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Erste Sitzung 6. Dezember 2000

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Bitte gestatten Sie mir ein weiteres Mal, nicht allzu weit zurück zu blicken und nicht den ganzen Weg zu rekonstruieren, den wir im letzten Jahr oder, im Sinne von Prämissen, sogar im Laufe der letzten Jahre gegangen sind. Dieses Mal schien es mir am bequemsten zu sein, Ihnen eine knapp gehaltene Bibliographie zur Verfügung zu stellen.1 Sie würde es denen, die das Seminar im letzten Jahr nicht verfolgen konnten, erlauben, zumindest bestimmte Etappen und grundlegende Referenzen nachzuvollziehen, zum Beispiel im Hinblick auf die anfängliche Inszenierung, die Erinnerung an, ja die Analyse von vier großen paradigmatischen Gestalten (die nicht, wie im Jahr zuvor zum Thema Vergebung und Eidbruch2, vier protestantische Männer waren, die auf ihre Art Präsidenten waren, Hegel, Mandela, Tutu und Clinton – die drei Lebenden3 waren buchstäblich Präsidenten, einer von ihnen Präsident der Kommission für Wahrheit und Versöhnung, wir werden dieses Jahr, von heute an, rasch auf diese Gestalt und Figur des „Präsidenten“, ja des Präsidiablen oder Präsidentiellen, des Souveräns mit dem Beinamen „Präsident“ zurückkommen: Was ist ein Präsident? Das wird eine der Fragen sein, über die wir also von heute an sprechen werden), jene paradigmatischen Gestalten waren also im letzten Jahr nicht diese vier protestantischen Männer, sondern dieses Mal drei Männer und eine Frau (Sokrates, Jesus, Al-Halladsch, Jeanne d’Arc4, die nichts Protestantisches an sich hatten und die zum Tode verurteilt worden waren durch eine religiöse Macht, die bei der Ins-Werk-Setzung des Urteilsspruchs und bei der Exekution regelmäßig von einem Staatsapparat unterstützt, ja inspiriert wurde; daher die Einführung einer großen Problematik über das Theologisch-Politische und die Todesstrafe, in Wahrheit über die Grundlegung des Onto-Theologisch-Politischen im Recht zur Todesstrafe, wobei all dies über die große Frage einer in Dekonstruktion befindlichen Souveränität verlief, und die Dekonstruktion schließlich zu dem wurde beziehungsweise sich letztendlich als das erwies, was, um es zu dekonstruieren, mit dem phallogozentrischen Gerüst [échafaudage], um nicht zu sagen Schafott [échafaud] der onto-theologisch-politischen Souveränität ringt, mit jener seltsamen, erstaunlichen und verblüffenden Tatsache, dass sich nie – absolut nie – irgendein philosophischer Diskurs als solcher in seinem im eigentlichen Sinne philosophischen Argumentieren dem Prinzip – ich sage wohlweislich dem Prinzip – der Todesstrafe widersetzt hat, was uns, die wir darüber verblüfft sind, das Ausmaß der Schwierigkeit oder der Aufgabe vor Augen führt: Ist es möglich, sich dem Prinzip der Todesstrafe zu widersetzen oder ihm etwas entgegenzusetzen, das als unbedingtes Prinzip bezeichnet wird, und nicht eine Überlegung empirischer Opportunität, relativer Nützlichkeit oder wahrscheinlicher praktischer Notwendigkeit?).

Danach, nach der Lektüre von Texten in Bezug auf diese Figuren, hatten wir das Buch Exodus um die Frage des Gebots „Du sollst nicht töten!“ herum gelesen, gefolgt von den von Gott dekretierten „Rechtsordnungen“, die die Todesstrafe für diejenigen vorschreiben, die gegen dieses oder jenes Gebot verstoßen. Ich werde die Analysen, die wir all diesen Texten (von Beccaria über Kant, Hugo, Genet und einige andere bis zu Camus), modernen Rechtstexten oder internationalen Erklärungen seit dem letzten Weltkrieg, sowie der Entwicklung der Lage der Todesstrafe in den USA gewidmet haben (insbesondere mittels Zeitungslektüre, wobei die USA heute die einzige sogenannte westliche Demokratie europäisch-jüdisch-christlicher Kultur sind, die in massivem und zunehmendem Maße eine Todesstrafe aufrechterhält, deren legale Anwendung eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zumindest zwischen 1972 und 1977 aufgehoben hatte) [ich werde all diese Analysen] natürlich nicht noch einmal wiedergeben, genauso wenig wie die allgemeine Einführung einer Problematik der Souveränität um zwei Begriffe herum, die uns durchgehend als Leitfaden gedient hatten:

1.) Die Ausnahme (ein rätselhafter Begriff, der im Zentrum sowohl der Texte von Carl Schmitt über die Souveränität als auch zahlreicher Texte der Moderne zum Recht und insbesondere zum internationalen Recht steht, die wir untersuchten, und die zwar die Folter und grausame Behandlungen verurteilen, aber mit Ausnahmen, und die Ausnahme verweist immer auf die Todesstrafe. Was ist eine Ausnahme? Und was ist die Souveränität? Das waren die Fragen des letzten Jahres, und sie waren um folgende Frage herum miteinander verknüpft: Wer entscheidet souverän darüber, was die Ausnahme ist? Im Grunde genommen, in einer Monarchie: Wer herrscht und hält mit dem Begnadigungsrecht das Recht über Leben und legalen Tod in Händen? Und in einer Demokratie: Wer präsidiert und wer hält mit dem Begnadigungsrecht das Recht über Leben und legalen Tod in Händen?)5.

2.) Die Grausamkeit, ein sehr dunkler Begriff, der überaus dogmatisch gebraucht wird. Wir haben seine Verallgemeinerung (ohne Grenze und Ende, sondern nur eine interne qualitative Differenzierung) in den Texten von Nietzsche untersucht, die im Übrigen einen gewissen Freud ankündigen, über den wir ebenfalls gesprochen haben, um den Sadismus herum (und als wir beim Lacan von „Kant und Sade“ die Filiation zu Sade erwähnten, und den zweideutigen Blanchot von „Die Literatur und das Recht auf den Tod“ in Bezug auf den Terror6 der Revolution), einen gewissen Freud also, zu dem ich, eine andere Gangart einschlagend, zurückkommen möchte, vielleicht heute noch; und dann jene Grausamkeit, auf die so viele Texte des Verfassungsrechts, des nationalen wie des internationalen Rechts auf so dunkle und dogmatische Weise Bezug nehmen, seit dem achten Zusatzartikel der Bill of Rights der amerikanischen Verfassung, der „cruel and unusual punishments“ verbietet (jenem Zusatzartikel, den der Oberste Gerichtshof 1972 heranzog, um die Anwendung der Todesstrafe zu verbieten, eine Situation, die nur vier oder fünf Jahre Bestand haben sollte, zwischen dem berühmten Fall Furman gegen Georgia im Jahre 1972, der die Gelegenheit bot, zu entscheiden, dass die Anwendung der Todesstrafe verfassungswidrig sei, und dem nicht weniger berühmten Fall Gregg gegen Georgia, der im Jahre 1976 die Todesstrafe in den Vereinigten Staaten faktisch wiederherstellen wird, nachdem der Oberste Gerichtshof des Bundes diesem Urteil des Staates Georgia gefolgt war)7. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948) hatte ebenfalls „Folter und grausame, unmenschliche oder erniedrigende Bestrafungen“ verboten, ohne dass dies irgendeine wirksame Gesetzeskraft besessen hätte, ohne dass die Souveränität der Nationalstaaten dadurch in die Pflicht genommen worden wäre, und vor allem ohne dass die Todesstrafe als solche verurteilt worden wäre (aus eben jenem Grund, nicht in die souveräne Entscheidung der Staaten einzugreifen, denen die Entscheidung über die Ausnahme überlassen bleiben müsse). Was ist Grausamkeit? Wie diese Frage mit der doppelten Frage nach der Souveränität und der Ausnahme und also der souveränen Entscheidung darüber verknüpfen, was die Ausnahme ist, was grausam ist und was nicht?

Nach dieser Erinnerung, die gerade einmal die Aderung [nervure] eines Phantoms, das Nervensystem eines Gespensts nachzeichnet, nämlich die verknotete Einheit, den Knoten, den Syllogismus, das System oder, falls Sie das vorziehen, die Synapse oder die Syntax dieser dreifachen Frage: Ausnahme, Souveränität, Grausamkeit, nach dieser Erinnerung also wollen wir beginnen, wollen wir von Neuem beginnen und zur Erkundung einer anderen problematischen Einheit aufbrechen, der anderen Dreierfigur eines Knotens aus Fragen:

Was ist ein Akt?

Was ist ein Alter?

Was ist ein Begehren?

Mit diesen drei Fragen werde ich beginnen. Ich werde sie langsam aussprechen und in der Schwebe lassen. Ich formuliere sie nur, um den Ton anzugeben, so als würde ich, bevor ich zu spielen beginne, ein Instrument zu stimmen versuchen. Oder, mit einer anderen Figur: als würden wir am Faden jenes Käfers beziehungsweise Artefakts ziehen, das mit dem Übernamen cerf-volant [wörtl. „Fliegender-Hirsch“, als Tier „Hirschkäfer“, als Artefakt „Flugdrachen“; A.d.Ü.] versehen wurde, und auf dessen Tuch oder Flügeln wir von weitem, oder von unten, einer noch unlesbaren Inschrift gewahr würden. Von welchem cerf-volant werden wir sprechen? Wie soll man, in seinem französischen Signifikanten, das Wort, die Silben cerf-volant [„fliegender-Hirsch“], cerveau-lent [„langsames-Hirn“] vernehmen? Wer hat hier das langsame Hirn in dieser Tragödie der sogenannten Kapitalstrafe8? Drei Fragen also auf den Flügeln dieses Flugdrachens/Hirschkäfers:

Was ist ein Akt?

Was ist ein Alter?

Was ist ein Begehren?

Diese drei Fragen auf „Was ist?“, in der Schwebe gelassen auf den Flügeln, oder am Schwanz, oder am Kopf eines Flugdrachens/Hirschkäfers [cerf-volant], haben etwas mit, sagen wir, „meinem Tod“ zu tun, genauer gesagt mit dem, was man mit dem Übernamen „gegebener Moment“ des Todes versehen könnte – ich meine den gegebenen Moment von mein Tod, des „mein Tod“ von jedermann, jedem Mann und jeder Frau, dessen, was jeder Mann und jede Frau wollen und sagen wollen kann, wenn er oder sie „mein Tod“ sagt, im „gegebenen Moment“ von mein-Tod. Nicht nur der Moment des Den-Tod-Gebens, auch nicht der gewollte Moment9 des Todes, sondern ein gegebener Moment meines Todes, genauer: der besagte und noch in der Schwebe gelassene Ort/Anlass10 dieses gegebenen Moments.

Wenn es etwas gibt, das nicht zu wissen und also in seiner absoluten Präzision zu berechnen gegeben ist, dann ist das der gegebene Moment meines Todes. Außer vielleicht im Falle der Todesstrafe, die im Prinzip impliziert, dass man ihn kennt, dass der Andere ihn kennt und manchmal auch ich ihn kenne, auf die Sekunde genau, auf kalkulierbare Weise, den Moment, den Moment von „mein Tod“. Bei einem Mord oder einem Suizid kann ich behaupten, die Sekunde des gegebenen Todes entsprechend der objektiven Zeit der Uhr zu berechnen. Wo der Tod jedoch vom Anderen zu mir kommt, ist die Todesstrafe die einzige Erfahrung, die es im Prinzip gestattet, dass der gegebene Moment des Todes ein gewollter und öffentlich datierter Moment ist.

1. Die erste dieser drei Fragen („Was ist ein Akt11?“) klingt wie eine große, geradezu alterslose Frage, eine Frage der großen ontologischen Tradition. Was ist ein Akt, im Sinne von Handeln [action] (mit allem, was man ihm entgegensetzen kann: Erleiden [passion] – actio/passio –, die Theorie oder das Denken, die Spekulation, die Sprache, Handeln anstelle von Theoretisieren, Denken, Spekulieren, ja sogar Sprechen, usw.), aber auch was ist ein Akt in dem Sinne, in dem der Akt als ernergeia verstanden wird (das „in actu“ ihres lateinischen Pseudo-Äquivalents, ihrer problematischen Übersetzung mit actus, da, wo man ihr in aller Seelenruhe die dynamis entgegenzusetzen glaubt, das Vermögen12, ja sogar die Materie, die possibilitas, die Virtualität, usw.)? Ein riesiges Problem, das nicht nur den Unterschied zwischen Handelndem [agent] und Erleidendem [patient], Akt und Erleiden, Akt und Vermögen oder Möglichem, Form und Stoff betrifft, insbesondere und in herausragender Weise im Diskurs des Aristoteles, mit seiner ganzen Filiation (sie ist enorm), sondern zugleich auch all das, was wir hier seit Jahren um ein Denken des Möglichen und des Unmöglichen herum überlegen und bedenken, eines Un-möglichen, das nicht negativ wäre, eines Un-möglichen, das sich der Alternative zwischen möglich und aktuell beziehungsweise aktiv entziehen würde, usw. Die Todesstrafe, so denkt man gerade mit dem gesunden Menschverstand, ist ein Akt, ein realer, wirklicher, irreversibler Akt, der das Irreversible, das Nichtrevidierbare genau deshalb besiegelt, weil man unterstellt, dass er der aktivste und aktuellste, der wirklichste, der realste aller Akte ist, der unleugbarste aller Akte, ein „Ausagieren“ [passage à l’acte]13, das auch einen aktuellen, wirklichen, realen Akt zu sanktionieren behauptet, einen oder mehrere reale und wirkliche Morde zum Beispiel, und nicht nur Absichten oder Begehren, die nicht ausagiert worden wären und die im Grunde weder der Zeit noch dem Alter des Akts angehören (des Akts, der in der Todesstrafe besteht, oder des Akts des Verbrechens, das erstere zu sanktionieren behauptet). Die Todesstrafe wäre also ein Akt, der behauptet, die bloße Sanktion eines wirklichen, realen Akts, eines Akts in actu und nicht nur einer Möglichkeit, einer Intention, einer Virtualität, eines (bewussten oder unbewussten) Begehrens zu sein.

2. Die zweite dieser drei14 Fragen, die sich hier im „Was ist ein Alter?“ oder „Welches ist das gute/richtige Alter [bon âge], um zu sterben, wenn es denn eines gibt?“, versammelt, spezifiziert diesen „gegebenen Moment“ oder diesen „besagten Ort/Anlass des gegebenen Moments“ von „mein Tod“ im Allgemeinen. Ich hatte diese Frage, glaube ich, letztes Jahr sehr rasch en passant gestellt. Wenn ich, wie jedes Lebewesen auf alle Fälle dazu verurteilt, zu sterben, wenn nicht zum Tode verurteilt, wenn ich also, wie jedermann dazu verurteilt, früh oder spät zu sterben, die Wahl hätte zwischen einerseits in diesem bestimmten Alter, morgen oder bald, eines natürlichen Todes, bei einem Autounfall oder an einer Krankheit zu sterben (wie fast jedermann im Grunde genommen), oder andererseits in einem anderen Alter, später, übermorgen, in einem Jahr, in zehn, in zwanzig Jahren zu sterben, in einem Gefängnis, da ich zur Todesstrafe (Guillotine, Elektrischer Stuhl, Giftinjektion, Hängen, Gaskammer) verurteilt worden sein würde, was würde ich wählen, welches Alter würde ich für meinen Tod wählen?

Wie auch immer die Antwort auf diese Frage ausfallen mag – und in dem Augenblick, da ich zu Ihnen spreche, habe ich keine –, allein das Stellen der Frage, ja allein ihre Möglichkeit beweist, dass die Alternative, wenn es um die Frage der Todesstrafe geht – wir haben es letztes Jahr an hundert Beispielen hundert Mal gezeigt, ich werde nicht darauf zurückkommen –, dass also die Alternative nicht die Alternative Leben/Tod, leben oder sterben lautet, nicht einmal die Zeit, der gegebene Moment oder der gewollte Moment des Todes, das objektive Alter des Todes, sondern eine gewisse Modalität, eine gewisse Qualifizierung des Lebens und des Sterbens, eine Art und Weise, ein Dispositiv, ein Theater, eine Szene des Das-Leben-Gebens und des Den-Tod-, ja Sich-den-Tod-Gebens. Die Wahl besteht also nicht zwischen dem Leben und dem Tod, auch nicht zwischen zwei Altern fürs Sterben, sondern zwischen zwei Weisen und zwei Zeiten eines unausweichlichen und immer unmittelbar bevorstehenden Todes.

3. Die dritte Frage (Was ist ein Begehren15?) trifft beziehungsweise überkreuzt sich in einem Punkt oder mehr als einem Punkt mit der ersten Frage (Was ist ein Akt?). Sie stürzt uns nicht in eine allzu bekannte Szene, in eine grandiose und kanonische Art und Weise, uns zu fragen „Was ist das, was man Begehren nennt?“, ein Wort, das Begehren [le désir], dessen ich mich im Allgemeinen so wenig wie möglich bediene, und eine Frage, auf die so viele – klassische oder moderne – Diskurse so viele interessante Antworten gegeben haben. Der Zugang zu diesem Wort und zu dieser Frage – dem Begehren – wäre16 dieses Mal vielleicht ein anderer. Es würde nicht darum gehen, einen Begriff, einen Ausdruck oder ein Wort ‚Begehren‘, von dem wir wüssten, was er oder es ist und bedeutet, auf die Frage des Verbrechens, des Mordes oder der Todesstrafe anzuwenden. Man müsste im Gegenteil versuchen, wenn es denn möglich ist, von einer bestimmten Art und Weise, die Todesstrafe, den gewaltsamen Tod, das Verbrechen, die Strafe, die Bestrafung, die Schuld und den nicht-natürlichen Tod zu denken, auszugehen, um das Feld und die Zeit des Begehrens zu isolieren.

Die Herangehensweise wäre, schematisch betrachtet, die Folgende: Was man das Gesetz, die Legalität, die Gesetzgebung und insbesondere das die Bestrafung organisierende Recht, also das Strafrecht nennt, so wie es durch die Souveränität des Staates oder des Souveräns, durch einen König, einen Gouverneur oder einen Präsidenten ausgeübt wird (und wir werden den Präsidenten bald auf die Bühnenbretter steigen lassen, wir werden ihn in Szene setzen, wir werden ihn seinen Sitz einnehmen und somit sitzen lassen, was eben die Position des Präsidenten ist), dieses Gesetz in der Form des Rechts kann gegebenenfalls die Bestrafung des Verbrechers vorsehen, eines jeden, der diesen Akt, den man ein Verbrechen nennt, zum Beispiel einen Mord, wirklich und aktuell begangen hat; diese Bestrafung kann die Todesstrafe sein. Umgekehrt kann eine Gesetzesverfügung die Todesstrafe abschaffen, wie es, seit zehn Jahren erst, bei der Mehrheit der Staaten der Welt der Fall ist. Es gibt jedoch zwei Dinge, die keine Gesetzesverfügung, kein Recht bislang tun oder zu tun anstreben konnte. Und welche Dinge sind das? Das Begehren zu töten zu verbieten, das bloße Begehren, wenn man so sagen kann, vor oder ohne Übergang zum Akt, zumindest vor dem oder ohne das Ausagieren, wie es nach bestimmten problematischen Kriterien identifizierbar ist, denn es gibt Übergänge vom Tötungsbegehren zum Akt, die töten, ohne dass irgendein Verbrechen gemäß jener Zeichen des Akts identifizierbar wäre, die von der Gesellschaft der Menschen, so wie sie selbst sich bislang darstellt, konventionell anerkannt werden. Man kann den Mord verbieten, aber kann man das Begehren des Mordes verbieten? Den Mord zu verbieten, heißt vorzuschreiben „Du sollst nicht töten!“, das wurde gemacht. Wir hatten aber letztes Jahr im Buch Exodus gelesen17, dass Gott gleich nach den Zehn Geboten eine Art Todesstrafe für denjenigen einsetzt, wer auch immer dieses oder jenes Gebot unter dieser oder jener Bedingung übertritt. Man kann die Todesstrafe einsetzen, um den Mord zu verbieten, aber kann eine Todesstrafe das Begehren des Mordes verbieten? Man kann auch die Todesstrafe selbst verbieten, man kann sie abschaffen, aber kann man das Begehren nach der „Todesstrafe“ verbieten, das, wie wir allzu gut wissen, die gesetzliche Abschaffung der Todesstrafe überleben kann, selbst in Frankreich, bei der Mehrheit der Franzosen, die Umfragen sagen es uns? Man kann also das Töten verbieten wollen. Töte nie! Gib niemals den Tod! Keinem Lebenden, dem Anderen oder dir selbst. Aber kann man das – bewusste oder unbewusste – Begehren zu töten verbieten? Was leitet [préside à] dieses Begehren? Was kann leiten/vorsitzen [présider], und Präsident, in diesem Fall sagen wollen?

Man kann das Töten so sehr verbieten wollen, dass man die Todesstrafe abschafft. Aber kann man das Begehren oder den Zwang, die die Todesstrafe diktieren und die sie souverän leiten [y président], abschaffen?

Was bedeutet in diesen zwei Fällen ein Akt, ein Übergangzum-Akt beziehungsweise Ausagieren [passage à l’acte]? Und was kann das Recht, das staatliche Recht zum Beispiel, mit dieser Differenz zwischen einem Begehren und einem Ausagieren machen? Zwischen einem Begehren und einem Symptom? Was kann das staatliche oder transnationale Recht mit der subtilen und listigen Ökonomie machen, die diese Beziehungen regelt zwischen einerseits dem Unbewussten und dem Bewusstsein, zwischen einem verhinderten, in die Schwebe versetzten, verbotenen oder zu einem Symptom verschobenen Akt (der auf seine Weise auch ein kaum maskierter Mord sein kann) und andererseits dem, was man eine Tat [acte], einen manifesten, sichtbaren, öffentlich bestätigten Akt nennt – denn hier kompliziert sich die Grenze: Es handelt sich nicht mehr nur um die Grenze zwischen dem realen Akt und dem möglichen Akt, zwischen dem Akt und dem Begehren, das – bewusst oder unbewusst – ebenfalls aktuell sein kann; diese Grenze ist auch die Grenze zwischen dem Öffentlichen und dem Nicht-Öffentlichen, zwischen der Öffentlichkeit des öffentlichen Raums und einem anderen Raum, der privat oder mehr als privat sein kann, vor der Unterscheidung zwischen öffentlich und privat, in einem anderen Sinne geheim, ein bewusstes oder ein unbewusstes Geheimnis (die Opposition bewusst/unbewusst, deren ich mich hier auf nicht-dogmatische Weise bediene, ohne sicher zu sein, dass ich hier bestimmbare Realitäten oder klare Begriffe bezeichne, sondern nur provisorische und wiedererkennbare Hypothesen, die zumindest das Recht haben, als Hypothesen aufgestellt zu werden, und die hier übrigens nicht zufällig als nützliche Hypothesen in Erscheinung treten; denn ich behaupte, und das ist vermutlich gar nicht so originell, dass zum Beispiel die Idee des Unbewussten, weit davon entfernt, uns dabei behilflich zu sein, uns auf dem Gebiet des Verbrechens und der Strafe, der Straflogik, der Schuldhaftigkeit, der Todesstrafe zu orientieren, < dass also > die Idee des Unbewussten im Gegenteil als Hypothese des Unbewussten aus der Erfahrung der Schuld, des Verbrechens, der Schuldhaftigkeit, der Strafe usw., kurzum des Gesetzes und des Rechts entstanden ist)18.

Muss man den Begriff des Akts neu erfinden, neu denken, um dieser neuen Problematik stattzugeben und das Problem der Todesstrafe endlich ernsthaft anzusprechen? Ich lasse diese Fragen bis zu dem Moment in der Schwebe, da ich einen gewissen Text psychoanalytischen Typs über die Todesstrafe ansprechen werde. Ich spreche absichtlich von einem gewissen psychoanalytischen Text, weil es sich, ohne ein Text von Freud zu sein, um einen in seinem Namen geschriebenen Text, um drei von Reik redigierte Seiten in Antwort auf eine Umfrage handelt.19 Als ich während eines Vortrags vor den Generalständen der Psychoanalyse (vgl. Seelenstände der Psychoanalyse20) vorsichtig vorbrachte, dass es meines Wissens keinen Text von Freud gebe, der direkt der Todesstrafe gewidmet ist, schloss das nicht aus, dass Freud, ohne selbst zu diesem Sujet zu schreiben, jemanden beauftragte, es in seinem Namen und an seiner Statt zu tun, was zu einem Text Anlass gab, dessen Status, Sprache, Logik oder Rhetorik, in Wahrheit dessen Signatur, kurz dessen Geste, Akt und Pragmatik sehr sorgfältig analysiert werden müssen, was wir gleich zu tun versuchen werden.

Im Übrigen möchte ich, als einen Verbindungsstein, die letzten Zeilen dieses Texts zitieren, auf den ich ausführlich zurückzukommen gedenke. Hören Sie nun, was Freud sagt, oder vielmehr was Reik im Namen von Freud, aber mit seiner Autorisierung sagt; und was ich zitiere, ist also ein von Freud autorisierter Satz, der am Ende einer langen und verlegenen Antwort aber wie ein Sprung, wie eine Entscheidung nach einem Sprung kommt. Reik sagt, im Namen von Freud, Folgendes, in Beantwortung einer Umfrage, die drei Fragen umfasste, darunter eine zur Strafe im Allgemeinen und zwei zur Todesstrafe:

Wenn ich mir abschliessend die Freiheit nehmen darf, Ihre Hauptfrage ein wenig zu modifizieren, so würde ich sie folgendermaßen beantworten: Ich bekenne mich als Gegner des Mordes, gleichgültig ob er vom Einzelnen als Verbrechen oder vom Staat zu dessen Sühnung begangen wird.21

Dieses Begehren, zu töten (auf Seiten des möglichen oder des potentiellen Mörders), oder dieses Begehren, die Todesstrafe beizubehalten oder wiedereinzuführen – und auch das ist ein Begehren, zu töten –, in beiden Fällen ist dieses Begehren, zu töten, als Begehren sowohl jünger als auch älter als der Akt des Tötens. Es kann dem Akt des Tötens vorausgehen, ohne dass dieser als Akt statthat (ich kann begehren, jemanden zu töten, ohne ihn je zu töten oder ohne ihn je gemäß dem zu töten, was man als Mord [meurtre] in actu, als öffentlichen Mord [assassinat]22 oder als aktuelle, wirkliche, reale usw. Ausführung [exécution] bezeichnet und anerkennt); das Begehren, zu töten, kann auch älter sein als der Akt und den Akt überleben, selbst wenn der Akt, im geläufigen Sinne des Wortes, nicht stattgehabt hat. Ich weiß natürlich, und Sie werden es mir gleich sagen, dass das Recht [le droit] bisweilen der Absicht und dem Begehren stattgibt [fait droit à], wenn es zum Beispiel unterscheidet zwischen der absichtlichen Tötung eines Menschen [homicide] und der unabsichtlichen Tötung eines Menschen (das heißt ohne Absicht, also ohne Begehren, den Tod zu geben: es handelt sich dabei um jenes Konzept von Schlägen/Stichen/Schüssen [coups] und Verletzungen, die den Tod nach sich gezogen haben, ohne Absicht, ihn zu geben). Diese Berücksichtigung der Absicht und des Begehrens, des Begehrens, den Tod zu geben oder den Tod nicht zu geben, diese gesetzliche Berücksichtigung findet sich jedoch auf zweierlei Weisen an zwei Rändern begrenzt, wenn ich so sagen kann. Auf der einen Seite verlangt das Recht, dass es von dieser Absicht oder diesem Begehren, in Wahrheit diesem absichtlichen Nicht-Begehren oder diesem Begehren des Nicht-(den-Tod-geben), aktuelle Zeichen, Beweise oder Indizien in actu gebe: ausgeführte Handlungen [gestes] oder vermiedene Handlungen. Es handelt sich also um einen Akt, um eine Manifestation durch Akte. Auf der anderen Seite muss das fragliche Begehren oder Nicht-Begehren oder Begehren-nicht-zu… von dem herrühren, was man das Bewusstsein23 nennt, von der bewussten Wahrnehmung. Bislang hat sich das Recht untersagt oder war nicht in der Lage, in seine wesentliche Axiomatik eine Logik des Unbewussten oder des Symptoms zu integrieren, vor allem nicht ein anderes Denken des Akts (das heißt des Zusammenhangs zwischen dem Akt und seiner mutmaßlichen Anderen, dem Möglichen, dem Unmöglichen, dem Begehren, dem Denken, der Sprache), ein anderes Denken des Alters (das heißt der Zeit des Lebens und der Vielzahl an heterogenen Maßen, Ordnungen oder Weisen des Zählens)24; das Recht hat nicht mit diesem anderen Denken des Alters gerechnet, obwohl – wie Sie wissen, und das ist ein interessantes Symptom – der Strafdiskurs, insbesondere um die Todesstrafe herum, von der Frage des gesetzlich vorgeschriebenen Alters besessen ist, jenes Alters, ab dem es legal ist, zum Tode zu verurteilen oder einen Verurteilten hinzurichten. Das war, das bleibt Gegenstand endloser kasuistischer und rechtsgelehrter Debatten, dort, wo die Todesstrafe in einer Gesellschaft aufrechterhalten wird, in der der puritanischste Legalismus Hand in Hand geht sowohl mit der barbarischsten Grausamkeit als auch mit den ausgetüfteltsten Klügeleien über das Kriterium der Grausamkeit selbst. In den Vereinigten Staaten hat die Frage des straffähigen Alters, wenn man so sagen kann, in der Tat Antworten ausgelöst, über die wir heute nachdenken müssen. Als zum Beispiel der Oberste Gerichtshof (eine Instanz, auf deren Rolle und Bedeutung wir geduldig zurückkommen werden müssen, und ich werde das tun) im Jahre 1987 auf seine Entscheidung von 1972 (Fall Furman gegen Georgia), die die Todesstrafe für verfassungswidrig erklärte, zurückkam, nachdem er sich bereits 1976 einverstanden erklärt hatte, seine Ansichten zu revidieren (Entscheidung Gregg gegen Georgia), nun, als also der Oberste Gerichtshof im Jahre 1987 die Legitimität, die verfassungsgemäße Legalität der Todesstrafe bezüglich eines Schwarzen, der einen Polizisten getötet hatte, bestätigte und seine Ausrichtung anschließend verschärfte, indem er am 26. Juni 1989 mit 5 zu 4 Stimmen (wie 1972, aber im umgekehrten Sinne) erklärte, dass der Hinrichtung von zum Tode Verurteilten, die zwischen 16 und 18 Jahre alt sind, also Minderjährigen zum Zeitpunkt des Verbrechens, wie auch der Tötung von Individuen, die als „mentally retarded“ beziehungsweise geistig behindert gelten, nichts im Wege stehe. Zwei Jahre zuvor, 1985, hat der Bundesstaat Virginia einen schwarzen Landarbeiter auf den Elektrischen Stuhl geschickt, der 37 Jahre alt war, dessen geistiger Entwicklungsstand beziehungsweise mentales Alter25 von Experten jedoch auf 8 Jahre geschätzt wurde. Wenn Sie das von Austin Sarat herausgegebene Buch The Killing State lesen, werden Sie eine Vielzahl analoger Fälle finden.26 Zum Beispiel, um nur einen Fall zu zitieren, den Fall von Penry gegen Lynaugh im Juni [19]89. Penry war der Vergewaltigung und des Mordes angeklagt und zum Tode verurteilt worden. Zum Zeitpunkt des Verbrechens war er 22 Jahre alt, sein mentales Alter entsprach den Experten zufolge jedoch dem eines sechseinhalbjährigen Jungen, das heißt, ich zitiere annähernd, dass er die Lern- und Erkenntnisfähigkeit eines durchschnittlich sechseinhalbjährigen Jungen besaß. Das ist das „Mentale“, das sogenannte mentale, das heißt hier intellektuelle beziehungsweise verstandesmäßige Alter, in der Ordnung des Wissens, der Lehre, des Lernens und des Verstehens. Das „theoretische“ Alter, wenn Sie so wollen. In sozialer Hinsicht hingegen, das heißt vom Standpunkt seiner sozialen Reife her, das heißt seiner Fähigkeit, „to function in the world“, in der Gesellschaft zu handeln oder handlungsfähig zu sein, sozialisierbar zu sein, integrationsfähig, wie man so sagt, oder fähig zur sozialen Wiedereingliederung, in sozialer Hinsicht also war er drei oder vier Jahre älter, das heißt 9 oder 10 Jahre alt. Da haben Sie also einen Angeklagten, zum Tode Verurteilten, der mindestens drei Alter hatte, sechseinhalb Jahre (mentales Alter), 9 bis 10 Jahre (soziales Alter) und 22 Jahre (legales Alter). Der Anwalt der Verteidigung plädierte auf mildernde Umstände und behauptete, dass es verfassungswidrig sei, dem achten Zusatzartikel über „cruel and unusual punishments [grausame und ungewöhnliche Strafen]“27 zuwiderliefe, eine Person zu verurteilen und vor allem hinzurichten, deren Fähigkeiten derart uneinheitlich sind. Der Fall Penry spaltete den Gerichtshof in drei Lager. Vier Richter verwarfen die Notwendigkeit einer Revision und zusätzlicher Untersuchungen. Vier andere Richter vertraten die Ansicht, dass die Hinrichtung einer derart „retarded [zurückgebliebenen]“ Person wie Penry gegen den achten Zusatzartikel verstoßen würde. Der Richter O’Connor akzeptierte die verfassungsgemäße Notwendigkeit weiterer Untersuchungen im Hinblick darauf, mildernde Umstände festzustellen, lehnte jedoch den Rückgriff auf den achten Zusatzartikel ab.

Wir werden diesen Prozess nicht noch einmal führen, aber wir müssen wissen, dass solche Fälle Legion waren. Was ich davon zurückbehalten möchte, ist nicht nur die unergründliche Schwierigkeit, ein oder gar mehrere Alter zu definieren, nicht nur die Schwäche, um nicht zu sagen die wesentliche Debilität des diesbezüglichen Expertendiskurses, das langsame-Hirn der Experten in Bezug [au sujet du] auf diese angebliche Reife oder Unreife des beurteilten Subjekts [sujet], sondern auch die Verbindung zwischen dieser Frage der Reife im Allgemeinen und der Verantwortung des Rechtssubjekts im Allgemeinen, zum Beispiel die, auf die sich die strengsten Diskurse (wie der von Kant) zugunsten der Einschreibung der Todesstrafe in das Recht beziehen. Was ist ein Alter und von welchem Alter an ist ein Subjekt rechtlich verantwortlich? Was ist das Alter des verantwortlichen Rechtssubjekts? Diese – gewaltige und klassische – Frage, auf die wir jeden Tag erneut stoßen werden28 und die die Frage selbst der Verantwortung dessen ist, was man ein bewusstes Rechtssubjekt vor dem Gesetz nennt, < diese Frage > befindet sich nicht nur durch die Vielzahl mentaler und sozialer Alter in jedem von uns auf schwierigem Kurs, wo sie allen Winden ausgesetzt ist, sondern auch, schlimmer noch, < durch die Existenz29> einer Differenz zwischen dem Alter des sogenannten mentalen oder sozialen usw. Bewusstseins und dem Alter – wenn es denn eines gibt – des Unbewussten. Gibt es eine Geschichte, eine Zeit und ein Alter des Unbewussten? Was würde ein Richter antworten, dem ein Experte sagen würde: „Dieser Angeklagte ist nicht älter und hat nicht mehr Zeit als das Unbewusste, das laut Freud keine Zeit kennt“, oder „Er verfügt über ein unbewusstes Alter von 6 Monaten, und es war dieses Unbewusste eines Neugeborenen, das getötet hat“? Wie auch immer die Antwort auf diese Fragen ausfiele: Gäbe es eine Übersetzung, einen irgendwie gearteten Übergang, eine minimale Homogenität zwischen den Altern des Unbewussten und den Altern des Bewusstseins, um vom Personenstand erst gar nicht zu sprechen? Wenn das Begehren oder die Tat [acte] eines Mörders (und wir müssen die beiden bereits unterscheiden, was nicht immer einfach ist) in Bezug auf eine Logik des Unbewussten immer älter, archaischer oder, was auf dasselbe hinausläuft, jünger, kindlicher, ja babyhafter sind als jene, die der Personenstand ausweist [dont fait état l’état civil], wenn das, was vom unbewussten Alter des Begehrens oder der Tat des Verbrechers gesagt werden kann, auch vom unbewussten Alter des Begehrens oder des Tuns [acte] der Richter oder der Gesellschaft gesagt werden kann, die zum Tode verurteilt und hinrichtet, dann ist diese schwindelerregende Frage des Alters, der Geschwindigkeit, des Geschwindigkeitsdifferentials30, der Differenz zwischen dem Langsamen und dem Schnellen nicht zu trennen von der Frage des Gesetzes und des Rechts im Allgemeinen, der Kriminologie im Besonderen, der Beziehungen zwischen der Geschichte des Strafrechts oder der Kriminologie und der Psychoanalyse. Wir werden einige der rätselhaftesten, der aporetischsten Gegebenheiten davon reaktivieren, indem wir bestimmte Texte von Reik über den Geständniszwang (vgl. Bibliographie31) lesen, sowie einige Texte, von denen ich vorhin schon sprach, die von Reik im Namen von Freud geschrieben und signiert wurden, über die Todesstrafe – und über eine Schuld, die, weit davon entfernt, auf das Verbrechen zu folgen, ihm vorausgeht, und ihm von der archaischsten Bildung des Unbewussten her vorausgeht. Die Sache ist umso komplexer, beunruhigender, verwirrender, schwieriger zu behandeln, als die Vielzahl der Alter, unserer Alter, der heterogenen Alter, die sich unser Leben als Sterbliche teilen, und die es sich simultan teilen (wir haben synchron mehr als ein Alter), diese Dyschronie oder diese wesentliche Anachronie, die uns spaltet, vervielfacht, teilt, die uns, Überreste zurücklassend, verschlingt, die uns in den Tod führt, wobei sie immense Zonen an Jugendlichkeit, ja an embryonalen und noch nicht „geborenen“ Virtualitäten unangetastet lässt [die Sache ist umso komplexer, beunruhigender, verwirrender, als die Vielzahl der Alter, unserer Alter] nicht nur die ontogenetische < Vielzahl > eines Individuums, eines bewussten oder unbewussten Subjekts, ja eines bewussten oder unbewussten Ichs ist, das ist nicht nur die Vielzahl an Altern in jedem Augenblick der psychischen Ökonomie oder des psychischen Systems (das Es, wenn Sie so wollen, das Ich, das Überich, das Ichideal, das Idealich usw., und wir könnten diese Instanzen vervielfachen), das ist auch, in jedem von uns, die irreduzible Vielzahl an Altern der Menschheit, der anthropologischen Kultur, ja der Alter des (menschlichen oder tierlichen) Lebens im Allgemeinen. Nehmen Sie einmal an, ich töte: In welchem Alter werde ich getötet haben, oder werde ich getötet worden sein? In welchem Alter meines Personenstands, oder in welchem archaischen Alter meiner Geschichte, als ich 6 Monate, 2 Jahre alt war, als ich noch nicht lesen und schreiben konnte, oder mit 15 Jahren? Oder mit bereits 100 Jahren? Wer wird wen getötet haben, in welchem Alter? Es gibt da, in unserem Bewusstsein und in unserem Unbewussten, simultan etwas von einem Greis und etwas von einem Kind, aber auch etwas vom Menschen des 20. Jahrhunderts und des 5. Jahrhunderts vor Christus, vom Cromagnon-Menschen und vom Neandertaler, vom Menschenaffen, vom Tiger und vom Eichhörnchen. Wer bist du? Welches Alter hast du32 in dem Moment, in dem du tötest, ja in dem Moment, in dem du getötet wirst, das sind Fragen des Alters, die man dem Angeklagten, dem Verbrecher, aber auch dem Richter und dem Henker stellen kann, ohne jemals eine befriedigende Antwort erwarten zu können, aus Mangel an Wissen, zunächst mangels Wissen darüber, was die Frage sagen will. Diese Alter lassen sich nicht ineinander übersetzen, sie kohabitieren auf tausenderlei Weisen, sie führen gegeneinander Krieg oder machen miteinander Liebe, gemäß einer Geselligkeit [socialité], hinsichtlich derer das Recht der menschlichen Person über keinerlei Vorbild verfügt. Wen be- oder verurteilt33 man? Welches Alter be- oder verurteilt man? Wo sind die Experten für die Evaluierung dieser „mentalen“ oder „sozialen“ Alter, die nicht einmal mehr Alter der Menschheit sind?

Um noch an der Oberfläche dieser „Frage des Alters“ zu bleiben, erinnere ich mit einigen Worten kurz an zwei andere exemplarische Dimensionen.

1. Einerseits an die der Abtreibung und des Rechts, das Leben eines Embryos durch eine berechenbare Entscheidung abzubrechen. Unter welchen Bedingungen, zu welchen Bedingungen, wie viele Wochen lang muss man einen Embryo für eine menschliche Person halten, für ein virtuelles Rechtssubjekt, dessen Leben respektiert werden muss, usw.? Wie Sie wissen, hat man gerade das Recht auf Schwangerschaftsabbruch von zehn auf zwölf Wochen verlängert34; man hat ebenfalls beschlossen – ein weiteres Problem in Bezug auf den Embryo –, genetische Forschungen und Versuche an solchen Embryonen zu erlauben, die von ihren virtuellen Eltern aufgegeben (also dem Tod preisgegeben) wurden, wobei diese Erlaubnis so weit wie möglich geht, außer dem sogenannten reproduktiven Klonen (Forschungen und Versuche, ohne die Grenze des sogenannten reproduktiven Klonens zu erreichen oder zu überschreiten, könnte man also weiterhin durchführen), so als ob irgendjemand, insbesondere irgendein Ethikausschuss diesbezüglich jemals in der Lage gewesen wäre, auch nur den geringsten Embryo von einem Begriff zu produzieren, der dieses Namens würdig wäre, einschließlich eines Begriffs des Klonens, vom Begriff des Re-produktiven ganz zu schweigen...

Sie wissen, dass die Antworten auf diese Batterie von Fragen von einer Nation zur anderen, von einer Stätte der Wissenschaft zur anderen sehr verschieden ausfallen, überaus beweglich sind und nie, absolut nie auch nur im Geringsten auf einem strikten, im strengen Sinne strikten Begriff oder Prinzip gründen, welche Partei man auch ergreift, ob man nun dafür oder dagegen ist; was die wesentliche Fragilität des geläufigen Begriffs der „Person“, der „juridischen Person“ und des Rechtssubjekts deutlich vor Augen führt. Sie wissen ebenfalls, dass die – zumindest rhetorische – Bezugnahme auf den Mord und die Todesstrafe im Zentrum der Argumentationsweisen gegen die Abtreibung steht, die bestimmte Leute für ein Verbrechen oder eine Hinrichtung, ja sogar einen Massenmord halten, demographisch gesehen vom Ausmaß der schlimmsten Verbrechen gegen die Menschheit35 in diesem Jahrhundert, wobei eine zusätzliche und höchst bezeichnende soziologische Bizarrerie damit zusammenhängt, dass die militantesten Gegner der Abtreibung meistens (nicht immer, aber meistens, insbesondere in den Vereinigten Staaten) Anhänger der Todesstrafe sind.

In seinem jüngsten Buch, L’Abolition („Die Abschaffung < der Todesstrafe >“)36, im Kapitel mit der Überschrift „Von einem Präsidenten zum anderen“, auf das wir unter einem anderen Gesichtspunkt noch einmal zurückkommen werden, wenn wir die Frage des Präsidenten ansprechen (Was ist ein Präsident? Worin besteht die Figur des Präsidenten in dieser Geschichte der Todesstrafe?), ruft Robert Badinter jenen Moment zu Beginn der Präsidentschaft von Giscard d’Estaing in Erinnerung, als Giscard, nach Pompidou (jenem Präsidenten, der sich als eher hart erwiesen und die Begnadigung von Buffet und Bontems37 abgelehnt hatte, erinnern Sie sich an L’Exécution, worüber wir letztes Jahr sprachen38), < als Giscard > „im Privaten seine tiefe Abneigung gegen die Todesstrafe“ erklärt hatte.39 Was bei den Befürwortern einer Abschaffung der Todesstrafe40 viele Hoffnungen aufkommen ließ, Hoffnungen, die bis zur nächsten Präsidentschaft, der von Mitterand von 1981 an, enttäuscht wurden. Unter Giscard – und das ist das einzige Indiz, das ich im Augenblick isolieren möchte, neben einer Verfassungsreform, die den Verfassungsrat41 reformierte (eine Institution, die sich vom Obersten Gerichtshof in Amerika, über den wir noch sprechen werden, unterscheidet, aber irgendwie mit ihm vergleichbar ist) – wurden jedoch zwei Gesetze verabschiedet, die beide alles in allem diese „Frage des Alters“ betrafen. Das Alter der Volljährigkeit wurde auf 18 Jahre gesenkt, und das Gesetz über die Abtreibung wurde am Ende dessen, was Badinter eine „betrübliche Debatte“42 nennt (im Laufe dieser Debatte wurde Simone Veil, die den Gesetzesentwurf vorgelegt hatte, beschimpft und mit einer Naziverbrecherin verglichen), das Gesetz über die Abtreibung wurde dank der massiven Zustimmung der Linken mit 284 gegen 189 Stimmen verabschiedet.43 Nun hatten aber, wie Badinter in Erinnerung ruft, im Laufe der Debatten einige Leute erklärt, man könne nicht gleichzeitig ein Gegner der Todesstrafe, das heißt ein Anhänger der absoluten Achtung vor dem Leben sein (vorausgesetzt, man könne, was ich nicht glaube, gegen die Todesstrafe sein, ohne ein unbedingtes Recht auf das Eigentum am eigenen Leben zu setzen, aber lassen wir das) [einige Leute hatten also erklärt, man könne nicht gleichzeitig gegen die Todesstrafe, das heißt ein Anhänger der absoluten Achtung vor dem Leben,] und für eine Liberalisierung der Abtreibung sein. Diese Verbindung, die eine bestimmte Rhetorik gebraucht und missbraucht, wollte ich hier in Erinnerung rufen. Badinter hat kurz danach Folgendes erwidert, was mir ein wenig vorschnell zu sein scheint: „Aber die Todesstrafe war eine Strafe, die dem Verurteilten von der Gesellschaft auferlegt wurde, während die Wahl der Abtreibung der Entscheidung der Frauen überlassen wurde. Die Freiheit war auf ihrer Seite. Nichts dergleichen im Falle der Todesstrafe.“44

Worauf die Gegner der Abtreibung und Anhänger der Todesstrafe leicht hätten antworten können, dass die Entscheidungsfreiheit, die der Mutter überlassen wurde (die hier nicht das zum Tode verurteilte Subjekt ist, das heißt das Kind, das geboren werden soll45), der Entscheidungsfreiheit, die dem zum Tode Verurteilten verweigert wird, nicht symmetrisch entgegengesetzt werden könne. Die scheinbare Parallele, auf die sich die Gegner der Todesstrafe berufen, besteht nicht zwischen dem zum Tode Verurteilten und der Mutter, sondern zwischen dem zum Tode Verurteilten und dem Kind, das geboren werden soll.

2. Andererseits möchte ich kurz die andere exemplarische Dimension in Erinnerung rufen, nämlich dass – um immer noch an der Oberfläche jener „Frage des Alters“ zu bleiben – diese Frage der Kindheit dieses Mal nicht das Alter des Kindes betreffen würde, das geboren werden soll oder dessen Geburt in gewisser Weise abgebrochen oder untersagt < wird >, es ginge also nicht um das Recht, geboren zu werden und also nicht zu sterben, sondern um jenes Recht, nicht geboren zu werden, von dem man in letzter Zeit in Frankreich gesprochen hat, in Bezug auf Nicolas, jenen schwerbehinderten jungen Mann, dessen Eltern die Ärzteschaft gerichtlich dafür belangten, falsche Diagnosen erstellt zu haben oder zur gewünschten Zeit nicht über die Möglichkeit oder die Notwendigkeit, die kommende Geburt zu verhindern, informiert oder beraten zu haben.46 Wir haben darüber gesprochen, welche Partei man auch immer ergreift in einem Prozess, der von nun an durch ein Urteil entschieden ist, das das Leben selbst entschädigt, das Am-Leben-Sein von jemandem, dessen Eltern denken, dass es besser gewesen wäre, er hätte nicht gelebt, wir haben diesbezüglich nicht mehr von einem unbedingten Recht auf Leben gesprochen, sondern von einem potentiellen Recht darauf, nicht geboren zu werden. Nicht von einem Recht, zu sterben [mourir] oder zu töten [faire mourir], sondern von einem Recht, nicht geboren zu werden. Wie kann das Subjekt dieses Rechts aussehen? Geboren zu werden oder nicht geboren zu werden, beliebten wir in Bezug [au sujet] auf die radikalste Entscheidung zu sagen, die es gibt und bei der klarer ist denn je, dass sie, auf welches Ich auch immer bezogen, die Entscheidung des Anderen ist und bleibt. Beim Suizid eines Erwachsenen weiß man nicht, ob er die freie und autonome Entscheidung des suizidalen Subjekts ist; im Fall des Embryo ist klar, dass die Entscheidung, zu sein und geboren zu werden, oder nicht geboren zu werden, die des Anderen bleibt, Vater und Mutter, die nunmehr das Recht haben, die Ärzteschaft zu beschuldigen, ihre eigene Entscheidung nicht mit Hilfe ihres Wissens erhellt zu haben. Und das Recht, zu klagen, um das Leben des Überlebenden zu entschädigen, dessen Interessen sie vertreten. Wie sieht das Subjekt dieses potentiellen Rechts aus? Wer kann es in Anspruch nehmen? Wer ist dafür rechenschaftspflichtig, und für wen, und wem gegenüber? Worin besteht die inkriminierte Tat [acte]? In dem Akt, leben zu lassen, das Leben zu geben, ein Leben, das schlimmer wäre als der Tod, und also in einem Leben-lassen, das schlimmer wäre als Den-Tod-geben?

Die – zugegeben etwas abstrakte – Formulierung von einem „Leben-lassen, das schlimmer wäre als Den-Tod-geben“, könnte, ohne dass es da die geringste Symmetrie gäbe, auch den Blick freigeben auf das Problem der Sterbehilfe [euthanasie], das heute, wie Sie wissen, neue Aktualität erfährt, in den Vereinigten Staaten und in Europa. Letztes Jahr haben wir dieses Wort, „euthanasie47, bisweilen gepaart mit dem Wort „Anästhesie“, häufig verwendet, um all die Diskurse oder Behauptungen in Bezug auf eine Abmilderung, eine Abschwächung der Grausamkeit und eine Humanisierung der Hinrichtung, der Weisen der Tötung in Anwendung der Todesstrafe zu bezeichnen: die tödliche Injektion von Gift anstelle des Elektrischen Stuhls oder des Hängens, und auch schon die Guillotine, die von Dr. Guillotin als schmerzlos und beinahe den Genuss einer leichten Kühle am Nacken verschaffend präsentiert wurde.48 Heute, in einem viel engeren Sinne, betrifft die juristische Frage der Sterbehilfe [euthanasie] das Recht, zu töten, den Tod zu beschleunigen (aber jeder Mord besteht darin, einen Tod zu beschleunigen, der für all die zum Tode Verurteilten, die wir sind, in jedem Falle unvermeidlich ist), das Recht also, zu töten, indem man den Tod von mutmaßlich unheilbaren Patienten beschleunigt, deren Leiden danach verlangt, angesichts dessen die Patienten bisweilen selbst danach verlangen, dass es ein Ende nehme, dieses Leiden. Eine Sterbehilfe, bei der es schwierig ist, die Handlung [acte], den Handelnden [agent] und den Moment strikt auf der Linie einer unteilbaren Grenze zu definieren (die nicht spürbare Steigerung einer Dosis Morphium auf Verlangen oder ohne explizites Verlangen eines Patienten kann diese Schwelle überschreiten, ohne dass irgendjemand dafür die Verantwortung eines Mordes im eigentlichen Sinne übernehmen müsste),

eine Sterbehilfe, die bekanntlich tatsächlich öfter praktiziert wird, als man in den Krankenhäusern und anderswo vermeldet,

eine Sterbehilfe, die im Prinzip sowohl der dem Arzt durch den Hippokratischen Eid obliegenden Pflicht (zu heilen, zu retten, die Gesundheit wiederherzustellen, sich in den Dienst des Lebens und nicht des Todes zu stellen) als auch den Geboten der abrahamitischen Religionen widerspricht,

eine Sterbehilfe, über die von den Familien im Falle von alten Menschen leichter zu entscheiden ist als im Falle von Kindern, Jugendlichen oder jungen Erwachsenen,

eine Sterbehilfe, deren Begriff ebenfalls einigen grundsätzlichen Fragen, insbesondere psychoanalytischer Art, schwer standhielte (dem Anderen dabei helfen, gut zu sterben; sich selbst dabei helfen, den eigenen Tod gut zu sterben. Wo fängt das an? Wo hört das auf?),

eine Sterbehilfe schließlich, die in den Vereinigten Staaten zu heftigen Debatten Anlass gibt, insbesondere am Beispiel eines Arztes, der zugibt und für sich in Anspruch nimmt, Sterbehilfe geleistet zu haben und in der Zukunft weiterhin die Verantwortung dafür übernehmen zu wollen,

eine Sterbehilfe, die letzte Woche in Holland unter bestimmten Bedingungen legalisiert wurde.49

So viele Fragen, die von derselben Problematik des Akts, des Alters und des Begehrens herrühren.

*

Diese drei Flugdrachen/Hirschkäfer [cerfs-volants] beziehungsweise diese drei Fragen, die auf den Flügeln eines mehr oder weniger fliegenden [volant] und mehr oder weniger langsamen [lent] Flugdrachens/Hirschkäfers eingeschrieben sind, werden weiterhin über unseren Köpfen in der Luft schweben. Wir halten ihre Schnur50 fest, aber wir ziehen heute nicht weiter an dieser Schnur. (Hier innehalten?51)

Heute, und darüber hinaus, werden wir etwas anderes [autre chose] versuchen, dieselbe Sache [la même chose], aber etwas anderes oder dasselbe anders.

Wir werden versuchen, das, was man die Todesstrafe nennt, in eine neue Perspektive zu rücken.

Auf die Erde zurückkehrend, werden wir versuchen, die Ausgangspunkte und Annäherungsbewegungen zu vervielfachen, so als hofften wir, die Angriffswinkel mehr denn je dissoziierend und diversifizierend, noch irgendeinen vitalen Kern der Frage einkreisen zu können.

Seien Sie also auf eine Reihe von multilateralen Vorstößen gefasst, über die Flügel, so als würden unterschiedliche Armeen unter mehr oder weniger einheitlichem Kommando über unterschiedliche Wege und Stellen vorrücken, auf den Flügeln und nahe dem mutmaßlichen Zentrum der Entscheidung, unterschiedliche Strategien, um den befestigten Ort des Feindes zu umzingeln, zu investir im eigentlich strategischen Sinne des Wortes52, vorausgesetzt, dass es ein solches Zentrum überhaupt gibt, und ebenfalls vorausgesetzt, dass wir hier die Todesstrafe als den Feind anprangern, den es zu neutralisieren, zu analysieren, zu paralysieren, zu entwaffnen, zu verwirren gilt. Warum sollte man all diese Vorrückbewegungen, wenn man sie beschreiben will, mit Flügeln vergleichen, mit den Flügeln einer Flugmaschine oder mit den Flügeln einer Fußballmannschaft oder vor allem mit den Flügeln einer Armee auf dem Marsch, um einen Ort zu umzingeln? Warum diese kriegstechnische Rhetorik und diese Strategenfiguren? Ich werde gleich dazu kommen.

Denn es ist nicht sicher, dass es ein Problem der Todesstrafe, ein einziges und selbes Problem gibt, das unter diesem Namen identifizierbar wäre. Dieser Name, dieser Titel, die Todesstrafe, verbirgt vielleicht eine nicht zu vereinheitlichende Vielzahl von Begriffen und Fragen. Wir dürften das nie ausschließen. Es hat sogar mächtige Versuche gegeben (die von Marx, von Nietzsche und vielleicht von Freud, mindestens), die uns auch weiterhin interessieren werden, und auf die wir noch zurückkommen werden, [mächtige Versuche], die im eigentlichen Sinne juristische, gesetzliche, strafrechtliche und staatliche Dimension der Todesstrafe, ihre Spezifität also abdriften zu lassen und von Kräften, von Trieben abzuleiten, die zumindest archaischer, tiefreichender, allgemeiner, älter, auf alle Fälle entscheidender wären (psychische, ökonomische, politische usw.), zu deren Nutzen das Gesetzes-Dispositiv und die juristische, ja staatsrechtliche, ja sogar die ethische Problematik der sogenannten Todesstrafe funktionieren würde. Man müsste also neu verwurzeln, was abgedriftet ist, müsste die sogenannte strafrechtliche und juristische Frage der Todesstrafe, ihre gesetzliche und staatliche Dimension nach hinten zurück führen, hin zu grundsätzlicheren und entscheidenderen Prozessen (psychischen, politisch-ökonomischen, sozialen, usw.). Ein im Grunde genommen klassischer Gestus, um eine angebliche Autonomie des Juridischen oder, in noch stärkerem Maße, des Juristischen anzuprangern. Letztes Jahr hatten wir also begonnen, diese Logik durch Lektüren von Marx, Nietzsche und anderen hindurch zu betrachten, und wir werden es weiterhin tun. Für den Augenblick möchte ich, nur für einen Anfang, festhalten, dass der erste Effekt dieser Logik darin bestehen kann, zu bestreiten, dass es da eine Einheit, eine irreduzible Spezifität der Todesstrafe gibt, dass es ein Problem oder eine einzige strikt identifizierbare Problematik der Todesstrafe gibt. Indem wir diesen möglichen Einwand berücksichtigen, wird unsere einzige und jedenfalls erste Sorge darin bestehen, diese scheinbare Spezifität, diesen Anschein oder diesen Effekt der Spezifität ernst zu nehmen, die Art und Weise, in der die Todesstrafe unter ihrem Namen als Spezifitätseffekt besteht und uns heute weiterhin als solche umtreibt, unter immer brennenderen, dramatischeren, dringlicheren, bisweilen unerträglichen Bedingungen. Wie könnte es sein, dass eine kollektive Tötungserfahrung nur einen Anschein von Spezifität, nur einen Effekt von Einheitlichkeit besitzt?

Wir werden diese unterschiedlichen Bewegungen der Einkreisung und der Umzingelung über die Flügel also auf diskontinuierliche Weise durchführen und weiterverfolgen, indem wir diesen einen Vorstoß über einen Flügel unterbrechen, jenen anderen fortsetzen, um einen wieder anderen auszuführen oder zu beobachten, auf einem anderen Flügel fliegend, dann zum ersten zurückkehrend, und so weiter, bis zu dem Moment, da die Koordination der Armeen, Regimenter, Kompanien, Kavallerien, Infanterien oder gepanzerten Einheiten sie miteinander verbunden haben wird53, wobei die Frage dieser militärischen Rhetorik selbst einen sensiblen, ja entscheidenden Ort der Debatte situiert. Letztes Jahr hatten wir diese sensible Linie, diese Front nämlich bereits als Front der Frage gekennzeichnet, nämlich, dass die Bewegung für die Abschaffung der Todesstrafe54 nie die Front angetastet hat, das Recht, zu töten, als Recht des Staates an der Front, in Kriegszeiten. Man kann die Todesstrafe im Inneren einer Gesellschaft oder eines Nationalstaats abschaffen, ohne auch nur im Geringsten das Recht anzutasten, in Kriegszeiten an der Front den Feind zu töten.

Was ist das, ein Feind der Nation? Was ist das, ein Kriegszustand? Wir werden diese Klausel (Kriegszeiten oder Friedenszeiten) in zahlreichen Gesetzestexten in Erscheinung treten sehen. Und was hat es mit dem Bürgerkrieg auf sich? Und was mit dem, was Carl Schmitt „Partisanenkrieg“55 nennt, diese moderne Kriegsform, die dennoch bis Napoleon zurückreicht, und in der die Unterscheidung zwischen Bürgerkrieg und nationalem Krieg unklar wird? Diese Unterscheidungen, die immer schon problematisch waren, aber heute mehr denn je problematisch sind, hätten genügt, um uns daran zu erinnern, dass sich die Frage der Todesstrafe nicht in Bezug auf das Leben oder den Tod, auf den Unterschied zwischen Leben und Sterben, ja nicht einmal auf den zwischen Töten und Nicht-Töten stellt, sondern zwischen mehreren Weisen für den Staat, seine Souveränität zu behaupten, indem er über das Leben der Untertanen [sujets], der fremden Subjekte verfügt (des feindlichen Soldaten, bisweilen auch des inneren Feinds), aber auch < über das > seiner eigenen Soldaten, die an die Front geschickt oder in Kriegszeiten wegen Verrat oder Desertion sogar zum Tode verurteilt werden. Vielleicht haben Sie kürzlich zwei bemerkenswerte mit Archivdokumenten bestückte Fernsehdokumentationen gesehen (letztes Jahr hatten wir die Frage des Fernsehens aufgeworfen, sowie danach, was es am Horizont der Todesstrafe auf entscheidende Weise ändert56, am Horizont, das heißt an dem, was die Todesstrafe zu sehen gibt und begrenzt – der Horizont ist eine Grenze –, < die Todesstrafe, > die ihrerseits ein Horizont ist, als berechenbare Grenze, von der aus man einen Tod kommen sieht, das Datum eines Todes, während der Tod im Allgemeinen kein Horizont ist). Von den beiden Dokumentationen, auf die ich anspiele, betrifft die eine die schreckliche Episode vom Chemin des Dames während des Ersten Weltkriegs57, eine Episode, deren Existenz wohlbekannt war, die man jedoch besser ermisst, deren Ausmaß und deren Grausamkeit man jedoch besser erfasst, wenn man von diesen heute freigegebenen Archiven ausgeht: Es handelt sich um die Bewegung einer richtiggehenden Revolution oder zumindest einer ziemlich massiven Revolte gegen den laufenden Krieg, eine Bewegung, die das ganze Land (vor allem unter den Frauen in den Fabriken) und ganze Regimenter erfasste. Nach selbstmörderischen Offensiven, die heute jedermann für sinnlos hält, ganz so wie der General, der sie initiierte, nun, die raschen Verurteilungen, wobei die Militärtribunale als Ausnahmegerichte fungierten, die zahlreichen Verurteilungen zum Tode mit darauffolgenden Hinrichtungen brachten, wie um ihn zu unterstreichen, den Unterschied zwischen Kriegszeiten und Friedenszeiten zum Vorschein, der die Geschichte der Todesstrafe und ihrer möglichen oder aktuellen Abschaffung stets geprägt hat. Einerseits kann man die Todesstrafe abschaffen (selbst in Kriegszeiten), ohne die Tötung des Feindes zu verbieten – sobald man ihn als Feind bestimmen kann oder zu können glaubt. Das ist bei all jenen Staaten der Fall, die die Todesstrafe abgeschafft haben. Keiner von ihnen hat verboten, einen Feind im Krieg zu töten, sobald man ihn als Staatsfeind bestimmen kann (vgl. Rousseau und den Begriff des öffentlichen Feinds/Staatsfeinds+ 58). Andererseits erhalten viele Staaten, die die Todesstrafe abgeschafft haben, sie in Kriegszeiten aufrecht, um sie auch auf die Bürger desselben Landes anzuwenden, auf Mitbürger, die Verrat üben oder desertieren, oder sich wie Feinde benehmen oder jedenfalls für solche gehalten werden. Die Todesstrafe kann dann auf legale Weise angewendet werden, jedenfalls mit dem Anschein von Legalität (Ausnahmegerichte, Militärtribunale, Schnellgerichte usw.), oder auf weniger legale Weise, wie zum Beispiel < bei > jene<n>, die während der Offensive an der Front des Ersten Weltkriegs nicht genug vorrückten; ihnen drohte nämlich, erschossen zu werden – und einige wurden es auch –, wenn eine Schwadron ihrer eigenen Armee im gewünschten Rhythmus vorrückte. Der andere Dokumentarfilm betraf die Kriegsdienstverweigerer während des Algerienkriegs und in Israel.59 Ohne selbst zum Tode verurteilt worden zu sein, wurden sie oft für Feinde gehalten, vor allem aber legten sie Zeugnis ab für schreckliche Kriegsverbrechen (Folter und Gefangenenerschießungen ohne Urteil60), die im Grunde genommen nicht darin bestanden, einen Feind im Kampf zu töten, sondern darin, ihn ohne Urteilsspruch zum Tode zu verurteilen und hinzurichten, während er bereits Gefangener war.

Es ist nicht sicher, so sagten wir vorhin, dass es da ein Problem der Todesstrafe gibt, ein einziges unter diesem Namen identifizierbares Problem. Dieser Name birgt vielleicht eine nicht zu vereinheitlichende Vielfalt von Begriffen und Fragen. Selbst wenn wir darauf bestehen, die Möglichkeit dieser Vielfalt, ja dieser Dissemination zu respektieren, die hinter der scheinbaren Identität des Problems der Todesstrafe verborgen und irreduzibel ist, so müssen wir gleichwohl einen Identitäts-Effekt, ein Identitäts-Simulakrum anerkennen, ein Simulakrum, das stabilisiert und konsensuell genug ist, damit wir zu wissen glauben, was wir sagen, identifizieren und isolieren, wenn wir uns auf die Todesstrafe beziehen, ein legales Phänomen, das sich vom einfachen Mord unterscheidet, im Prinzip und in der Intention, im Geiste, das sich von der Rache und vom Opfer unterscheidet, das eingeschrieben ist in ein Gesetz, welches von einem Staat angewendet61 wird usw.

Hier nun ein weiterer Vorstoß, über einen anderen Flügel [aile]. Wir wollen ihn den „präsidentiellen“, den „Präsidentenflügel [présidentiaile]“ nennen.

Bezüglich der auf diese Weise provisorisch identifizierten Todesstrafe kann man zum Beispiel folgende Fragen stellen, die uns eine gewisse Zeit lang leiten werden: Ist die Abschaffung der Todesstrafe, die seit circa zehn Jahren in der Welt spektakuläre Fortschritte verzeichnet, wir haben letztes Jahr ausführlich darüber gesprochen, ist die Abschaffung der Todesstrafe ein Ereignis in der Geschichte, und in der Geschichte als Geschichte der Menschlichkeit/Menschheit [humanité], wird sie ein solches sein, wird sie ein solches gewesen sein? Markiert dieses Ereignis einen Fortschritt, könnte es einen solchen markieren, wird es einen solchen markiert haben, und was ist dann ein Fortschritt? Ein unumkehrbarer Fortschritt? Und um welchen Preis? Soll diese Abschaffung für historisch (mit der Erfahrung als Geschichte verbunden) gehalten werden oder für die Antwort auf eine gewissermaßen ahistorische Prinzipien-Frage, so dass eine scheinbar historische, empirischhistorische Antwort in ihrer Struktur von einer tiefverwurzelten Ahistorizität des sie leitenden Prinzips geprägt ist? Sie wissen, dass für Kant zum Beispiel, für Kant als Kritiker Beccarias, die Todesstrafe unabhängig von jeglicher Rücksicht auf Nützlichkeit, Exemplarität oder Abschreckung gerechtfertigt werden muss, unabhängig von jeglicher Rücksicht, die dazu tendiert, aus dem Rechtssubjekt oder dem Subjekt der Sittlichkeit, aus der menschlichen Person ein Mittel im Hinblick auf einen Zweck zu machen; und dass der Todesstrafe, in ihrem Wesen und in ihrer Würde, also alle (politische, soziologische, psychologische usw.) Geschichtlichkeit fremd sein müsse. Nun, eben damit werden wir beginnen.

Was sagt Badinter zu Beginn des ersten Kapitels seines letzten Buches, eines Kapitels, das den Titel „Von einem Präsidenten zum anderen“ trägt und im Laufe dessen er untersucht, was sich bezüglich der Todesstrafe entwickelt, als man von Pompidou zu Giscard und dann zu Mitterand übergeht? Die Frage der Präsidentschaft, als Figur der Souveränität, wird uns auch von den Vereinigten Staaten her interessieren, wo ein endloser Präsidentschaftswahlkampf62 das Thema der Todesstrafe wie die Pest gemieden hat und zwei Kandidaten einander gegenüberstellt, die gleichermaßen Anhänger der Todesstrafe sind, wie es sich gehört und wie es sich noch lange gehören wird in diesem Land, wobei einer der beiden Kandidaten, der Gouverneur von Texas, unter den gnadenlosen Nichtbegnadigenden63, die sich systematisch weigern, irgendeinen zum Tode Verurteilten zu retten, auch als unbestrittener Champion in dieser Kategorie beziehungsweise aller Kategorien bekannt ist.64 Was also sagt Badinter zu Beginn des ersten Kapitels seines letzten Buches, eines Kapitels, das den Titel „Von einem Präsidenten zum anderen“ trägt? Er stellt als randinschriftliches Motto65 einige Worte von Beccaria voran, dessen großer Bewunderer er ist, wie Sie wissen, über den er geschrieben hat, unter anderem das Vorwort zur französischen Übersetzung seines großen Buches. Badinter schreibt sich entschlossen in die große Tradition Beccarias ein, und er markiert das, indem er seinem letzten Buch, einem Buch, das, Partei ergreifend und Zeugnis einer heute mutigen Treue, François Mitterand gewidmet ist, dem Präsidenten der Abschaffung der Todesstrafe, < indem er seinem letzten Buch > also folgenden Satz als Motto einschreibt. Beccaria, zitiert als Motto, sagt Folgendes, dem Badinter allem Anschein nach zustimmt und Beifall zollt:

Wenn ich jedoch beweisen werde, dass diese Strafe weder nützlich noch notwendig ist, so habe ich für die Sache der Menschheit den Sieg errungen.66

Nun möchte ich mich mit Ihnen fragen, ob dieser Satz, selbst wenn er aus seinem Kontext gerissen ist, wie ein Motto es immer tut67, und so klar und edel er auch immer erscheinen mag, nicht problematisch ist, selbst für einen überzeugten Befürworter der Abschaffung der Todesstrafe, selbst für eine radikale Bewegung zur Abschaffung der Todesstrafe68. Und indem ich mich das frage, werde ich mir mit Ihnen Fragen stellen zur Tradition und zu den Voraussetzungen des entschlossensten, respektabelsten, am mutigsten kämpfenden Diskurses zugunsten der Abschaffung der Todesstrafe, und also zu dem, was seine Stärke selbst an Schwäche oder Verletzlichkeit in sich bergen kann. (Hier innehalten?69)

Dieser Satz von Beccaria (dessen großes kleines Buch Über Verbrechen und Strafen ich Sie also zu lesen und wiederzulesen bitte) entstammt einem Kapitel, das den Titel „Über die Todesstrafe“ trägt (Kap. XXVIII). Dieses Kapitel, das ziemlich lang und detailreich ist, eröffnet mit einer Frage, die die Begriffe des Nützlichen und des Gerechten auf problematische Art und Weise zu assoziieren und miteinander zu verknüpfen scheint. Das ist aber nicht dasselbe, das Nützliche und das Gerechte. Beccaria schreibt also, ich zitiere:

Diese unnütze Häufigkeit der Strafen, die noch nie die Menschen besser gemacht hat, hat mich zur Prüfung der Frage veranlaßt, ob für eine wohleingerichtete Regierung die Todesstrafe wirklich nützlich und gerecht ist. Mit welchem Recht maßen es die Menschen sich an, ihresgleichen zu töten?70

Gleich nachdem er diese Frage gestellt hat, die in ihrer Formulierung das Gerechte und das Nützliche verbindet (während es doch nicht dasselbe ist, das Gerechte und das Nützliche, und gerade Kant versucht hatte, die Todesstrafe als einen gerechten Akt zu rechtfertigen, der gerade prinzipiell, aus reinem Prinzip gerecht ist, weil er durch keinerlei Eigenschaft der Nützlichkeit, der Exemplarität oder der Abschreckung gerechtfertigt werden muss, während Beccaria seinerseits die Todesstrafe disqualifiziert, diskreditiert, weil sie nicht nützlich oder abschreckend genug sei, wir werden noch darauf zurückkommen) [gleich nachdem er also diese Frage gestellt hat, die in ihrer Formulierung das Gerechte und das Nützliche verbindet,] trennt Beccaria, mit einer ziemlich interessanten und paradoxen Geste, das Recht, zu töten, die Todesstrafe, von der Souveränität der Gesetze. Er tut das, um die Souveränität zu retten, natürlich, und um zu zeigen, dass die Todesstrafe, eben weil sie kein Recht ist, nicht auf der Souveränität und den Gesetzen beruht; man kann sie abschaffen, ohne die Souveränität und die Gesetze zu gefährden; oder umgekehrt, eben weil sie nicht auf der Souveränität und den Gesetzen beruht, ist sie kein Recht: „Mit welchem Recht maßen es die Menschen sich an, ihresgleichen zu töten? Es kann dies gewiß nicht jenes sein, von dem die Souveränität und die Gesetze sich herleiten.“71

Wir werden später noch einmal auf jene merkwürdige, ebenso rousseauistische wie anti-rousseauistische Bewegung zurückkommen, die auf diese Passage bei Beccaria folgt, und wir werden sehen, wie der merkwürdige Gebrauch, den er von Rousseaus Begriff der volonté générale macht, ihn zu einer Schlussfolgerung führt, die der von Rousseau im Contrat social über die Todesstrafe entgegengesetzt ist (wir hatten diese Passage letztes Jahr gelesen72). Nach dieser Beweisführung schließt Beccaria mit dem Satz, den Badinter als Motto gewählt hatte, aber nicht ohne das Wort „gerecht“ fallen gelassen zu haben, das Beccaria durch das Wort „Recht“ ersetzt (was kein Recht sein kann, kann nicht gerecht sein, so lautet die Voraussetzung), und dieses Mal das Nützliche mit dem Notwendigen verbindend.

Folglich stellt die Todesstrafe kein Recht dar, und sie kann kein Recht sein, wie ich bewiesen habe; sondern sie ist ein Krieg der Nation gegen einen Bürger, weil sie die Vernichtung seines Daseins für notwendig oder nützlich erachtet. Wenn ich jedoch beweisen werde, dass diese Strafe weder nützlich noch notwendig ist, so habe ich für die Sache der Menschheit den Sieg errungen.73

Wir werden das ebenso locker wie dicht gesponnene Gewebe dieser Argumentation rekonstruieren; dieser alles in allem utilitaristischen Begründung der Abschaffung der Todesstrafe, die die (meiner Ansicht nach problematische) Grundlage der meisten heutigen Diskurse zugunsten der Abschaffung der Todesstrafe bildet, einschließlich dessen, der vor dem französischen Parlament, und auch in einem weiteren Sinne, für die Abschaffung der Todesstrafe argumentiert hatte, nämlich die Rede [discours] desjenigen74, der jenen Satz von Beccaria seinem letzten Buch als Motto voranstellt.

Um dieses Buch von Badinter, sein erstes Kapitel, das also den Titel „Von einem Präsidenten zum anderen“ trägt, über einen anderen Flügel unseres Vorstoßes anzusprechen, aber immer noch unter dem Titel „Präsidentenflügel [présidentiailes]“, zusammen mit der Frage des Präsidenten, der präsidentiellen Souveränität, hätte ich heute unser Interesse auch auf das lateinische Wort „Präsident“ lenken wollen (das Wort auf Französisch und auf Englisch oder auf Deutsch oder auf Italienisch, Spanisch aussprechen?75). Was ist das, ein Präsident? Und welche Beziehung < besteht > zwischen der Präsidentialität und der Todesstrafe? Wie soll man heute über die französischen und amerikanischen Präsidentschaften, ja über die Präsidentschaftswahlkämpfe in ihrer Beziehung zur Todesstrafe sprechen? Was ist das, ein Präsident? Praesidere, das heißt vorne sitzen, wie auf einem Thron, der die Autorität markiert, von der her man die Stirn bietet. Auf diese Weise vorne platziert, wie ein Schild, aber auch wie ein Problem (< griech. > probléma bedeutet auch „Schild“), trägt der Präsident zugleich Verantwortung dafür, zu beschützen, „zu wachen über…“, ist er mit einer Pflicht und einem Recht versehen [investi]: zu wachen, zu überwachen, um zu beschützen (die gemeinsame Freiheit, die Nation, die Gemeinschaft usw.). Gleichzeitig ist die Präsidentschaft [présidence] ein Vorrang [préséance], ein Primat, ein Prinzipat, ein Kommando und eine Leitung [direction]. Bei Tacitus und Sallust konnte das eine militärische Bedeutung haben. Ein Präsident als Staatschef ist im Übrigen auch Armeechef und hat das Recht wie die Pflicht, die nationale Verteidigung souverän zu gewährleisten, den Krieg zu erklären. Und natürlich das Begnadigungsrecht auszuüben. Davon ausgehend müsste man die beiden Präsidentschaftswahlkämpfe in einer bestimmten Perspektive sehen: jenen, der in Frankreich in die Abschaffung der Todesstrafe im Jahre 1981 mündete, und den, der zwanzig < Jahre > später in den Vereinigten Staaten zur Bestätigung, zur Konsolidierung, wenn nicht Verschärfung der Todesstrafe führt. Wir werden noch darüber sprechen.

Wenn ich jetzt die Zeit hätte, auf einem anderen Flügel eine Front aufzumachen, würde ich, vor dem Tod, vor „meinem Tod“, vor dem „mein Tod“ eines und einer jeden, vor der Todesstrafe von der Strafe selbst, im Allgemeinen, sprechen. Ist die Todesstrafe [peine de mort] eine Strafe, eine Strafe unter anderen? Oder eine Ausnahme von dem, was man mit einem Allgemeinbegriff die Strafe [peine] oder die Bestrafung [punition] nennt? Genügt es, ein substantivisches Attribut, einen Genitiv (die Todes-Strafe) hinzuzufügen, um das Subjekt „Strafe“ durch eine ergänzende Bestimmung, einen Fall, ein Beispiel, ein Attribut zu ergänzen? Ist die Todesstrafe eine Strafe? Ist sie kompatibel mit dem Begriff Strafe, der ihr hier als Subjekt dient?

Wir haben letztes Jahr vielleicht viel gesagt, aber ich habe das Gefühl, dass wir die Frage der Todesstrafe [la peine de mort] trotz allem kaum angesprochen haben, kaum [à peine]. Auf meinem Computer, um so weit oben und so sichtbar wie möglich zu beginnen, das heißt mit dem Buchstaben A beginnend, und um mein Dokument rasch wiederzufinden, habe ich dem dieses Seminar betreffenden Dokument den Titel „À peine de mort“ gegeben, was nicht sagen will „sous peine de mort [unter Todesstrafe]“ (ein Seminar über die Todesstrafe unter Todesstrafe, so als ob ein Seminar über die Todesstrafe zur Todesstrafe verurteilt wäre oder Gefahr liefe, mit dem Tode bestraft zu werden) – was also nicht „unter Todesstrafe“ sagen will, sondern, auf gänzlich unübersetzbare Weise, dass es zögern wird zwischen der peine (poena auf Lateinisch, von griechisch poiné), die Bestrafung bedeutet, den zu bezahlenden Preis, die Abzahlung, das Lösegeld, das dazu bestimmt ist, einen Mord zu sühnen usw. (ich werde noch darauf zurückkommen), und den beiden französischen Bedeutungen von „à peine“: einerseits „schmerzlich [péniblement]“, „bekümmernd [qui fait peiner]“, was Kummer [peine], Leiden bereitet, eventuell in Begleichung einer Schuld76, sowie andererseits „kaum“, „noch nicht“, was auf Lateinisch mit paene oder pene77 ausgedrückt wird, was weder mit dem Kummer [la peine] von „à peine“ noch mit lateinisch poena oder griechisch poiné zusammenhängt < , das > Bestrafung bedeutet.

Bevor es mit dem Tod verbunden wurde, wirft das Wort peine, penalty, poiné, poena im Sinne von Bestrafung oder schmerzlicher Abzahlung [rétribution pénible], Leiden implizierender Sanktion oder Auslösung, Sühne, [wirft also das Wort peine] hinsichtlich Semantik und Geschichte Schwindel erregende Probleme auf. Eine erste Vorstellung davon würden Sie bekommen, wenn Sie Benveniste lesen.78 Ich werde kurz etwas dazu sagen, allzu kurz, wobei ich Sie aber auf die Lektüre des ganzen Kapitels verweisen möchte. Ich werde einige Worte dazu sagen aus Gründen, die sich später erhellen werden, nämlich einen gewissen Zusammenhang, den man, wie Kant es tat, erkennen wollte zwischen der Strafe [la peine], insbesondere der Todesstrafe, und der Würde des Menschen, der Ehre des Menschen, da der Mensch, das rationale oder vernünftige Wesen, das mit Vernunft begabte Lebewesen, das heißt das fähig ist, sich über die pathologischen Motive und das Leben zu erheben, da der Mensch also das einzige Wesen ist, das die Ehre verdient, ein Recht zu besitzen (ein Recht der Person als Zweck an sich und nicht als Mittel), und also die Ehre, in sein Recht eine Todesstrafe einzuschreiben, die das Rechtssubjekt über das Leben erhebt. Wir hatten letztes Jahr über diese Logik gesprochen und wir werden dieses Jahr noch einmal darauf zurückkommen, bald schon, immer einer Linie von Fragen folgend, die von unserem ersten Erstaunen inspiriert ist: Wie kommt es, dass kein Philosoph als solcher, kein philosophisches System als solches sich je auf vernünftige Weise der Todesstrafe entgegensetzen oder einen Diskurs zugunsten der Abschaffung der Todesstrafe philosophisch rechtfertigen konnte, einen < Diskurs >, der aus Prinzip für die Abschaffung der Todesstrafe ist (ja, aus Prinzip, und ich insistiere immer noch, aus Prinzip und nicht aus Nützlichkeit, aus Prinzip, denn es gibt viele Gründe und Weisen, sich der Todesstrafe entgegenzusetzen, und solange man es nicht aus Prinzip tut, indem man erhellt, was „aus Prinzip“ bedeutet, wird die Bewegung für die Abschaffung der Todesstrafe problematisch, begrenzt und prekär, sowie der Umkehrbarkeit unterworfen sein, was sie immer noch bleibt)79.

Es wird also noch zu fragen bleiben, was, sowohl für die Geschichte der Philosophie, für die Geschichte des Philosophischen, als auch für die Geschichte der Strafe als Todesstrafe, die Tatsache bedeutet, dass es bis auf den heutigen Tag nie eine Philosophie der Abschaffung der Todesstrafe [philosophie abolitionniste] gegeben hat, und dass, bis auf den heutigen Tag, kein Philosoph als solcher, kein philosophisches System als solches die Todesstrafe ausschließen oder verurteilen konnte oder musste. Mit einem Wort: Wer verurteilt die Philosophie als solche bis auf den heutigen Tag dazu, sich im Prinzip auf der Seite der Verurteilung zum Tode zu halten? Das ist einer der Einsätze dessen, was man die „Dekonstruktion“ nennt (wir haben es letztes Jahr wie folgt formuliert80: die Dekonstruktion des phallogozentrischen Gerüsts; das phallogozentrische Gerüst, das heißt sowohl die Spekulation als auch die Architektonik, das Stütz- und Konstruktions-Supplement, das notwendig ist, um ein Gebäude zu reparieren, das karnophallogozentrische81 Gerüst [échafaudage], das alle Schafotte [échafauds] konstruiert und sämtliche Gestalten von Maschinen zum legalen, souveränen, staatlichen Töten in der Geschichte der Menschheit gestapelt [échafaudé] haben wird).

Eine kurze und elliptische Exkursion in die Gefilde von Benveniste also, der in seinem Kapitel über „Ehre und Ehren“ dahin kommt, eine Frage zum griechischen Wort ποινή, poiné zu stellen, zur Schuld, die man abzahlen muss, um ein Verbrechen wiedergutzumachen, sowie zu den lateinischen Wörtern poena, punire. Auf diese Frage kommt Benveniste vom griechischen Wort timé her. Ich habe in einem Text mit dem Titel „Titre à préciser“82 darüber gesprochen. Timé, was „Ehre, Würde“ bedeutet, wovon timao abgeleitet ist, stammt von einem alten Verb ab, τίω, tíô, das „ehren“ bedeutet. Im etymologischen Ensemble dieser Familie findet man τίνω, tíno, was „zahlen“ bedeutet, tínumai (τίνυµαι), zahlen lassen, sühnen lassen, tisis (τίσδζ), Strafe, Rache. All diese Begriffe, bemerkt Benveniste, beziehen sich auf die „Bezahlung einer Schuld, auf die Wiedergutmachung einer Missetat“. Womit, wie Benveniste hinzufügt, das griechische poiné (ποινή) verwandt ist, Schulden, die dazu bestimmt sind, ein Verbrechen wiedergutzumachen, und also das lateinische poena, punire. Nachdem er Filiationen im Sanskrit und dem Awestischen aufgezeigt hat (cayate: zahlen, zahlen lassen, strafen, kay, cikay [strafen], kaetha, kaena: Rache, Hass, wobei das letztgenannte Wort dem griechischen poiné entspricht)83, schließt Benveniste daraus, dass es im Indoeuropäischen und im Griechischen ein Ensemble aus Formen gibt, „die materiell von der Wurzel *kei- ausgehen“84.

Es gäbe da also eine einzige Wurzel für all diese Bedeutungen, insbesondere um die beiden Hauptbedeutungen ehren und strafen herum. Bevor wir, Benveniste folgend, weiter gehen, bevor wir die Frage hören, die er im Hinblick darauf stellte, diese zwei Bedeutungen (ehren und strafen) voneinander zu trennen, müssen wir diese unheimliche*, uncanny, befremdlich-vertraute85 Allianz entweder träumen oder (über-)wachen, die die Beziehung zwischen diesen beiden scheinbar gegensätzlichen oder inkompatiblen Bedeutungen (ehren und strafen, rühmen und erniedrigen, retten und töten, usw.) unablässig heimsucht, und zwar in einer Tradition, die ebenso gut eine griechische sein könnte (wie die des pharmakos: ausgeschlossen und als Ausnahme gefeiert, rituell erwählt oder bevorzugt), einer Tradition, die genauso gut auch eine lateinische sein könnte (sacer, der heilige und verfluchte, verehrte und verfluchte), einer Tradition schließlich, die ebenso gut direkt oder indirekt eine christliche, eine in großzügiger oder perverser Weise christliche sein könnte (Kant zum Beispiel, für den die Möglichkeit der Verurteilung zum Tode das Eigene und die Würde selbst des Menschen ausmacht, oder Genet, der, wir hatten das letztes Jahr gelesen, so häufig den Ruhm des Schafotts besang (den „Tod auf dem Schafott, der unser Ruhm [gloire] ist“86, in Das Wunder der Rose, erste Seite, mit so vielen weiteren Glorifizierungen, die – sie gleichzeitig pervertierend – die christliche Rhetorik ins Werk setzen)). Daher ist Benvenistes Frage – seine Frage mehr als seine Antwort – in Bezug auf die Vielfalt, ja Disparität, in Wahrheit die offensichtliche Antinomie der in ein und derselben Wurzel versammelten Bedeutungen, für uns weiterhin von Interesse. Benveniste fragt sich:

Die Disparität der Bedeutungen wirft jedoch eine Schwierigkeit auf: dominiert der Begriff „strafen“ oder der Begriff „ehren“? Kann man von „Strafe erwirken, Rache üben“ zu der Vorstellung „ehren, Ehre bereiten“ gelangen? Vereinbaren ließen sich die zwei Bedeutungen nur durch eine recht vage Verknüpfung […].87

Was meint er, wenn er von einer „recht vage[n] Verknüpfung“ spricht…? Sollte es da eine recht vage Verbindung zwischen strafen und ehren geben? Ja sogar eine recht vage Verbindung zwischen dem, was man „strafen [punir]“, Bestrafung [punition], Strafe [peine] nennt, einerseits, und dem Tod, insbesondere der Todesstrafe [peine de mort] andererseits?

+ Während der Sitzung fügt Jacques Derrida hinzu: „Erinnern Sie sich auch an das verlegene Argument Rousseaus im Contrat social über den öffentlichen Feind/Staatsfeind [ennemi public]: Man hat das Recht, einen Bürger zum Tode zu verurteilen, weil er zu einem öffentlichen Feind geworden ist, weil er sich wie ein Feind des Sozialkörpers oder der Nation verhalten hat.“ Das Folgende ist akustisch unverständlich (A.d.H.).

Die Todesstrafe II

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