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Sechstes Kapitel.
Fahrt ins Unbekannte

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Inhaltsverzeichnis

Wenn Christoph Columbus derjenige Mensch ist, der nach der üblichen Geschichtsauffassung das Tor des Mittelalters zuschlug, um eine neue Welt und Zeit heraufzuführen, so ist der Augenblick, wo die drei armseligen Kähne den spanischen Hafen verlassen, sicherlich einer der epochalsten in der Geschichte der Menschheit.

Man muß sich das Ungeheure der Tatsache nur versinnlichen. Da es uns so geläufig geworden ist wie das Einmaleins, haben wir das Maß und die Anschauung verloren. Das Einzigartige ist natürlicherweise dem Schicksal verfallen, außerhalb jedes Gleichnisses zu stehen, und die heftigste Phantasie-Entzündung bewirkt manchmal etwas wie Blindheit gegenüber dem Bild, das die Veranlassung dazu war.

Nicht im Aufgeben aller bisherigen Bindungen liegt die Größe des Entschlusses, im Hintersichlassen des Gewohnten, Vertrauten, Befriedeten, von Regel, Behelf, Erwerb und Sicherung, Gesellschaft und Gesetz, in keinem Hintersichlassen überhaupt, sondern durchaus in der inneren Gestaltsetzung des Kommenden, des Vorsichhabens, des Nochnichtvorhandenen. Was ja auch der tiefste Gedanke des Don Quichote ist.

Darin äußert sich die verehrungswürdige dunkle Kraft des mittelalterlichen Menschen, daß er keine Selbstbestimmung kennt und immer Kreatur bleibt im Fühlen und Handeln, mit dem Aufblick zu einem unbekannten Wesen und der Verhaftung in ihm. Das Religiöse an Columbus ist daher weder Vorwand, noch Kostüm, noch beruht es auf dogmatischer Lebenshaltung, es ist sein eigentlicher Kern, als solcher umfaßt er das Bewußtsein der Schickung, der Sendung, und daß der Mensch sich gegen das Element zu stellen habe als gegen das niedrig Unbeseelte und Gottfeindliche, um es zu überwinden, wie er auch dabei fahre.

Es ist außerordentlich schwierig, mit einer auch nur geringen Aussicht auf Wahrscheinlichkeit die Empfindungen jener Männer zu rekonstruieren, die da auf unzulänglichen, schlecht ausgerüsteten alten Fahrzeugen in die grenzenlose Wasserwüste hinaussegelten. Wenn es nicht überpflanzte Gefühlskomplexe aus heutiger Welt sind, ist es Dichtung; eines kann so wenig befriedigen wie das andre, beides wird zum Experiment. Ich glaube, daß es unvorstellbar und unausdenkbar ist. Jede moderne Leistung, die man etwa in Analogie setzen könnte, Durchquerung Afrikas, Erforschung des Südpols, Flug ins Polargebiet, Überfliegung des Atlantik, jede ähnliche auch aus den letztvergangenen Jahrhunderten, vollzog und vollzieht sich innerhalb der Überlieferung des Wissens um bekannte Naturgesetze und im Vertrauen auf eine bewährte kosmische Ordnung.

Dies fehlte Columbus und seinen Leuten. Es fehlte ganz und gar. Der Bau der Welt, die Größe der Erde, die menschliche Kapazität, die Wirksamkeit und Verläßlichkeit gewisser Hilfsmittel, alles das war sozusagen noch Annahme, Vermutung, Aberglaube. Nichts war bewiesen, nichts in der Erfahrung bewährt, nichts durch gültiges Zeugnis erhärtet; draußen auf dem Ozean war man von einem bestimmten Längengrad ab der allererste Mensch, und was immer man erblickte und erlebte, stand auf der schauerlichen Grenzscheide zwischen Leben und Tod. Der Ablauf der Tage ist ein einziges Grauen, jede zurückgelegte Meile vermehrt das Grauen. Es gibt eigentlich kein Ziel; was sie davon gehört haben, ist Einbildung, bestenfalls Behauptung, die Phantasie vermag auf diesem Weg keinen Endpunkt zu finden, der Horizont ist rund, seine Rundheit macht das Auge rasend, der Blick irrt verzweifelt zwischen Himmel und Wasser, die Schiffe tanzen im Runden rundum, vorne, hinten, links und rechts wechseln wie auf einer schwindelnd-schwingenden Drehscheibe, es ist ihnen zumut, als wären sie lauter Bälle, die über die brüllende See ins Nichts geschleudert werden sollen. Und das ist die Quelle und der Gegenstand des Grauens, das Nichts, die Erwartung des Nichts. Jeder von uns hat es als Kind gespürt, im Traum, und es ist ein atavistischer Traum: man macht sich auf, um ans Ende der Welt zu gehen, und die ganze Seele ist erfüllt von dem unsinnigen Grauen vor dem Nichts.

Ein Teil der Briefe und Berichte des Columbus ist erst 1791 von Navarrete, einem spanischen Marineoffizier, in den Archiven des Klosters San Estéban und des Herzogs von Veragua, einem Nachkommen des Admirals, aufgefunden worden. Sie sind von Columbus’ eigener Hand geschrieben, und es war oft schwer, ja fast unmöglich, die veraltete Schreibweise, die verblaßten Lettern, die nicht mehr gebräuchlichen nautischen Fachausdrücke, die häufig eingestreuten italienischen und portugiesischen Worte zu entziffern und den schleppenden Stil, dem jede Interpunktion fehlte, in die moderne Sprache zu übersetzen, ohne die charakteristische Art des Autors zu verwischen. Die Schiffstagebücher hat Hernando Colón zusammen mit dem Bischof Las Casas schon 1536 veröffentlicht.

Die bei dieser Reise und auch bei den späteren am häufigsten gerühmte, selbst von Alexander von Humboldt hervorgehobene Eigenschaft des Columbus ist die richtige und scharfe Beobachtung von Phänomenen, die sich nach der ganzen Lage der Dinge vollkommen außerhalb seines Erfahrungskreises befanden. Er macht die gewissenhaftesten und genauesten Notizen über die Richtung der Meeresströmungen, die inselartigen Anschwemmungen des Seegrases im sogenannten Sargassomeer, die Veränderung der Lufttemperatur, den Flug der Vögel und hauptsächlich über eine Erscheinung, die ihn und seine Leute am meisten beunruhigen mußte: die Abweichung der Magnetnadel und die damit zusammenhängende Bewegung des Polarsterns, eine Entdeckung, die ohne Zweifel ihm als erstem zuzuschreiben ist.

Es war am 13. September 1492, bei Anbruch der Nacht, als er bemerkte, daß die Magnetnadeln von Nordosten nach Nordwesten abwichen, wodurch die Steuerleute, wie er gesteht, in nicht geringe Furcht versetzt wurden. Er berichtigte die Nadeln nach Methoden, die er so verworren schildert, wie er sie vermutlich betrieben hat, und obwohl aus der ganzen Darstellung, wissenschaftlich genommen, ersichtlich ist, daß er durchaus keinen klaren Begriff von dem Vorgang hat, und obwohl auch er die Furcht der Piloten teilt, als ob sich damit die Grundgesetze der Natur veränderten und er in eine neue Welt mit neuen Gesetzen einträte, ahnt er doch zugleich, daß die Abweichung der Nadel ein Mittel werden kann, den Längengrad zu bezeichnen und die Ortsbestimmung zu treffen.

Niemals vermochte er eine nautische Berechnung selbst zu machen, dazu reichten seine Kenntnisse nicht aus; wenn er es versuchte, war das Resultat kläglich, wie zahlreiche Spezialuntersuchungen bewiesen haben. Jedoch auf Forschung ging er nicht aus, an Forschung war ihm nicht gelegen, er konnte eine Wirkung feststellen, nicht aber eine Ursache ergründen, er konnte schauen, er konnte die Frage formulieren und mit ahnendem Sinn hinter das Geschaute dringen, das hat nichts mit der Exaktheit des Beobachters zu tun, überhaupt nichts mit Beobachtung, sondern es ist eine Kategorie für sich, und eine große noch dazu. Seine sämtlichen Berichte, ob sie nun das schreckenerregende Benehmen des Kompasses, das wechselnde Bild des Tangmeers, den Flug der Vögel oder was immer zum Gegenstand haben, bestätigen schlagend, daß er nichts weniger als ein Beobachter, daß er ein visionärer Mensch war und seine Aufgabe völlig aus der Vision heraus schöpfte und erfaßte. Träfe dies im allermindesten nicht zu, dann wäre er wirklich der Scharlatan und Abenteurer, als den ihn neidische und boshafte Zeitgenossen manchmal darzustellen beliebten.

Ich bin mir aber wohl bewußt, daß ich mit alldem erst zaghaft die Grenzlinien seines Wesens und Charakters umrissen habe.

Das Schiffstagebuch beginnt, zeremoniös und umständlich, mit einer Evokation der spanischen Hoheiten, gibt einen Rückblick auf des Schreibers Verdienste und Bemühungen, dann dankt er für alle voraus empfangenen Wohltaten und Belohnungen, oder stellt sie wenigstens trocken fest, und verspricht, jede Nacht niederzuschreiben, was ihm am Tag begegnet ist, bis er Indien entdeckt haben würde. »Dabei kommt es hauptsächlich auf eines an«, schließt er in seiner intransigenten Manier, »nämlich, daß ich, um alle Verpflichtungen zu erfüllen, auf den Schlaf verzichten lerne.«

Dies ist keine eitle Ruhmredigkeit, er hat es buchstäblich getan. Er war imstande, wochenlang, genau, wie er sagt, auf Schlaf zu verzichten. Ich finde ihn in dieser Hinsicht geradezu unheimlich. Freilich, in jenen ersten Wochen war es schwer für ihn zu ruhen und zu schlafen. Wie ein dunkles Gespenst ist er vom Abend bis zum Morgengrauen am Bug der »Santa Maria« gestanden, die hellgrauen Fanatikeraugen in gefrorener Glut nach Westen gerichtet. Daß ihn seine Untergebenen geliebt haben, läßt sich schwerlich annehmen; solche Männer werden nicht geliebt; schreibt er doch von sich selbst: »Ich bin nicht schmeichlerisch von Worten, vielmehr gelte ich für rauh«; die bewußtseinslähmende Spannung, die ihn bis zum zwölften Oktober erfüllte, trieb ihn von aller Menschheit weg, und wenn es auch Leute waren, die vor nichts und niemand zurückschreckten, ihm wichen sie in scheuem Bogen aus, wie sie einem verrufenen Zauberer ausgewichen wären. Dabei mußte er mehr vor ihnen auf der Hut sein als sie vor ihm. Damit die Ungeduld sie nicht zu früh rebellisch werden ließ, griff er von vornherein zu dem nicht ganz einwandfreien Mittel, sie über den zurückgelegten Weg zu täuschen, indem er doppelt Buch führte, einmal, in der wirklichen Zahl der Seemeilen, für sich, und einmal, in verkürzten Ziffern, für das Schiffsvolk, eine Maßregel, die wahrscheinlich auf allen drei Caravellen gleichmäßig getroffen werden mußte, da man sich ja bei ruhigem Wetter von Fahrzeug zu Fahrzeug leicht verständigen konnte.

Eine Sonderbarkeit des Tagebuchs besteht darin, daß er bisweilen in der Ichform berichtet, dann wieder, ohne Übergang, von sich in der dritten Person als dem Admiral spricht. Es scheint mir nicht, als sei dies bloß eine stilistische Achtlosigkeit oder leere Form. Es wird wohl tiefer liegen. Das Ich und der Admiral standen in seiner Brust einander fremd gegenüber. Es waren zwei Personen von verschiedenem Rang, verschiedener Verantwortlichkeit, verschiedenem Belang, die eine ein mißtrauischer, fieberhaft erregter, traumgequälter, selbstquälerischer, müder alter starrer Mensch, die andere ein zum Symbol erhobenes Werkzeug göttlicher Mächte, unfehlbarer Geist.

Da schon drei Tage nach der Ausfahrt das Steuerruder der »Pinta« zerbrach (man hatte den Cristobal Quintero, den Eigentümer der Barke, in Verdacht, die Havarie mit Absicht herbeigeführt zu haben), mußte die Flottille die kanarische Insel Lanzerot anlaufen und konnte die Reise erst am achten September fortsetzen. Am siebzehnten meldet er im Logbuch, daß die Luft immer milder wird und daß er einen weißen Vogel gesehen hat, der nie auf dem Meer schläft. Der Ozean ist so ruhig wie der Fluß bei Sevilla. Am neunzehnten ist die Flotte vierhundert Meilen von den Kanaren entfernt. Am zwanzigsten fängt einer mit der Hand einen Vogel, der einer Meerschwalbe gleicht, es ist aber bei näherer Untersuchung ein Flußvogel. So wird gesagt, vielleicht nur, um die Hoffnung zu beleben. Auch ein Alcatraz, eine Pelikanart, fliegt von Nordwest nach Südost, Colón vermutet daher im Nordwesten Land. Am einundzwanzigsten herrscht Windstille, in der Nacht ist das Meer dicht mit Gras bedeckt. Am zweiundzwanzigsten, als sich Gegenwind erhebt, schreibt Columbus: »Der Admiral sagt, der widrige Wind war ihm notwendig, denn es war eine Gärung unter den Leuten, weil sie glaubten, es wehen unter diesen Himmelsstrichen keine Winde, die die Rückkehr möglich machen.« Am dreiundzwanzigsten fängt das Schiffsvolk ernstlich zu murren an, weil die See immerfort ruhig und glatt ist, bald aber regt sich das Meer, ohne daß ein Wind bläst, und wird so mächtig, daß alle sich verwundern. Columbus sagt hierzu: »Das ist noch nie geschehen, außer zur Zeit der Juden, als die Ägypter aus Ägypten auszogen, um Moses zu verfolgen.«

Es ist immer wieder das nämliche, was zum Ereignis wird: Abflauen und Auffrischen des Windes, gesichtete Vögel und Fische, die wundersamen Flächen grünen stillen Grases auf dem Wasser, die zarten Nebelbänke am Horizont, die die Hoffnung auf Nähe von Land wecken, um dann schmerzliche Enttäuschung zu hinterlassen, die Bahn der Sterne, ein schwimmender Zweig mit wilden Rosen, ein aufgefischtes Rohr. Es herrscht Unsicherheit über die Richtung, und von Schiff zu Schiff wird mit Alonzo Pinzon über den zu verändernden Kurs beraten, wobei der erfahrenere Kapitän der »Pinta« schroff seine bessere Meinung durchsetzt; der Admiral gibt den direkten Kurs nach Westen auf und befiehlt, das Steuer gegen Westsüdwest zu kehren.

In neuerer Zeit sind allerlei Zweifel an der Unbeirrbarkeit des Columbus während der Fahrt laut geworden, man hat behauptet, er selbst sei, beeinflußt von der Stimmung der Mannschaft, kleinmütig geworden und habe sich mit dem Gedanken an Umkehr befaßt; da sei es eben jener Alonzo Pinzon gewesen, der das Unternehmen durch seine entschlossene, geradezu drohende Haltung gerettet habe. Und um auch das Verdienst des Pinzon noch um einen Grad herabzudrücken, wird hinzugefügt, für ihn seien so viele materielle Interessen auf dem Spiel gestanden, daß er unverrichteter Dinge nicht auf halbem Weg hätte zurückkehren können.

Ich glaube von alledem kein Wort. Äußere Gründe mögen dafür sprechen, die innere Unwahrscheinlichkeit ist evident. Und selbst wenn es wahr wäre, d.h. wenn es das trügerische Zeugnis eines Vorgangs, eines Tages, einer Stunde für sich hätte, so wäre es doch menschlich und psychologisch unwahr. Es gibt forschungsmäßige Nachweise und Erhärtungen von rein destruktiver Natur, die immer dort Verwirrung hervorbringen, wo Bild und Anschauung fehlen. Umkehr: die Vokabel existierte nicht für den Admiral des »ozeanischen Meeres«. Don Quichote läßt sich steinigen, verhöhnen, er verzichtet auf Schlaf und Nahrung, er gibt sich preis, er gibt sich auf, aber er kehrt nicht um.

Hernando Colón erzählt, daß das meuterische Schiffsvolk sich verschworen habe, den Admiral zu einer bestimmten Zeit der Nacht, wenn er wieder berauscht von den Sternen sei, ins Meer zu werfen. (Wie unmittelbar wirklich, in einem knappen Nebensatz, das Bild des Mannes! Berauscht von den Sternen! Auf einmal steht er da, als ob ihn Greco gemalt hätte; expressiver ließ es sich kaum sagen.) Die aufgeregte Szene, in der dem Columbus von der empörten Rotte drei Tage zugestanden werden, wenn bis dahin nicht Land in Sicht käme, hätte er sein Leben verwirkt, dieser dramatische Knalleffekt geht auf den zeitgenössischen Geschichtsschreiber Oviedo zurück, einen kritiklosen Zusammensteller unsicherer Tatsachen. In dem Punkt darf man dem Admiral schon trauen, daß es mit der ganzen Revolte nicht weit her war, so skeptisch auch sonst seine Nachrichten aufzunehmen sind; wäre es zu jener äußersten Ausschreitung gekommen, so hätte er gewiß nicht versäumt, sie mit der Breite und Großartigkeit mitzuteilen, die ihm bei solchen Gelegenheiten eigen waren; es wäre für ihn ein willkommener Anlaß gewesen, sich eine Gloriole ums Haupt zu flechten und mit seiner überlegenen Geisteskraft zu prahlen. Jedoch er spricht immer nur von vorübergehenden Ungeduldsausbrüchen der Mannschaft, von hervorbrechender und wieder schwindender Mutlosigkeit, von Unruhe, Beklommenheit, sogar Widersetzlichkeit; von meuterischen Exzessen keine Silbe; an dem Tag, wo die offene Meuterei hätte stattfinden müssen, am zehnten Oktober, notiert er nur: »Die Leute beklagten sich über die Länge der Reise und wollten nicht weiter. Der Admiral begütigte sie, indem er ihnen den Nutzen vorstellte, den sie aus der Fahrt ziehen würden. Er fügte aber auch hinzu, ihr Murren sei ganz vergeblich, da sein fester Entschluß, nach Indien zu gelangen, durch nichts erschüttert werden könne.«

Daß seine Situation von Tag zu Tag bedenklicher wurde, verhehlte er sich nicht. Alle Anzeichen, die grenzenlose Ödnis der Wasserwüste könne endlich an ein Ufer stoßen, hatten getrogen. Die in der Ferne wahrgenommenen Gebirge und Städte hatten sich als Sinnestäuschungen erwiesen. Die Schiffe waren zu schwach für die lange Fahrt, und wenn sie mit jedem Augenblick den ungeheuren Raum vergrößerten, der sie von der Heimat trennte, wie sollten sie die Rückfahrt bewerkstelligen, da doch weit und breit kein Hafen war, um die jämmerlichen Barken auszubessern und frische Lebensmittel zu erhalten; die Vorräte schrumpften schon jetzt in besorgniserregender Weise. Er kannte natürlich die Gefahr, obschon er sie vielleicht verachtete oder nicht in sich eindringen ließ, vorauslebend, in die Zukunft langend, »berauscht von den Sternen«. Ein solcher Mensch, geisterhaft isoliert, geisterhaft unnahbar, mußte auf die rohen und einfachen Charaktere seiner Umgebung eine willensaufhebende Gewalt ausüben; in ihm war das grauenhaft Unverständliche der ganzen Expedition verkörpert und sichtbar; das dichte Zusammenleben an Bord hatte ihnen nicht eine Spalte seines rätselhaften Innern aufgeschlossen; er schleifte sie hinaus in eine Unwelt, in die Weltlosigkeit; Verzweiflung war so unnütz wie Aufstand, von ihm hing schließlich alles ab, er hatte vermutlich Hilfsmittel und war magischer Sprüche mächtig wie kein Sterblicher sonst; darin lag sicherlich das Wesen ihrer Gefolgschaft überhaupt, denn wäre ihnen nicht ein schreckerstarrter Rest von Vertrauen dieser Art geblieben, so sehe ich nicht ein, warum sie ihm nicht schon nach drei Tagen den Schädel zertrümmert und seine Leiche ins Wasser geworfen haben sollten, anstatt sich zehn Wochen lang von ihm und den durch ihn verzauberten Brüdern Pinzon in einen unbekannten Tod jagen zu lassen, wie sie fürchten mußten.

In dem bereits erwähnten Prozeß des Diego Colón machte ein gewisser Francisco Garcia Vallejo, der auf der »Pinta« Matrose gewesen, einundzwanzig Jahre nach der Entdeckung folgende Aussage: »In der Nacht vom Donnerstag auf den Freitag, vom elften auf den zwölften Oktober, war Mondschein, und ein Mann namens Juan Rodriguez Bermejo, Einwohner von Molinos in der Provinz Sevilla, sah einen weißen Sandhügel, riß die Augen weit auf und erblickte Land. Sogleich rannte er zu einer Kanone, gab Feuer und schrie: ›Land! Land!‹ Die Mannschaft stürzte an Deck und blieb auf, bis der Tag anbrach.«

Im Logbuch steht es anders. Da heißt es, das ausspähende Auge des Admirals habe schon um zehn Uhr abends ein hin und her bewegtes Licht gesehen, in dem er sofort ein künstliches, von Menschenhand erzeugtes habe erkennen können, und das auch von denen, die er herbeigerufen, gesehen wurde. Er befahl dem Matrosen im Mastkorb aufmerksamen Auslug, erinnerte ihn auch an die von der Königin ausgesetzte Belohnung von zehntausend Maravedis für den, der zuerst Land wahrnahm, und versprach, aus eigenem eine seidene Jacke hinzuzutun.

Doch nicht der arme Matrose erhielt den Preis, sondern der Admiral beanspruchte ihn für sich selbst, und zwar gleich nach dem Tedeum, das die Mannschaft der drei Schiffe am Morgen anstimmte. Manche sagen: aus Habsucht; manche sagen: aus Ruhmsucht; manche sagen: aus beiden Motiven. Ihn von der abscheulichen Schäbigkeit freizusprechen, wagen die beflissensten Verteidiger nicht. Allein: Habsucht, Ruhmsucht, das trifft den Mittelpunkt nicht, das war unter ihm, hinter ihm, es war die unbändige Gefräßigkeit des nach der Prämie Lechzenden, als ob ihm nun die Erde, die Menschen, das Schicksal zu ungemessenem Tribut im größten wie im kleinsten verpflichtet seien.

Schwerlich hat irgendein Sterblicher jemals einen erhabeneren Augenblick erlebt als Columbus, da er auf Guanahani ans Land ging. Schwerlich auch ist jemals ein Tedeum das Vorspiel zu solchen blutigen Tragödien, zu solchen Orgien der Verfolgung und Menschenschlächterei gewesen wie das von der Besatzung der drei Admiralschiffe am 12. Oktober 1492 gesungene.

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