach und nach, bewusst geworden, dass wir die letzten zwei Jahre weit über unsere Verhältnisse gelebt hatten, die Sucht nach Luxus hatte uns vergessen lassen, dass wir im Grunde genommen ein verspielter Haufen von großen Kindern waren, die sich viel zu viele Freiheiten herausgenommen hatten. Die ständigen Sauftouren an die Ostsee, der Schlendrian, die Faulheit als solches und natürlich auch eine gewisse Überheblichkeit im alltäglichen Leben, hatten uns in die finanzielle Krise getrieben. Heide Lüders sagte bei einem Vieraugengespräch zu mir: „Es waren vor allem die unendlichen Sauftouren an die Ostsee, dann die „nicht zu übersehende“ Faulheit und eure, bitte entschuldige, gewisse Überheblichkeit, die euch alle in die finanzielle Krise gestürzt hat, deshalb seid ihr momentan so fürchterlich am Arsch.“ Rudolf Lüders erzählte mir einen Tag später genau dasselbe. Er fügte sogar noch, mit einer eigenartigen Heiterkeit, hinzu: „Was läuft denn schon immer gut? Man muss in Zeiten der Not und Krisen versuchen, sich, vor sich selber zu schützen. Der Umgang mit der Alltäglichkeit, mit der politischen Individualität: Auch wenn das sehr nach einer, nicht besonders originellen, Scheißhausparole klingt, so ist es doch der Kernpunkt einer Demokratie, ich meine äh... wie es im Moment nur die Linkspartei zu formulieren weiß, wenn ihr versteht, was ich meine? ... Ihr solltet euch neu formieren, ihr solltet versuchen in der Veränderung der aktuellen Zeit anzukommen, ohne eure Ansprüche dabei zu reduzieren. Geht euren Weg, lasst euch nicht klein kriegen, die Welt hat es doch bisher auch gut mit euch gemeint, nicht wahr?“ Als ich Bianca abends von Rudolf seinen Ansichten berichtete, sagte sie zu mir: „Man sollte seine Ansprüche, in einer neuen Zeit, also in den Zeiten der Not und Krisen nicht reduzieren? Ist der total bescheuert, oder was? Manchmal habe ich bei Rudolf den Eindruck, er hält sich für besonders wichtig, habe ich etwa recht, denn du guckst so seltsam?“ „Wahrscheinlich hast du recht, mein Mäuschen!“ „Was meinst du mit wahrscheinlich?“ „Ich meine, er hat nicht die gleichen Probleme so wie wir sie haben, er sieht die Probleme, mehr oder weniger, differenzierter, weil sie ihn ja nicht unbedingt persönlich betreffen.“ „Von mir aus! Ich habe im Moment sowieso andere Sorgen. Mal was ganz Aktuelles: Was ist eigentlich mit Ralf los?“ „Ich weiß nicht mehr als andere über ihn.“ „Merkwürdig!“ Und in der Tat, Ralf hatte sich plötzlich wieder zum Sorgenkind entwickelt, der Alkohol war erneut sein ständiger Begleiter geworden. Ralf war bei Möller, der weltberühmten Eckkneipe in Ottensen, auffällig geworden, - angesoffen, mit einem Bier in der Hand, hatte er sich vor den Stammgästen so derartig gehen lassen, dass man ihm mit Rauswurf gedroht hatte, was später dann auch geschah. Aber, was war denn nun konkret vorgefallen? Ralf, der bisweilen zu Wehleidigkeit und Selbstschmerz neigte, hatte per Handy eine Ärztin angerufen und ihr sein Elend mit Magda sowie dem Rest der Welt geklagt, noch während des Gespräches bekam er einen Weinkrampf der so störend auf die Gäste innerhalb der Kneipe gewirkt haben muss, so dass Doris, die resolute Bedienstete, Ralf hinauswarf. Nach diesem Vorgang, pöbelte Ralf unglaublich wütend auf der Straße weiter, - schlimme, kaum wieder zu gebende Fäkalienausdrücke waren seinem Munde entronnen, bis endlich die Polizei und ein Unfallwagen erschienen. Man packte den völlig verwirrten Ralf unter den Armen (hierbei wehrte er sich wie ein Ferkel) und schaffte ihn in die Psychiatrie nach Hamburg-Ochsenzoll, dort wurde er umgehend medizinisch versorgt. Nachdem man Magda informiert hatte, dass ihr Gatte durchgedreht war, fuhren ich, Bianca, Chantal und Magda gemeinsam mit Rudolf Lüders zu ihm in die Anstalt. Ralf schlief jedoch, man hatte ihn mit einem starken Valium ruhig gestellt. „Sein Zustand ist stabil,“ erklärte uns der Stationsarzt, „das Bürschchen kriegen wir schon wieder hin. Es wäre doch gelacht, wenn so einer uns abgeht? Der alte Suffkopp hatte ne` Kondition wie ein Eber, ich muss schon sagen: Alle Achtung!“ Dann verließ uns der Stationsarzt. Magda kämpfte mit den Tränen. Und kaum hatte sie ihre Tränen sowie ihren Rotz wieder unter Kontrolle, da erschienen plötzlich die Grishams. Arthur und Patricia gaben sich sehr besorgt. „Ralf war immer so ein guter Mensch,“ sagte Arthur, „er war stets eine Bereicherung in meinen politischen Darlegungen, wenn man sich mit ihm unterhielt.“ Und Patricia fügte hinzu: „Ralf war nicht, sondern er „ist“ vor allem: Ein politisch denkender Mensch, natürlich mit intellektuellen Einschränkungen, aber das ist für mich nicht unbedingt das Entscheidende.“ – Wenige Tage später wurde Ralf entlassen. Bleich, finster, irgendwie abgewandt erschien er, zusammen mit Magda, am frühen Morgen, des 6. März 2008, bei den Lüders im Frühstücksraum. „Für mich nur eine Tasse Kräutertee und ein Wurstbrötchen,“ hauchte er Heide Lüders zu, „ich muss erst wieder zu Kräften kommen. Es war mal wieder alles ein bisschen zuviel für mich.“ „Ist doch nicht so schlimm,“ sagte Chantal, „wenn du mit Magda regelmäßig richtig bumsen würdest, dann würde die Welt schon wieder ganz anders aussehen, glaubt mir: Ihr solltet öfters ficken!“ Magda lächelte daraufhin ein bisschen verlegen; Teufel sah nervös, wenn nicht sogar beunruhigt, zur Seite; die Grishams kicherten leise und irgendwie gehässig vor sich hin, ebenso Kirstin Lüders sowie Chantal, nur Rudolf sah Ralf mitleidig in die Augen. Nachdem Heide Lüders den Kräutertee und das Wurstbrötchen für Ralf serviert hatte, biss Ralf kräftig in dasselbige hinein. „Das schmeckt gut,“ sagte er zu Heide Lüders, „auch der Kräutertee ist nicht zu süß und auch nicht zu bitter – genauso mag ich ihn, er erinnert mich an früher, an Aschaffenburg, meine Mutter hat mir auch immer meinen Kräutertee gemacht als ich noch ganz klein war.“ „Es freut mich, wenn es dir wieder schmeckt,“ sagte Heide Lüders. - Alle, mich eingeschlossen, beobachteten wie Ralf frühstückte, denn er tat es mit einem Genuss, so dass wir das Gefühl hatten, er sei wieder auf dem Wege der Besserung, vielleicht weil er noch zusätzlich zu seinem Wurstbrötchen: Ein Käsebrötchen sowie ein Kännchen Kräutertee mit Sahne nachbestellte und es sich erneut schmecken ließ.
Genau einen Tag später, am 7. März 2008, platzte während des gemeinsamen Frühstücks eine politische Bombe – es war die Topmeldung des Tages. Der ehemalige Hamburger Party-Senator: „Roland Schill“, war erneut in den Schlagzeilen der Tagespresse- und auch im Fernsehen, auf fast allen Kanälen, zu bestaunen. Denn, im Internet war ein Video aufgetaucht, wo er in einem Hotelzimmer, wahrscheinlich in: Rio de Janeiro, Kokain konsumierte. Ja, und nachdem er geschnupft hatte, sagte er: „Jetzt wirkt das Koks bei mir. Ich bin total wach.“ Wir, die wir gerade beim Frühstücken waren, sahen uns alle entgeistert an, - eisiges Schweigen herrschte für endlose Sekunden, keiner wagte etwas zu sagen. „Das hätte ich nicht von ihm gedacht,“ sagte Kirstin Lüders plötzlich, „ausgerechnet von ihm, oh mein Gott.“ Und auch Arthur Grisham meinte: „Was für ein arroganter Drecksack? Noch dämlicher kann mal ja wohl nicht sein, oder?“ Patricia ergänzte ihren Gatten wie üblich, indem sie sagte: „Roland Schill, dieser ehemalige: Hardliner, diese Moralapostel, dieser Schweine-Hund, also ich bin wirklich nicht intolerant, aber das geht irgendwie zu weit, vor allem, wenn man es nachträglich politisch betrachtet, nicht wahr? Er ist ein absoluter Penner und Vollidiot!“ Und in der Tat, als wir Schill so beim Koksen zusahen, überkam uns ein eigenartiges Gefühl. Dann sagte „ich“ etwas, ich sagte: „Armes Deutschland! Nun wissen wir es also ganz genau, es scheint, dass wohl jeder Politiker irgendetwas konsumiert, um, dem Druck gewachsen zu sein, welchem er sich tagtäglich aussetzt. Ich habe vor unendlich langer Zeit einmal auf einer Wahlkampfveranstaltung von Schill, ganz genau auf dem Schwarzenberg in Hamburg-Harburg, einer seiner Reden beiwohnen dürfen, und ich war damals der felsenfesten Überzeugung, dass der Mann die Wahrheit sagt. Ich habe mich geirrt, er ist wirklich der letzte Dreck. Wie kann man nur so weit absacken? Ich sage das deshalb, weil ich glaube, das Video ist „keine“ Fälschung, das ist nichts als die pure Wahrheit.“ „Ja,“ sagte Rudolf Lüders, „damit, mit diesem Video, hat er sich endgültig ins politische Abseits geschossen, der ist für alle Ewigkeiten gebrandmarkt!“ Ähnlich äußerten sich auch die uns wohlbekannten „Neuen“ am Brunnen in Hamburg-Harburg, es war eine allgemeine Entrüstung zu vernehmen, die „Neuen“ waren in Aufregung. Gichtkrallen-Bernd, der sich am Brunnen volle zwei Monate lang nicht hatte blicken lassen, erschien plötzlich- und unerwartet in einem ganz anderen „Freizeit-Look“ als man es von ihm gewohnt war. Er trug schulterlange, gefärbte Haare, einen strengen Mittelscheitel, Jesus-Latschen und er machte einen auf coolen Öko-Typ. Bernd gab sich in Anbetracht des erneuten Skandals um Ronald Schill: besorgt, irritiert und verständnislos. Er sprach von einem politischen Großschaden-Ereignis auf persönlicher Ebene, das so nicht akzeptabel sei, wörtlich sagte er hierzu: „Natürlich ist es scheiße, wenn einer wie Schill beim Koksen erwischt wird, aber daran kann man mal sehen, dass diese Leute, die sich einst anmaßten etwas Besseres zu sein, genauso ihre Schwächen haben wie Hans und Franz von nebenan. Sie sind alles andere als Vorbilder, weil ihnen der Idealismus fehlt, das Engagement für eine gute Sache sowie eine innere, nach außen dringende Glaubwürdigkeit.“ Alle stimmten Bernd zu. Und während Gichtkrallen-Bernd noch detaillierter ins Detail mit seiner politischen Grundanalyse ging, um die Wertigkeit der Situation als solches zu erläutern, nahm mich sein Busenfreund: Martin Wagenknilch zur Seite, er sagte: „Ich weiß, was Bernd die letzten zwei Monate so getrieben hat, willst du wissen was?“ „Ja,“ sagte ich, „ich brenne vor Neugier.“ „Also, er hatte sich im Januar ein halbes Schwein gekauft, es pökeln lassen und dann innerhalb von 8 Wochen aufgefressen mit Tubensenf und Sauerkraut, und noch während er das Schweinefleisch in sich hineinfraß, erlitt er einen Gichtanfall - es war der bisher Schlimmste, wie er mir anvertraute. Deshalb konnte er seine Wohnung nicht verlassen, er wimmerte den ganzen Tag vor sich hin und beschäftigte sich mit der Zubereitung von Lebensmitteln aus dem ökologischen Anbau, natürlich auch mit ökologischer Tierhaltung, deshalb macht er im Moment so eine Veränderung im Denken durch.“ „Ich dachte immer er wäre ein national denkender Geist, mit einem Hang zu Wehrsport und strategischer Kriegsführung, sollte ich mich bei ihm etwa grundsätzlich geirrt haben?“ „Nein,“ sagte Martin Wagenknilch daraufhin, „es ist nur „eine Phase“ die er gerade in Anspruch nimmt... und da kannst du auch einen drauf lassen, nächste Woche ist der wieder normal gekämmt, mit Springerstiefeln und Hakenkreuz-Abzeichen am Kragen, Bernd bleibt Bernd.“ Und Wagenknilch hatte recht. Denn, am Montag, dem 10. März 2008, erschien Gichtkrallen-Bernd in den frühen Morgenstunden, wie man ihn kannte, am Brunnen: Seitenscheitel, ausrasierter Nacken, Piloten-Jacke und einen „Halben“ in der Hand. Er begrüßte alle, mit einem lauten, kräftigen: „Helau!“ Dann sagte er: „Schade... es ist wirklich schade, dass wir hier in Deutschland keine wohlorganisierte, deutsche, rechte Partei haben, die so wie „ich“, im Sinne des nationalen Gedankengutes, denkt und handelt. Aber die Zeiten können- und müssen sich ändern, diese Scheiße mit Ronald Schill, diesem Schneemann, das ist wirklich total ätzend, aber er hat ja auch als Politiker im Grunde genommen gar nicht mehr existiert, wenn man es ganz genau nimmt, oder? Darum sollten wir die Sache nicht zu sehr überbewerten, wir sollten sie nicht zusätzlich hochschaukeln. Somit rufe ich euch zu: Schwamm drüber, und auf zu neuen Taten, wir wissen wer „wir“ sind, und was „wir“ können, alles andere was dagegen spricht, wäre Quatsch!“ Nach diesen Worten setzte tosender Beifall für Gichtkrallen-Bernd ein, er ließ sich daraufhin feiern und huldigen, - sichtlich bestätigt verbeugte er sich vor „seinen Leuten“, wie er immer öfters zu sagen pflegte in den folgenden Wochen, wenn er von ihnen sprach. - Irgendwie erinnerte er mich in seiner Redekunst an Magda. Und als ich Magda von Gichtkrallen-Bernd erzählte, sagte sie erbost zu mir: „Du vergleichst mich ohne rot zu werden mit Gichtkrallen-Bernd, diesem ungeschliffenen Demagogen? Eine bodenlose Unverschämtheit! Der ist doch nichts weiter als ein dahergelaufener Rattenfänger, der sich gegen alle politischen Strömungen stellt, und sich anmaßt, Wege zu beschreiten, die mit der deutschen Geschichte sowie mit der deutschen Vergangenheit, unauslöschlich in Verbindung stehen und immer stehen werden, mehr kann ich dazu eigentlich nicht sagen.“