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Zweite Sitzung 13. Dezember 2000

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Wenn ich erkläre, und wenn ich nun komme, um Ihnen, ohne zu deklamieren, zu sagen „ich leide“, „ich leide“ an meiner Seele oder an meinem Körper, insbesondere wenn ich murmele „ich leide“ an meiner Psyche, ohne sogenannten physischen Schmerz, vorausgesetzt, dass das möglich ist, ein rein psychischer Schmerz, nun, was sage ich Ihnen da im selben Atemzug? Verstehen Sie mich? Was verstehen Sie? Sie vernehmen mich natürlich, aber verstehen Sie mich? Verstehen Sie den Sinn dieser Worte, „ich leide“?

Vielleicht muss ich nun den Sinn meiner Frage präzisieren und zuspitzen, und mein Vokabular etwas ändern, um Ihnen verständlich zu machen, wohin ich gehe, um Ihnen anzuvertrauen, worin meine Strategie besteht, wenn ich Ihnen, ohne zu deklamieren, erkläre: „ich leide“. Ich tue das gewiss nicht, um Ihr Mitleid zu erregen, Sie haben das wohl verstanden, sondern als Professor, um Sie, auf pädagogische Weise, zu der Frage zu führen, die ich Ihnen zu vernehmen/verstehen [entendre1] geben möchte.

Wenn ich Ihnen sage oder wenn ich denke, dass „ich leide [je souffre]“, an meiner Seele, grausam, dann habe ich also das, was man peine [„Kummer/Schmerz/Pein“] nennt. Da haben Sie das Wort, nun ist es raus [lâché], und es bleibt schwach [lâche]. Ich habe Mühe/Pein [Je peine], ich empfinde Kummer/Schmerz/Pein [j’ai de la peine], ich bin bekümmert/gepeinigt [je suis peiné]. Um welche peine handelt es sich? Was will „peine“ sagen?

Kommt diese „peine“ von mir oder vom Anderen, letztendlich? Was ist ihre Ursache? Wer ist ihre Ursache? Kommt sie jemals nur von mir, die besagte peine? Kommt sie immer vom Anderen, und von außen? Oder sind die Dinge verwickelter, und deshalb eben gerade peinsamer (painful, peinlich*)? Ich gehe von einer Sprache zur anderen über, um zu problematisieren, um Ihre Aufmerksamkeit um jenes semantische Problem herum zu alarmieren, das sich zwischen dem Peinsamen [pénible] der peine [„Pein“] und dem Strafbezogenen [pénal] der peine [„Strafe“] auftut, zwischen dem painful des pain [„Schmerz“] und dem painful der penalty [„Strafe“2]. Bin ich jedes Mal, wenn ich leide [je souffre], wenn ich Mühe/Pein habe [je peine] oder Kummer/Schmerz/Pein [peine] empfinde, jedes Mal, wenn Kummer/Schmerz/Pein mich packt, bin ich dann bestraft [puni]? Erdulde ich dann eine Pein, die bereits einer Strafzahlung [pénalité] ähnelt? Bedeutet jede peine [„Pein/Strafe“], dass ich schuldig bin oder für schuldig gehalten werde? Die Hypothese ist verführerisch, in jedem Falle signifikant.

Wenn ich sicher wäre, dass die genannte peine [„Pein/Strafe“] nur von mir kommt, wenn ich sicher wäre, dass sie nur von mir abhängt, würde ich dann leiden? Nein, ich glaube nicht. Wenn ich, im Gegenteil, sicher wäre, dass sie vom Anderen, nur vom Anderen und von außen kommt, dass sie an ihrem Ursprung und an ihrem ursprünglichen Ort, hinsichtlich ihrer Ursache und ihrer Herkunft mir äußerlich wäre, würde ich dann leiden? Nein, ich glaube nicht. Damit ich leide, damit psychisches Leiden möglich ist, ist es also notwendig, dass die Pein/Strafe [peine] von innen nach außen, von außen nach innen kommt. Sie muss von außen nach innen oder von innen nach außen zu mir kommen und in einer bestimmten Weise auf dieser unwahrscheinlichen Grenze des Innen-Außen, des Außen-Innen verbleiben. Und wenn man peine (poena3) überstürzt mit punition [„Bestrafung“] übersetzen würde, müsste man bereits daraus schließen, dass es keine reine Selbst-Bestrafung [auto-punition] und auch keine reine Fremd-Bestrafung [hétéro-punition] gibt.

Wo führt uns das hin? Wir müssen warten, und einige Zeit in dieser Erwartung eingeschlossen bleiben – wie in einem Gefängnis, bevor wir den Ausgang sehen, den Ausweg aus dieser Aporie. Die Aporie, auf die wir hier großen Wert legen, könnte manch einer übrigens mit einem Gefängnis vergleichen, einer Haftanstalt [maison d’arrêt]. Die Aporie, das ist das, was an-/festhält[arrête], oft im Zusammenhang mit einem Urteil oder Verdikt; die Aporie, das ist das, was paralysiert, den Ausgang blockiert, die Türen verschließt und uns der Sackgasse zu weihen scheint – zu Tode, dead end, deadlock.4 Jede Sackgasse ist ein Gefängnis, und wenn man fürs Leben der Aporie geweiht ist, und wenn man eine solche Sicht der aporetischen Erfahrung hat (5 was nicht genau mein Fall ist, da ich immer, auf schmerzhafte Weise, es ist wahr, mit Mühe [avec peine], penibel, auf der Notwendigkeit und der Chance des verantwortlichen Denkens, ja der verantwortlichen Entscheidung und der verantwortlichen Antwort insistiere, die, wenn ich so sagen kann, den Durchgang, und zwar sogar den endlosen Durchgang durch die Aporie freigibt, wenn man so sagen kann, „durch die Aporie“, „durch die Aporie hindurch“. Kann man das sagen? Es kaum [à peine] sagen? Was man kaum sagen kann, das ist im Grunde das, was man immer sagen müsste, was man sagen können müsste; ebendies wäre vielleicht der kategorische Imperativ der Dekonstruktion, wenn es denn eine(n) gibt: Sagen und denken, was man kaum sagen und denken kann. Kaum [À peine]. Ohne aus der Aporie ein Heil zu machen, und ohne aus der Haftanstalt ein Paradies zu machen, gilt es zu wissen, muss man wissen, dass der Weg selbst dasjenige ist, dem man nicht entkommt, bis zum Tod, und dass der Weg selbst eine Aporie ist, die den Ort wechselt, so als ob Unterwegs-sein oder Reisen oder Einen-Schritt-machen nicht darin bestünde, das Gefängnis zu verlassen und der Aporie ein Ende zu setzen, sondern darin, das Gefängnis zu wechseln, die Zeit zwischen den Haftanstalten zu gestalten.

Was ist das, eine peine? Ist diese Frage die Mühe [peine] wert, gestellt zu werden? Und was geschieht, wenn man kaum [à peine] unterscheiden kann zwischen der Pein/Strafe [peine] und der Nicht-Pein/Nicht-Strafe, dem Strafbezogenen [pénal] und dem Nicht-Strafbezogenen [non-pénal], dem Strafrecht und dem nicht-strafbezogenen Recht, oder zwischen mehreren heterogenen Arten von peine, von denen die einen natürlich und die anderen nicht-natürlich, ja widernatürlich sind, während sie gleichwohl, trotz dieser absoluten Heterogenität, gemeinsam haben, allesamt peines genannt zu werden, und denselben Namen verdienen, sei es gerechtfertigt oder nicht?

Gibt es einen vereinheitlichungsfähigen Begriff der peine? Kaum [À peine], würde man bisweilen sagen.

Die peine de mort [„Todesstrafe“], sagt man auch. Und die Todesstrafe, sagt man dann?

Was ist das, die Todesstrafe? Ist das eine Pein/Strafe [peine]? Gibt es etwas, das diesem Namen wirklich entspräche? Dieser Name, dieses Nomen (Tod/mort und Strafe/peine), dieses nominale Syntagma, die Todes-Strafe oder die Kapital-Strafe6, ist das ein begrifflich fassbares Ganzes oder ein so gegliedertes [articulé] Syntagma, dass es auch auseinandernehmbar [désarticulable] ist?

Und wenn die Todesstrafe ein unhaltbares Artefakt wäre, ein Pseudo-Begriff, so, dass seine beiden Terme, Tod und Strafe, Kapital und Strafe, sich in keinem Fall aneinanderfügen [ajointer] lassen, so wie ein Syntagma, das out of joint ist7, und so, dass man zwischen der Pein/Strafe [peine] und dem Tod [mort] wählen müsste, ohne dass man ihre logische Grammatik jemals rechtfertigen könnte, es sei denn durch nicht zu rechtfertigende Gewalt, so dass man zwischen der Pein/Strafe und dem Tod wählen müsste, wo das eine und das andere niemals gut zusammen gehen? Und inwiefern ist die dreifach verknotete Frage („Was ist ein Akt? Was ist ein Alter? Was ist ein Begehren?“) dazu bestimmt, in die unterstellte Einheit der sogenannten peine de mort oder der sogenannten peine capitale implosiv einzubrechen?

Das war es nun, um den Ton oder den Akkord anzugeben.

Ohne zurückzublicken, um Zeit zu gewinnen, schließe ich unmittelbar an den Punkt an, an dem wir letzte Woche auseinander gegangen waren, das heißt bei dem Interesse, das die Frage von Benveniste – seine Frage mehr als seine Antwort – in Bezug auf die Vielfalt, ja Disparität, in Wahrheit die offensichtliche Antinomie der Bedeutungen, die in ein und derselben Wurzel versammelt sind, in uns weiterhin erweckt. Benveniste fragt sich:

Die Disparität der Bedeutungen wirft jedoch eine Schwierigkeit auf: dominiert der Begriff „strafen“ oder der Begriff „ehren“? Kann man von „Strafe erwirken, Rache üben“ zu der Vorstellung „ehren, Ehre bereiten“ gelangen? Vereinbaren ließen sich die zwei Bedeutungen nur durch eine recht vage Verknüpfung.8

Was meint er, wenn er von einer „recht vage[n] Verknüpfung“ spricht…? Sollte es da eine recht vage Verbindung zwischen strafen und ehren geben? Ja sogar eine recht vage Verbindung zwischen dem, was man „strafen [punir]“, Bestrafung [punition], Strafe [peine] nennt, einerseits, und dem Tod, insbesondere der Todesstrafe [peine de mort] andererseits? Das sind natürlich zwei verschiedene Fragen. Bei der ersten geht es um eine Unterscheidung oder Dissoziierung, ja einen Gegensatz – er mag legitim sein oder nicht – oder umgekehrt um eine Verknüpfung, eine Assoziierung – sie mag legitim sein oder nicht – zwischen Strafen und Ehren, Bestrafung und Würde, Ehre, Ruhm. Bei der zweiten geht es um eine begriffliche Verbindung – sie mag legitim sein oder nicht – zwischen der Strafe im Allgemeinen und der Todesstrafe (Tafel Strafe/Ehre, Strafe/Todesstrafe9), wobei einige zu denken versucht sein könnten, dass die Verurteilung zum Tode die höchste Strafe, die kapitalste Strafe, also die Strafe par excellence sei, andere hingegen, dass das gar keine Strafe, dass das kein Fall – und sei es par excellence – von Bestrafung sei; und dass es einem illegitimen Missbrauch der Sprache oder der Begrifflichkeit, einer rhetorischen oder einer begrifflichen Gewalt, einer Perversion der Bedeutung geschuldet sei, wenn man die Verurteilung zum Tode oder die Hinrichtung für Strafen, für Arten der Gattung Strafe [peine] hält: Bestrafung, Strafzahlung, Bezahlung, Entgelt, Sanktion für eine Missetat. Der Tote zahlt per definitionem nichts, und vor allem beim hingerichteten Toten ist es zu spät, um zu zahlen, er verschwindet als Rechts- oder Handelssubjekt, als Schuldner. Man stelle sich im Übrigen den legitimen Protest eines zum Tode Verurteilten oder von irgendjemandem vor, der in seinem Namen sprechen würde, um ungefähr Folgendes zu sagen: Ich möchte gestehen, dass ich ein abscheuliches Verbrechen begangen habe, das schlimmste aller Verbrechen, ein Kapitalverbrechen, ich gestehe es und ich bin nicht nur bereit, zu bereuen, sondern auch so teuer wie möglich dafür zu bezahlen, also die schwerste, die schmerzhafteste Sanktion zu akzeptieren, dazu müssten Sie mich aber noch am Leben lassen, müssten Sie mir die Zeit lassen, um zu bezahlen, müssten Sie mir etwas zum Bezahlen lassen, müssten Sie den Schuldigen existieren lassen, damit er bereuen, bezahlen, bestraft werden kann. Wenn Sie ihn töten, wenn Sie mich töten, würde der Verurteilte sagen, geben Sie mir nicht nur nicht die Zeit, um zu bereuen und mich zu bessern, schaffen Sie das Unumkehrbare, das Nichtvergebbare, sondern Sie geben mir nicht einmal die Zeit, für mein Verbrechen zu bezahlen, irgendeine Strafe zu erleiden. Sie beseitigen die Strafe selbst. Vor allem erlauben Sie mir nicht, da zu sein, um Zeugnis abzulegen für das, was passiert, was geschieht, dafür, dass die Strafe Statt hat, Statt gehabt hat, dass die Sühne im Gange ist, dass sie an ihr Ende/Ziel [fin] gelangt. Die Gegen-Anklage des zum Tode Verurteilten, wenn die Hinrichtung unmittelbar bevorsteht, das könnte, in Richtung der Richter, des Staates, des Henkers irgendetwas von der Art sein: „Sie werden meinen Tagen ein Ende setzen, also sind Sie bereits dabei, dem Prozess der Sühne selbst ein Ende zu setzen, indem Sie ihn seinem Ende entgegenstürzen lassen. Sie entlasten mich, indem Sie mich eine Last tragen lassen, deren Gewicht unendlich, hyper-belastend, unverhältnismäßig zur Grenze meiner Kräfte ist. Im Grunde genommen, ob Sie es wollten oder nicht, annullieren Sie die Strafe, Sie auferlegen mir ein Übel, das nicht einmal mehr den Namen Bestrafung verdient, ein Übel, das dem Begriff der Strafe, ja der Buße gegenüber heterogen wird, das der Bestrafung, also dem Recht, zu strafen, gegenüber heterogen oder transzendent wird.“

Damit es Bestrafung [punition] gibt, muss sie das bestrafte Subjekt plötzlich überkommen [survenir], muss sie endlich sein, muss sie jedenfalls dem Maß des Lebens entsprechen. So groß sie auch sein mag, eine Bestrafung, die dieses Namens würdig ist, muss nicht nur dem Verbrechen gegenüber proportional sein, sondern auch gegenüber der Fähigkeit des bestraften und endlichen Subjekts, der Strafe [châtiment] unterzogen zu werden, sie zu erleiden, zu erleben. Indem Sie das Subjekt der Strafe beseitigen, schaffen Sie die Bestrafung und das Recht, zu strafen, ab. Die Todesstrafe ist also ein Nicht-Recht.

Wollte man dieses Argument in quantitative Werte übersetzen, könnte man sagen, dass eine Strafe [peine], um eine Strafe zu sein, so groß sie auch sein mag, begrenzt, endlich sein muss, dem Maß des Lebens oder der sterblichen Existenz des bestraften Subjekts entsprechen muss. Sie muss für es, für das bestrafte Rechtssubjekt, etwas sein, dem gegenüber es Subjekt [sujet], dem es unterworfen [assujetti] sein kann, etwas, das es erleiden oder ertragen kann. Sobald sie keine endliche Strafe mehr ist, sobald sie diese Grenze überschreitet, und sobald sie just über das endliche Leben des bestraften Subjekts hinausgeht, wird die Strafe, die Todesstrafe unendlich und verliert dadurch also ihr Wesen [essence] einer Strafe, ihren Strafwert. Eine unendliche Strafe, ist das noch eine Strafe? Eine menschliche Strafe? Das ist vielleicht eine göttliche Strafe, oder einem unendlichen Wesen [être] angemessen, aber ist das eine endliche Strafe, einem endlichen Wesen, und sei es vernünftig, angemessen? Im Augenblick des Todes, wenn es denn einen gibt, denn alles spielt sich da ab, zwischen dem Moment, in dem der Verurteilte noch lebendig und also noch nicht bestraft ist, und dem Moment, in dem er bestraft und nicht mehr lebendig, sondern bereits tot ist (so dass niemand je mit der Todesstrafe bestraft worden sein wird) [Im Augenblick des Todes, wenn es denn einen gibt], sobald der Tod eintritt, kann das Leben, außerhalb einer Opferlogik, außerhalb einer Szene der Rache oder der Revanche, der sich das Recht ja gerade entziehen will, [kann also das Leben] kein Wechselgeld, keine Bezahlung, kein Entgelt mehr sein. Wir werden später noch, im Kielwasser Kants, die Folgen, bestimmte Folgen davon sehen.

Der unmittelbare Übergang vom Entgelt, im Bösen, zur Entlohnung, im Guten, ist bereits der Übergang zwischen strafen und ehren. Die gemeinsame Idee von Kompensation, von Entgelt als Kompensation, von Preis, von dem, was bezahlt oder als Preis, ja als Prämie, als Entlohnung gegeben wird, sichert die Verbindung zwischen der Bestrafung, die eine Missetat entgilt, bezahlt, wiedergutmacht oder sanktioniert, und der Ehre, dem Ruhm, der Würde, die eine Wohltat oder eine Glanzleistung entgilt oder sanktioniert.

In beiden Fällen handelt es sich um eine Großtat [exploit], um einen außerordentlichen Akt [acte extraordinaire], sei diese Großtat, dieser außerordentliche Akt nun eine zu ehrende und mit Ruhm und Ehre zu entlohnende Glanzleistung, oder sei diese Ausnahmetat oder dieser Ausnahmeakt ein Verbrechen, das mit einer sichtbaren, öffentlichen, spektakulären Bestrafung zu entgelten ist. Letztes Mal hatte ich, sowohl Kant als auch Genet in Erinnerung rufend, die Gründe genannt, die wir hatten, um uns für jene Würde zu interessieren, die sowohl das Verbrechen als auch die diesbezügliche Verurteilung zum Tode zur Höhe des Ruhms [gloire] erhebt. Ich hätte, im selben Geiste, auch Walter Benjamin zitieren können. Ich habe es nicht getan, weil ich dem Essay, in dem Benjamin uns Interessantes zu diesem Thema, zum Thema der unausweichlichen Glorifizierung des Verbrechers sagt, nämlich „Zur Kritik der Gewalt“*10, einst ein kleines Buch gewidmet hatte, Gesetzeskraft11. Ich werde hier nicht die Lektüre des gesamten Essays noch einmal entwickeln; im Übrigen müsste ich artikulieren, was ich zur Dekonstruktion einer bestimmten Logik in diesem Essay sagte, einer Dekonstruktion, bezüglich derer ich damals nahelegte, dass sie nicht von außen auf diesen Text angewendet wird12, der in gewissen Aspekten und gewissen historisch-politischen Zügen ebenso schmittianisch wie heideggerianisch ist, [einer Dekonstruktion also, die nicht von außen auf Zur Kritik der Gewalt* angewendet wird, genauso wenig wie auf irgendeinen anderen Text, sondern die sich in gewisser Weise dort am Werk findet, unmittelbar am Werk selbst, als eine Auto-Hetero-Dekonstruktion, unmittelbar am [à même] oder im denkenden Operieren und Schreiben des Textes selbst [texte même]]; diese damalige Lektüre würde ich also heute, um die Todesstrafe und die Souveränität herum, anders artikulieren, und zwar umso mehr, als das Motiv der Bestrafung im Zentrum dieses Textes steht, der vor allem ein Text über das Recht und die Gerechtigkeit ist. Ich entnehme ihm heute nur zwei Motive.

1. Erstes Motiv: der „‚große‘ Verbrecher“ und die „Monopolisierung der Gewalt“. Benjamin insistiert auf dem, was er „das Interesse des Rechts“13 nennt. Das Recht ist interessiert. Das Interesse des Rechts besteht nicht schlicht und einfach darin, die Gewalt zu verbieten oder zu unterdrücken, sondern im Gegenteil darin, die Gewalt zu monopolisieren, das heißt, sie in Wirklichkeit ganz auf Seiten des Staates zu akkumulieren, zu kapitalisieren, der sie bewahrt, der das Monopol auf sie hält, gegen die Individuen. Diese Monopolisierung der virtuellen oder aktuellen Kraft oder Gewalt dessen, was im Wort Gewalt* („Monopolisierung der Gewalt“*, sagt Benjamin14) sowohl die Gewalt bezeichnet (violence, womit Gewalt* oft übersetzt wird, wenngleich diese Übersetzung für das Wort, das Walter Benjamin hier verwendet, ungenügend ist) [was also sowohl die Gewalt bezeichnet] als auch die autorisierte Kraft [force], die für legitim gehaltene Macht [pouvoir], die Gesetzeskraft [force de loi], die Autorität, diese Monopolisierung der Gewalt durch den Staat, durch das Recht, durch den Zustand [état] des Rechts, den ein Staat [État] repräsentiert, diese Monopolisierung der Gewalt* gehorcht dem, was Benjamin eine Maxime nennt.

Diese Maxime wird als eine Maxime des europäischen Rechts präsentiert. Benjamin verhält sich hier zugleich wie ein Schüler oder Bewunderer Carl Schmitts, dem er diesen Essay schickt und von dem er ein Glückwunschschreiben zum Erscheinen von „Zur Kritik der Gewalt“ erhält (es gab zwischen ihnen auch einen signifikanten Briefwechsel). Als Schmittianer, zumindest in dieser Hinsicht, interessiert sich Benjamin für das europäische Recht, für das, was den Unterschied des europäischen Rechts ausmacht, den Unterschied zwischen dem europäischen Recht, in seiner griechischen oder römischen Tradition, und der jüdischen Gerechtigkeit. Wenn Benjamin Recht sagt, versteht er darunter implizit oder sagt er explizit europäisches Recht. Die fragliche Maxime, also die Maxime „gegenwärtiger europäischer Gesetzgebung“*15, besteht darin, dass, wenn natürliche Zielsetzungen, natürliche Finalitäten, natürliche Ziele („Naturzwecke“*: übersetzen wir mit Bedürfnisse, Begehren, Leidenschaften, Interessen aller Art, und Benjamin unterscheidet hier nicht zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten, dem bewussten Verlangen und dem unbewussten Begehren usw.), wenn also all diese spontanen Bewegungen mit Gewalt ans Ziel gelangen, wenn all diese natürlichen Tendenzen mit Gewalt verfolgt, verwirklicht werden, dass sie dann mit den „Rechtszwecken“*, den Finalitäten des Rechts, kollidieren können.

Warum? Hier öffnet Benjamin eine kurze Klammer, in der sich jedoch unsere gesamte Problematik als ein Abgrund auftun könnte, und er weiß das wohl, und er sagt das in gewisser Weise auch, nämlich die Frage der legitimen Verteidigung, des „Rechts auf Notwehr“*16. Benjamin merkt in dieser Klammer an, dass dieser Widerspruch zwischen den Naturzwecken (also Bedürfnissen, Begehren, Trieben des Lebendigen, in seinem Bewusstsein oder in seinem Unbewussten) und den Rechtszwecken ebenjener Widerspruch sei, den der Begriff der Notwehr repräsentiert, und dass diese Frage der Notwehr ihre Erhellung (Erklärung*) in den weiteren Überlegungen finden würde; was bedeutet, dass Benjamin, so sagt er uns in dieser Klammer, den ganzen Essay hindurch vom Problem der Notwehr handeln wird, selbst wenn er nicht direkt davon spricht.

Was ist Notwehr? Das ganze Problem des Rechts und, sagen wir, insbesondere der Todesstrafe, wird oft als eine Frage der Notwehr interpretiert, als Notwehr der Gesellschaft gegenüber dem Verbrecher oder einer Gefahr, die das eigene Leben bedroht. Wir haben es hierbei mit einer Interpretation der Notwehr zu tun, die immer offen ist: Im Prinzip, stricto sensu, ist die Notwehr eines Bürgers, wenn sie auch durch bestimmte Rechte erlaubt oder toleriert sein kann, nicht äquivalent, stricto sensu also, zu einer Todesstrafe, die von einem Individuum ausgeführt würde, das sich in einer Situation der Bedrohung oder der Gefahr für das eigene Leben selbst Gerechtigkeit verschafft. In einem weiteren, ja bildlichen, metaphorischen Sinne aber hat man die Todesstrafe als einen Notwehr-Reflex der Gesellschaft, der Nation, des Staates gegenüber dem präsentieren können, was diese in ihrem Leben oder in ihrer Sicherheit bedroht oder schwer beschädigt. Wir werden gleich sehen, welchen Inhalt man dem geben kann, was auf diese Weise in seinem Leben, seinem Überleben, in seiner Existenz oder seiner Sicherheit bedroht wird (ein Sicherheitsbegriff, dem man variable Inhalte und dehnbare Grenzen geben kann, die einer unendlichen Interpretation unterworfen sind).

Noch einmal: Es geht um die Frage der Nützlichkeit, der nützlichen, zweckgerichteten Gerechtigkeit, im Gegensatz zu einer prinzipiellen Gerechtigkeit, einer reinen Gerechtigkeit, die sich von der Logik des Nützlichen, des Zwecks und der Mittel absondert. Kants Argument, auf das ich immer wieder zu sprechen kommen werde, besteht darin, die Todesstrafe vor allem nicht mit Nützlichkeit zu rechtfertigen, also mit jener Art abschreckenden Nützlichkeit, die die defensive Reaktion darstellen kann: Die Todesstrafe darf vor allem nicht als Verteidigung, und folglich auch nicht als legitime Verteidigung beziehungsweise Notwehr gerechtfertigt oder legitimiert werden. Diesbezüglich glaube ich, dass es gut wäre, das Kant’sche Argument wortwörtlich zu präzisieren, wonach das Recht, zu strafen, nicht durch irgendein Nützlichkeitsargument gerechtfertigt werden, nicht gerecht [juste] sein kann, und zwar eben gerade [juste] als Recht, nicht zu rechtfertigen ist. Das ist die Wurzel seines Gegensatzes zu Beccaria, obwohl er gegen Beccaria andere Einwände entwickelt. Die Strafe im Allgemeinen (nicht nur die Todesstrafe) mit Nützlichkeit zu rechtfertigen heißt, die juristische Person, das Rechtssubjekt für schuldig, und die ihm auferlegte Bestrafung für Mittel zum Zweck und nicht für Zwecke an sich zu halten. Man muss die Tatsache berücksichtigen, dass Kant in aller Strenge, und um zu wissen, wovon die Rede ist (eben deshalb muss man Kant lesen und muss man immer wieder neu damit beginnen, Kant zu lesen) [dass also Kant in aller Strenge, und um zu wissen, wovon die Rede ist,] damit beginnt, die juridische Strafe, die er poena forensis (Tafel) nennt, die Strafe, die vom Anderen, vom Gesetz, von der Gesellschaft oder vom Staat auferlegt wurde, die Strafe von außen (forensis), die Strafe des äußeren Gerichtshofs, des öffentlichen Platzes, die öffentliche Strafe, die allein den Namen der juridischen Strafe (Richterliche Strafe*) verdient, von der natürlichen Strafe (poena naturalis) zu unterscheiden, die den Gesetzgeber nicht interessiert und die mit dem Recht nichts zu tun hat. Wenn sich zum Beispiel das Laster selbst bestraft, wenn der Verbrecher, der Schuldige spontan für seine Verfehlung bezahlt, leidet, ja viel leidet, ohne vor einem Gericht zu erscheinen, dann handelt es sich um eine natürliche und nicht-juridische Strafe.17

Diese prinzipielle Unterscheidung zwischen zwei Konzepten der Todesstrafe (einerseits die gewissermaßen vorjuridische Strafe, die natürliche und innerliche Strafe, andererseits die juridische Strafe, die des Strafrechts, von der man im Hinblick auf die Todesstrafe spricht, die nicht natürliche, sondern künstliche, institutionelle, historische, äußere und öffentliche Strafe, der Rechtsapparat, die juridische Maschine), diese prinzipielle Unterscheidung ist unerlässlich, wenn man wissen will, wovon man spricht, scheint sich auf den ersten Blick aber auch von selbst zu verstehen; sie ruft insbesondere in Erinnerung, dass das Recht, und in ihm vor allem das Strafrecht, und in noch stärkerem Maße die Todesstrafe nicht der Ordnung des Natürlichen angehört; das liegt nicht in der Natur, das ist keine natürliche Normalität; von da aus ist es nur ein Schritt, zu denken, dass diese Maschinenhaftigkeit anti-natürlich, ja anormal und monströs sei, < ein Schritt, > zu dem sich Kant natürlich nicht durchringt, von dem er im Gegenteil zu zeigen versucht, dass diese Nicht-Natürlichkeit die reine Vernünftigkeit selbst ist.

Sie sehen jedoch, dass diese selbstverständlich erscheinende Unterscheidung zwischen einer poena forensis und einer poena naturalis, so spekulativ, jargonhaft und vernünftelnd sie auch erscheinen mag, auch den Ort furchteinflößender Probleme bezeichnet, die auch die des Alters, des Akts und des Begehrens sind. Wie soll man, und muss man überhaupt die Verbindung zwischen den zwei Regimen der Strafe, der natürlichen und innerlichen Strafe einerseits, und der juridischen und äußeren oder öffentlichen Strafe andererseits, in Rechnung stellen? Denn unter dem Regime der natürlich, innerlich, privat genannten Strafe, unter dem Regime der psychischen Ökonomie (bewusst oder unbewusst), wonach ein Verbrechen oder ein Laster sich selbst bestraft („dadurch das Laster sich selbst bestraft“*, sagt Kant18), können die Strafen bisweilen schwerer lasten als die der juridischen, öffentlichen Strafe, ja sie können auf sie folgen, ihr hinzugefügt werden oder ihr vorausgehen. Alle Fragen psychoanalytischer Art, die das Alter betreffen (die Reife, die Geschichte, die Altersstufen des onto- oder des phylogenetischen Bewussten oder Unbewussten usw.), die das Begehren und den Übergang oder Nicht-Übergang zum Akt19 betreffen, all diese furchteinflößenden Fragen stellen sich am Verbindungspunkt [articulation] zwischen den beiden Straf-Regimes. Wenn – wie Freud und Reik suggerieren, die wir gleich lesen werden – ein Verbrecher tatsächlich schuldig ist, von der Schuld niedergedrückt wird, bevor er zur Tat schreitet/zum Akt übergeht [passer à l’acte], und dann zum Akt übergeht, begehrt, zum Akt überzugehen, weil er sich schuldig fühlt und seiner Schuld eine Existenz, eine äußere Realität verleihen will, eben gerade, um sich vom unerträglichen Leid eines Schuldgefühls, einer inneren Schuld zu befreien, die er nicht loszuwerden vermag, und nicht etwa umgekehrt, wenn man schuldig ist, weil man ein Verbrechen begangen hat; oder wenn ein Verbrecher, nach der Tat [acte], sich selbst noch schwerer bestraft als eine äußere juridische Strafe, eine Fremd-Bestrafung es täte, die im Grunde genommen immer käme, um die innerliche oder die natürlich genannte Strafe abzumildern (so sehr, dass der Schuldige danach streben kann, vom Gesetz abgeurteilt und bestraft zu werden, um sich von der natürlichen Strafe zu befreien, die viel unerbittlicher und dauerhafter ist, die er sich selbst innerlich aufzuerlegen scheint, oder die ihm jemand anders, dieses Mal von innen her, auferlegt), welchen Schluss kann man aus dieser natürlichen Strafe, dieser Selbst-Bestrafung im Grunde, die die von Kant als natürlich bezeichnete Strafe ist, ziehen? Gibt es jemals eine reine Selbst-Bestrafung? Ist die Strafe, und selbst die von Kant natürlich und also innerlich genannte Strafe, nicht immer bereits forensis, äußerlich, öffentlich, weil vom Anderen in mir, vom Außen innerhalb meiner selbst kommend? Wir werden sehen, wie diese Frage in unterschiedlichen Formen und Tonhöhen regelmäßig widerhallt. Wenn es nie eine reine Selbst-Bestrafung gibt, noch eine reine Fremd-Bestrafung, dann hält die für die Erkenntnis dessen, was Recht und Strafrecht sagen wollen, doch scheinbar so notwendige, so klassische, so präliminarische Unterscheidung nicht mehr stand; sie hält nicht lange stand, und zwar nicht nur hinsichtlich dessen, was eine theoretische und spekulative semantische Analyse, eine begriffliche Analyse uns darüber sagt, sondern auch aufgrund furchteinflößender konkreter Probleme, Situationen, in denen es schwierig, in Wahrheit unmöglich ist, die poena naturalis von der poena forensis, die natürliche von der juridischen, ‚forensischen‘, konventionellen, institutionellen, ja maschinellen usw. Strafe zu trennen. Die ganze Frage, sagen wir psychoanalytischer Art, und alle das Alter, den Akt und das Begehren betreffenden Dekonstruktionen sind im Winkel zwischen diesen beiden Strafen angesiedelt.

Wir wollen aber vorläufig so tun, als ob diese Unterscheidung selbst legitim, begründet und beglaubigt sei. Wir wollen dies zumindest für jene Zeitspanne tun, die es braucht, um zu verstehen, was Kant Sorgen macht, und um ihm darin zu folgen, was an dieser Sorge vernünftig und legitim sein mag. Nachdem Kant diese Unterscheidung gesetzt oder in Erinnerung gerufen hat, immer noch im selben Text (Rechtslehre, genauer gesagt die Metaphysischen Grundlagen der Rechtslehre, in der Metaphysik der Sitten, 2. Teil, § 4920), setzt Kant, dass die juridische Strafe (forensis), die einzige, die den „Gesetzgeber“ interessiere, niemals einfach als ein Mittel dekretiert werden könne, um ein Gut zu erlangen (nie bloss als Mittel eines anderen Gutes*), sei es zum Nutzen des Verbrechers oder zum Nutzen der bürgerlichen Gesellschaft, sondern dass man sie nur deshalb auf ihn anwenden dürfe (diese Strafe auf den Verbrecher), weil Letzterer sich schuldig gemacht hat (weil er verbrochen hat*, hervorgehoben).

Der Verbrecher muss also bestraft werden, weil er gefehlt hat, weil er schuldig ist, er muss aufgrund seines Fehltritts bestraft werden und nicht im Hinblick darauf, irgendeine Wirkung zu erzielen, irgendeinen Nutzen zu bringen, weder für den Verbrecher selbst noch für irgendjemanden innerhalb der Gesellschaft, der Nation oder gar der Menschheit. Mit anderen Worten: Die Bestrafung, wie ihr Subjekt, das bestrafte Subjekt, muss ein Zweck an sich sein, niemals ein Mittel. Die Todesstrafe darf zu nichts dienen, und muss statthaben, selbst wenn sie zu nichts dient. Kant fährt fort:

Denn der Mensch kann nie bloß als Mittel zu den Absichten eines anderen gehandhabt werden […]. Er muß vorher strafbar befunden sein [der Bestrafung würdig, die Bestrafung verdienend (strafbar* hervorgehoben)], ehe noch daran gedacht wird, aus dieser Strafe einigen Nutzen für ihn selbst oder seine Mitbürger zu ziehen.21

Den Menschen zu achten, der abgeurteilt wurde, indem man ihn für seinen Fehltritt bestraft und nicht, weil die Bestrafung zu etwas dienen könnte, heißt, seine Würde als Zweck und nicht als Mittel zu achten. Jemanden zu bestrafen, weil er strafbar ist, und nicht, weil seine Bestrafung einen Schaden wiedergutmachen, als abschreckendes Beispiel dienen oder die Sicherheit, das Glück und das Wohlbefinden der Gesellschaft gewährleisten wird, das bedeutet, die Würde der menschlichen Person, des Menschen als Vernunftwesen zu ehren.

Mit anderen Worten, wir wollen es noch einmal sagen: Jemand muss bestraft werden, weil er es verdient, bestraft zu werden, aber nicht, weil seine Bestrafung zu irgendetwas oder irgendjemandem, ihm selbst oder anderen, dienen könnte. Nicht einmal dann, wenn man von dieser Bestrafung ein Gut oder Glück erhoffen kann. „Das Strafgesetz“, so sagt Kant wörtlich, „ist ein kategorischer Imperativ“22. In die reine Auslegung dieses kategorischen Imperativs darf keine Idee von Fortschritt, Wohlbefinden, Glück oder Nützlichkeit im Hinblick auf Glück eingeführt werden. Die Strafrechtslehre muss jeder Theorie des Glücks, jeder Glückseligkeitslehre* gegenüber fremd bleiben. Diejenigen, die die Legitimität der Bestrafung, des Rechts, zu strafen, auf eine Theorie des Guten als Glück, als Wohlbefinden, als soziale Finalität stützen wollen, diejenigen, die im Strafrecht ein nützliches und notwendiges Werkzeug im Dienste des Guten [bien] und des Wohlbefindens [bien-être] sehen, all diese begreifen nicht nur nichts von der Spezifität des Rechts, sondern verachten im Grunde das Recht und die Rechtssubjekte; sie haben keinerlei Achtung für das, was die Würde und den Wert des menschlichen Lebens ausmacht, nämlich die Tatsache, als Zweck und nicht als Mittel betrachtet zu werden und also über dem Leben zu stehen. Der Wert des menschlichen Lebens, das, was dem menschlichen Leben seinen Wert verleiht, das ist per definitionem mehr wert als das Leben, das ist das, was im Leben mehr wert ist als das Leben. Alles in allem stellt Kant sich denen entgegen, die sagen, dass das Strafrecht, und insbesondere die Todesstrafe, nützlich oder notwendig sei. Von dieser Prämisse, die er mit Beccaria teilt, schließt er jedoch auf das Gegenteil, nämlich nicht, wie Beccaria, darauf, dass die Todesstrafe, wenn sie unnütz ist, abgeschafft werden müsse, sondern darauf, dass sie, eben weil sie ihrem Wesen nach unnütz, jenseits der Nützlichkeit, nicht-nützlich sein muss, als Würde und Ehre des Menschen aufrechterhalten und geachtet werden müsse. Strafen und Ehren sind hier untrennbar (um die Frage von Benveniste in Erinnerung zu rufen23). Ihre Verknüpfung ist nicht vage, sondern in der Vernunft begründet. Diejenigen, die sich auf die Nützlichkeit beziehen, degradieren und entehren sowohl das Recht als auch den Menschen. Kant bedient sich in Bezug auf diesen Diskurs der Nützlichkeit des auf schreckliche Weise belasteten Worts vom „Pharisäismus“. Es sei ein pharisäischer Diskurs, die Todesstrafe durch das Interesse der Gemeinschaft, durch die für das Überleben des Volkes lebensnotwendige Nützlichkeit rechtfertigen zu wollen.

[…] wehe dem! welcher [… den] pharisäischen Wahlspruch [anwendet]: „es ist besser, daß ein Mensch sterbe, als daß das ganze Volk verderbe“; denn, wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, daß Menschen auf Erden leben.24

Mit anderen Worten: Der Wert des Lebens ist, per definitionem, mehr wert und besser als das Leben; was dem Leben seinen Wert verleiht, steht über dem Leben – und das hängt mit der Gerechtigkeit zusammen, einer Gerechtigkeit, die besser ist als das Leben. Der Pharisäismus, das ist, für eine verdächtige Tradition, die aber bis zu Kant und darüber hinaus reicht, jene Kultur von Krämerseelen, die den Buchstaben und den Körper dem Geist vorziehen, die das Leben der Würde des Lebens vorziehen, und die also berechnen, die aus der Gerechtigkeit ein utilitaristisches Kalkül machen, die die Todesstrafe, und den Tod eines Menschen, als eine Investition, ein Handelsgeschäft, eine nützliche Transaktion, ein Tauschgeschäft rechtfertigen: Der Tod eines Menschen als Preis für die Sicherheit oder das Wohlbefinden, für das Überleben der Gesellschaft. Diese Pharisäer (und hinter dem Wort Pharisäer zeichnet sich immer der Schattenriss eines scheinheiligen, buchstabengläubigen, ritualistischen, berechnenden Juden ab) sind verachtend und verachtenswert. Sie verachten das Prinzip der reinen Gerechtigkeit, das den Geist des Menschen, den Menschen als Ziel an sich und nicht als Mittel betrifft; sie achten den Angeklagten oder den Verurteilten nicht. Sie ehren ihn nicht. Gleichzeitig entehren sie sich selbst, sind sie selbst der menschlichen Würde unwürdig und genauso verachtenswert wie das, was sie verachten. Kant fährt fort, immer noch gegen diejenigen, die aus dem Leben des Verurteilten, aus dem Körper des Verurteilten etwas machen, das für die Gesellschaft oder gar für die Menschheit nützlich ist, die nach ihrem Belieben darüber verfügt (denn für Kant bedeutet die Tatsache, einen Menschen hinzurichten, nicht, über ihn zu verfügen oder mit ihm zu machen, was man will, oder Macht über ihn auszuüben, indem man ihn instrumentalisiert, sondern in ihm einen Menschen zu achten und zu ehren, der würdig ist, bestraft zu werden, weil sein Handeln strafbar ist), Kant fährt also fort, indem er die Fiktion (die übrigens gar nicht so fiktiv ist) eines schrecklichen Handels imaginiert, der einem zum Tode Verurteilten das Leben, also die Begnadigung anbieten würde, unter der Bedingung eines Vertrags also, durch den er seinen Körper der Wissenschaft zur Verfügung stellt:

Was soll man also von dem Vorschlage halten: einem Verbrecher auf den Tod das Leben zu erhalten, wenn er sich dazu verstände, an sich gefährliche Experimente machen zu lassen, und so glücklich wäre, gut durchzukommen; damit die Ärzte dadurch eine neue, dem gemeinen Wesen ersprießliche, Belehrung erhielten? Ein Gerichtshof würde das medizinische Collegium, das diesen Vorschlag täte, mit Verachtung abweisen; denn die Gerechtigkeit hört auf, eine zu sein, wenn sie sich für irgend einen Preis weggibt.25

Kant unterscheidet wie immer zwischen der Würde (Würde*, der Wert als Würde, die ohne Preis ist, über allem Preis steht, wie die Gerechtigkeit) einerseits, und dem Wert (als Marktpreis*), dem vergleichbaren, berechenbaren Handelswert andererseits, dem Preis, der nicht die Würde ist, der der Würde unwürdig ist – und folglich unwürdig des Rechts des Menschen als Vernunftwesen oder als reiner praktischer Vernunft.

Wir sehen sehr gut, dass Kant diese Logik und diese Bemerkung zur Transaktion, die man mit dem Körper des Verurteilten oder des Rechtssubjekts nicht eingehen dürfe, dass Kant also diese Logik jenseits all dessen < verorten > will, was man heute auf oft konfuse Weise eine Bio-Macht nennt, eine Staatssouveränität, die sich in Bezug auf die Körper der Bürger-Subjekte ein Recht über Leben und Tod sichern würde. Obwohl das Strafrecht und die Todesstrafe im Kant’schen Sinne, von einer bestimmten Seite betrachtet, dieser Theorie und diesem Begriff der Bio-Macht dienen können, gibt es in derselben Kant’schen Logik etwas, das sich ihr heftig widersetzt und sogar einen Widerstand gegen sie organisieren könnte. Einen schuldigen Bürger nach Recht und Gerechtigkeit zu töten, heißt Kant zufolge mitnichten, in souveräner Weise über seinen Körper zu verfügen. Wir werden die Konsequenzen, die Kant in seiner Kritik an Beccaria und in seiner Interpretation des ius talionis als kategorischem Imperativ aus all dem zieht, später noch untersuchen.

Hier müssen wir sehen, dass die Kraft des Kant’schen Arguments darin besteht, dass es an zwei Fronten, auf zwei Flügeln wirksam ist. Kant stellt sich sowohl dem Anhänger als auch dem Gegner der Todesstrafe entgegen. Er stellt sich dem gewöhnlichen Anhänger der Todesstrafe und des Strafrechts entgegen, wo sich dieser Anhänger der Todesstrafe und der Bestrafung im Allgemeinen meistens auf die Nützlichkeit, die Beispielhaftigkeit, die Abschreckungskraft beruft: auf das Wohl der Gesellschaft, ja der Menschheit. Kant stellt sich, auf einem anderen Flügel, aber auch dem Befürworter der Abschaffung der Todesstrafe entgegen, der von derselben utilitaristischen und letztlich eudaimonistischen und vitalistischen Axiomatik ausgehend auf das Gegenteil schließt; der klassische Befürworter der Abschaffung der Todesstrafe zieht den Schluss, dass die Todesstrafe nutzlos ist, ohne exemplarischen Wert, ohne abschreckende Wirkung – oder er stellt das natürliche Leben, das biologische Leben über alles, indem er ihm ein unbedingtes Recht verleiht. Damit bestätigt sich: Wenn sich in Zukunft ein Diskurs zugunsten der Abschaffung der Todesstrafe konstituieren soll, muss er das Kant’sche Argument widerlegen, eben jenes, welches das Strafrecht und die Todesstrafe auf eine Stufe mit dem Prinzip und dem kategorischen Imperativ stellt. Dieses Argument auf der Höhe des reinen Prinzips und der Würde, des Rechts des Menschen ist schwerer zu widerlegen, als man glaubt, und auch schwerer zu widerlegen als der utilitaristische Diskurs derer, die eine Todesstrafe propagieren, die nützlich, notwendig, exemplarisch, abschreckend usw. ist.

Kant würde eine Notwehrjustiz, ein Argument, das sich auf die Notwehr beruft, um die Tötung von irgendjemandem zu rechtfertigen, also nicht akzeptieren. Der Rückgriff auf die Logik der Selbstverteidigung ist jedoch, in dieser buchstäblichen Form oder in einer mehr oder weniger indirekten oder bildlich-übertragenen Form, fast überall am Werk, wo man die Todesstrafe zu rechtfertigen versucht. Wenn die Notwehr nicht die spontane Antwort eines Bürger-Individuums mit einer Waffe ist (die also nie wirklich spontan, sondern immer ein wenig organisiert ist), eines Bürgers oder einer Miliz, der oder die sich Gerechtigkeit [justice] verschafft, ohne auf das aufgeklärte und interessenlose Urteil des Gerichtshofs [cour de justice] zu warten, nun, dann gibt es Recht dort, wo, wie man sagt, der Staat als Verfechter der Gerechtigkeit/Gerichtsherr [justicier] die Funktion der Notwehr der Individuen und des Kollektivs übernimmt – und wir werden gleich sehen, was Benjamin aus dieser Übernahme macht, wie er die Übernahme der Notwehr durch den Staat und durch das Recht interpretiert, wie er im Grunde genommen diese Notwehr [légitime défense] interpretiert, nämlich nicht als Verteidigung [défense] von diesem oder jenem, sondern des Rechts selbst durch sich selbst, und zwar dort, wo die Gewalt durch den Staat selbst monopolisiert und kapitalisiert wurde. Im Falle Amerikas, ich meine der USA, die von Beginn dieses Seminars an nicht als ein Fall unter anderen behandelt werden, sondern als ein Ausnahmefall, ein einzigartiger Fall innerhalb eines gewissen Ensembles, der folglich um so erhellender ist und auf der Weltbühne jenen vorherrschenden Platz einnimmt, den Sie kennen, in den USA also hat es sich ergeben, dass es aufgrund der Geschichte, insbesondere der Geschichte der Eroberung des Westens, eine besessene Anhänglichkeit an die Logik der Notwehr, der legitimen Verteidigung von Individuen und Familien gibt, die situativ lernen, der Polizei zu misstrauen, der Polizei des jeweiligen Einzelstaats und in noch stärkerem Maße der Bundespolizei, aber auch < an > die Logik des Staates selbst, ich meine jedes Einzelstaats innerhalb des Bundesstaats, jedes Einzelstaats, der gegenüber der Bundesjustiz auf seine Autonomie pocht. Und wenn Sie die beispiellose Verbreitung individueller Waffen, die höchste Waffendichte der Welt, den derart einfachen Zugang zum Handel mit individuellen Waffen in Betracht ziehen (aktuelle Debatte – weiter ausführen?+), die stets mit der Behauptung des Rechts auf Notwehr gerechtfertigt werden, wenn Sie, in derselben Logik, das traditionelle Pochen auf Unabhängigkeit der Einzelstaaten gegenüber der Regierung und der Justiz des Bundes betrachten, dann halten Sie einige Schlüssel (es sind nicht die einzigen) in Händen, um Zugang zur Frage der Todesstrafe in den USA zu erhalten.

Indem ich diese Parenthese über Benjamins Klammer [parenthèse] bezüglich der Notwehr schließe, eine Klammer, die er schließt, ohne sie zu schließen, da er sagt, dass dieses Recht auf Notwehr seinen gesamten Essay hindurch erhellt werden würde, < indem ich diese Parenthese also schließe >, kehre ich zur Maxime der gegenwärtigen europäischen Gesetzgebung* zurück, die Folgendes besagt: Wenn „Naturzwecke“ (Bedürfnisse, Begehren, Leidenschaften, Triebe, Interessen aller Art, bewusste oder das Unbewusste26…), wenn all diese natürlichen Bewegungen mit Gewalt an ihr Ziel kommen wollen, können sie mit den „Rechtszwecken“ kollidieren. Wir fragten uns also: Warum? „Aus dieser Maxime folgt“ nämlich, sagt Benjamin, dass die Gewalt in Händen individueller Personen für das Recht nicht etwa eine Gefahr unter anderen darstellt, sondern eine Gefahr, die „die Rechtsordnung zu untergraben“, das Juridische selbst zu unterminieren, zu ruinieren droht. Und Sie werden sehen, wie dieser andererseits so wenig kantianische Text bezüglich der Todesstrafe an eine Kantische Logik anknüpft. Benjamin erwähnt nämlich, was er „eine überraschende Möglichkeit“ nennt.27

Welche? Nun, jene, die das „Interesse des Rechts“ betrifft, und zwar ein Interesse des Rechts, das nicht daran interessiert ist, dies oder jenes, dieses Allgemeininteresse, dieses oder jenes bestimmte Interesse, diese legale Einrichtung oder jenen besonderen Rechtszweck vor individuellen Subjekten und individuellen Gewaltsamkeiten zu schützen, nein, das Recht hat auf ganz tautologische Weise ein Interesse daran, sich selbst zu schützen, und also die Gewalt [violence] zu monopolisieren, indem es sie dem Individuum nimmt. Daher spricht Benjamin von einer „Monopolisierung der Gewalt“ durch das Recht. Das Recht ist die Gewalt [force], das Recht, das ist die absolute Kapitalisierung, die hyperbolische Aneignung der Gewalt [violence]. Die individuelle Gewalt bedroht nun nicht dieses oder jenes Interesse außerhalb des Rechts, außerhalb des Gesetzes, sie ist schlicht und einfach bedrohlich für das Recht, für das Interesse des Rechts selbst, weil sie ihre eigene Existenz (bloßes Dasein*) außerhalb des Rechts hat. Was bestraft und sanktioniert wird, ist dann nicht diese oder jene Missetat, das Böse, das sie hervorrief, der Schaden, den sie nach sich zog, die Überschreitung dieses oder jenes Verbots. Was bestraft wird, ist die Herausforderung des Gewaltmonopols, welches das Recht konstituiert (in Wirklichkeit der souveräne Staat, obwohl Benjamin damals eher nur vom Recht als vom souveränen Staat spricht). Nun kommt die Bemerkung, die ich mit Benvenistes Frage nach der „recht vage[n] Verknüpfung“ zwischen strafen und ehren verbinden wollte. Wir gehen von Benveniste zu Benjamin über, beziehungsweise wir glauben eine Antwort Benjamins auf Benveniste zu vernehmen, wenn Letzterer – ohne allzu sehr daran zu glauben – nach der vagen Verbindung zwischen Glorifizieren und Bestrafen, Ehren und Strafen fragt. Kurz nachdem er diese Hypothese einer Monopolisierung der Gewalt durch das Recht formuliert hat, findet Benjamin die eklatanteste Bestätigung dieser Hypothese in der „heimliche[n] Bewunderung des Volkes“ für „die Gestalt des ‚großen Verbrechers‘“28.

Der große Verbrecher, das ist die souveräne Ausnahme dessen, der sich darauf verstanden hat, entweder die Monopolisierung der Gewalt durch das Recht herauszufordern und zu bestreiten (also durch den Staat, der diese Monopolisierung selbst ist – und gleich danach spricht Benjamin die Frage der Staatsgewalt an, in Bezug auf den Streik und den Krieg, aber ich werde nicht darauf zurückkommen, da ich sie [diese Fragen] in Gesetzeskraft angesprochen habe29) [der große Verbrecher, das ist also die souveräne Ausnahme dessen, der sich darauf verstanden hat, entweder die Monopolisierung der Gewalt durch das Recht herauszufordern und zu bestreiten] oder sich, als Individuum, die Gewalt anzueignen, die das Recht den Individuen entzogen hat. Das Volk ehrt also heimlich den „großen Verbrecher“, selbst wenn es der ihm auferlegten Bestrafung applaudiert; übrigens (immer noch die Frage des Spektakels und der Sichtbarkeit, des Voyeurismus, die wir letztes Jahr mit und gegen Foucault behandelt hatten, wobei wir auch Victor Hugo und Albert Camus gelesen haben30), wenn das faszinierte Volk den Martern oder den Hinrichtungen beiwohnen möchte, wenn es sie genießt oder bejubelt, dann deswegen, weil sein Hass auf den oder seine Furcht vor dem Verurteilten mit einem heiligen Schauder [horreur sacrée] vermischt ist, bestehend aus Bewunderung, Erstaunen, Neid gegenüber demjenigen, dem es in einer Art Duell mit dem Staat oder dem Recht, mit dem Gewaltmonopol, beinahe gelungen ist, sich die größte Kraft/Gewalt [force] wiederanzueignen und den Staat herauszufordern. Selbst wenn das Volk das Todesurteil verlangt, erkennt es im Verbrecher, im „großen“ Verbrecher, demjenigen, den man zum Tode verurteilt, eine absolute, fast souveräne Macht an. Der „große“ Verbrecher wird im Grunde, in seiner „Gestalt“, wie Benjamin sagt, so etwas wie der Repräsentant des Volkes in seinem latenten Protest gegen das Recht oder gegen den souveränen Staat, der ihm, dem Volk, die Gewalt [violence] entzogen hat, der das Volk der Gewalt beraubt hat, der das Volk vergewaltigt [violé] hat, um die Gewalt zu monopolisieren. Die Bewunderung für den Verbrecher, so heimlich und unbewusst, so uneingestanden sie auch bleiben mag, ähnelt einer Rache des Volkes am Recht oder am souveränen Staat, der ihm Gewalt angetan hat, um die Gewalt zu monopolisieren, selbst wenn dieser Akt der staatlichen oder juridischen Gewalt gegen das Volk im Interesse und mit Zustimmung des Volkes geschah. Ich glaube, dass Benjamin genau das sagen will, wenn er von einer „Sympathie der Menge gegen das Recht“31 spricht. Das Recht, das „heutige Recht“, sagt Benjamin – der so zu verstehen gibt, dass die Dinge anders sein konnten oder sein könnten –, wird vom Volk als eine Bedrohung empfunden, weil es ihm Gewalt angetan hat, um ebendiese Gewalt zu monopolisieren; und die Bewunderung, die den Verbrecher glorifiziert, ist ein Zeugnis dieser Situation. Aber da dasselbe Volk zugleich die Verurteilung fordern und den Verurteilten bewundern kann, und es ist Volk nur in dem Maße, in dem es zu diesem Widerspruch fähig ist, in einer Logik der Opferung, in der man sowohl die Logik des pharmakos (ausgeschlossen und gefeiert, ausgeschlossen und erwählt) als auch die Logik des sacer (gesegnete und verfluchte Sakralität zugleich) wiederfindet, kann der Begriff des „Volks“ oder der „Menge“ nicht auf einer Logik des repräsentativen und objektiven Bewusstseins beruhen, sondern bereits auf einem bestimmten unbewussten Affekt, den es im Herzen der Problematik zu berücksichtigen gilt. Das Volk ist unbewusst und verfügt über ein Unbewusstes, wo es sich auf die legale Gewalt, auf die Monopolisierung der Gewalt durch das Recht bezieht. Wenn Benjamin von einer „heimliche[n] Bewunderung“ des Volkes für den großen Verbrecher spricht, dann geht diese Heimlichkeit/dieses Geheimnis [secret], diese innerlich verborgene, private, heim-liche (heimliche*)32 Dimension, dieses Uneingestehbare der Bewunderung aus der Nacht des Unbewussten hervor, aus einer unbewussten Verhandlung zwischen dem (im Grunde legitimen, aber uneingestehbaren) Begehren, gegen die Monopolisierung der Gewalt durch das Recht zu protestieren, und dem scheinbar eher eingestehbaren und ebenfalls legitimen Begehren, das Recht und also die Verurteilung des Verbrechers zu billigen. Das vollzieht sich vielleicht zwischen jenen zwei Ordnungen, die Kant unterscheidet, der poena naturalis und der poena < forensis >.33 Ohne dass Benjamin es in dieser Form sagt, können wir daraus bereits schließen, dass der zum Tode verurteilte große Verbrecher immer gefürchtet34, aber heimlich, unbewusst bewundert wird wie ein Revolutionär, wie ein in politischen Angelegenheiten Verurteilter. Selbst wenn sein Verbrechen allem Anschein nach nicht politisch ist, selbst wenn es ein Verbrechen gemeinen Rechts35 ist, ist durch die Tatsache, dass er durch sein Verbrechen die politische Gewalt des Rechts, das staatliche Gewaltmonopol herausgefordert hat, jedes große Verbrechen ein politisches Verbrechen und/oder eine politische Großtat. Es ließen sich viele Beispiele anführen für diese oftmals unentscheidbare und poröse Grenze zwischen dem Verbrechen gemeinen Rechts und dem politischen Verbrechen. Nicht nur in all den Fällen, in denen der Staat es aus unterschiedlichen Gründen und in unterschiedlichen Situationen für opportun hält, einen Anklagepunkt umzuwandeln und einen politischen Anklagepunkt unter einem Anklagepunkt gemeinen Rechts zu verbergen (Mumia Abu-Jamal: Kommentieren+), sondern wir können auch in Betracht ziehen, dass die Logik rousseauistischen Typs, die darin besteht, die Todesstrafe zu rechtfertigen, indem man den Verbrecher im Allgemeinen als Staatsfeind definiert, der den verrät und das Gesetz herausfordert, < dass > diese Logik des „Staatsfeinds“ [ennemi public] darin besteht, aus jedem Verbrechen ein politisches Verbrechen zum machen.

2. Zweites Motiv: Es gibt noch ein anderes Motiv, ich hatte es angekündigt, das ich, sehr kurz, in Benjamins Text situieren möchte, den ich Ihnen im Übrigen zur nochmaligen Lektüre empfehle. Wir wollen es „die begründende Ausnahme oder das ausgeschlosseneingeschlossene-Transzendentale“ nennen. Es handelt sich in Wirklichkeit um die Konsequenz aus dem, was wir gerade analysiert haben. Sie berührt aber direkt die Todesstrafe, während Benjamin bislang nur von der Monopolisierung der Gewalt durch das Recht und die heimliche Bewunderung für den großen Verbrecher sprach. Wenn er, vier oder fünf Seiten weiter, die Todesstrafe diesmal beim Namen nennt, tut er das im Rahmen einer Überlegung, die sowohl an Kant erinnert (der die Todesstrafe als Ursprung und Möglichkeit selbst des Rechts rechtfertigt), als auch die Notwendigkeit dieser Kantischen Logik in eine Geschichte einschreibt, die es vielleicht erneut in Frage zu stellen gilt (ausgehend von Benjamin’schen Schemata, die die mythische Gewalt des griechischen Rechts der göttlichen Gewalt jüdischen Typs gegenüberstellen, und die rechtsgründende Gewalt von der rechtserhaltenden Gewalt des Rechts unterscheiden, vgl. Gesetzeskraft36). Die rechtserhaltende Gewalt, so bemerkt Benjamin, wird als bedrohlich empfunden, und es ist diese Drohung, angesichts derer man gegen die Todesstrafe protestiert. Sobald das positive Recht in Frage gestellt wurde, war die Todesstrafe dabei das am stärksten Kritisierte. Die Argumente dieser Kritik, merkt Benjamin an, gingen der Sache jedoch nicht auf den Grund, sie waren in den meisten Fällen wenig „grundsätzlich*“; in der Kritik der Todesstrafe war man immer oberflächlich. Wenn auch die Argumente der Sache nicht auf den Grund gingen, so wurde doch das, worum es ging, gut ins Visier genommen, und zwar prinzipiell. Und das wie folgt: Ebenjene, die die Todesstrafe attackierten, ohne zu grundsätzlichen Argumenten in der Lage zu sein, spürten sehr wohl, dass sie, indem sie die Todesstrafe attackierten, nicht eine Bestrafung oder ein Gesetz unter anderen attackierten, sondern „das Recht selbst in seinem Ursprung“37. Dieser Ursprung ist eine Gewalt, eine vom Schicksal gekrönte Gewalt (schicksalhaft gekrönte Gewalt*). Daher besteht einiger Grund zu der Annahme, dass sich „in der höchsten Gewalt“, jener, die darin besteht, in der Ordnung des Rechts über Leben und Tod des Rechtssubjekts zu verfügen, die Ursprünge dieser Ordnung auf ebenso präsente wie furchtbare Weise manifestieren. Mit anderen Worten: Die Todesstrafe ist das, was den Ursprung und das Wesen des Rechts, das heißt die Gewalt, in herausragender Weise offenbart, wenn man so sagen kann. Wenn man zum Tode verurteilt, sanktioniert man nicht dieses oder jenes Delikt, sondern bekräftigt – auf disproportionale Weise – von Neuem die Notwendigkeit des Rechts und seiner Gewalt. Zum Tode verurteilen, das heißt nicht, diese oder jene Verfehlung zu bestrafen, sondern das heißt, das Recht auf das Recht, das Recht auf die Gewalt des Rechts zu setzen. So bestrafte man zum Beispiel „in primitiven Rechtsverhältnissen“, so Benjamin, das geringste Eigentumsdelikt „ganz außer ‚Verhältnis‘“38 mit dem Tode; ebendies machte deutlich, dass es nicht darum ging, diese oder jene besondere Verletzung des Rechts zu sanktionieren oder zu bestrafen, sondern das Recht erneut zu bekräftigen oder wiederherzustellen, wie auch ein neues Recht zu etablieren. Jedes Mal, wenn man mit dem Tode bestraft, erfindet man das Recht neu. Indem es die Gewalt über Leben und Tod ausübt, „bekräftigt das Recht sich selbst“, „mehr als in irgendeinem andern Rechtsvollzug“39. Dieses „mehr als“, dieses „am meisten“, diese Hyperbel, dieser Gipfel des Komparativs oder dieser Superlativ in der Argumentation Benjamins ist interessant. Denn es gibt zu denken, dass die Todesstrafe zwar die Bestrafung par excellence ist, gleichzeitig aber, da weniger dazu bestimmt, dieses oder jenes Delikt, diese oder jene Verletzung dieses oder jenes Gesetzes zu bestrafen, als vielmehr dazu, das absolute Recht auf das absolute Recht zu bekräftigen, dass diese höchste Strafe in Wirklichkeit keine Strafe ist; das ist keine Strafe unter anderen, sie steht nicht im Verhältnis zum Maß des Delikts – wie bei einer Verteilungsgerechtigkeit oder einer Abschreckungsjustiz. Ihre Unverhältnismäßigkeit, ihr „ganz ‚außer Verhältnis‘“ nimmt sie vom Bereich der Bestrafung aus. Bevor wir dieses Argument bis zu seiner äußersten Konsequenz treiben, die darin bestünde, zu sagen, dass die Todesstrafe40 keine Bestrafung, keine Art aus der Gattung Bestrafung beziehungsweise kein Fall von Bestrafung ist, wollen wir zunächst Folgendes sagen: Der absolute Verbrecher, der große oder sehr große Verbrecher, jener, welchen man mit der Todesstrafe zu bestrafen behauptet, hat nicht dieses oder jenes Verbrechen, ja diesen oder jenen Mord begangen. Er hat das höchste Verbrechen begangen, nämlich die Souveränität des Gesetzes absolut, womöglich auch noch souverän, zu überschreiten: Nicht dieses oder jenes Gesetz zu übertreten, sondern das Gesetz der Gesetze, das heißt das Prinzip selbst des Rechts, das dem Recht das Recht gibt, die Gewalt zu monopolisieren. Daher die Faszination für den großen Verbrecher, der nicht dieses oder jenes Gesetz übertritt, sondern das Prinzip selbst des Gesetzes überschreitet – und im Grunde genommen den Staat und die Politik, das Politische selbst. Das ist auch der Grund dafür, dass jeder große Verbrecher sogenannten gemeinen Rechts zunächst ein politischer Gefangener ist, politischer als jeder andere, da das, was er attackierte, die Möglichkeit, die Bewahrung, die Instanz des Politischen selbst ist, das soziale Band (das, was auch heimlich Liebende tun, die in dieser Hinsicht, zumindest in dieser Hinsicht, den großen Verbrecher[n]* vergleichbar sind). Wir wollen jetzt den Grund präzisieren, weshalb man, von diesem Standpunkt aus, der Ansicht sein könnte, dass die Todesstrafe keine Strafe, keine Bestrafung sei, dass es ein Missbrauch der Sprache ist, wenn man sie in die Kategorie der Bestrafung und also des Strafrechts einordnet.

Die Argumentation könnte hier drei Argumente umfassen, deren Logiken unterschiedlich wären, die aber alle auf ein und dieselbe Schlussfolgerung zuliefen: Die Todesstrafe ist keine Strafe unter anderen, sie fällt nicht unter das Strafrecht, wenn sie es auch begründet. Es gibt – um zum Motiv der letzten Woche zurückzukehren – also vielleicht keine Einheit, keine irreduzible Spezifität, keine Unteilbarkeit der Todesstrafe, es gibt nicht die Problematik oder eine einzige Problematik, nicht einen einzigen Problemherd der Todesstrafe. Welche wären nun diese drei Argumente?

1. Erstes Argument. Das als ausgeschlossen eingeschlossene Transzendentale. Wenn die Todesstrafe, wie Benjamin behauptet, dazu bestimmt ist, das Recht in seinem Ursprung als Monopolisierung der Gewalt zu begründen, dann fällt die Grundlegung oder der Ursprung des Rechts, insbesondere des Strafrechts, nicht unter das Strafrecht, gehört es nicht zu dem Ensemble, das „Bestrafung“, Strafe oder Entgelt, noch weniger Abschreckung genannt wird. Das ist, wenn Sie sich dieser Sprache auf mindestens formale Weise bedienen wollen, das Transzendentale des Rechts. Das Transzendentale wird hier von dem ausgeschlossen, was es ermöglicht; und wenn es hier eingeschlossen wird, dann als eine exemplarische Ausnahme in der Reihe. Auf jeden Fall ist die Todesstrafe keine Strafe, die mit den anderen vergleichbar, ihnen homogen oder von ihnen nur quantitativ verschieden wäre. Das ist keine der Strafen, die vom Strafrecht vorgesehen sind.

2. Zweites Argument. Frage der Zeit, wenn Sie so wollen. Ob man nun vom Standpunkt der Ökonomie der Verteilungsgerechtigkeit oder vom Standpunkt der unterstellten Nützlichkeit der abschreckenden Beispielhaftigkeit darüber nachdenkt, die Todesstrafe ist keine Strafe, sie fällt nicht unter das Strafrecht, weil das Subjekt, dem sie auferlegt wird, einerseits nicht mehr da ist, nicht mehr da sein wird, nicht mehr da gewesen sein wird, um die Strafe zu bezahlen oder zu erleiden oder zu vollziehen, insbesondere um abgeschreckt zu werden, es noch einmal zu tun; das bestrafte, hingerichtete, beseitigte Subjekt wird als Subjekt der Strafe beseitigt, es gibt keine Strafe mehr für es. Es ist nicht, es ist noch nicht und wird nicht das gegenwärtige Subjekt [sujet] der Strafe gewesen sein, der es, wie man sagt, unterworfen [assujetti] wäre. All dies impliziert natürlich eine anspruchsvolle und ziemlich unorthodoxe, ziemlich unübliche Interpretation der Zeitigung41 der Zeit. Ein wenig so, als ob die phänomenologische oder existenziale Analyse der Zeitigung – weit davon entfernt, einfach auf den Fall der Todesstrafe angewandt zu werden – in der Erfahrung (die, vielleicht, gerade ohne Erfahrung ist, und es geht dabei um die Erfahrung selbst der Todesstrafe: Wer macht die Erfahrung der Todesstrafe? Derjenige, der stirbt, oder diejenigen, die ihn sterben sehen oder machen? Weder die einen noch die anderen vielleicht), ein wenig so, sagte ich, als ob die phänomenologische oder existenziale Analyse der Zeitigung – weit davon entfernt, einfach auf den Fall der Todesstrafe angewandt zu werden, in der Erfahrung (ohne Erfahrung) der Todesstrafe ihre Prüfung selbst, ihren Prüfstein oder ihren Stein des Anstoßes, ihr skandalon selbst finden würde. Dieser Skandal ist das Thema [sujet] dieses Seminars, das mutmaßliche, aber vielleicht unauffindbare Thema dieses Seminars. Man wäre, ohne dass dies die schreckliche Sache, die uns beschäftigt, im Geringsten erleichtern oder entdramatisieren würde, oft versucht zu sagen: Die Todesstrafe existiert nicht, niemand ist ihr wirklich unterworfen, niemand ist ein Subjekt nach ihrem Maße, es gibt kein Subjekt, das heißt kein der Todesstrafe gegenwärtiges Subjekt. Niemand erleidet die Todesstrafe. Einmal hingerichtet, verschwindet der Verurteilte, noch bevor er eine wie auch immer geartete Strafe bezahlt. Das Rechtssubjekt, das Subjekt der Bestrafung, wird beseitigt [supprimé] und nicht aufgehoben [relevé]. Weit davon entfernt, irgendjemanden mit diesem den Namen oder Übernamen ‚Todesstrafe‘ tragenden Effekt zu trösten oder zu versöhnen, intensiviert diese Beseitigung, dieses Ungreifbar- oder Unspürbar-Werden des Moments oder der Instanz der Hinrichtung, was einem Taschenspielertrick ähneln würde (plötzlich erleidet niemand die Todesstrafe, niemand kann sie erleiden), weit davon entfernt, die Dinge abzuschwächen oder abzumildern, intensiviert all dies im Gegenteil die Dringlichkeit oder die Monstrosität der Sache42. Die Todesstrafe würde nicht existieren, niemand wäre ihr je begegnet, ihr selbst, niemand hätte sie erlebt. Sie wäre von selbst abgeschafft, vor jeder Abschaffung und jeder Bewegung zur Abschaffung der Todesstrafe. Ihr Problem besäße weder < eine > Einheit, ja nicht einmal < eine > Konsistenz. Das ist im Übrigen auch der Grund, warum es Gegenstand einer so mächtigen und insistierenden, so hartnäckigen Zerstreuung [distraction] ist, aber einer Zerstreuung, die uns nicht loslässt, wie der Tod selbst – wenn man ‚der Tod selbst‘ sagen kann.

Daher müssen wir vielleicht eher von der Ausführung [exécution], der Wirksamkeit der Umsetzung sprechen als von der Verurteilung oder vom Prinzip der Einschreibung der Strafe ins Recht (wie Kant es tut, in Bezug auf den, wie auf Rousseau, man zeigen könnte, dass er an der Einschreibung des Prinzips ins Recht festhält, wenn man auch – wie ich glaube und wie ich später zu beweisen versuchen werde – beweisen kann, dass dieses absolute und irreduzible Recht in vollkommen Kantischer Logik phänomenal, für den homo phaenomenon, unanwendbar bleibt: nicht ausführbar [non exécutable], und also in gewisser Weise inexistent). Es gibt vielleicht keine Todesstrafe, niemand ist ihr je begegnet, aber es gibt Ausführungen/Hinrichtungen [exécutions].

3. Drittes Argument. Die Anomie der Todesstrafe. Von einem ganz anderen Standpunkt aus, aber aus denselben Gründen, finden wir, trotz der Distanz, ja der Umkehrung der Logik (ich sage wohlweislich Umkehrung der Logik, denn auch Beccaria, um den es nun gehen wird, schließt ebenso wie Benjamin die Todesstrafe von der Immanenz des Rechts aus, aber nicht deshalb, weil sie die Grundlage des Rechts bilden würde, sondern weil sie überhaupt kein Recht ist, sie ist dem Recht gegenüber auf andere Weise heterogen; denn es gibt zwei Arten, dem Recht gegenüber heterogen und kein Teil von ihm zu sein: indem etwas die Grundlage des Rechts bildet – wie ein Transzendental oder ein ausgeschlossener Grund dessen, was es ermöglicht, wir haben das gerade sehen –, oder indem etwas dem Ensemble „Recht“ nicht angehört, weil es ein Nicht-Recht darstellt) < finden wir also > die These Beccarias wieder, der zufolge „die Todesstrafe kein Recht [ist]“43 und es auch nicht sein kann, sondern ein Kriegsakt, ein Krieg der Nation gegen einen Bürger, dessen Beseitigung sie für notwendig oder nützlich erachtet. Wonach Beccaria zeigen wird, zu zeigen bestrebt sein wird, dass diese Beseitigung des Bürgers weder nützlich noch notwendig sei. Außer, das ist wahr, und über diese Ausnahme hatten wir letztes Jahr gesprochen, in den Ausnahmefällen also, in denen die Nation noch nicht oder nicht mehr existiert, in denen es also noch kein Gesetz oder kein Gesetz mehr, also noch kein Recht oder kein Recht mehr gibt. Wir müssen uns hier die Beweisführung Beccarias in Erinnerung rufen. Dieser sagt nicht, er glaubt nicht, dass der Tod eines Bürgers notwendig, nützlich oder gerecht sein könne, aber er beschreibt die Situationen, in denen er als ebendies erscheinen kann, in denen er für nützlich, notwendig oder gerecht gehalten wird. Diese Fälle sind Grenzfälle, und die Grenze ist eben die der Nation oder des Gesetzes, oder der Souveränität, wenn diese noch nicht existieren oder nicht mehr existieren, oder vor allem, wenn sie in ihrer Existenz bedroht sind. „Der Tod eines Bürgers“, sagt er, „kann nur aus zwei Beweggründen für notwendig gehalten werden.“44 Der erste Beweggrund [motif] ist jener Fall, wenn ein bestimmter Bürger, selbst während er schon im Gefängnis sitzt, noch aus seinem Gefängnis heraus Beziehungen unterhalten und eine Macht behalten kann, die es ihm gestatten, die Sicherheit der Nation zu bedrohen oder eine für die etablierte Regierungsform gefährliche Revolution auszulösen. Die Beseitigung eines Bürgers wird in dem Moment notwendig, in dem die Nation dabei ist, ihre Freiheit wiederzuerlangen oder zu verlieren (Perioden der Anarchie, des Quasi-Bürgerkriegs, wenn es eben kein Gesetz gibt, wenn es keines mehr oder noch keines gibt). Man kann es also für nützlich halten, einen bestimmten gefährlichen Bürger zu beseitigen, aber Sie sehen schon, dass es dann, wenn man ihn als einen „öffentlichen“ oder „Staatsfeind [ennemi public]“ und nicht nur als einen politischen Feind betrachtet, nicht nur um jemanden geht, der in politischen Angelegenheiten verurteilt wurde [condamné politique], sondern auch um eine Bedrohung für die Politik oder das Politische selbst, für die politische Ordnung, ja die Ordnung des Politischen. Wo aber, so Beccaria, das Gesetz friedlich herrscht, wo die Regierung die Zustimmung der gesamten Nation genießt, nach außen wie nach innen durch die Macht [force] […]45 und vor allem durch die öffentliche Meinung verteidigt wird, die noch wirksamer ist als die Macht, wo die Macht [pouvoir] nur beim wirklichen Souverän liegt, wo Reichtum und nicht Autorität Genuss erkauft, da „kann es keine Notwendigkeit geben“, einen Bürger zu beseitigen.

Sie werden im Vorübergehen bemerkt haben, dass Beccaria, weit davon entfernt, die Ausübung [exércice] der Souveränität mit der Todesstrafe zu verbinden, die beiden einander entgegensetzt. Wo es wirkliche Souveränität gibt, ist keine Todesstrafe nötig (im Gegensatz zu Kant, Schmitt oder Benjamin). Zuvor hatte Beccaria im selben Sinne gesagt, dass „dieses Recht […] ihresgleichen zu töten, […] gewiss nicht jenes sein [kann], von dem die Souveränität und die Gesetze sich herleiten“46. Das ist also das genaue Gegenteil der Benjamin’schen These über das Recht, das hier aber auf entgegengesetztem Wege zur selben Behauptung führt: Die Todesstrafe ist kein Recht (unter anderen). Sie werden ebenfalls bemerkt haben, dass es jenseits dieser üblichen Bedingungen, die für den Ausschluss der Todesstrafe gestellt werden (Ordnung, fest etablierte Souveränität, Macht der Meinung eher als die der Autorität, und vor allem eher durch Reichtum als durch Autorität zu erkaufender Genuss), ein liberal-demokratisches Modell, eine politische Ordnung, die den Markt offen lässt usw., ist, welches die Möglichkeit bietet, mit der Todesstrafe Schluss zu machen. Das gibt viel zu denken, wir wollen das aber für den Augenblick beiseite lassen.

Der zweite Beweggrund, die Todesstrafe für gerecht und notwendig zu halten, ein zweiter Beweggrund, an den Beccaria ebenfalls nicht glaubt, von dem er aber weiß, dass er weit verbreitet ist, besteht in der Abschreckung. Er sagt wohlweislich „um die anderen abzuschrecken“47, die anderen, denn der hingerichtete Verurteilte kann dieses Mal nicht das Subjekt dieser abschreckenden Strafe sein. Dieses Argument der Abschreckung, der abschreckenden Nützlichkeit, der Todesstrafe als Mittel zur Abschreckung, von dem auch Kant, von einem anderen Standpunkt aus, sagte, dass es das Prinzip der Todesstrafe nicht rechtfertigen könne, wird Beccaria zu widerlegen versuchen, wobei er aber die Idee beibehält (was Kant nicht tut). Beccaria wird die Idee beibehalten, aber behaupten, dass lebenslange Haft und Zwangsarbeit grausamer und folglich für jeden potentiellen Verbrecher abschreckender, also letztendlich nützlicher seien als die Todesstrafe.

Dieser ganze Umweg war dazu bestimmt, die Zweideutigkeit oder die „vage Verknüpfung“ zwischen ehren und strafen zu erhellen, von der Benveniste spricht. Wir haben gesehen, wohin uns zum Beispiel „die heimliche Bewunderung“ des Volkes oder der Menge für den großen Verbrecher führte, der auf diese Weise verflucht, bestraft und geehrt zugleich wurde.

Wir wollen nun für einen Augenblick zu Benveniste zurückkehren. Nachdem er von einer ziemlich vagen Verbindung zwischen den beiden Bedeutungen, ehren und strafen, gesprochen hat, führt Benveniste weiter aus, dass nun zu fragen wäre, „ob die Bedeutung von timé [Ehre, Würde] und der verwandten Wörter eine Zusammenstellung mit der Familie von poiné [Strafe] nahelegt oder verbietet. Es genügt nicht, timé mit ‚Ehre, Achtung‘ wiederzugeben. Die Bedeutung muß in bezug auf Wörter mit benachbarter Bedeutung enger eingegrenzt werden.“48

Genau das wird Benveniste mit dem Korpus einer Reihe von Beispielen zu tun versuchen, die er der Ilias und der Homerischen Hymne an Hermes entnimmt. Ich kann diese Analysen hier nicht im Detail verfolgen, sondern muss Sie darauf verweisen. Sie werden aber sehen, dass sie alle dazu tendieren, die beiden Bedeutungen, timé und poiné, radikal zu trennen, sowohl im Hinblick auf eine indirekte oder hypothetische Etymologie als auch, vor allem, im Hinblick auf ihr semantisches Funktionieren in den Texten. Selbst in einem Text, in dem diese Trennung schwierig zu sein scheint, lässt Benveniste es sich zur Ehre gereichen, wenn ich so sagen kann, zu vermerken, dass diese Verbindung gewagt und eine Ausnahme sei. Es handelt sich dabei um jene Passage, in der die Troer sich verpflichten, Helena und sämtliche Schätze für den Fall zurückzugeben, dass Menelaos den Sieg davonträgt. Sie verpflichten sich auch, darüber hinaus eine timé an Agamemnon und die Argeier zu entrichten. Man konnte denken, dass timé, die Ehre, damals eine Art Geldstrafe, eine Rückzahlung war. Was sie jedenfalls in diesem Fall auch wirklich war. Doch Benveniste will nicht bei diesem Beispiel stehenbleiben und schreibt:

Rein zufällig und nur in diesem einen Beispiel wird timé mit dem Verb „zurückzahlen“ verknüpft. Daraus folgt keineswegs, daß der Dichter die timé als morphologisches Korrelat von apotinó angesehen hat. Eben dieser Text zeigt, ganz im Gegenteil, deutlich den Unterschied zwischen timé und poiné. Verweigern die Troer die timé, so hat Agamemnon guten Grund zum Kampf, um eine poiné zu erhalten. Das ist etwas ganz anderes: die poiné ist Bestrafung und Wiedergutmachung für einen Eidbruch.49

Um seine Beweisführung zu stützen, ruft Benveniste auch mit klaren Worten in Erinnerung, dass poena im Lateinischen, ein Ausdruck des Strafrechts und eine alte Entlehnung des griechischen poiné, nichts mit dem Ausdruck honos zu tun habe, genauso wenig wie punire.

Ich werde die Kompetenz und die Klarsicht von Benveniste nicht bestreiten. Wie lautet die Frage? Geht es darum, ob timé (Ehre, Würde) dasselbe bedeutet wie poiné, oder ob man die beiden wechselseitig ersetzen oder in einer dauerhaften Korrelation, einer engen und automatischen „Zusammenstellung“ (rapprochement, so Benvenistes Wort50) miteinander verbinden könnte? Natürlich nicht, und in dieser Hinsicht überzeugt Benvenistes Antwort vollkommen. Der gesunde Menschenverstand selbst. Aber geht es darum? Gibt es nicht andere logische oder symbolische Wege, um von der Konfiguration, ja der Ko-Implikation dieser beiden Unterscheidungen zwischen Ehre oder Würde einerseits, und Bezahlung, Geldstrafe, Bestrafung andererseits Rechenschaft zu geben? Selbst wenn man zu Unrecht versucht hätte, sie in der Sprache zu finden, woher käme diese Suche, dieser Trieb, eine privilegierte Beziehung zwischen den beiden zu finden? Denn wenn es da einen Fehler oder eine Projektion gibt, jenseits dessen, was Benveniste „Zufall“ nennt („Rein zufällig und nur in diesem einen Beispiel wird timé mit dem Verb ‚zurückzahlen‘ verknüpft“), müsste man anerkennen, und Benveniste tut das, ich zitiere ihn, dass es im Griechischen gab, was er „sekundäre Kontakte“51 zwischen den zwei Familien nennt, woraus insbesondere tīmōrein, „beistehen, helfen, züchtigen“, tīmōrós, „Schützer, Rächer“ resultieren, „wörtlich derjenige, ‚der über die tīmé wacht‘ (timá-oros), eine Mischung aus beiden Begriffen“, sagt Benveniste. „Desgleichen scheinen die ältesten Formen tínō, tinúō, den ī-Vokalismus von tīmé übernommen zu haben, wie aus der dialektal bezeugten Schwankung zwischen ι und ει hervorgeht.“52

Man hätte immer noch das Recht, den Linguisten zu bitten, über all jene Phänomene Rechenschaft abzulegen, die er hartnäckig für Unfälle, Zufälle, Unreinheiten, „sekundäre Kontakte“ hält. Man hat den Eindruck, dass seine Sorge dem gilt, eine reine Abstammungslinie aufrechtzuerhalten, fern von Verschmutzungen, unversehrt, unangetastet von (ich zitiere seine Worte) „Zufällen“, „sekundären Kontakten“, einer „Mischung aus beiden Begriffen“. Was es zu vermeiden gilt, ist gerade das Unvermeidliche, der genetische Zufall, der sekundäre Kontakt, die genealogische Mischung, kurz die Kontamination einer Reinheit klarer und distinkter Begriffe, kurz das, was geschieht und wofür man die Verantwortung übernehmen muss. Benveniste will sich zwar nicht vorwerfen lassen, Phänomene, die jeder Gelehrte – wie er – bestätigen muss, mit Stillschweigen zu übergehen. In seiner Interpretation, und in einer Sprache, auf der die Konnotationen genealogischer Reinheit sehr schwer lasten, bewertet er aber genau das, was es zu denken gilt, um die Verantwortung dafür zu übernehmen, gleichzeitig als sekundär, zufällig, als Mischung und irrationale Unreinheit. Warum gibt es scheinbar zufällige, sekundäre Phänomene, Mischungen aus beiden Begriffen? Warum mischt sich das, und wer mischt? Wir werden weiterhin aufmerksam bleiben für diese Mischungen zwischen Begriffen, die man unterscheiden möchte (nützlich und gerecht, natürliche Strafe und poena forensis, Selbst- und Fremd-Bestrafung usw., die Liste wäre endlos).

Seit ich Benveniste lese, habe ich in unterschiedlichsten Kontexten und bei unterschiedlichsten Themen bemerkt (ich könnte zahlreiche Beispiele dafür geben, veröffentlichte wie unveröffentlichte, von „Das Supplement der Kopula“ bis „Glaube und Wissen“53), dass ich immer zweierlei zugleich tun muss, dass ich seinem Wissen eine Hommage erweisen, also den Gelehrten ehren muss, ihn aber gleichwohl, im selben Moment, im Gegenteil auch verdächtigen, um nicht zu sagen ihn beschuldigen muss, nicht zu denken zu wissen, was er zu wissen weiß54.

+ Während der Sitzung fügt Jacques Derrida hinzu: „Es handelt sich hierbei, wie Sie wissen, um eine aktuelle Debatte. Clinton hat versucht, das zu begrenzen, doch das ständig wiederkehrende Argument lautet: ‚Wenn ihr uns die individuellen Waffen wegnehmt – wobei um die Frage, welche Waffen, eine endlose Debatte tobt, das ist kompliziert –, wenn ihr uns also diese Waffen wegnehmt, dann werden die Gangster sie doch behalten, und wir werden uns nicht mehr verteidigen können.‘“ (A.d.H.).

+ Während der Sitzung fügt Jacques Derrida hinzu: „Der Fall, den wir am besten kennen, den ich am besten kenne, ist der von Mumia Abu-Jamal, der, ich glaube 1982, für ein sogenanntes Verbrechen gemeinen Rechts, den Mord an einem Polizisten verurteilt wurde, der ihm zugeschrieben wurde – eine Zuschreibung, gegen die er seit fast zwanzig Jahren kämpft –, während man weiß, dass dies deshalb geschah, weil er ein Aktivist der Black Panthers war, gewesen war, und ein überaus politischer Journalist, dass er deshalb verurteilt worden ist. Er protestiert also, indem er sich, während er ein nach gemeinem Recht Verurteilter ist, als ein in politischen Angelegenheiten Verurteilter präsentiert, nicht nur weil er ein Black Panther und ein engagierter Journalist gewesen ist, sondern auch weil er nie aufgehört hat, von seinem Gefängnis aus die Legalität, die Legitimität zu bestreiten, und zwar in poli-Vertrag tischen Begriffen. Nun, das ist ein konkretes Beispiel für ein politisches Verbrechen, einen politischen Anklagepunkt, der in einen Anklagepunkt gemeinen Rechts umgeschminkt wurde. Das ist ein Fall – und es gibt viele davon –, aber jenseits der Fälle, in allgemeinerer Hinsicht, gemäß der Logik, die ich gerade entwickle, ist jedes Verbrechen, welches auch immer es sei, selbst wenn es als ein Verbrechen gemeinen Rechts begangen wird, in Wirklichkeit ein politisches Verbrechen.“ (A.d.H.).

Die Todesstrafe II

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